Wie öffentliche Moral gemacht wird - Jens Dobler - E-Book

Wie öffentliche Moral gemacht wird E-Book

Jens Dobler

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Beschreibung

Mit der Einführung des Code pénal in Frankreich 1810 und seiner Ausbreitung in Folge der napoleonischen Kriege setzte eine weitgehende Liberalisierung des Homosexualitätsstrafrechts ein. In Bayern waren homosexuelle Akte seit ab 1813 straffrei, in Württemberg waren sie ab 1839 nur noch Antragsdelikt, ebenso in Braunschweig ab 1840. In Hannover ab 1840 und Baden ab 1845 wurde Homosexualität nur noch im Zusammenhang mit der Erregung eines öffentlichen Ärgernisses bestraft. Das Preußische Landrecht hinkte mit seinen Strafbestimmungen also deutlich hinter der europäischen und "deutschen" Entwicklung hinterher. Dass seine Bestimmungen in ein erstes deutsches Reichsstrafgesetzbuch eingingen, war also alles andere als selbstverständlich. Jens Dobler beschreibt die Geburtsstunde des § 175 StGB vor diesem Hintergrund nicht als einseitige Durchsetzung reaktionärer Politik, sondern als ein "Spektakel in verschiedenen Arenen": Er skizziert die widerstreitenden Kräfte innerhalb eines komplexen Systems von Politik, Jurisprudenz, anderen Wissenschaften und "Betroffenen", vor allem aber auch von einer Öffentlichkeit, deren schwankende Stimmung stark von brisanten, aktuellen Ereignissen geprägt wurde. Diese stark geweitete Perspektive auf ein folgenreiches Kapitel deutscher Rechtsgeschichte eröffnet neue Fragestellungen auch für die Erforschung der jeweiligen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die spätere Reformbemühungen zum § 175 lange scheitern ließen.

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JENS DOBLER

WIE ÖFFENTLICHE MORAL GEMACHT WIR

DIE EINFÜHRUNG DES § 175 IN DAS STRAFGESETZBUCH 1871

Herausgeber: Benno Gammerl

Männerschwarm Verlag Hamburg 2014

EDITORIAL

Vielleicht allzu lange haben sich die politischen Debatten im les-bi-schwultrans-inter* Feld sowie die wissenschaftlichen Diskussionen der Homosexualitätengeschichte und der Queerstudien mit gleichsam internen Fragen beschäftigt. Ist die Homo-Ehe ein konter-revolutionäres Projekt? Steht die subversiv-sexradikale Attitude dem Erringen rechtlicher Gleichstellung im Weg? Kann man nach wie vor eine auf der zweiwertigen Geschlechterlogik basierende Identitätspolitik betreiben, die das Begehren nach dem gleichen Geschlecht ins Zentrum stellt?

So wichtig diese Fragen sind, sie laufen Gefahr, einer anderen, mindestens ebenso relevanten Reihe von Problemen die verdiente Aufmerksamkeit zu entziehen: Warum sind Menschen, die nicht in heteronormative Muster passen, in verschiedenen Weltregionen gewalttätigen Anfeindungen ausgesetzt? Wieso können homosexuellenfeindliche Parolen in Frankreich oder Baden-Württemberg beträchtliche Teile der Bevölkerung mobilisieren? Was bringt politische, religiöse oder mediale Leitfiguren in Russland und den Vereinigten Staaten dazu, gegen die angeblich um sich greifende Propagierung homosexueller Lebensweisen ins Feld zu ziehen?

Jens Dobler erforscht die Ursachen und Logiken des Homosexuellenhasses, indem er historisches Terrain neu sondiert. Ohne voreilige Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ziehen zu wollen, untersucht er die Entstehung des deutschen Strafrechtsparagrafen 175 im 19. Jahrhundert. Diese Bestimmung, die die Geschichte der Homosexualitäten über 100 Jahre lang auf so furchtbare Weise geprägt hat, war – anders als man vielleicht vermuten würde – höchst umstritten und resultierte letztlich aus teils widersprüchlichen Interessen und Einflüssen. Doblers Analyse regt zu drei aus meiner Sicht besonders bemerkenswerten Überlegungen an. Diese betreffen die spezifische Modernität der Homosexuellenfeindlichkeit, den engen Zusammenhang zwischen dem Verbot des homo- und der Regulierung des heterosexuellen «Beischlafs» sowie die besondere Rolle der Öffentlichkeit.

Anders als in heutigen Debatten oft unterstellt wird, war der Homosexuellenhass kein Relikt aus vormodernen Zeiten. Zwar hat die Strafbarkeit sexueller Handlungen zwischen Männern (und teilweise auch zwischen Frauen) eine lange Tradition, aber das Sexualstrafrecht des 19. Jahrhunderts resultierte letztlich aus einer spezifisch modernen Verknüpfung von sozialdisziplinierender Staatlichkeit, biopolitischen Strategien und einer massendemokratischen Öffentlichkeit. Paradoxer Weise basierten die im 19. Jahrhundert ebenfalls formulierten Argumente gegen die Verfolgung und für eine Tolerierung der Homosexuellen auf ganz ähnlichen Grundlagen. Gleichzeitig fanden sich aber auch sozusagen traditionellere Einwände gegen die Strafbarkeit der Homosexualität. Dobler deutet an, dass religiös-kirchliche Milieus die gesetzliche Verfolgung des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs zwischen Männern nicht einhellig unterstützten. Manche waren wohl der Meinung, dass das Reden über solche Sünden im Beichtstuhl besser aufgehoben wäre als im öffentlichen Gerichtssaal.

Ähnlich ambivalent wirkte sich der Zusammenhang zwischen Homo- und Heterosexualitäten auf die Debatten um das Strafrecht aus. Es überrascht zwar wenig, dass die Befürworter der juristischen Verfolgung die «Heiligkeit der Ehen» ins Feld führten. Zu deren Schutz, so behaupteten sie, sei eine strenge Bestrafung des nicht-ehelichen Geschlechtsverkehrs unabdingbar. Aber dieses Argument betraf konsequent zu Ende gedacht nicht nur männerliebende Männer. Wenn es letzteren verboten sein sollte, einander anal zu penetrieren, galt das dann auch für verschiedengeschlechtliche Paare mit oder ohne Trauschein? Die Geschichte des Sexual- oder Sittenstrafrechts, das macht Dobler deutlich, betraf nicht nur homosexuelle Männer. Vielmehr fürchteten sich die verschiedensten Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen vor einer Einmischung des Staates und seiner Behörden in ihr eigenes Geschlechtsleben und das anderer Bürger_innen.

Schließlich zeigt Dobler, indem er nacheinander die verschiedenen «Arenen» der Debatte um den § 175 untersucht, dass bei dessen Entstehung und Durchsetzung mitnichten nur politische und wissenschaftliche Eliten eine ausschlaggebende Rolle spielten. Letztlich trafen die widerstreitenden Ansichten in der breiten Öffentlichkeit aufeinander und mussten sich dort behaupten, die liberalen wie die konservativen, die für Milde wie die für unnachsichtige Verfolgung plädierenden, die von aufgeklärtem Humanitarismus wie die von religiösen Überzeugungen getragenen. Auch die frühe Homosexuellenbewegung erhob ihre Stimme in der öffentlichen Arena und beteiligte sich an den Auseinandersetzungen. Den Verlauf und das Ergebnis dieser Meinungskämpfe bestimmte, wie Dobler auf eindrucksvolle Weise verdeutlicht, oft ein einzelnes Sexualverbrechen, das die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zog. Die Art und Weise, wie die Presse über solche Fälle berichtete und das Publikum auf diese Berichterstattung reagierte, war entscheidend für die Etablierung des § 175 in seiner damaligen Form. Nicht zuletzt in der Arena der Öffentlichkeit entschied und entscheidet sich also das Schicksal der sexuellen Vielfalt. Hier bilden sich Meinungen, wirken Initiativen und formen sich Allianzen – gegen die Homosexuellen oder aber gegen den Homosexuellenhass.

Benno Gammerl

WIE ÖFFENTLICHE MORAL GEMACHT WIRD

DIE EINFÜHRUNG DES § 175 IN DAS STRAFGESETZBUCH 1871

«In der 1. Legislaturperiode 1870 erhielt dieser Paragraph die Zahl 175 und wurde zu einer der umstrittensten Strafbestimmungen des Deutschen Reichsstrafgesetzbuches.» Dieser Satz stammt ausgerechnet von Rudolf Klare, jenem Juristen, der in der Nazizeit trotz bereits vorgenommener Verschärfungen eine noch strengere Fassung eben dieses Paragrafen 175 forderte (Klare 1937, 60). Trotz kleiner Unschärfen im Detail stimmt Klares Aussage. Der Paragraf erhielt die Nummer 175 jedoch bereits im Strafrecht des Norddeutschen Bundes von 1870. Als § 175 im Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs trat er am 15. Mai 1871 in Kraft. Allerdings war diese Strafbestimmung (mit anderer Zählung) bereits vor 1870 eine der umstrittensten im deutschen Strafrecht.

Die verschiedenen Reformierungen und Verschärfungen dieser Strafbestimmung in den letzten 200 Jahren stellten fast so etwas wie eine Never ending Story dar – bis der Paragraf dann doch 1994 endgültig zu Grabe getragen wurde.

Die Ausgangsüberlegung zu diesem Beitrag ist die schlichte Frage nach dem Wie. Wie kam eigentlich der Paragraf 175 ins Strafgesetzbuch? Wie funktioniert so etwas rein praktisch? Wer entscheidet zu welchem Zeitpunkt, welche Fassung in das Gesetzbuch geschrieben wird?

Betrachtet man die Entwicklung des Strafrechts über die Jahrhunderte hinweg, besonders aber seit dem Mittelalter über die frühe Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert, so lässt sich zusammenfassend feststellen, dass Homosexualität durchgängig strafbar war. Zwar unterschieden sich die Formulierungen der Gesetze in jedem deutschen Staat und in den jeweiligen Zeitabschnitten, aber die verschiedenen Gesetzbücher transportierten die Homosexuellenstrafe bis ins 19. Jahrhundert hinein. Ihr lag scheinbar eine gewisse Selbstverständlichkeit zugrunde (vgl. Bleibtreu-Ehrenberg 1978). Schaut man sich jedoch die Prozeduren an, die hinter jeder Fassung des jeweiligen Homosexuellenparagrafen standen, ergibt sich ein ganz anderes Bild (vgl. Baumann 1968; Lautmann/Taeger 1992; Berndl 2007).

Erst die Aufklärung brachte Aufklärung. Nach der Französischen Revolution gab es in Frankreich keine eigentliche Homosexuellenstrafe mehr. Das neue französische Rechtssystem, niedergeschrieben im Code pénal von 1810, setzte sich in vielen europäischen Staaten durch. In Bayern war Homosexualität ab 1813 straffrei, in Württemberg war sie ab 1839 nur noch Antragsdelikt, ebenso in Braunschweig ab 1840. In Hannover ab 1840 und Baden ab 1845 wurde sie nur noch im Zusammenhang mit der Erregung eines öffentlichen Ärgernisses bestraft (vgl. Baumann 1968, 37). Damit stand Preußen mit seinen vier Sodomieparagrafen im preußischen Landrecht seit 1794 weit hinter der europäischen Entwicklung zurück. Dementsprechend war die preußische Auffassung keineswegs selbstverständliche Norm, sondern war im Gegenteil umstritten. Das ältere preußische Landrecht von 1620 schrieb in Artikel 5 fest: Es soll «alle Unkeuschheit so wider die Natur und sonst in was Weise es immer geschehen kann und für züchtige Ohren nicht zu erzählen gebühret, begangen wird, unnachläßlich mit dem Feuer vom Leben zum Tode gerichtet werden.»

Dieser Artikel gab dem Delikt noch keinen Namen. Selbst der Begriff war für «züchtige Ohren» noch nicht benennbar. Unter König Friedrich Wilhelm I. wurde die Bestimmung 1721 insofern abgemildert, als nun nicht mehr nur die Todes-, sondern auch Körper- und Haftstrafen verhängt werden konnten. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten regelte das Delikt 1794 in den Paragrafen 1069 bis 1072 neu. Es gab ihm einen Namen und schaffte die Todesstrafe ab (vgl. Berndl 2007):

§ 1069: Sodomiterey und andre dergleichen unnatürliche Sünden, welche wegen ihrer Abscheulichkeit nicht genannt werden können, erfordern eine gänzliche Vertilgung des Andenkens.

§ 1070: Es soll daher ein solcher Verbrecher, nachdem er ein- oder mehrjährige Zuchthausstrafe mit Willkommen und Abschied [d.i. Auspeitschung, Anm. J.D.] ausgestanden hat, aus dem Orte seines Aufenthalts, wo sein Laster bekannt geworden ist, auf immer verdammt, und das etwa gemißbrauchte Thier getödtet, oder heimlich aus der Gegend entfernt werden.

§ 1071: Wer jemanden zu dergleichen unnatürlichen Lastern verführt und missbraucht, der ist doppelter Strafe schuldig.

§ 1072: Machen sich Aeltern, Vormünder, Lehrer oder Erzieher dieses Verbrechens schuldig: so soll gegen dieselben vier- bis achtjährige Zuchthausstrafe mit Willkommen und Abschied statt finden.

Ähnlich wie zur Zeit der Todesstrafe war das Verbrechen doch noch so schwerwiegend, dass jede Erinnerung an den Täter ausgelöscht werden sollte. Allerdings erfuhr das Gesetz auch eine wesentliche Reform. Masturbation und gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Frauen standen jetzt nicht mehr unter Strafe, weil sie von der Definition her nicht mehr als Sodomie angesehen wurden. In der Forschung ist die Frage noch offen, inwieweit Masturbation vorher real verfolgt wurde. Bleibtreu-Ehrenberg zitiert einen niederländischen Strafrechtler von 1601, der schrieb, dass Masturbation selten zur Anklage komme und wenn, dann mit Landesverweisung geahndet werde (vgl. 1978, 300). In diese Richtung wird man es sich vorzustellen haben. Faktisch zählte Masturbation zu den Sodomie-Verbrechen, real wird wohl kaum jemand deswegen verurteilt worden sein.

Da der Gesetzestext den Handlungen jetzt zwar einen Namen gab – «Sodomiterey» –, sie aber nicht genauer definierte, übernahmen Juristen und Gerichtsmediziner die Aufgabe, das Verbrechen genauer zu beschreiben. Praktisch jede strafrechtliche und gerichtsmedizinische Abhandlung jener Zeit ging auf das Delikt ein und beteiligte sich am Streit über dessen genaue Definition.

Der Jurist Johann Jakob Cella nannte 1787 nur zwei Formen der Sodomie: homosexuelle Handlungen unter Männern («sodomia sexus») und sexuelle Handlungen mit Tieren («sodomia generis»). Beide Handlungen sah er nicht als strafwürdig an, obgleich er sie als unerlaubt einstufte. Der für seine Zeit sehr moderne Cella forderte eine grundlegende Reform der Sexualstraftatsbestände. Ihm zufolge dürfte man Sodomie und Totschlag, Mord und Ehebruch nicht als gleichermaßen strafbare Handlung ansehen. Jede Handlung, bei der kein Dritter geschädigt werde, müsse künftig straffrei bleiben. Ehebruch sei bestenfalls eine Zivilangelegenheit. «Daß der Mensch selbst sich dadurch ruinirt, sich und seinen moralischen Karakter entadelt, macht ihn an und für sich so wenig zum peinlichen Verbrecher, als der es ist, der durch unnatürlichen Genuß starker Getränke sich zum unbrauchbaren siechen Menschen macht, oder nach und nach gar zu tod sauft.» Obwohl Cella Vergewaltigung als Straftatbestand ansah, weil dabei «ein Dritter» geschädigt wird, wies er selbst «Verführung von Kindern» und das «Erregen eines öffentlichen Ärgernisses» lediglich dem Aufgabengebiet der örtlichen Sittenpolizei zu. Das staatliche Strafgesetzbuch sollte sich mit diesen Tatbeständen nicht befassen.

Auch Masturbation sah Cella als ein harmloses Laster an, das allein die Pädagogik bekämpfen müsse. Ausführlich diskutierte er ferner die sexuellen Handlungen zwischen Frauen. Er verneinte, dass es sich dabei um Sodomie handele. Es seien Handlungen von der Qualität eines onanistischen Lasters («Fingersünden»). Im Übrigen gehe keine Gefahr davon aus: «Weib mit Weib können sich immer nur sehr unvollkommen die Freuden des Beischlafs verschaffen. Der Durst nach Wollust wird bei unzüchtigen Umarmungen zwischen Weib und Weib mehr erhitzt und genährt, als gestillt und befriedigt. Geile, unzüchtige Mädchen werden sich dahero, jener Ausschweifungen ohnerachtet immer noch ehender nach dem vollständigen Genuß des ordentlichen Beischlafs sehnen, werden immer ehender auf den Weg der Natur zurücktreten, als Knabenschänder.» Der männliche Homosexuelle («Knabenschänder») galt bei Cella als Verlorener, während die weibliche Homosexuelle durch die Unvollkommenheit der Handlung auf den «Weg der Natur» zurückkomme (Cella 1787, 12-75; vgl. auch Henke 1826, 160-172). Insgesamt riet Cella kein Aufheben von der Sache zu machen: «Es ist ja ganz natürlich, dass, wenn ein Sodomit öffentlich verbrennt wird, vielleicht tausend unschuldige Seelen, die nach der Ursache, nach der Beschaffenheit seines Verbrechens fragen, dadurch zuerst deutliche Begriffe von diesem Laster bekommen, und bei lebhaften, zur Wollust geneigten Seelen gar leicht – sollte es auch nur aus Vorwitz geschehen – Triebe zu einem Verbrechen veranlasst werden, die vielleicht nie geweckt worden wären, wenn nicht so laut, so lebhaft davon gesprochen worden wäre. Nach Dingen, von denen man nur selten und gleichgültig spricht, werden nur wenige lüstern» (Cella 1787, 12-75).

Die Sache nicht nur nicht an die große Glocke zu hängen, sondern sie möglichst verborgen zu halten, damit die Untersuchung selbst keine nachteiligen Folgen habe, riet auch der Jurist Karl von Grolmann. Er wollte Sodomie (bei ihm: homosexuelle Handlungen unter Männern, sexuelle Handlungen mit Tieren, Masturbation) nur bestraft wissen, wenn sie öffentliches Aufsehen errege. Ansonsten sah er sie als ein «Polizeyverbrechen» und nicht als Straftat an und schlug demzufolge ortspolizeiliche Regelungen vor (Grolmann 1797/1818, 423ff.).

Die gerichtsmedizinische Literatur war gewöhnlich vielfältiger, denn sie musste sich nicht unbedingt an strafrechtliche Kategorien halten. Johann Christoph Fahner unterschied um 1800 sechs Arten von Sodomie («Unkeuschheit wieder [so im Original!] die Natur»): 1. «Onanie», 2. «Die Knabenschande», 3. «Schändung der Leichname», 4. «Fleischliche Vermischung mit Thieren», 5. «Die Befriedigung der Wollust an Statuen», 6. «Mittelst einer langen clitoris». Als Masturbationsform sieht er den Analverkehr zwischen Mann und Frau an, wie auch den Verkehr zwischen Frau und Frau. Diesen konnte sich Fahner offensichtlich nur als penetrationsähnliche Handlung vorstellen, wobei Frauen mit großer Klitoris, die er auch als «Zwittergestalten» bezeichnete, andere Frauen damit «kitzeln»: «Berüchtigt war diese Art von Wollust schon ehedem durch die lesbische Dichterin Sappho; sie hieß daher auch die lesbische Liebe, oder die Liebe der Tribaden. […] freilich bleibt eine solche Befriedigung der Wollust doch immer sehr unvollkommen, aber sie findet sich doch vielleicht häufiger, als man denken sollte […]». Der Begriff der «Knabenschande» steht bei Fahner eindeutig für männliche Homosexualität: «Dieses scheusliche Laster ist leider auch unter uns, besonders in unsern großen Städten, sehr eingerissen […] Dieser verkehrte Geschmack einer verbrecherischen Liebe, die das a posteriori und sogar beim männlichen Geschlechte sucht, was sie beim weiblichen Geschlechte a priori suchen sollte, wird […] für die künftigen Generationen unwiederbringlichen Nachtheil noch zur Folge haben, und sollte daher billig auch in foro, wenn dergleichen Greuel öffentlich zur Sprache kommen, aufs strengste gerügt werden» (Fahner 1800, 172-178).

Der Gerichtsmediziner Adolph Henke bezeichnete männliche Homosexualität 1832 als «Päderastie» und meinte damit ausdrücklich «Knabenschändung». Offensichtlich konnte er sie sich nur als intergenerationelle Handlungen vorstellen. Zur Sodomie rechnete er ferner die weibliche Homosexualität («lesbische Liebe» «Tribades», «fricatrices»), die auch er sich nur mit einem großen Kitzler denken konnte, und sexuelle Handlungen mit Tieren (Henke 1832, 136-137).

Der Gerichtsmediziner Georg Heinrich Masius wiederum zählte die ganze Reihe auf: «Das Laster der Sodomie wird begangen, wenn der Mann mit einem Manne, und das Weib mit einem Weibe, und wenn der Mensch mit einem Thiere den Beischlaf ausübt, oder mit Leichnamen, Scheintodhen oder Statuen sich vermischt. Die letzteren Arten sind seltner, wenn gleich nicht unerhört» (Masius 1812, 36-37). Später erweiterte er die Definition sogar. Sodomie sei auch Anal- und Oralverkehr zwischen Mann und Frau (vgl. Masius 1822, 264).

Letzteres war natürlich Unfug. Obwohl die Nichtstrafbarkeit des heterosexuellen Analverkehrs als logischer Widerspruch im Recht immer wieder ins Feld geführt wurde, war die Einteilung relativ eindeutig. Sie orientierte sich an drei Kategorien: 1. natürliche Zucht (Heterosexualität), 2. Unzucht und 3. widernatürliche Unzucht bzw. Sodomie. Der Begriff natürliche Zucht tauchte so wortwörtlich nie auf, aber umfasste sinngemäß das, was nicht zu den anderen beiden Kategorien gehörte: heterosexuellen vaginalen Verkehr mit dem Ziel, Kinder zu erzeugen. Der Theologe Carl Friedrich Bahrdt definierte ganz klar: «Das erste ist die gemeinschaftliche Befriedigung des Geschlechtstriebes. Denn da sich Eheleute miteinander verbinden, dem Staate neue Mitglieder zu erzeugen, und die Natur selbst diesen Trieb euch zu einem der stärksten und unüberwindlichsten Bedürfnisse gemacht hat, so ist es ja wohl natürlich, dass ihr sowol dies Bedürfniß hier befriedigen, als eure dem Staate schuldige Pflicht erfüllen müsset» (Bahrdt 1790, 303). In diesem Sinn hieß es auch im Artikel 1 des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten fest (Teil II, Titel 1): «Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder.» Diese Vorschrift wurde sowohl theologisch als auch staatspolitisch begründet. Die Mediziner dirigierten zudem auch die richtige Stellung. Georg Heinrich Masius argumentierte, der Beischlaf müsse im Liegen (die Frau unten) erfolgen, weil diese Stellung die «geschickteste» Art zur «Befruchtung» sei. Der Geschlechtsverkehr im Stehen oder von hinten sei dagegen nicht angeraten, da eine Befruchtung nicht möglich oder garantiert sei, außerdem «weil der Beischlaf in dieser Stellung gewöhnlich nur mit Huren, die in der Regel gar keiner wollüstigen Empfindung mehr fähig sind, ausgeübt wird» (Masius 1822, 214-216).

Unter den Begriff der «Unzucht» fielen im Umkehrschluss alle heterosexuellen Handlungen, die nicht zielgerichtet waren: Oral- und Analverkehr, Ehebruch, Prostitution (Gewerbsmäßige Unzucht), Verkehr mit Verhütungsmitteln (Mittel zur Herbeiführung unzüchtigen Verkehrs), gewalttätige Angriffe (unzüchtige Handlungen, Angriffe etc., Notzucht) und unzüchtige Schriften oder Bilder. Nicht alle unzüchtigen Handlungen standen unter Strafe.

In die dritte Kategorie der widernatürlichen Unzucht fielen alle übrigen «nicht zielgerichteten» und nicht heterosexuellen Sexualhandlungen. Als man 1794 davon absah, Masturbation und demzufolge weibliche Homosexualität, die als Form der Masturbation begriffen wurde, zu bestrafen, hatte das auch wesentliche Auswirkungen auf männliche Homosexualität. Masturbatorische Handlungen unter Männern konnten nun nicht mehr bestraft werden. Strafbar waren nur noch «beischlafähnliche» (so der spätere Rechtsbegriff) Handlungen – Handlungen, bei denen es zu einer «Vereinigung der Geschlechtsteile» kam mit dem Ziel, aber nicht der Notwendigkeit, einen Orgasmus herbeizuführen (Henke 1832, 154ff.).

Die Ausführungen der Gerichtsmediziner jener Zeit bieten Einblick in den Umgang mit Homosexualität. Masius berichtet mit Blick auf Rostock, dass «die Sodomie» in größeren Städten vorkomme und stillschweigend geduldet werde. Sie werde von vornehmen Wollüstlingen begangen. In Rostock habe sich 1820 ein Sodomit selbst entleibt. Auch seien Sodomiten öffentlich bekannt und man scheue sich nicht an öffentlichen Orten sie als solche zu bezeichnen. Mittlerweile sei das Laster auch in die unteren Volksklassen eingedrungen. «In manchen Städten kennt Jedermann die Päderasten […] und die Obrigkeit schweigt, um (o des elenden Motivs!) kein Skandal zu veranlassen.» Das Laster gewinne immer mehr die Oberhand und würde an manchen Orten sogar von «Jünglingen» von 19 bis 20 Jahren «getrieben». 1817 habe ein Sodomit einen «armen Knaben» mit Schanker angesteckt. Der Fall blieb ohne gerichtliche Untersuchung, und «man begnügte sich damit, dass der junge Bösewicht sich auf einige Zeit entfernte» (Masius 1822, 264-267).

Ob es gängige Praxis war, solche Fälle nicht zu verhandeln, ist bislang nicht untersucht. Bereits zwanzig Jahre vor Masius hatte Fahner eine strikte Öffentlichkeit solcher Fälle gefordert, um «dem so verderblichen Strome einen haltbaren Damm entgegen zu setzen». Scharfe Bestrafung und Öffentlichmachung der Fälle seien notwendig und nicht, wie es fast «allgemein Sitte bey den Gerichten sei, dass die widernatürlichen Fleischesverbrechen, die ihnen bekannt werden, so viel möglich in der Stille beigelegt oder gar unterdrückt werden […]» (Fahner 1800, 183).

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Queer Lectures

Zeitschrift der Initiative Queer Nations e.V., 7. Jg. 2014, Heft 14

Jens Dobler

Wie öffentliche Moral gemacht wird

Die Einführung des § 175 in das Strafgesetzbuch 1871

Herausgegeben von Benno Gammerl

Die Vortragsreihe Queer Lectures wird organisiert von Bodo Niendel und Andreas Pretzel.

© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2014

Umschlaggestaltung: Hermann Schmidt, Neueform, Göttingen, mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Akademie Waldschlösschen

1. Auflage 2014

ISBN der Print-Ausgabe 978-3-86300-183-4

ISBN der Ebook-Ausgabe 978-3-86300-186-5

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Lange Reihe 102 – 20099 Hamburg

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