Wie viel Bern braucht die Schweiz? - Stefan von Bergen - E-Book

Wie viel Bern braucht die Schweiz? E-Book

Stefan von Bergen

0,0
26,00 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Warum fiel Bern seit 1830 ökonomisch zurück? Was fehlt Bern heute zur überzeugenden Hauptstadt? Wie könnte Bern in dreissig Jahren aussehen? Die Journalisten Stefan von Bergen und Jürg Steiner benennen Berns wunde Punkte und zeigen, wie die Hauptstadt über sich hinauswachsen könnte. Bern muss sich neu erfinden. Die international ausgerichteten Krafträume Zürich–Basel und Genf–Lausanne sind das ökonomische Rückgrat des Landes. Nur wenn Bern erstarkt, wird es zu einer Hauptstadt, die der globalisierten Schweiz nützt. Aber Bern bremst sich selber. Es ist begeisterungsresistent, selbstzufrieden, von hohen Transferzahlungen abhängig. Politisch dominieren die wirtschaftlich schwachen Landregionen die städtischen Zentren. Wie kann es dem Kanton gelingen, diese Blockaden zu lösen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dank

Folgenden Sponsoren danken wir herzlich:

Impressum

Die bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliografie ist über www.d-nb.de abrufbar.

© Stämpfli Verlag AG, Bern, www.staempfliverlag.com, Januar 2013

Lektorat: Benita Schnidrig, Stämpfli Verlag AG, Bern

Bildmontage: René Wüthrich, Berner Zeitung, Bern

Inhaltsgestaltung und Satz der gebunden Ausgabe: Edith Helfer Kalua, Bern

Die gebundene Ausgabe dieses Buches ist im Buchhandel unter der ISBN 978-3-7272-1312-0 erhältlich.

Umschlaggestaltung: Nils Hertig, clicdesign ag, Liebefeld Bern

E-ISBN 978-3-7272-1244-4

Made in Switzerland

Inhaltsverzeichnis

Ein Vorwort – sechs Antworten

Bern 1750 bis heute – Im Gegenwind der Moderne

Berner Gedächtnislücken

Vor 1798 – Die Kornkammer der Gnädigen Herren

1800–1850 – Vielversprechender Start in die Neuzeit

1850–1890 – Wie Bern den Zug der Moderne verpasst

1890–1920 – Berner Gipfelsturm in der Belle Epoque

1920–1945 – Rückfall in den alten wirtschaftlichen Trott

1945–1980 – Krise im Schokolade- und Uhrenkanton

Nach 1980 – Wie Bern sich aus Trümmern aufrappelt

Der Kanton nach 2008 – Berns brüchige Gegenwart

Bern 2040 – Vier Zukunftsszenarien

Bern spielt um seine Zukunft

Szenario 1 – Krise frontal: Selbst verschuldete Berner Schwindsucht

Szenario 2 – Krise gedämpft: Wie Bern nachhaltig auf die Bremse steht

Szenario 3 – Boom ungebremst: Berns Blüte und Biederkeit

Szenario 4 – Boom kontrolliert: Wie Bern über sich hinauswächst

Literaturverzeichnis

Ein Vorwort – sechs Antworten

Wie viel Bern braucht die Schweiz? Diese Frage stellt man in der Stadt und im Kanton Bern lieber nicht. Und gibt dadurch eine Antwort: wenig. Berner fragen eher umgekehrt: Wie viel kann Bern von der Schweiz bekommen? Derzeit ziemlich viel. Aus dem nationalen Finanzausgleich geht die grösste Tranche, rund eine Milliarde Franken, an den Kanton im unmittelbaren Umkreis der Bundeshauskuppel. Aber die wichtigsten Geldgeber des Finanz­ausgleichs – Zürich, Basel, Genf oder die Waadt – fragen sich: Was bringt uns dieser grosse Kanton ausser Kosten? An Bern hängt das wenig schmeichel­hafte Image des Profiteurs, des trägen Beamten- und Bauernkantons. Bern muss etwas dagegen tun.

Das Image ist näher an der Realität, als Bernerinnen und Bernern lieb sein kann. Der Kanton Bern steht unter verschärftem Legitimationsdruck. Ob die Schweiz ihn braucht und was er der Schweiz bringt, muss ihn schon deshalb beschäftigen, weil der nationale Finanzausgleich nicht eine Selbstverständlichkeit ist, die man routiniert jedes Jahr budgetieren kann. Solidarität ist keine Einbahnstrasse. Wer so viel nationale Unterstützung abholt, handelt sich auch eine Bringschuld ein. Die Bundeshilfe verpflichtet den Kanton Bern, sorgfältig mit ihr umzugehen und Rechenschaft darüber abzulegen, wofür er sie einsetzt.

Die Solidaritätsmilliarde drückt aus, wie Bern hinter die boomenden Wirtschaftsregionen der Schweiz zurückgefallen ist und national an Bedeutung verloren hat. Die Titelfrage dieses Buches zu beantworten, ist deshalb ein nationaler Auftrag. Will der Grossraum Bern im neuen «Raumkonzept Schweiz» seiner Einstufung als Hauptstadtregion Schweiz auf Augenhöhe mit den Metropolitanregionen Zürich, Genf–Lausanne und Basel gerecht werden, muss er bei der künftigen Entwicklung des Landes eine nationale Rolle spielen. Für die im globalisierten Standortwettbewerb stehende Schweiz ist es eine vitale Frage, die sich jetzt an Stadt und Kanton Bern richtet. Anders formuliert lautet sie: Will und kann Bern mehr sein als bloss der traditionelle Sitz der Bundesverwaltung? Vermag der Kanton trotz ländlicher Dominanz d ie Dynamik der Bundesstadt zu stärken? Ist Bern stark genug, das politische Steuerrad der Turboachsen Zürich–Basel und Genf–Lausanne zu werden?

Die Richtung, in die Bern sich bewegen muss, erfordert die Bereitschaft, sich dem Wettbewerb zu stellen. Berner weisen den kritischen Blick von aus­sen gern zurück als Bern-Bashing und igeln sich in eine binnenorientierte Nabelschau ein. Wollen Stadt und Kanton Bern nicht weiter an Boden verlieren, wollen sie im laufenden Verteilkampf um den Ausbau der grossen Schweizer Bahnhöfe oder um die Schwerpunktsetzung in der Spitzenmedizin nicht den Kürzeren ziehen, dann müssen sie sich bewegen. Kämpferische Rhetorik reicht nicht. Nur Tatkraft kann auf die Frage, wie viel Bern die Schweiz braucht, Antworten liefern. Hier sind sie.

1. Die Schweiz braucht Bern, weil dieser Kanton wie kein anderer Erfahrung darin hat, den Ausgleich zu finden. Zwischen Stadt und Land, Alpen und Mittelland, Deutschschweiz und Romandie, Peripherie und Zentren, wirtschaftlicher Stärke und Schwäche. Bern ist ein Labor des nationalen Zusammenhalts, dessen Bedeutung noch wächst, weil die Schweizer Powerregionen Zürich, Basel oder Genf–Lausanne über die Grenzen ins Ausland blicken und die Landesteile auseinanderdriften.

Aber: Es ist noch keine Leistung, eine Schweiz im Kleinen zu sein. Bern müsste aus seiner singulären geografischen Konstellation mehr Kapital schlagen und der Schweiz vormachen, wie man Gegensätze überbrückt. Doch der Kanton Bern steckt selbst fest in einer regionalen Pattsituation, die ihn zu viel Geld kostet. Seine Landregionen bremsen die städtischen Kraftzentren aus. Erst wenn Bern die Blockade zwischen Kanton und Stadt löst, überzeugt es als gemeinsamer Nenner der viel­teiligen Schweiz.

2. Die Schweiz braucht Bern, weil der Kanton verborgene nationale Lasten trägt, die viele andere Kantone ausblenden, indem sie diese über eine Kan­tonsgrenze wegdelegieren. Die Agglomeration Bern ist der einzige urbane Grossraum, der direkt, über einen kantonalen Finanzausgleich, weit­läufige, ökonomisch schwache Randregionen wie das Emmental oder das Berner Oberland ernährt. Ohne die innerbernischen Geldtransfers würde der nationale Finanzausgleich noch höher ausfallen.

Aber: Der Kanton Bern kann nur eidgenössische Kostenwahrheit einfordern, wenn er sie in seinem Innern auch selbst durchsetzt. Aus Angst vor schwierigen Debatten scheut sich Bern allerdings, die Finanzflüsse von den wirtschaftlichen Krafträumen in die ländlichen Kantonsteile detailliert offenzulegen und zu hinterfragen. Die Unterschiede zwischen urbanen Wachstumsmotoren und peripheren Abwanderungsgebieten wer­den sich national verschärfen. Bern als Hauptstadtkanton muss in dieser zentralen Frage des nationalen Zusammenhalts die Wortführerschaft übernehmen.

3. Die Schweiz braucht Bern, weil sie eine Moderatorin benötigt. Lebensqualität entsteht nicht nur aus steuergünstigen, wachstumsorientierten Wirtschaftspowerräumen, sondern ebenso aus der Pflege kultureller und weltanschaulicher Verschiedenheit. Der an der Sprachgrenze gelegene Kanton Bern ist prädestiniert als Manager der nationalen Vielfalt.

Aber: Will Bern den nationalen Interessenausgleich moderieren und eine Brücke zwischen Deutsch- und Welschschweiz sein, muss es selbst seine Qualitäten als Debattierort schärfen. Das geht nicht, wenn ge­deckelt wird, wer sich exponiert. Und es geht nicht, wenn Kritik am Kurs der Elite als Majestätsbeleidigung statt als Aufforderung zur Debatte begriffen wird. Heute ist der Anteil von Politikern unter den Führungspersönlichkeiten in Bern hoch – und deshalb auch das Denken in kurzfristigen Legislaturzyklen weit verbreitet. Bern muss das öffentliche Enga­gement von Figuren ausserhalb der politischen Zirkel fördern, die Risiken in Kauf nehmen, Leidenschaft zeigen, die ausdauernd sind und nach Niederlagen nicht gleich zurücktreten müssen.

4. Die Schweiz braucht Bern, weil Bern die Drehscheibe der Politik ist. Und weil die Politik als Ordnungskraft ein Comeback erlebt in einer Zeit, da die Bürger durch eine gärende Finanzkrise und erschütterte Märkte verunsichert sind. In Bern befindet sich die Zentrale eines der schlanksten und demokratischsten Staaten der Welt.

Aber: Bern reüssiert nur als Politzentrale des Erfolgsmodells Schweiz, wenn die Berner den Politbetrieb und die Bundesverwaltung als dynamischen Thinktank achten lernen statt als Beamtenrevier verachten. In der Bundesstadt muss ein urbanes Milieu entstehen, das Konfrontation und Ausstrahlung anstrebt. Dann wird Bern nicht bloss National- und Stände­räte zur Session anziehen, sondern auch wachstumsfreudige Dienstleister.

5. Die Schweiz braucht Bern, weil es der Schweiz eine landschaftliche und energetische Mischrechnung präsentiert. Bern kultiviert die landschaft­liche Schönheit. Hinter Berns Stadtgrenze beginnen berückende Hügellandschaften mit einem ruhigeren Lebenstakt, wo die Stressschweiz aus dem zersiedelten Mittelland durchatmet.

Aber: Will Bern eine nationale Nachhaltigkeits- und Erholungsregion sein, muss es seine Raumentwicklung in den Griff bekommen. Der Kanton Bern, zersplittert in 382 Gemeinden, hat Baulandreserven, aber am falschen Ort. Während die Kernagglomeration aus allen Nähten platzt und Investoren ziehen lassen muss, wollen abgelegene Gemeinden Steuer­zahler anlocken und beschleunigen so die Zersiedlung. Der Kanton Bern ist daran, seinen Wettbewerbsvorteil als grüner Ruhepol im Mittelland zu ruinieren.

6. Die Schweiz braucht Bern, weil sie eine richtige Hauptstadt will. Bis jetzt war Bern nur Bundesstadt – und wurde auch so behandelt. Um eine Machtkonzentration zu verhindern, die wirtschaftlich betrachtet am Zürich- und Genfersee längst vollzogen ist, hält die Schweiz ihre Bundesstadt klein und entreisst ihr ab und zu ein Bundesamt. Das Raumkonzept Schweiz will nun aber nicht bloss eine Bundesstadt, sondern eine Hauptstadtregion. Diese Chance muss Bern ergreifen.

Aber: Bern muss erst noch Hauptstadt werden wollen. Es reicht nicht mehr, sich im Bundeshaus politisch abzusichern, damit die Subventionsgelder des Bundes wie eh und je in Bern ankommen. Moderne globa­lisierte Staaten sind auf Hauptstädte angewiesen, die schillern, ökonomisch erfolgreich sein, das Land führen und nicht bloss verwalten wollen. Kanton und Stadt Bern sind weiter von ihrer nationalen Rolle entfernt, als sie sich eingestehen.

Mit Hektik kommt Bern nicht ans Ziel. Nach einer 200-jährigen wirtschaft­lichen Stagnation kann der Kanton nicht einfach das Steuer herumreissen. Dieses Buch ist deshalb nicht nur ein Appell an die Berner Tatkraft und Beharrlichkeit, sondern auch an die Geduld. Es komprimiert wissenschaftliche Erkenntnisse, politische Entwicklungen und journalistische Beobachtungen zu einer Berner Bewegungsstudie auf allen drei Zeitebenen. Es analysiert in seinem einleitenden historischen Kapitel, wie das einst dominante Alte Bern wirtschaftlich den Anschluss verpasst und seine nationale Strahlkraft ein­gebüsst hat. Es leuchtet Berns labilen Zustand in der Gegenwart der Hauptstadtregion Schweiz aus. Und es malt in Zukunftsszenarien aus, wo der Kanton Bern im Jahr 2040 stehen könnte.

Dieses Buch zehrt von unserer 2008 lancierten, langen Reihe von Artikeln über Berns wirtschaftliche und gesellschaftliche Verfassung auf den Hintergrundseiten «Zeitpunkt» der «Berner Zeitung». Bern hinterfragen wir nicht nur als Institution, als Stadt oder Kanton. Sondern auch als Einstellung und Mentalität. Wir versuchen, die Faktenkenntnis des Insiderblicks mit der Unabhängigkeit der Aussenbetrachtung zu kombinieren. Um besser zu verstehen, was vor unseren Augen passiert.

Stefan von Bergen

Jürg Steiner

Bern, im Sommer 2012

Berner Gedächtnislücken

Die grosse Frage der jüngeren Berner Geschichte lautet: Wie konnte es bloss so weit kommen? Vor rund 200 Jahren war die alte Stadtrepublik Bern, die sich vom aargauischen Brugg bis vor die Tore Genfs erstreckte, der reichste, grösste und mächtigste Teilstaat der Eidgenossenschaft. Heute ist der Kanton Bern deren grösster Patient. Aus dem nationalen Finanzausgleich bezieht er den Rekordbetrag aller Kantone.

Auch die Stadt Bern, vor 1798 ein stolzes Macht- und Kraftzentrum der alten Schweiz, blickt zurück auf einen sanften Abstieg. Als Bern 1848 zur Bundesstadt wird, ist es gerade noch auf Augenhöhe mit Zürich, mit dem es sich um den Rang der stärksten Stadt im Land konkurrenziert. Heute spielt die Verwaltungsstadt Bern nur noch in der zweiten Liga der Schweizer Städte.

Verpasste Weichenstellungen

Will der Kanton Bern vorankommen, muss er verstehen, wie er in eine Abwärts­spirale geraten ist. Um dieser zu entrinnen – zum Wohle des ganzen Landes, das er finanziell belastet. Der kritische Blick in den Spiegel der Geschichte ist bei dieser Rückschau unumgänglich. Und mitunter schmerzhaft. Denn dass der Kanton Bern in seiner jüngeren Geschichte wirtschaftlich ins Hintertreffen gerät, ist nicht einfach das unabwendbare Schicksal und Naturgesetz eines topografisch benachteiligten Flächenkantons mit vielen Randregionen. Berns Rückstand ist auch eine Folge verpasster Gelegenheiten und Weichenstellungen. Die Berner Eliten haben in der jüngeren Geschichte Fehler gemacht. Und der Kanton hat sich im Laufe der letzten 200 Jahre in einen Gegensatz und eine Blockade zwischen Stadt und Land hineinmanövriert.

Bern muss sich der Kritik und dem Vergleich stellen. Jene forschen Politiker und Wirtschaftskreise inner- und ausserhalb Berns, die den angeblich trägen Berner Etatismus attackieren und mit Kraftparolen fordern, Bern solle rasch den Wachstumspfad beschreiten, bringen den Kanton aber kaum vorwärts. Diese Kritiker unterschätzen, wie zäh historische Kräfte wirken. Der Verlauf der Geschichte erinnert an die Fahrt eines schwer manövrier­baren Tankers. Kurskorrekturen zeigen erst mit einer Verzögerung Wirkung.

Die Berner Wirtschaftsgeografen Paul Messerli und Hans-Rudolf Egli sprechen 2003 in ihrem Aufsatz «Der Staat Bern» davon, dass Bern sich auf einem «Entwicklungsspfad» befinde, den es nicht einfach verlassen könne. Aus dem Ancien Régime vor 1798 bringe es eine bestimmte «institutionelle Verfasstheit» und Mentalität in die Moderne mit.

Berns Stagnation hat viele Väter. Berner Politiker oder Unternehmer, die heute den Kurs des Kantons tadeln, täten deshalb gut daran, ihr historisches Bewusstsein zu vertiefen. Denn ihre Parteien und Unternehmen könnten zu jenen gehören, die Berns Kriechgang vor nicht allzu langer Zeit mitgeprägt haben. Wenn etwa rechtsbürgerliche Berner Politiker heute dem rot-grünen Lager eine undynamische Wirtschaftspolitik vorwerfen, dann sollten sie bedenken, dass der Kanton seine Phase der wirtschaftlichen Verlangsamung von 1920 bis in die 1990er-Jahre unter der Ägide der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) erlebt hat, aus der 1971 die heutige SVP hervor­gegangen ist.

Nicht nur der Staat und politische Parteien sind im Bernbiet für die mangel­hafte Dynamik verantwortlich. Manager der einst tradi­tions­rei­chen Berner Lebensmittelfirmen Tobler, Wander und Ursina Franck oder des Tele­kommunikationskonzerns Ascom haben ab den 1950er-Jahren gra­vierende Strategiefehler begangen. Die Firmen sind deshalb in die Krise geraten oder von Konkurrenten geschluckt worden.

Der emeritierte Berner Geschichtsprofessor Christian Pfister kritisiert den Berner Hang, den eigenen Kanton bloss als Opfer unglücklicher historischer und struktureller Umstände zu sehen. «Unter günstigen Bedingungen kann der Berner Bär rennen», sagt er. Er spielt auf den Boom um 1900 an, als der Kanton Bern unter der Führung freisinniger Politiker und Unter­nehmer in den Zukunftsbranchen der Elektrifizierung, der Maschinen- und Nahrungsmittelindustrie sowie im Tourismus europäische Spitze war.

Pfister hält auch heute einen Berner Aufbruch für möglich und verweist auf die Wiedergeburt der Schweizer Uhrenindustrie dank Nicolas Hayeks erfolgreicher Bieler Swatch Group. Überdies haben die Berner Kantons­behörden laut Pfister seit den 1990er-Jahren aus früheren Fehlern in der Wirtschaftspolitik gelernt.

Warum die Berner Entwicklung ab 1920 stagniert und wer sie bremst, weiss auch Christian Pfister nicht genau, obwohl kaum jemand die jüngere Berner Wirtschaftsgeschichte so gut kennt wie er. Ausgerechnet die Ära von Berns verlangsamter Modernisierung ist unvollständig erforscht. «Man beschäftigt sich lieber mit Berns Aufstieg als mit dem Abstieg», kritisiert Pfister.Wenn Forschungsgeld geflossen sei, dann lange nur für Darstellungen der schönen alten Zeit mit ihren patrizischen Barockpalästen, Landgütern und Kornhäusern. Bis in die 1980er-Jahre wird die Berner Geschichtsschreibung dominiert von der nostalgischen und regionalen Sicht eines konservativen Historikerzirkels.

Die offiziöse «Geschichte des Kantons Bern seit 1798» des Historikers Beat Junker, im Auftrag des Berner Regierungsrats entstanden, ist aus einer entsprechend obrigkeitlichen Perspektive verfasst. Sie widmet sich überdies nur der Politgeschichte. Die Wirtschaftsgeschichte, die für das Verständnis des Berner Rückstands unabdingbar ist, spart sie aus.

Christian Pfister (*1944)

Er ist Berns historisches Zahlengedächtnis. Auf der Datenbank «Bernhist» erfasst Christian Pfister ab den 1980er-Jahren mit Leidenschaft die Berner Vergangenheit in Zahlen. Er sammelt ins­besondere Daten zum Klima in den Epochen vor dessen instrumenteller Messung. Pfister ist ein europaweit geachteter Pionier der Klimageschichte. Als mittlerweile emeritierter Professor für Wirtschafts-, Sozial- und Umwelt­geschichte an der Universität Bern hat er einen einzigartigen Überblick über das Zusammenspiel von Klima, Wirtschaft und Gesellschaft. Sein Spezialgebiet sind Naturkatastrophen und ihre gesellschaftliche Bewältigung. Berns Übergang in die Moderne beleuchtet er in mehreren Publikationen, in denen er verpasste Weichenstellungen pointiert benennt.

Christian Pfister hat zur «Geschichte des Kantons Bern seit 1798» den Zusatzband «Im Strom der Modernisierung» zu Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt beigesteuert, der aber nur bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs vorstösst. Entscheidende Fragen bleiben laut Pfister unbeantwortet: Warum etwa der Eisenbahnbau im Kanton Bern viel weniger industrielle Impulse ausgelöst hat als in an­deren Schweizer Regionen. Auch über die Gründe der Stagnation ab 1920 und die Rolle der SVP-Vorläuferin BGB gebe es bloss «punktuelle Erkenntnisse».

Neuer Blick auf Berns Stagnation

Dank einer neuen Generation von Historikern und Historikerinnen gibt es mittlerweile Darstellungen der jüngeren Berner Vergangenheit. 2003 erscheint «Bern – die Geschichte der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert», eine von einem Historikerteam herausgegebene Stadtgeschichte überWirtschaft, Stadtentwicklung, Kultur und Gesellschaft der Bundesstadt. Berns Weg wird darin nicht nur aus der Regionalperspektive beleuchtet, sondern mit der Entwicklung Zürichs verglichen.

2011 schafft auch die Berner Kantonalgeschichte den Anschluss an die Gegenwart: mit dem gewichtigen fünften Band «Berns moderne Zeit», der die Reihe der Monumentalbände über die Berner Geschichte seit dem Mittel­alter abschliesst. Mit einer Fülle von Artikeln arbeiten darin viele Autoren und Autorinnen anhand konkreter Fallbeispiele in den Feldern Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft und Politik Berns Weg in die Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts auf. Das Gesamtbild bleibt aber mosaikartig und etwas statisch.

Will man wissen, wie Bern in Rücklage geraten konnte, muss man seine Wirtschaft und Mentalität – oder um es mit Jeremias Gotthelf zu sagen: das Zusammenspiel von «Geld und Geist» – in ihrem langfristigen Verlauf verfolgen und die nachlassende Dynamik, die Abfolge ergriffener und verpasster Gelegenheiten nachvollziehen. Die nun folgende Darstellung der Berner Polit- und Wirtschaftsgeschichte kann angesichts der Forschungs­lücken nur eine Skizze im Zeitraffer sein. Sie versteht sich auch als Aufforderung, diese Lücken aufzuarbeiten, damit Bern Fehler nicht wiederholt.