Wie rote Erde - Tara June Winch - E-Book
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Wie rote Erde E-Book

Tara June Winch

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Beschreibung

Was bleibt, wenn sich der rot schimmernde Staub über Australien gelegt hat? Und wer bleibt, wenn es die Vergangenheit ist, die Grenze um Grenze setzt – wenn sie alles überdauert? August Gondiwindi ist Australierin, Wiradjuri, Enkeltochter – und: Schwester ohne Schwester. Als ihr Großvater Albert "Poppy" stirbt, kehrt sie nach zehn Jahren in London nach Prosperous zurück, um an seiner Beerdigung teilzunehmen. Dort, zwischen Massacre Plains und dem Broken Highway, ist sie aufgewachsen. Dort hat sie am Fluss mit ihrer Schwester gespielt, wurde von ihrer Mutter verlassen, und an diesem Ort lebte auch ihr Großvater, der Vermächtnisse und Geheimnisse in sich getragen hat, die August Stück für Stück aufdeckt. Denn an dieser Stelle beginnt für sie eine unaufhaltsame Suche: Nach einer Zugehörigkeit, die über Generationen andauert, nach dem, was ihr Großvater hinterlassen hat, der wahren Geschichte der Zeit und dem Schlüssel, mit dem sie die rote Erde ihres Landes zu retten vermag. Ein Kampf: um den eigenen Boden unter den eigenen Füßen. Albert Gondiwindi hat sein gesamtes Leben in Prosperous verbracht, in diesem einen Haus am Ufer des Murrumby Flusses, das nun droht von einem Bauunternehmen zerstört zu werden. Er weiß, dass sein letzter Atemzug unmittelbar bevorsteht und dass noch eine letzte Aufgabe erfüllt werden muss: Die Sprache seines Volkes, seine Sprache, all die Traditionen, die ihn begleitet haben, weiterzugeben. An seine Enkeltochter, an die Nachwelt. Doch nach dem Tod von Albert ist Augusts Trauer stark, wird verstärkt durch alte Wunden, die nicht nur haften, sondern kontinuierlich aufgerissen werden: Das Aufwachsen in Armut, die Inhaftierung ihrer Mutter, das Verschwinden ihrer Schwester, der Rassismus, den sie und ihre Familie ertragen mussten, ertragen müssen. Denn nur weil der Aggressor von heute einen anderen Namen, eine andere Verkleidung trägt als damals, ist es immer noch derselbe. Und die Linien, die vom weißen Kolonialismus wieder und wieder neu gesteckt und durch das Land der Aboriginals gezogen wurden, sind immer noch dieselben. Wie zurückerobern, was einem entrissen wurde? Wie akzeptieren, dass man selbst, die eigene Familie, die Menschen, die zu einem gehören –Generationen über Generationen – denselben Kampf kämpfen müssen? Die Kontinuitäten der Ausbeutung, des Versuchs, den Menschen Land und Kultur und der Erde Ressourcen und Nahrung zu rauben, werden sichtbar, als August die Konfrontation sucht. Sie ist entschlossen und legt einen Schwur ab: ihre Familie und ihr Land zu retten. Dabei wird sie getragen von den Worten ihres Großvaters, von Namen und Erinnerungen, Verbündeten. Von Beständigkeit. Denn was ihr Großvater sich aus der Seele geschrieben hat, das Vermächtnis aller, die vor ihm da waren und die nach ihm da sein werden, das bleibt. Der Mut der Menschen, der so tief im Boden verankert ist, er bleibt. Weil nichts verschwindet. Nichts stirbt. Nur Teil von uns wird. Und August? Sie ist. Dort, wo man ihr nicht erlaubt zu sein. Und: Sie bleibt. Aus dem Englischen von Juliane Lochner

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Seitenzahl: 464

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Tara June Winch

Wie rote Erde

Roman

Aus dem Englischen von Juliane Lochner

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
I
Elf
Zwölf
II
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
III
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
IV
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
V
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
VI
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
VII
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
VIII
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
IX
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
DAS WÖRTERBUCH VON ALBERT GONDIWINDI
QUELLENANGABE
ANMERKUNG DER AUTORIN
DANKSAGUNG
GLOSSAR
Tara June Winch
Zur Autorin
Zur Übersetzerin
Impressum

Für meine Familie

„Was ist Souveränität in Abwesenheit von Gerechtigkeit anderes als organisierter Raub?“

Augustinus

Eins

Ich wurde geboren auf Ngurambang – hörst du das? – Ngu-ram-bang. Wenn du es richtig aussprichst, schlägt es hinten im Mund an, und du solltest in deinen Worten Blut schmecken. Jeder Mensch in diesen Gegenden sollte das Wort für Land in der alten Sprache, der ersten Sprache, lernen – denn das ist der Weg, der zu allen Zeiten hinführt, zu mythischen Reisen! Ihr könnt euch ganz zum Anfang zurückbegeben.

Mein Daddy war Buddy Gondiwindi, er starb als junger Mann aufgrund einer inzwischen ausgerotteten Krankheit. Meine Mutter war Augustine, und sie starb als alte Frau – nun, auch an einer Krankheit der alten Welt.

Doch tatsächlich stirbt nichts, vielmehr gerät alles unter eure Füße, neben euch, wird Teil von euch selbst. Schaut hin – das Gras am Straßenrand, der Baum, der sich im Wind biegt, die Fische im Fluss, der Fisch auf eurem Teller, Fisch, der euch ernährt. Nichts verschwindet jemals. Wenn ich mich bald verändere, werde ich nicht tot sein. Stets habe ich Johannes 11:26 im Gedächtnis behalten: Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben, doch das Leben ist durch mich hindurch und an mir vorbeigeeilt, wie es jedem Menschen geschieht.

Bevor ich alles geglaubt habe, was man mich lehrte, dachte ich, wenn alle tot sind, dann wären alle nicht mehr da, und so versuchte ich als junger Bursche meinen Platz in diesem kurzen Leben zu finden. Ich war nur darauf aus, selbst zu entscheiden, wie ich leben würde, aber das war viel verlangt in einem Land, das einen Plan für mich bereithielt, der bereits vor der Geburt in meinen Adern angelegt war.

Was ich wenigstens beherrschen zu können glaubte, war mein eigener Verstand. Gut lesen zu lernen schien mir das Sinnvollste, was ich tun konnte. In einem Land, wo zu sein uns eigentlich nicht erlaubt war, beschloss ich also zu sein. Die Sterne vom Himmel zu holen, versteht ihr?

Später lernte ich meine schöne Frau kennen, wenn auch die Schönheit das Geringste an ihr war, weit größer war ihre Stärke und Furchtlosigkeit –, nun, sie brachte mir eine Menge bei. Das Größte, Beste, was sie mir beibrachte, war, die Wörter auch zu schreiben, sie brachte mir bei, dass ich nicht nur ein zweitklassiger Mann war, aufgezogen mit weißem Mehl und Christentum. Es war meine Frau Elsie, die mir das erste Wörterbuch kaufte. Ich glaube, sie wusste, dass sie damit einen Samen pflanzte, der in mir keimte. Was für ein treuer Gefährte das Wörterbuch ist. In diesem Buch stehen Geschichten, die euch glatt umhauen. Bis heute ist es mein wertvollster Besitz, und um nichts in der Welt würde ich es hergeben.

Wegen des Wörterbuchs von Elsie schreibe ich dies nieder – es führte mich an die Idee heran, ein Verzeichnis anzulegen, in schriftlicher Form, so wie der Reverend einst die Geburten und Taufen in der Mission erfasste, wie der Farmvorsteher die Zuteilungen notierte, wie die Dienstherrinnen und -herren unser gutes Benehmen im Jungenwohnheim zu Papier brachten – eine Liste von Wörtern, in der jeder Dummkopf nachschlagen und erfahren kann, was sie bedeuten. Ein Wörterbuch, selbst wenn diese Sprache nicht nur meine ist, selbst wenn wir nur in sie hineinwachsen und, wenn wir genug gelebt haben, uns von ihr entfernen. Ich schreibe, weil die Geister mich mahnen, dass ich mich erinnere, und weil die Stadt wissen muss, dass ich mich erinnere, mehr denn je müssen die Menschen das wissen.

Am Anfang – aber es gibt sehr viele Anfänge für uns Gondiwindi, damit wurden wir durch ein und dieselbe zwielichtige Magie beschenkt wie verflucht – war ein ewiges Es war einmal. Es heißt, die Kirche habe uns die Zeit gebracht, und die Kirche werde sie uns, wenn ihr es geschehen lasst, wieder nehmen. Ich schreibe jedoch über die andere Zeit, die abgrundtiefe Zeit. Dies hier ist eine große, große Geschichte. Die großen Dinge nehmen ihren ewigen Lauf, die Zeit zieht sich hin und windet sich, niemals verläuft sie geradlinig, das ist die wahre Geschichte der Zeit.

Das Problem, dem sich jetzt mein eigenes Es war einmal gegenüber sieht, besteht darin, dass mir Doktor Shah von der Praxis in der High Street ein lausiges Gesundheitszeugnis ausgestellt hat: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Demzufolge bin ich ein hoffnungsloser Fall.

Weil es also heißt, es sei dringend, und weil ich die Kirchenzeit gegen mich habe, greife ich zur Feder, um alles, was jemals jemandem im Gedächtnis war, weiterzugeben.

All die Wörter, die ich im Wind gefunden habe.

Zwei

Als kleiner Junge war Albert Gondiwindi am Fluss entlang bis Prosperous gelaufen, mit staunenden Augen, nackt, von dem Segeltuchdach in Tent Town hin zum Blech der Mission, zusammen mit seiner Mutter und seinem Schwesterchen in ihrem Bauch. Albert erinnerte sich oft daran, wie sie wanderten beziehungsweise marschierten; da waren berittene Polizisten, die ihnen den Weg über den roten Fluss wiesen, der von Teebäumen und anderen Dingen verfärbt war. Viele Jahre später, an seinem Todestag, fragte sich Albert erneut, wie es für die Alten dort am Murrumby gewesen sein musste, als er noch Wasser führte, in einer Zeit, als die Luft so sauber war wie vor der Erfindung der Wörter sauber und schmutzig. Der Fluss war damals bis in eine Tiefe von sechs Metern klar gewesen, die Erde summte ihre eigene ehrfurchtsvolle Melodie, tagein, tagaus bis zu einem bestimmten Tag. Wie schnell sich Dinge ändern, dachte er. In seinen letzten Stunden saß Albert da und schaute hinaus, genauso, wie bald die hinterbliebenen Gondiwindi zusammenkommen und ihre Blicke in die Ferne richten würden. Vor ihm auf dem Klapptisch lag das fast fertige Wörterbuch, hinter dem Tisch die ganze Welt. Plötzlich spürte er vom Murrumby eine Sturmbö herüberwehen und schlug reflexartig mit der Hand auf den Papierstoß, um die Wörter zu schützen. In der Entfernung hätte er schwören können, eine Gruppe Brolgakraniche fliegen zu sehen, weiter weg einen Schwarm Heuschrecken, und er sah, wie der Himmel seine Farbe veränderte; unterdessen flatterten gegen seinen Willen die Papierbögen. Er schloss die Augen und fragte sich, ob er im Begriff war, sich an einen anderen Ort zu begeben, und dann, wie durch den Wind angespornt, von den Ahnen angetrieben, zog er die Hand zurück und blickte in den Himmel hinauf, um zuzuschauen, wie die Blätter herumwirbelten und fortwehten und schließlich in den Lüften verschwanden.

Sie legte auf. Poppy Albert war tot. So weit weg von dort, wo Jungs lernten, Kaninchen zu töten, und Mädchen, mit der Trauer zu leben. Weit weg von da, wo die Menschen schuldig geboren wurden, es aber nicht zugeben konnten. Wo sich ganze Lebensjahre von ihr verflüchtigt hatten. Tage, mit undankbaren Tätigkeiten zugebracht oder unter einer Decke vergraben, um sich vor ganzen Jahresabschnitten zu drücken. Diese zehn Jahre hatten sie älter werden lassen wie eine Münze, aller Glanz war dahin. An diesem Ort auf der anderen Seite der Welt war sie, bevor das Telefon klingelte, aufgewacht, hatte sich Kaffee gemacht und ein Glas mit Aspirin. Nicht nur saß sie, August, wie jeden Morgen zwischen zwei Zuständen fest, dem Schlaf und dem Zu-sich-Kommen; gerade an diesem Morgen war sie gefangen an der Schwelle vom Jünger- zum Ältersein. Es stand ihr bevor, aus dem endlosen Abschnitt ihres dritten Lebensjahrzehnts zu treten, ohne dass sie etwas vorweisen konnte.

Als sie den Anruf mit der eiligen Meldung entgegennahm, spürte sie, wie etwas Dunkles und Dreidimensionales aus ihrem Körper fiel, etwas so Massives wie ein Stück ihrer selbst. Mit einem Mal war sie weniger geworden. Ihr war bewusst, dass sie zuvor genauso empfunden hatte, obwohl sie keine Tränen hatte kommen spüren, die das Gesicht verbrennen und die Augen verschleiern. Vielmehr fühlte sich ihr Gesicht bei Berührung kalt an, der Puls war verlangsamt, die Augen trocken, und ihre Arme, mit Reibeisenhaut und dünn wie Reisig, fingen an, ein Feuer zu machen. Sie nahm die Zeitung aus der Briefablage, holte die Holzkiste und kniete sich in die Ecke der Gemeinschaftsküche. Sie breitete die Zeitung aus, glättete die Seiten mit der Faust und nahm die Axt in die eine Hand und das Zypressenholz in die andere. In der Zeitung war ein kleines Foto eines Nashorns abgedruckt. Über dem Bild stand in großer Blockschrift: AUF IMMER VERSCHWUNDEN – SPITZMAULNASHORN AUSGESTORBEN. Ein Tier zack! Weg!

Sie hatte im Mund den Geschmack dessen, was sie sich unter Nashornhaut vorstellte, trocken, warm, dicht, Muskel und Staub. Niemandem hatte sie anvertraut, woran sich zu erinnern sie nicht über sich bringen konnte, und auch nicht, dass sie Dinge stattdessen schmecken und riechen konnte, die man eigentlich nicht schmecken und riechen konnte.

Mit einem Stapel Lehrbücher auf dem Schoß hatte eine Bekannte, die an der Abendschule einen Kurs in Sozialarbeit besuchte und die von Augusts ständigem Hunger wusste, aber nicht, was es hieß, ein schreckliches Erbe zu durchleben, sie einmal ganz unschuldig nach ihrer Schulzeit gefragt. August hatte sich darauf eingelassen und ihr berichtet, dass ihr nur beim Lunch bewusst wurde, dass sie arm war. Berichtete ihr, als sie später bei den Großeltern gelebt habe, sei das Essen immer gut gewesen, es waren immer die Reste des Vorabends. Sie sei die einzige Schülerin gewesen, die die Mikrowelle im Lehrerzimmer verwendete. Und zuvor? Zuvor hatte sie versucht, für sich zu behalten, dass das Mittagessen, das ihr die Mutter mitgegeben hatte, demütigend war, sie sagte nur, es sei abgefahren gewesen. Abgefahren? August kreiste mit dem Finger neben dem Ohr. Ihre Bekannte nickte, sie hatte verstanden und schloss die Augen, so wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt hatte – eine eingeübte Aufforderung zum Weitersprechen. Auch August hatte die Augen geschlossen und ließ ihre Erinnerungen Revue passieren.

An einem Tag ein Marmeladensandwich, die Rinde abgeschnitten, am nächsten Tag etwas, worüber sich die Kinder gern lustig machten – eine Packung Lebkuchen im Juli, Ostergebäck im Oktober. Manchmal ein Brötchen bestrichen mit nichts Halbem und nichts Ganzem, beispielsweise Ketchup. Und ich erinnere mich daran, wie ich einige Male die Brotdose öffnete und dass darin nur Spiel-Essen lag, ein kleines Lammkotelett aus Plastik, ein Plastikapfel ohne Stiel. Das war der Humor meiner Mutter.

August hatte den Humor nicht verstanden, als sie ein kleines Mädchen war, aber sie hatte damals darüber gelacht. Sie lachten beide, bis etwas in August kaputtging und sie tatsächlich weinte, zum letzten Mal, doch sie gab vor, es seien Lachtränen. Danach gingen sie in den Pub. Mehr erzählte August ihrer Bekannten nicht, nicht, wie sie von der Sonne getauft worden war, und auch nicht, dass sie – egal wie weit, weit weg von ihrem Land, von ihrem Zuhause sie war – immer noch nicht den Geruch und Geschmack von Staub und Diesel, Fleisch und schlammigem Wasser, der sich in ihrer grauen Gehirnhälfte eingenistet hatte, loswerden konnte. Dass das Schlimmste, was je geschehen konnte, bereits geschehen war. Und damit Schluss.

Das Nashorn in der Zeitung machte August bewusst, dass sie nie im Zoo gewesen war, nie ein Nashorn in natura gesehen hatte – es hätte ebenso gut ein Dinosaurier sein können. Die Zeitung listete noch andere in der jüngsten Zeit ausgerottete Lebewesen auf. Einfach so, dachte sie, zack! Weg! Und was Poppy betraf: Ihr Großvater Albert Gondiwindi existierte nicht mehr. Nie wieder würde Albert Gondiwindi über die Erde wandeln, und auch kein Spitzmaulnashorn. Sie legte einen Arm voll Hölzer in den Eisenofen, so dicht davor, dass sich ihr Gesicht von den ersten gierigen Flammen rötete. Poppy Albert pflegte zu sagen, die Böden müssten mehr brennen, ein gleichzeitig ungezügeltes und kontrolliertes Feuer, ein Widerspruch in sich. Aber er sprach von einem anderen Land, nicht von dem, das August seit zehn Jahren kannte – den rund ums Jahr feuchten Grasfluren, den fremden Wäldern mit ihren Ulmen, Eschen, Sykomoren, Haselnüssen und Silberweiden, die in stille Kanäle tunkten. Wo sich kleinere Vögel in gedämpften Farben zusammenscharten und wo niemals Feuer züngelten. Wo der Himmel in die Spiegelfläche eines steinernen Brunnens hineinpasste, angefüllt mit Regenwasser. Wo niedrige Morgenwolken Taschenspielertricks ausführten und der Tag es nie ganz schaffte, vor der Nacht da zu sein.

Sie wusste, dass sie einst mit dem geliebten Land vertraut gewesen war, wo die Sonne mit der offenen Hand auf die dürre Erde einschlug, sie wusste auch, dass sie für das Begräbnis zurückkehren würde. Zurückkehren voller Scham darüber, sich davongemacht zu haben, an den heruntergezogenen Mundwinkeln der anderen würde sie deren Enttäuschung bemerken, zurückkehren und versuchen, alle Dinge zu finden, die sie zigtausende Kilometer entfernt nicht hatte finden können.

August fand eine Vertretung für ihre Arbeit als Tellerwäscherin, packte die einzige Tasche, die sie besaß, und ehe sie die Maschine bestieg, schaltete sie ihr Telefon ganz aus. Während des Fluges behielt sie auf dem Bildschirm an der Kopflehne das Navigationssystem im Auge, sah die Zahlen erst ansteigen und dann stetig bleiben, das Flugzeug über das Trickfilmmeer gleiten. Am anderen Ende, nachdem es eine bestimmte Höhe erreicht hatte, kreuzte es die Zeitachsen, sank auf neue Koordinaten, sie hoffte, es reichte, um diese Reise auszuradieren. Die Tatsachen zu löschen, die Bestattungsriten, die ausgeführt werden mussten, zu streichen, alle Löschungen auszulöschen und ebenso die auseinandergebrochene Familie, die sie einmal waren, so wie seit einem Jahrhundert: gottlos, in Sozialwohnungen und überall im Land verstreut, und dann fragte sich August, ob es genug Erinnern gab, das man löschen konnte. Während des Fluges träumte sie von Poppy Albert. In dem Traum war er gesichtslos, doch sie wusste, dass er es war. Sie waren mitten in einer Unterhaltung angelangt; wie sie dorthin – auf das Feld – gekommen waren, wusste sie nicht. Er sagte ihr, dass viel dafür sprach, Geschichten zu haben, die eigene Geschichte, die eigene Kindheit zu kennen, aber dass auch das Vergessen etwas für sich habe. Zwar war es am Anfang des Traumes, doch wie am Ende eines langen Gesprächs hatte er sie bei der Hand genommen und gesagt: Es gibt eine Art Gedächtnisfolter, wenn du die Erinnerung zulässt, wenn du die Vergangenheit einlädst, sich an dich zu schmiegen, so tröstlich wie ein Blutegel. Er sagte ihr noch mehr – dass ein Fußabdruck in der Geschichte tausend Echos habe, dass es tausend Schlachten gebe, die täglich gefochten würden, weil die Menschen nicht vergessen konnten, was passiert war, ehe sie geboren wurden. Es gibt nur wenige Dinge, die schlimmer sind als die Erinnerung, aber auch nur wenige, die besser sind, hatte er gesagt. Sei vorsichtig.

Drei

Yarranbaum, Speerholzbaum oder Hickoryakazie – yarrany Das Wörterbuch besteht nicht nur aus Wörtern. Auf diesen Seiten gibt es auch kleine Geschichten. Nach Jahren mit dem zweiten großartigen Buch habe ich die beste Methode ergründet, es zu lesen. Beim ersten Mal bin ich die Lektüre angegangen wie die der Bibel, von vorn nach hinten. Zuerst die Wörter mit Aa – da findet man Aaron, den im Buch Exodus, Bruder des Moses, Begründer der jüdischen Priesterschaft. Aardvark – Erdferkel, dieses Tier mit röhrenförmiger Schnauze, das die Ameisen Afrikas frisst. Es gibt auch Abkürzungen wie AA, Anonyme Alkoholiker – wo Menschen Heilung von der Flasche suchen. Das versetzte mir einen Schlag in die Magengrube. Meine Mummy sagte: „Der Aborigine ist ein Bild des Jammers, mein Sohn.“ Sie meinte, alle fühlten sich immerfort durch sie beleidigt, egal, was sie tue, deshalb gestatte sie sich das Beleidigendste, was sie sich ausdenken konnte – und sie griff nach dem Gift, das die anderen mitgebracht hatten, und zog in die Stadt.

Ihr könntet das Wörterbuch weiter so lesen – von vorn nach hinten, pfeilgerade –, oder ihr könntet zu aardvark gehen, dann zu Afrika springen, dann zu Kontinent, zu Nationen, zu Kolonialismus, dann einen Sprung hinüber zu Empire machen, wieder zurück zu Apartheid in Abschnitt A; die fand in Südafrika satt. Noch eine andere Story.

Als ich beim Buchstaben W im Oxford English Dictionary war, hätte da wiray stehenmüssen, das heißt „nein“. Wiray gab es allerdings nicht, aber ich dachte, ich schreibe es da hin. Weizen gab es zwar, aber als ich weiterblätterte, gab es nicht unser Wort für Weizen, kein yura. Deshalb überlegte ich, ich mache meine eigene Wörterliste. Wir haben kein Wort mit Z in unserem Alphabet, glaube ich, daher dachte ich, ich fange von hinten an, in Anspielung auf die rückständige Whitefella-Welt, in der ich aufgewachsen bin, und fange bei Y an – yarrany. Das ist also das Es-war-einmal für euch. Sprecht es aus – yarrany, das ist unser Wort für den Speerholzbaum: Und daraus habe ich einmal einen Speer angefertigt, um einen Menschen zu töten.

Vier

Das Flugzeug kam zum Stehen, August ging von Bord und wurde von der Hitze erschlagen, siebenunddreißig Grad – Badewannentemperatur. Sie war zwar in diese Hitze hineingeboren, doch nicht mehr daran gewöhnt. Hier, so erinnerte sie sich, war der Sommer keine Jahreszeit, sondern eine Ewigkeit. Im Terminal überzog sie ihr Konto, als sie einen preisgünstigen Wagen auslieh, und fuhr sieben Stunden lang von der Küste weg Richtung Westen, über die Stadtautobahn, über den Hinterland-Highway und schließlich den Broken Highway, und gelangte zu den Außenbezirken von Massacre Plains. Der Broken Highway durchschneidet geradewegs die sandig knospenden Kornfelder, das Meer frischgeschorener Schafe und das Eichengestrüpp, das angefangen hatte, die trockeneren Tonböden zu überwuchern. Der größte Unterschied zwischen früher und heute zeigte sich nicht nur an dem noch matteren Vieh, den noch durstigeren Pflanzen und der außerordentlichen Hitze, die sich im Binnenland festgesetzt hatte, sondern auch daran, dass dieses Wetter nahe daran war, in Verzweiflung umzuschlagen.

Schilder mit der Aufschrift Achtung, unwegsame Straße warnten August vor ihrer Ankunft in den Plains. Sie registrierte die ersten sichtbaren Anzeichen der Hitze, die vom geplatzten Asphalt abstrahlte, und die karge, unheilverkündende Landschaft abseits der Straße. So weit landeinwärts war alles noch brauner, strohtrocken.

In der Stadt Massacre Plains waren etwa zweitausend Menschen samt ihren Kindern und Kindeskindern zu Hause. Die halbe Stadt – die Ehefrauen – stand hinter den Ladentheken, und die andere Hälfte – die Ehemänner – war selbstmordgefährdet wegen der Verschuldung ihrer Farmen, und die meisten Söhne und Töchter, verführt von Löhnen, die das Existenzminimum abdeckten, unterschrieben Verträge als Kadettinnen und Kadetten bei der Army. Alle schleppten sich bis zu den alljährlichen Renntagen durch die Langeweile. Einige kamen mit dem Arbeitslosengeld aus, andere hatten eine Beschäftigung, doch nur wenige hatten einen Beruf.

Der Murrumby teilte die Menschen in der Stadt. Die Beinamen waren den Supermarktregalen entlehnt: Milchschokolade hießen die Gondiwindi von der alten Mission nördlich der Stadt, die Blackfellas wohnten südlich der Stadt in ihren Sozialwohnungen im Vegemite Valley, gemünzt nach dem salzigen Brotaufstrich, dunkel wie Melassesirup. Im Stadtzentrum wohnte die entsprechend ihrer eigenen Übereinkunft so bezeichnete Mittelklasse und wurde als Minties tituliert, benannt nach den gleichnamigen weißen, klebrigen, einzeln in Papier gewickelten Pfefferminzbonbons. Die Häuser der Minties hatten Türklingeln und verschlossene Tore. Nur im Vegemite Valley standen die Haustüren weit offen. Zuneigung und Zank verkehrten ungehindert zwischen dem Hausinneren und der Straße. Durch einige Türen traten des Öfteren unerbittliche Diözesanpriester ein, es waren Zugänge zu zerrütteten Verhältnissen, wo schamerfüllte alleinerziehende Mütter schweigsame Jungen aufzogen, die später im Leben wütend wurden.

August wusste nicht alles und erinnerte sich nicht an alles, was den Menschen von Vegemite Valley angetan worden war. Ihr Gedächtnis hatte sich zwar dazu bequemen können, die schlechten Gedanken zu begraben, doch war es verlässlich genug, auch die guten zuweilen zu unterdrücken.

Draußen in der Mission Prosperous hatte ein Eukalyptuswäldchen zwei Jahrhunderte lang alles in Erinnerung behalten. Nicht von allem, was die Bäume gesehen hatten, hatte August eine Ahnung. Sie erinnerte sich nicht an die Whirly-whirlies, Sandhosen, die Staub über die Weiden wirbelten, jene kleinen harmlosen Tornados, die in ihrer Kindheit fast eine Dauererscheinung waren. Die meisten Farmhäuser in Massacre Plains waren ans Stromnetz angeschlossen und brummten unaufhörlich; andere weiter draußen, so wie Southerly und Prosperous, erwachten mit dem knatternden Start des Generators zum Leben. Sie erinnerte sich an das ständige Tuckern. Und sie erinnerte sich – beziehungsweise wollte sich erinnern – an die Frische des Murrumby. Poppy nannte den Murrumby immer das Große Wasser, einst war es durch das Land geflossen, von einem Bundesstaat zum anderen, von Süden nach Norden. August hatte nur eine schwache Erinnerung an den Fluss, da das Wasser nicht mehr floss, seit sie ein kleines Mädchen war, und das nicht nur, weil der Staudamm gebaut worden war, sondern auch, weil der Regen verschwunden war. Und einige meinen, da in der Gegend genügend Menschen Tränen vergössen, fühlte sich der Murrumby nicht mehr gebraucht.

August hielt vor dem Abzweig an, um Vorräte zu besorgen, sie wollte zwar keine Zigaretten kaufen, ahnte aber, dass sie es doch tun würde. Der Gemischtwarenladen war außen mit grüner Gaze verhängt, wie eine Kunstinstallation, dachte sie. Auf dem Bürgersteig lagerte auch grünes Netzmaterial zum Verkauf; riesige Rollen lehnten aneinander wie Stoffballen, oder – wie sie sich vorstellte – wie Menschen, die sich auf einem sinkenden Schiff an die Reling drängen. Neben den grünen Ballen standen Kisten mit Plastik-Kabelbindern, in denen sie dieselben wiedererkannte, die Polizisten immer an den Wochenendabenden mit sich führten.

Beim Hinausgehen nestelte sie an dem Netz, das über den Ladentüren hing, und traf auf einen anderen Kunden, der mit Schlüsseln in der Hand den Laden betrat. Es war ein älterer Mann, er stolperte erschrocken rückwärts, als August den Fliegenvorhang zur Seite zog.

„Entschuldigung“, beteuerte sie und streckte ihm die Hand entgegen, die er aber nicht nahm. Er fand ohne ihre Hilfe wieder festen Halt und musterte kurz ihr Gesicht.

„Nun, Sie müssen ein Gondiwindi-Mädchen sein“, meinte er übertrieben freundlich.

August nickte kurz und drückte den Einkaufsbeutel an die Brust, das Kinn in die hineingestopften Lebensmittel getaucht.

„Ein Gondiwindigesicht erkenne ich immer.“ Er lächelte leicht, als wäre es ein Kompliment. „Richten Sie unser Beileid seitens der Kirche aus.“

„Das tue ich. Danke …“ Sie war sich nicht sicher, was für eine Höflichkeitsbezeigung gegenüber jemandem angebracht war, den sie nicht kannte, und beließ es bei einem „Sir, danke, Sir“.

August hatte sich schon abgewandt, als der Mann in die Luft griff, als flöge ihm ein nachträglicher Gedanke davon. „Gott segne Sie“, fügte er hinzu. August verspürte ein ausgesprochen grässliches Kribbeln, und sie schmeckte den Azetongeruch seiner Haut. Ohne ein weiteres Wort entfernte sie sich. Einheimische, die sie in keinerlei Weise beachteten, trugen Ballen für ihre eigenen Läden davon. Ein paar Männer hockten bei ihren Pick-ups neben den Zapfsäulen und brachten Gazestücke an den Luftfiltern an. August ließ den klaren blauen Himmel auf sich wirken – die Heuschrecken würden erst später eintreffen.

Aus dem Mietwagen sah sie das Stadtzentrum an den Horizont geschmiegt. Dort hatte sich, seit sie weggegangen war, viel zugetragen. Entgangen waren August fast alle Geburten, Sterbefälle und Eheschließungen. Genügend Zeit war vergangen, um die Stadt fast ganz zu vergessen, auch wenn sie sich ein lebhaftes Interesse an den Ort bewahrt hatte, an dem ihre Schwester vom Erdboden verschluckt worden war. Einmal im Monat hatte sie Nana – ihre Großmutter – und Poppy angerufen, die Datenbank der Vermissten geprüft und ihrer Mutter Briefe geschrieben – ohne Antwort. Sie las im Internet die amtlichen Bekanntmachungen der Gemeinde, die Fortschritt versprachen, der nie eintraf: die schnelle Bahnverbindung, ohne die man aber immer weiter zurechtkommen musste, die ländliche Universität, deren Fertigstellung endlos auf sich warten ließ, der verzögerte Ausbau der Bibliothek. Selbst nachdem August der Stadt den Rücken gekehrt hatte, wollte sie ein Teil von ihr bleiben. Nach einiger Zeit hatten sich die Leute offensichtlich daran gewöhnt, dass die Schwestern weg waren, und genau so, wie August auf eine Nachricht über Jeddas Rückkehr erpicht war, hatte sie darauf gehofft, dass jemand um ihre eigene Wiederkehr bat. Weder das eine noch das andere traf ein.

Vom Gemischtwarenladen fuhr sie zwei Kilometer den langen Hang hinunter zur letzten Abbiegung und von dort noch zwei weitere bis zur Farm Prosperous. Sie hielt mit dem Mietwagen neben den beiden Zinkbriefkästen an und schreckte dabei einen Schwarm Galahs – Rosakakadus – auf. Sie bemerkte, dass nur die Gelben Eukalyptusbäume entlang des ausgedehnten Randstreifens größer und ausladender geworden waren, dort wo einst die Fahrbücherei den Schotter aufspritzen ließ. Ihre Straße hatte sich zu weit abseits der Stadt befunden, als dass der Eiswagen sie aufsuchte, doch zweimal monatlich kam die Fahrbücherei mit ihren schräg emporstrebenden Regalen und Zeitschriftenständern, die mit langen elastischen Bändern festgezurrt waren. August spähte durch die Pfefferminzbäume und lenkte das Auto im Kriechtempo an den Rosen vorbei, die von der Gabelung des Grundstückes an auseinanderliefen, dort wo die Zufahrt sich in den unbefestigten Fahrweg zum Prosperous House, das zwanzig Meter von der Straße entfernt stand, und den anderen Zweig der Gabelung teilte, eine hundert Meter lange betonierte Piste hinauf zum Southerly House. Southerly House war wie immer frisch gestrichen und hatte neben sich ein Obstgärtchen. Hinter dem Eingang und den Gebäuden erstreckte sich ein riesiges Feld, fünfhundert Morgen reifer Weizen, bis hin zu den Kuppen der Bäume, die die Erinnerung bewahrten, jene Eukalyptusbäume, die sich am Fluss versammelten.

Die Gondiwindi hatten schon immer an verschiedenen Stellen am Murrumby gelebt. Während der letzten anderthalb Jahrhunderte lebten sie zehn Kilometer nördlich der Stadt in Prosperous, unter dem dreihundert Meter hohen Felsen Kengal. Von jedem Punkt des Grundstückes aus konnten die Gondiwindi, wenn sie bei der Feldarbeit eine Pause machten und nach Norden schauten, den aschgrauen granitenen Kengal unveränderlich vor dem sich ständig verändernden Himmel erblicken.

Zu ihrer Rechten stand die umfunktionierte, jetzt baufällige Kirche von Prosperous. Nur eine kleine Gemeinde würde hineinpassen, wo früher gerade einmal dreißig Kirchenbänke den Raum ausfüllten. Wie gespreizte Puppenglieder waren die ebenerdigen Erweiterungen an den Körper von Prosperous angefügt worden. Das Dutzend Hütten, die ursprünglich über das Grundstück verstreut standen und wo einst Kinder schliefen, war zu Hügeln und Feuerholz zusammengefallen.

Rote und orangefarbene Blütenwedel von Zylinderputzerbäumen hingen trotzig im stillen, heißen Nachmittag. Banksienblüten drückten die Zweige nieder und ließen Saft in den Gemüsegarten vor der Veranda tropfen. Die einst gepflegten Gemüsereihen waren verkümmert. Tomaten vertrockneten vor dem Pflücken in der Sonne. Gartenfächerschwänze ließen ihre Federn zwischen dem ermüdeten Jasmin und der Lilly-Pilly-Myrte erzittern. Die Pinienbretter am Haus, von der Hitze verzogen, waren zersplittert, die Farbe war mit der Zeit abgeblättert. Staub bedeckte die Fenster, Ziegel rutschten von ihrem vorgesehenen Platz. Alles war gelbgrün, krank von heißen Düften. Es fiel ihr schwer auszumachen, wo Prosperous House anfing und wo der verwahrloste Garten aufhörte. August schweifte über das Grundstück und hielt nur inne, um dem vertrauten Klang zu lauschen, der die Welt umhüllte, dem Raspeln der Zikaden und dem Peitschenknall des Wippflöters.

Sie sah sich um nach dem Blechschuppen, der sich hinter die Traktoren mitten ins Feld duckte, fünf Morgen entfernt. Hielt Ausschau nach dem Dach des Schafstalls, den Metalldächern der Hochsilos, den Armen der übrig gebliebenen Bäume, die einen natürlichen Pfad bildeten, den man entlanggehen konnte. Sie wusste, dass man auf den ersten Blick oder mit den Augen eines Fremden nicht alles hier bemerken würde. Nicht so, wie sie und ihre Schwester einst alles kannten, nicht die Geheimverstecke oder die Dinge, die man begehrte oder essen konnte, falls man wusste, wo man suchen sollte. Nicht die Knochen von Dingen, die sie noch erkennen konnte. Sie suchte mit dem Blick alles nach Jedda ab. Nach der für immer verschwundenen Jedda.

Sie drehte noch eine Runde über das Gelände von Prosperous und gab acht auf Schlangen, auf die Schattenwesen, die bei Tage erscheinen, und nachdem sie das Gelände durchstreift hatte, rief sie in Richtung der hinteren Veranda. Ein zusammengerollter Kelpiehund hob den Kopf von einem der zwei Rohrsessel und gab kläffend Antwort, dann legte er die Schnauze auf die Pfoten, als wäre er arbeitsscheu. August beugte sich hinunter und tätschelte den Hund zwischen den Ohren. Sie holte ihre Tasche aus dem Auto und kam zurück, öffnete die Tür und ließ zum ersten Mal nach über zehn Jahren die Fliegentür hinter sich zuklappen. Das Fliegengitter traf auf den Rahmen und schlug noch einmal federnd an, während sie die Schlüssel auf die hölzerne Anrichte fallen ließ, die grobklotzig und vor Staub starrend dastand und längst einmal gebeizt werden müsste. Sie stieß die Tür zu dem großen Zimmer auf, vollgestellt mit Papp- und Umzugskartons, warf einen Blick in die Räume im Erdgeschoss und ins Bad. Draußen lief der Kelpie neben ihr her am leerstehenden Anbau für die Arbeiterentlang. Sie lugte in den kleinen Gartenschuppen, und als sie schließlich zaghaft nach Nana rief, hörte sie, wie eine Stimme zurückschrie: „Jedda?“

„Ich bin’s, Nan, August.“ Sie erspähte sie, wie sie die Zitrusbäume umrundete, einen Korb mit Wäscheklammern an sich drückend. „Es tut mir leid wegen Pop, Nana.“

August sah ihre Nana zusammenzucken und bereute es, ihr so eine banale Beileidsformel an den Kopf geworfen zu haben. Ihre aufgewühlten Gemüter kamen zur Ruhe, als Elsie August instinktiv an den Armen zu sich zog, wie einen mit den Händen aus dem Wasser eingeholten Fang, und sie aufs Ohr küsste. Sie legte ihrer Enkelin die Hand an die Wange und schaute sie an, als wollte sie sich versichern, dass sie nicht die verlorene Schwester war. Mit ihren arthritischen Fingern fuhr sie zu den Vertiefungen am Schlüsselbein und flugs von oben bis unten die Arme entlang, bis August ihren Körper der Vermessung entzog. Wie Prosperous, wie August sah auch Elsie nun anders aus, gealtert, verblüht.

August fiel ein, dass sich die Familie, nachdem Jedda allzu lange verschwunden war, abkapselte, ihre Traurigkeit war wie ein Stillleben. Doch das lag – so wusste sie damals – daran, dass sie noch ein Kind war und ihre Nana und ihr Poppy einen Grund hatten, nicht der Verzweiflung zu erliegen. Jetzt dagegen gab es keine kleinen Kinder weit und breit, denen die große Trauer, die von einem Menschen Besitz ergreifen konnte, Furcht einjagte. Doch Elsie war nicht bei der Hoffnungslosigkeit angelangt, das Gewicht des Todes ihres Mannes hatte sie noch nicht vollständig gebeugt.

Vielmehr hatte Elsie an jenen ersten Tagen nach Alberts Tod gefühlt, dass er noch da war, in einem anderen Zimmer des Hauses ein Schläfchen hielt, im Garten arbeitete oder draußen auf der Straße Rad fuhr, um das Altern der Knie hinauszuzögern. Elsie konzentrierte sich auf ihre Enkelin – so lange hatte sie sie nicht zu Gesicht bekommen. Sie fand es schwierig, August anzusehen und sie gleichzeitig nicht anzusehen, denn Elsie erkannte, wie krank sie sich gemacht hatte, wie sie die ganze Zeit in einem Jungenkörper Zuflucht gesucht hatte.

Elsie deutete August, ihr ins Haus zu folgen, und August nahm ihre ausgestreckte Hand, als sie eintraten. Drinnen stellte ihre Nana den Klammernkorb auf dem Esstisch ab und setzte sich auf das Sofa. Sie sah verwirrt aus, war aber wieder ganz bei sich, als August näher zu ihr trat.

„Ein Tässchen Tee, Nan?“

Elsie nickte und stand auf und führte August, um die Taille gefasst und an sie gelehnt, dabei tupfte sie sich mit dem Daumen die feuchten Augen. August wusste nicht, ob aus Enttäuschung oder aus Sorge, und Elsie war sich auch nicht sicher.

„Milch und Zucker?“

Gemeinsam bereiteten sie den Tee zu. Elsie bewegte sich mühelos in der Küche, sie hatte Probleme mit den Handgelenken, aber ansonsten war sie gesund. August sah zu, wie sie den Kochtopf nahm und ihn auf die Anrichte stellte, und sie erschauderte, als Elsie einen Augenblick lang nur hineinstarrte. „Kann ich helfen, Nana?“

„Kannst du“, sagte sie nach dieser ungewissen Pause, in der sie an das Fleisch und die zwei Gemüsesorten für das Abendessen gedacht hatte. „Hol mir die Bohnen aus dem Kühlschrank, und du kümmerst dich um die Kartoffeln.“

Die Bohnen wurden mitsamt einem Schälmesser gereicht, und Kartoffeln fanden sich im Schrank unter der Spüle, wo sie schon immer waren. Elsie holte einen Stuhl mit gerader Lehne heran, setzte sich und schnitt die Enden der grünen Bohnen ab. Sie versuchte, August stumm im Auge zu behalten, die Lippen aufeinandergepresst beim Anblick dessen, was aus ihr geworden war; sie wollte sie zum Sprechen bringen. Denn warum sollte Elsie das Wort ergreifen? Schließlich, dachte sie, hatte sie hier ausgeharrt, all die Jahre, in denen August zu jung zum Fortlaufen war, und dann all die Jahre, in denen sie alt genug und imstande war, sie zu besuchen, es aber nicht tat. Elsie dachte erneut, dass Augusts Appetitlosigkeit ihre frühere Schönheit ruiniert hatte, und August, die mitbekommen hatte, dass sie eingehend taxiert wurde, drehte sich weg von ihrer Nana und sah zur Hintertür hinaus, wo der Hund döste.

„Wie heißt der Kelpie?“

„Spike. Dein Pop hat ihn letzten Monat für mich gekauft. Sie ist ein braves altes Mädchen.“

August war begierig darauf, Fragen zu stellen, aber mit der Tür ins Haus fallen wollte sie nicht. Nach einer Weile hielt sie es nicht mehr aus.

„Kommt Mum?“

„Ich denke mal, sie bekommt Freigang, aber warten wir’s mal ab.“

„Geht es ihr gut?“

„Seit Ewigkeiten nicht, Mädchen.“

„Kommen alle? Zur Bestattung und allem drum herum?“

„Ja, Liebes. Hol mal die Butter.“

August öffnete den Kühlschrank, brachte die Butter zur Spüle und machte sich wieder ans Kartoffelschälen.

Elsie seufzte laut. „Leute aus der Großstadt nehmen das Haus, Augie.“

„Wie bitte?“, fragte sie, nicht sicher, ob sie recht gehört hatte.

„Der Stadtrat meint, daran lässt sich nichts ändern. Wir haben Nein gesagt, aber in der Bürgerversammlung vor zwei Monaten hieß es, es führt kein Weg daran vorbei.“ Sie erhob sich vom Stuhl und ging wieder zum Sofa, erschöpft von all dem Traurigen, das an die Oberfläche trat. „Es ist nicht euer Land, sagen sie, nicht mal dieses Häuschen. Es gehört der Krone oder so ähnlich. Hol mal Salbei aus dem Garten, Liebes.“

August kehrte mit einer Handvoll Kräuter in die Küche zurück. „Wie das?“

„Keine Ahnung, August. Sie haben uns nur gesagt abzuwarten … Jedenfalls ist es das, was sie mir gesagt haben.“

„Ich bleibe bei dir, wenn du willst. Soll ich dableiben, Nana?“

„Stell keine dummen Fragen“, antwortete Elsie, wobei ihr die Augen zufielen, und damit war das Gespräch beendet.

August nahm ihr Gepäck und die Lebensmittel mit in das Zimmer im Dachgeschoss, das jetzt als Arbeitszimmer diente. Alberts Papiere und Bücher lagen auf der Glasplatte eines Schreibtischs aus Korbgeflecht ausgebreitet. Sein Schachbrett lag da ohne Figuren, in einer Schale daneben die Holzfiguren. August erinnerte sich daran, wie er es ihr beibrachte und sie schimpfte, wenn sie eine Figur berührte, aber es sich dann anders überlegte. „Hoppla – du hast es angefasst, nun musst du es auch bewegen.“ Im Buntglasfenster über dem Schreibtisch fehlte ein Stück, ein Blütenblatt der Lutherrose. Es war ein kleines Fenster, armlang. August schoss die Frage durch den Kopf, was Gott von ihr halten würde. Was Poppy wohl von ihr dachte, da oben oder da unten bei Gott? Umgehend leuchtete ihr ein, dass es Fragen ohne Antwort gab, Straßen ohne Ziel. Die Religion hatte sie und das Haus vor langer Zeit im Stich gelassen. August sah schon vor sich, wie demnächst Menschen über das Haus hereinbrechen würden, alle, die sie einmal gekannt hatte, würden sich einfinden. Sie erfasste das Zimmer in allen Einzelheiten. Sie dachte bei sich, ich kenne diesen Ort, aber hier gab es früher ein Doppelstockbett; damals waren wir hier. In Gedanken hatte sie die zehnjährige Jedda vor sich, im Gegenlicht, wie sie aus der Dachkammer rennt, die Treppe hinunter und durch die noch nicht abgeernteten Felder. Die Traktoren näherten sich dem November, als wäre das Jahr ein Lied und die Ernte der Refrain. Danach rannten die Schwestern wieder durch das Feld, wenn der Weizen zu kurzen Stoppeln abgemäht war, das wildschweinborstige Feld ihrer Kindheit.

Fünf

Gelbohr-Rabenkakadu – bilirrBil-irr wird am Ende gerollt, der musikalischste Teil eines jeden Wortes ist das „rr“ – mir fällt kein anderes ähnliches Wort in Australien ein, in Schottland dagegen könnte ich es mir vorstellen, denn man spricht dort nicht mit flachen Zungen. Bilirr – das ist ein gerollter Trillerlaut, bei dem die Zungenspitze nah an den Zähnen vibriert. Der bilirr ist ein prächtiger Vogel, stark, adlergleich. Schwarz wie eine Feuerstelle, die gelben Federn sind beim Flug zu sehen. Den Gelbohr-Rabenkakadu habe ich mein ganzes Leben lang beobachtet. Alle Gondiwindi liebten den bilirr. Bevor sie auf der Prosperous Farm lebte, hatte meine Mummy in Tent Town gelebt, vier Meilen flussabwärts, wo sie mich im flachen warmen Sand gebar, unter dem Krächzen des bilirrs.

Nachdem Tent Town plattgemacht, die Mission in eine Farm umgewandelt und ich und alle anderen Kinder verschleppt worden waren, erinnere ich mich, wie ich vor das Jungenwohnheim hinaustrat und unter dem Schild stand, das draußen hing – Denk Weiß. Handle Weiß. SeiWeiß. Ich schaute zum blauen Himmel auf und ließ den Blick wieder sinken. Als ich ins Tal hinunterblickte, sah ich eine Frau auf mich zukommen, sie wandelte geradewegs durch den Drahtzaun, der das ganze Haus umgab.

Ich lief durchs Gras zu ihr und sagte: „Guten Tag.“

Die Geistfrau trug nichts in den Händen, sie zeigte sie mir, sie sah ein bisschen wie meine Mummy aus und sagte: „Wanga-dyung.“

„Was bedeutet das?“

Sie antwortete: „Es bedeutet verloren, aber nicht für immer.“

Ich sagte okay, und sie trug mir auf, das Wort zu üben. Ich prägte mir diese Begegnung ein als meine erste mythische Reise überhaupt, denn als ich mich umdrehte, um keine zehn Schritte entfernt ins Haus zu treten, hing der Himmel tief und grau. Die Frau war verschwunden, nur ein bilirr hockte auf dem Zaun. Mir war klar, der Himmel konnte nicht noch vor ein paar Sekunden wolkenlos gewesen sein, und in diesem Augenblick erkannte ich, dass ich es war, der unterwegs gewesen war, nicht die Welt.

trotzdem, falls, dann, als, damals – yandu Als ich das erste Mal yandu hörte, kam es in einem Durcheinander daher, es war, wie das Fleisch in einer Wörtersuppe zu entdecken, es herauszufischen und zu betrachten. Damals kamen meine Ahnen jeden Tag zum Jungenwohnheim. Eine ganze Schar von ihnen, alte und junge, sogar kleine Kinder erschienen beim Klohäuschen oder irgendwo sonst – neben meinem Kopfkissen, wenn es Zeit zum Schlafengehen war, oder morgens beim Bettenmachen. Sie sahen mich an und winkten mir zu, riefen mich zum Fluss hinaus. Der Fluss erschien immer dort, wo wir gerade waren. Dann sind wir umhergelaufen und haben über dies und das geredet, und diese Ahnen sprachen mit mir auch Englisch, sodass sie mir alles übersetzen konnten. Nachts gab es ein Feuer, manchmal ein Corroborree, und eine üppige Mahlzeit aus Känguruschwanz garte auf den Kohlen, oder auch Aale aus dem Fluss. Es war also am Lagerfeuer, wo ich das Wort yandu aufschnappte – alle gaben Geschichten über dieses oder jenes Tier zum Besten, über diesen Fella oder jene Frau. Es wurde viel gescherzt und gelacht. Mein Urururgroßvater war mit dabei, meistens redete nur er. So hörte ich allmählich die Musik der Sätze heraus, die Pausen, die d-Laute, die einander in seinem Mund anrempelten. Meistens kam ich dort, wo alle mit mir am Feuer saßen, nicht zu Wort, aber wenn doch, wenn ich das Wort yandu aufspürte, dann wartete ich auf die erste Pause in seiner Erzählung, und war sie da, dann sagte ich „Yandu“, und er fragte: „Wenn was?“ „Yandu“, wiederholte ich und wünschte mir, dass er mir die Bedeutung erklärt – er aber legte nur den Arm um mich, lachte und klopfte mir auf die Schulter. Er sagte: „Yandu, Sohn, ist der Klebstoff für deine Geschichten.“ Daran erinnere ich mich.

ernten, die Füße beugen, auftretenwie beim Zu-Fuß-Gehen, auch lang, groß – baayanha „Ernte“ ist ein komisches Wort. Auf Englisch ist es die Ernte, das, was sich der Mensch von der Erde nehmen kann, worauf er gewartet hat und Anspruch erhebt. Eine Weizenernte. In meiner Sprache ist es das, worin man nachgibt, die Bewegung, der Raum zwischen den Dingen. Es ist auch die Bewegung von Baiame, denn Sorge, Alter und Schmerz beugen und führen zum Nachgeben. Die Körper derer, die verstorben sind, wurden mit gebogenen Gelenken begraben, selbst wenn sie gebrochen werden mussten. Ich glaube, es war eine Beugung in Demut, so wie wir die Knie beugen und unseren Kopf beugen. Beugen, nachgeben – baayanha.

jüngere Schwester – minhiIch machte mich auf, die Viehherden zusammenzutreiben, es war in der Zeit, als die Dürre immer wieder zuschlug und das Skelettkraut – der Große Knorpellattich – uns um die Ernte zweier Jahre brachte und es auf keiner Farm Arbeit für uns gab. Ich liebte den Viehtrieb, da oben im Sattel sitzend, den breitrandigen Stetson auf dem Kopf, wenn ich im Vertrauen auf mein Pferd die Herde zum Wasser führte. Es waren schöne Jahre, und erstmals im Leben schloss ich Freundschaften. Über so vieles wollte ich mit Menschen reden. Ich fragte einen umherziehenden Viehhirten aus unserer Gegend nach seiner Familie und inwiefern sie mit meiner verwandt war. Ermüdet von meinem Redefluss, drehte er sich zu seinem Pferd um und zog die Steigbügel durch die Schlaufen. Ich habe gelernt, dass sich viele Männer von der Farm und draußen im Busch gern einem Tier oder einer Maschine zuwenden, um ihr Gesicht zu verbergen, ehe sie mit ihrer Wahrheit herausrücken. „Die Stammbäume von Leuten wie uns sind doch jetzt nur noch Sträucher, oder?“, antwortete er. „Jemand stutzt sie ordentlich.“ Nie vergaß ich diese Worte, weil sie wie traurige Gedichte klangen. Und ich schätze, was er sagte, stimmt auch, denn in all den Jahren, die ich lebe, habe ich so viele Menschen verloren, die mich ausmachen. Meine Mummy, meinen Daddy, meine Cousins und Cousinen und meine kleine Schwester, meine minhi. Als ich klein war, im Jungenwohnheim, habe ich nie unsere Leute am Fluss aus dem Gedächtnis verloren. Es kam mir vor, als ob der Mond jede Nacht ans Fenster des Schlafsaales kam, um mich an meine Familie zu erinnern. Dann dachte ich an meine minhi im Mädchenhaus am anderen Ende des Landes, und mein Urin lief wie Quecksilber über die mit Sackleinen bezogene Pritsche auf den steinernen Fußboden und weckte meine Kameraden. Schließlich war ich erst drei Jahre alt. Ich vergaß sie nie. Sie war noch ein Baby gewesen, Mary, als wir beide weggebracht wurden; das ist eine traurige Geschichte mit Happy End, denn wir fanden uns wieder. Sie ist anders als ich, wir umarmen uns nicht und sind nicht so liebevoll, wie ich es gern wollte. Aber wir sind wieder Bruder und Schwester geworden, was sehr kostbar ist. Ich bin wieder der große Bruder geworden, und sie meine minhi.

Sechs

August und Elsie brachten es dann doch nicht über sich, etwas zu essen, und Elsie, die eine weitere Nacht ihr Ehebett mied, war auf der Couch eingeschlafen. August ging aufs Feld und sah, dass die Fenster des Farmarbeiteranbaus verdunkelt waren. Sie dachte an den Samstag, wenn sie sich alle versammeln würden, und stellte sich die Lampen wieder angeschaltet vor. Nachdem Jedda verschwunden war, kamen keine Arbeiter mehr, die Türen des Gebäudes blieben seitdem geschlossen und die Lichter aus. Elsie und Albert hatten auch in den Predigt- und Karateraum vor dem Haus Stille einkehren lassen. Alle Fotos von Jedda wurden abgenommen, eingehüllt und weggelegt. Und mir nichts, dir nichts wurde aus dem Zuhause nur noch ein Haus, eigentlich redeten sie niemals wieder über Jedda Gondiwindi. Anfangs hatten die Leute auf der Straße den Kopf geschüttelt, die Mütter geweint, und beim Nachmittagstee hatten sich die wenigen, die vorbeikamen, laut gefragt, wie so etwas Schlimmes hatte passieren können. Wie rätselhaft es doch war, dass sie sich so in Luft auflösen konnte. Es gab Gemurmel und Tränen, aber niemand hatte eine Antwort. Danach war die Kindheit nicht mehr so unbeschwert, sie war voller Gefahr. Kinder wurden von der Schule abgeholt, Eltern führten ehrenamtlich Listen mit Namen und kontrollierten die Bushaltestellen, nur wenige durften allein zu Fuß nach Hause gehen, und auf der Straße zu spielen war meist verboten. Im Frühjahr verkaufte niemand den Touristen am Straßenrand violette Sträuße von Patersons Fluch – dem Wegerichblättrigen Natternkopf. Das Typische an einem Städtchen wie Massacre Plains ist, dass die Bewohner die Ihren lieben. Beziehungsweise wenn sie sie nicht lieben, dann halten sie ihnen zumindest die Treue und verteidigen sie gegenüber der Außenwelt: vor ortsfremden Unruhestiftern, Touristen, dem großen Geld. Aber die Gondiwindi gehörten nicht zu ihresgleichen. Nie hatten die Leute sich vergewissert, ob es seine Ordnung hatte, wenn sie einen oder eine Gondiwindi allein nach Hause laufen sahen. Nur zweimal in jener nervenaufreibenden Woche blitzte in den Nachrichten eine Aufnahme von Jedda aus der Schule im Fernsehen auf, und Jedda wurde wie jene verloren gegangenen Kinder, mit brauner Haut wie sie, zu einem Rätsel, das man erst erfunden hatte, um es dann wieder zu vergessen.

Aber die Gondiwindi (und ebenso die Coes, Gibsons, Grants und jede Familie wie sie) konnten nicht vergessen. Die Haare der Frauen der Familie bekamen einen Stich ins Silberne, und schon im Jahr darauf sahen Augusts Tanten alle um die Köpfe herum alt und grau aus. Alle Frömmigkeit, alle Fröhlichkeit eines vollen Hauses wichen stummen Räumen, verkümmerten zu weißem Lärm. Der Lärm der Gedanken, in denen alle Fragen neu in Szene gesetzt und aller Argwohn neu geprobt wurden. In dem zuvor komatösen Tal, in dem die Stadt lag, rauchten die Köpfe, in denen alle möglichen Gedanken gewälzt wurden. Das Herz von August, gerade mal neun Jahre alt, zog sich in die Länge wie ein Kaugummifaden, bis es zerriss. Und es blieb zerrissen.

Als August dann aus Massacre Plains geflohen war und sich etwas Ähnliches wie ein Leben zurechtgezimmert hatte, antwortete sie immer, wenn jemand sie nach Geschwistern fragte, sie habe eine Schwester, aber nie sagte sie, dass sie vermisst wurde. August richtete ihr einen Raum im Universum her, wo sie ihrer Vorstellung nach hätte sein können: Mit zwanzig war Jedda an einer fernab gelegenen Universität, mit dreißig erwartete sie ihr erstes Kind in der Großstadt. Manchmal antwortete August auch einfach, sie sei tot. Leben und Tod sind endlich, der Schwebezustand nicht; von einer Verschollenen will niemand etwas wissen. Von jemandem, der einfach verschwunden ist.

Jetzt auf dem Feld kribbelte ihr die Haut, dieses ausgedehnte Organ, das sich alles merkt, was einmal geschehen ist. Sie grübelte über das, was ihre Nana gesagt hatte, dass sie das Haus verlieren würde, dass alle Gondiwindi für immer von hier abziehen müssten. Und selbst wenn ihr jetzt die schlechten Erinnerungen langsam wieder in die Haut sickerten, kam es ihr nicht rechtens vor, von diesem Ort vertrieben zu werden. Nicht, dachte sie, falls sie ganz zurück bis hin zum Flussufer oder noch weiter zögen, wie ihr Poppy immer gesagt hatte. Die Luft veränderte sich, eine Bö zog an den Bäumen, und August schaute auf von dem dunklen Feld, wo die Sterne verborgen waren. Dass es regnen könnte, war als schlichter Geruch, als ein guter Geschmack auf der Zunge zu spüren. Sie streifte die Schuhe ab, sekundenschnell war der Erdboden um sie herum von frischen Wunden durch den plötzlichen starken Regen bedeckt. Es war ein Wolkenbruch. August kam in den Sinn, was ihr Poppy zu sagen pflegte, dass Regenfall nach einer Trockenperiode die perfekte Voraussetzung für gute Weizenerträge sei, aber ebenso für Heuschreckenplagen. Er sagte dann schlicht, manchmal gibt es überhaupt keinen Lichtblick.

In den vier Wänden ihres früheren Zimmers rauchte sie und blies den Rauch durch die Lamellen am Fenster, ihre Finger spielten mit der Zigarettenschachtel. Ihr Mund verlangte nach mehr, er sehnte sich nach einem unbekannten Balsam, nicht nach einem Kuss, einer Mahlzeit oder einem Getränk, sondern nach etwas lange Verweigertem. Von klein auf hatte sich dieses Verlangen, etwas Vollständiges auf der Zunge, in ihrem Hals zu spüren, immer tiefer in sie hineingeätzt. Das Empfinden, dass nichts jemals treffend ausgesprochen wurde, dass sie in sich selbst unbehaust war. Dass sie das Zuhause durch die Augen aller anderen, aber nicht durch ihre eigenen sah. Dieses Empfinden hatte bereits eingesetzt, bevor Jedda von der Bildfläche verschwand.

Sie drückte die Zigarette aus, sah zu dem Klotz von Fernseher, der in der Zimmerecke einen neuen Platz gefunden hatte. In demselben Fernseher, der mal unten gestanden hatte, hatte der Nachrichtensprecher anfangs die Leute ermuntert, ihre Grundstücke abzusuchen, ihre Tümpel, Silos und aufgegebenen Brunnen. Einige Leute suchten mit Hunden. In den ersten Wochen war August zu den Ebenen des Poisoned Waterhole Creek gelaufen und hatte schwesterlos Wurzeln und Knollen gegessen. Sie zog Rindenstreifen vom Stringybark-Eukalyptus ab und ließ das Papier auf der Zunge schmelzen. Saugte an den Rohrkolben des Schilfes. Sie fühlte sich getrieben, Erde zu essen, immun zu werden, damit es nicht wehtat, sie musste sich den ganzen Erdflecken einverleiben, von dem Jedda verschwunden war. Für immer? Wenn sie die ganze Erde aufessen, in der Erde aufgehen könnte, meinte sie, dann würde sie nicht auch so verschwinden. Einen Monat später, als Jedda immer noch vermisst wurde, taufte Albert persönlich August unter der brütenden Sonne auf dem Acker, und sie weinte dabei. Alle hatten sich eingefunden und sprachen über die heilige Kindheit. Die Kinder, beteten sie unaufhörlich daher, und Poppy goss ihr Wasser über den Kopf und trug die Absolution der Toten vor:

„Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihnen gehört das Himmelreich. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, jetzt und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Er erklärte August, es sei zu ihrem Schutz, und sie, die zwischen seinen Händen das ganze Gewicht des Blutes in ihren Kopf strömen spürte, sah die Welt so, wie sie nach ihrem Dafürhalten schon immer war – verkehrt herum, auf den Kopf gestellt.

Sieben

Krieg – nadhadirrambanhi Es gab hier einen großen Krieg, so kam letzten Endes die Stadt zu ihrem Namen. Er dauerte hundert Jahre. Jeder kämpfte in diesem Krieg, sogar die Ghans und die Bahngleisputzer waren da und kämpften an der Seite der Gondiwindi. Es ging damit los, dass es die Gondiwindi satthatten, dass die Siedler Besitz von ihrem Land ergriffen, ihre Knollen ausgruben und die Beweidungswirtschaft ruinierten, die sie seit Ewigkeiten ausgeübt hatten. Die Gondiwindi waren doch Bauern – Bauern und Fischer –, sie hatten den Boden schon lange kultiviert, sie blieben sogar über die seltenen Winter da. Sie hielten sich warm, indem sie ihre Possumfellmäntel von innen nach außen wendeten und sich Pelikanfett auf die Haut rieben.

Als die Gondiwindi also die Nase voll und Hunger hatten, weil die Kängurus nicht mehr in ihre Jagdgründe kamen und weil ihre Überlieferungen besagten, dass sie auch bei Veränderungen zu diesem Land gehörten und dass sie den Boden nach ihrem Bedarf nutzen konnten, da verlegten sie sich auf Rinder. Mit ihren Mischlingshunden und Dingos trieben sie sie zusammen und verfolgten die Färsen, bis sie ermüdeten, bis eine Jagd daraus wurde und sie die Färsen mit dem Speer erledigten. Diese Kühe müssen verängstigt gewesen sein, es war also gut, dass man ihr Fleisch nicht verzehrte – es wäre zäh wie ein Kotelett aus dem Jungenwohnheim gewesen. Sie aßen das Fett, die Leber und das Knochenmark. Die Siedler wurden mächtig sauer, weil die Gondiwindi ihre neuen Zäune nicht respektierten. Dann kam der Gegenschlag. Tausende starben, selbst die Babys der Gondiwindi. Ja, der Fluss färbte sich rot vom Blut, die Erde verwandelte für alle Zeit ihre Farbe von Gelb zu Rosa. Massacre Plains war geboren, und die Gondiwindi, die in einen Gewehrlauf geblickt hatten, fürchteten sich.

Wasser – galing, guugu, ngadyang Der Reverend verzeichnete es in seinem Tagebuch als culleen – er hörte zu, dieser Fella, so gründlich er konnte. Ich bin mein Lebtag nah am Wasser gewesen, und die Unseren kommen auch aus dem Wasser. Zuerst wurden wir aus Quarzkristall geboren, das ist festes Wasser, wir sind dem Schnabeltier verwandt, es ist das Tier des Wassers, und dann haben meine Frau Elsie und ich Missy und Jolene und Nicki gezeugt, die am Ufer des Flusses, des Großen Wassers, geboren wurden – am Murrumby.

großes Wasserloch, abwärts fließendes Wasser – nguluman Es gibt so eines, am Rand des Weizenfeldes, einen Katzensprung vom Murrumby entfernt. Das Wasserloch füllt sich nie mehr ganz. Wenn der Fluss überhaupt in die Gänge kommt, dann rinnt er nur dürftig, das ganze Ding wird nie tief genug, um das Sumpfland aufzufüllen und in das Wasserloch zu sickern. Sie nennen dieses Wasserloch Poisoned Waterhole Creek.

Gold-Akazie, Akazie – yulumbang Die Ahnen haben mir von Pflanzen und Bäumen erzählt und wie man sie verwendet. Sie haben gesagt, dass die Pflanzen schwanger mit Samen seien, dass die Pflanzen unsere Mütter seien, deshalb sollte ich sie nur für die Gondiwindi und nicht zum Verkaufen nutzen, nur zum Leben. Denkt daran, egal wo ihr seid und Bäume und Pflanzen anfasst, sie sind heilig. Die yulumbang ist eine großartige Pflanze für viele Dinge, die grünen Samenkörner können in ihren Kapseln über dem Feuer geröstet werden, dann esst ihr sie, wie ihr Erbsen esst. Wenn ihr sie röstet und Paste daraus macht, schmeckt die wie Erdnussbutter. Das helle Harz der yulumbang kann wie ein Lollipop gelutscht werden, aber nicht das dunkle – das ist nämlich zu bitter. Dieses Harz nennt man mawa.

schwach, hungrig, bedrückt – ngarranDieses Wort solltet ihr nie zu laut sagen, denn es wird euch hart treffen. Wenn ihr etwas aussprecht, dann werdet ihr manchmal zu dieser Sache. Als August ankam, um bei uns zu leben, schrie und weinte sie, sie brüllte: „Ich habe Hunger“, aber sie war ngarran, sie war all diese Dinge. Ich wusste, dass sie das Leben und auch die Vergangenheit ngarran gemacht hatten. Wir sagten dann, Bring deine Stimme zumSchweigen, sie sagt dir etwas Irriges. Jeder kann das sagen, Ich bin nicht ngarran, ich habe die Kontrolle – ich kann es so klein machen, dass es auf meiner Handfläche Platz hat. Ich glaube nicht, dass es immer funktioniert, aber es gibt dem Geist eine Chance zum Atemholen. Letztendlich gehört ngarran zum Leben – ausschalten können wir es nicht, es verflüchtigt sich nicht von heute auf morgen, aber wir können ihm befehlen, es soll in der Zwischenzeit Ruhe geben.

heil/heilen, wiedergutmachen – maranirra Wenn es ein Dorf braucht, um ein Kind aufzuziehen, dann braucht es auch ein Dorf, eines fallen zu lassen. Es wurden Fehler gemacht, und jetzt möchte ich maranirra. Wir alle sollten maranirra.

Weizen – yuraMein ganzes Leben dreht sich um galing und yura. Sogar im Jungenwohnheim mussten wir immer über die Mahlzeiten den Segen sprechen, zu denen es meist Johnnycakes und schweres Brot gab. Wir beteten dann immer„Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.“ Ich betete es ganz gern laut. Viele Menschen kennen den Weizen aus eigenem Erleben, nicht nur in diesem Land hier. Jeder kennt Brot in der einen oder anderen Form. Die Gondiwindi hatten ihre eigenen Mehlsorten, die auf ihren Körper abgestimmt waren. Wir haben auch immer auf den Weizenfeldern gearbeitet, auch mein Daddy, seiner ebenso, und wenn sich die Welt mal nicht mehr dreht, dann wäre es das letzte Korn auf Erden, schätze ich. Die Anbauflächen von Prosperous waren fast überall fruchtbar, aber obwohl unsere Leute auf reichen Böden lebten, wurden wir nie reich.

Wo ist dein Land? – dhaganhu ngurambang Bei der Frage geht es eigentlich nicht um eine Stelle auf der Landkarte. Wenn unsere Leute fragen, Wo ist dein Land, dann geht ihre Frage tiefer. Wer ist deine Familie? Mit wem bist du verwandt?Sind wir verwandt? Ich habe da eine Geschichte über jemanden gelesen, der eine Landkarte im Maßstab 1:1 schaffen wollte, sodass die Karte alle Meere und alle Berge und alles Land in tatsächlicher Größe bedecken würde. Die Mädchen mussten lachen, als ich ihnen davon erzählte – stellt euch vor, ihr lauft darunter einher und haltet euch im Dunkeln das Ding über den Kopf? So etwa funktioniert eine Landkarte, sie schaltet das Licht aus, und man sieht nichts mehr. Die Landkarte ist es nicht, dieses Land besteht aus undenkbaren Entfernungen, aus Orten, an die ihr nur auf einer mythischen Reise gelangt. Indem man unsere Sprache spricht, die Berge ins Dasein singt.

Behälter oder Schale aus ausgehöhltem Holz oder Rinde – guluman