Wie wir wohnen werden. Die Entwicklung der Wohnung und die Architektur von morgen - Klaus Englert - E-Book

Wie wir wohnen werden. Die Entwicklung der Wohnung und die Architektur von morgen E-Book

Klaus Englert

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Beschreibung

Neue Wohnkonzepte müssen soziale Fragen beantworten: Welche Preise können wir uns noch leisten? Wie gehen wir mit der Alterung der Gesellschaft, der Zuwanderung und der Veränderung unseres Klimas um? Was passiert, wenn irgendwann alle nur noch in der Stadt leben wollen und es immer mehr Singlehaushalte gibt? Wie finden wir genügend lebenswerten Wohnraum für alle? Der Architekturkritiker und Journalist Klaus Englert erzählt, wie unsere moderne Wohnung entstand und wie sich das Wohnen im 21. Jahrhundert verändern wird. Mit zahlreichen Abbildungen sowie exklusiven Interviews mit den bekannten Architekten Tobias Wallisser, Winy Maas und Werner Sobek. "Ein willkommenes, entschiedenes Plädoyer." (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Seitenzahl: 240

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Klaus Englert

Wie wir wohnen werden

Die Entwicklung der Wohnung und die Architektur von morgen

Reclam

Für Karoline, die unser Hausprojekt unablässig vorangebracht hat

 

2., aktualisierte und erweiterte Ausgabe

 

2019, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung nach einem Entwurf von zero-media.net

Coverabbildung: FinePic®

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961472-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011186-4

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort zur 2. Auflage

Die Misere des Wohnungsmarktes

Von der Höhle zum Nest: Wie die moderne Wohnung entstand

Wie wir wohnen werden – Die Erfindung neuer Wohnformen

Wie wir wohnen werden – Architekten im Gespräch

Statt eines Fazits

Literaturhinweise

Abbildungsnachweis

Vorwort zur 2. Auflage

Seit Jahren ist das Wohnen ein umkämpftes Terrain in der deutschen Gesellschaft. Der Kampf um bezahlbare Eigentums- und Mietwohnungen wird immer wieder aufs Neue ausgefochten, weil die Grundstückspreise in den Großstädten ins Uferlose zu wachsen scheinen. Selbst die gesetzlich wirksame Mietpreisbremse oder der Berliner »Mietendeckel« ändern daran grundsätzlich nichts. Das wird so lange bleiben, wie es die gesetzlichen Regelungen erlauben, Grund und Boden – bar jeder Sozialbindung – als Spekulationsmasse zu behandeln. Denn mit kalkulierter Wohnungsnot lassen sich prächtig steigende Miet- und Bodenpreise erzielen. Während börsennotierte, globale Immobilienfonds den Markt erobern und die Bodenpreise explodieren lassen, wachsen zusehends die Stadtviertel, die für Normalverdiener zeitlebens unerreichbar bleiben werden. Diesem politischen Aspekt des Wohnens, dem allfälligen Hintergrundrauschen in der Wohnungsdebatte, widmet sich das Einführungskapitel über die »Misere des Wohnungsmarktes«.

Worin bestehen alternative Strategien, um diesem Missstand zu entgehen? Heutzutage tritt der soziale Aspekt des Bauens zunehmend in den Vordergrund, beispielsweise wenn sich Kommunen dazu entschließen, über Erbbaurecht bezahlbare Immobilien an Baugemeinschaften und Baugenossenschaften weiterzugeben, die sie auf dem freien Markt niemals erhalten hätten.

Gerade die Forderung nach preiswertem Wohnen und gut gestalteten Wohnräumen war eines der Kernanliegen des Bauhauses mit seinen Direktoren Walter Gropius und Hannes Meyer, die nicht allein bewiesen, dass beides sehr wohl miteinander zu vereinbaren ist, sondern auch, dass eine am Gemeinwohl ausgerichtete Architektur durchaus innovativ sein kann. Die uns heute umtreibende Frage »Wie werden wir wohnen?« war seinerzeit auch für die Bauhäusler von zentraler Bedeutung. Doch nicht nur die avantgardistischen Architekten ließen sich in ihren Entwürfen davon leiten, auch für zahlreiche Intellektuelle in der Weimarer Zeit war die Wohnungsfrage von grundsätzlich sozialer Bedeutung, etwa für den Berliner Philosophen Walter Benjamin oder den Schweizer Generalsekretär des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) und Kunsthistoriker Sigfried Giedion. Die Moderne und das Recht auf gut gestalteten, erschwinglichen Wohnraum lassen sich nicht voneinander trennen. Mit der Forderung nach »befreitem Wohnen«, nach »Licht, Luft, Öffnung« wurden die Positionen abgesteckt, die im Kapitel »Von der Höhle zum Nest. Wie die moderne Wohnung entstand« diskutiert werden.

Die Bauhaus-Positionen beschäftigen die Architekten – anders als Investoren und Immobilienfirmen – weiterhin bei der Entwicklung künftiger Wohnungsformen. Werner Sobek unterstreicht im Interview, dass die Bauhaus-Forderung »völlig richtig« gewesen sei. Aber mit neuer Technologie, neuer Gesetzgebung und schließlich einem mutigen »anderen Denken« eröffnen sich »neue Wege im Wohnungsbau«. So formuliert es Tobias Wallisser mit Verweis auf Arno Brandlhubers Berliner »Terrassenhaus«. Es geht also keineswegs darum, den durchs Bauhaus eingeforderten Wohnungsstandard für alle Zeiten festzuschreiben. Vielmehr müsste er weiterentwickelt werden, um die Wohnungen – wie im dritten Kapitel ausgeführt – an die Bedürfnisse der heute lebenden Menschen und an die Zeiten des Klimawandels anzupassen. Das bedeutet weniger Materialverbrauch beim Hausbau, weniger Energieverbrauch in der Nutzungsphase, und vor allem den Einsatz nicht-fossiler Energieträger. Auch der dänische Architekt Bjarke Ingels weist immer wieder darauf hin, dass ein bewussterer Umgang mit den endlichen Naturressourcen keineswegs zwangsläufig auf ein spartanisches Leben hinausläuft. Für die gesteigerte Lebensqualität in dem Habitat, das es zu entwickeln gilt, stehen längst alternative Energiequellen – nämlich Geothermie, Solarenergie und Wasserkraft – zur Verfügung. Anders wird der Privathaushalt, der mit jährlich 115 Millionen Tonnen zu den Hauptverursachern von Kohlendioxid-Emissionen zählt, nicht zu verändern sein.

Bei aller modernen Technik, die für das Habitat von morgen zum Einsatz kommt, bleibt das Wohnen ein soziales Phänomen, weil die Minderung von Schadstoff-Emissionen am besten im Zusammenleben mit anderen zu erreichen ist. Die ökologische Forderung nach klimagerechtem Wohnen und die soziale nach mehr Teilhabe im Wohnsektor sind nicht voneinander zu trennen. Sie sind unabtrennbarer Bestandteil einer neuen sozialen Ökologie. Die Renaissance genossenschaftlichen Wohnens in der Schweiz, in Spanien und Deutschland ist ein bedeutsamer Schritt in diese Richtung, ebenso das vermehrte Interesse an Baugruppen und Mehrgenerationenhäusern. Schließlich führt der zunehmende Einsatz für Dachausbauten, Minihäuser oder Wohnungen mit möglichst flexiblen Grundrissen, um besser auf neue Lebenssituationen reagieren zu können, die Veränderbarkeit der »Immobilie« vor Augen. Bereits 1926 prognostizierte Hannes Meyer: »Unsere Wohnung wird mobiler denn je.« Die einst ersehnte eigene Wohnung ist nicht mehr das unverrückbare Modell fürs Leben. Wie sich das Mobiliar entsprechend unseren gewandelten Bedürfnissen ändert, so auch die »Immobilie«. Unter veränderten klimatischen Bedingungen ist das Ich mit der Aufgabe konfroniert, sich neu »einzurichten«. Das liefe auf eine Ethik des Wohnens hinaus, mithin auf einen Wandel der Lebenshaltung, die einen Wandel des Wohnens nach sich zieht.

Mettmann, im Oktober 2020

Die Misere des Wohnungsmarktes

Im Roman Der Mann ohne Eigenschaften erzählt Robert Musil von den Entscheidungsnöten des Protagonisten Ulrich, der nach seinem Umzug unschlüssig ist, welches Mobiliar er aussuchen soll. Das Einzige, was er weiß: Die Menschen leben in Zeiten des Umbruchs. Ulrich folgert daraus: »Eine neue Zeit braucht einen neuen Stil.« Zwar kann er sich nicht sofort zwischen den vielen Einrichtungsangeboten entscheiden – etwa zwischen dem assyrischen, dem kubistischen und dem Bauhausstil –, doch sagt selbst dieses Schwanken etwas über den orientierungslos gewordenen Menschen Ulrich aus.

Auch wir leben heute in einer neuen Zeit – einer Zeit permanenter Umwälzungen. Doch wo ist der neue Stil, der uns entspricht? Wo sind die Wohnräume und Möbel, die etwas über ihre Bewohner erzählen? Ein Architekturkritiker zog 2014 die ernüchternde Bilanz: »Ein Haus sieht noch immer so aus wie vor vierhundert Jahren.«1 Natürlich gibt es einige wesentliche Unterschiede: Was früher eine gut gemauerte Hausfassade war, ist heute oft hässlich und mit Styropor verklebt; wo früher Dachziegel oder Schindeln waren, findet man heute vermehrt glitzerndes Plastik, bestückt mit Solarpaneelen. Und in den schönen alten Fensterlaibungen stecken Plastikfenster mit Plastiksprossen. Selbst die traditionellen Klinker haben ausgedient, man hat sie durch farbige Blendklinker ersetzt. Hinzu kommen Wände aus pappmachéartigem Rigips. Die Kritik am heutigen Hausbau ließe sich beliebig fortsetzen. Das Entscheidende ist aber: Diese Mängel gehören zum System einer Bauindustrie, die Qualitätsstandards mit Blick auf Kosteneffizienz und Rendite immer weiter unterbietet.

Da macht es keinen Unterschied, ob man sich die neuen innerstädtischen Quartiere anschaut, die im Zuge einer Renaissance der Stadt für die Besserverdienenden entstehen, die gleichförmigen Vororte, die von den Investoren gerne als Wohlfühloasen für die mittleren Schichten beworben werden, die neugegründeten Umsiedlerdörfer, die beispielsweise in der nordrhein-westfälischen Provinz im Umkreis der Braunkohlengebiete errichtet wurden oder die flächenfressenden Siedlungsmetastasen auf dem Land. Das Potential dieser Entwicklungen wurde frühzeitig von international agierenden Immobilienentwicklern erkannt, die immer weitere Flächen zubetonieren, mit satten Gewinnen für professionelle Investoren, Bauindustrie und Gewerke. Internationale Konsortien aus teilweise dubiosen Firmenverflechtungen drängen mit hohen Renditeerwartungen auf den Markt und treiben die Preise hoch.

Zum Leidwesen der Wohnungssuchenden: In der Düsseldorfer Innenstadt – als ein Beispiel unter vielen – können sie nun zwischen neoklassizistisch aufgehübschten, aber viel zu teuren Wohnungen wählen. Gebaut wurden sie vom Ratinger Immobilienentwickler Interboden auf den ehemaligen innerstädtischen Gleiskörpern des Güterbahnhofs. Zuvor war das 38 600 Quadratmeter große Grundstück zwischen dem Düsseldorfer Hauptbahnhof und dem nördlichen Stadtteil Derendorf von Aurelis, der Immobiliengesellschaft der Bahn, an den Projektentwickler verkauft worden. Die letzten Wohneinheiten von »Le flair«, einem riesigen urban village auf den einstigen Gleisanlagen, wurden Ende 2018 fertiggestellt, doch bereits ein Jahr vorher waren die letzten Eigentumswohnungen im Wert von 6000 Euro pro Quadratmeter verkauft.

In Düsseldorf wurden gern renommierte Architekten damit beauftragt, die gute alte Architektur wiederauferstehen zu lassen; auf jeden Fall sollte der historische Touch »authentisch« wirken, wenngleich die gesamte Fassade hundertprozentiges Imitat ist. Herausgekommen ist ein betörendes Ensemble aus historisierendem Kitsch, mit dem altbekannten klassizistischen Vokabular aus Rotunden, Rund- und Halbsäulen, Gesimsen, Portikus, Frontispiz und Pergola. Und fertig ist das Wohlfühlambiente. Dass sich hinter der Fassade standardisierte Wohnungen ohne jegliche Gestaltungsqualität befinden, ebenfalls ausgeführt von der gehobenen Architektenriege, wird keineswegs verschwiegen.

Das Wohnungsdesaster in den bundesdeutschen Großstädten wird von Jahr zu Jahr dramatischer: In Frankfurt ist der durchschnittliche Kaufpreis bereits bei 4600 Euro, bei Neubauwohnungen sogar bei 5500 Euro pro Quadratmeter angelangt. Derweil stiegen die Mieten in der Main-Metropole in den letzten fünf Jahren um 17 Prozent, die Gehälter dagegen nur um 7,7 Prozent. Und das ist noch geradezu ein Schnäppchen gegenüber einer Münchner Neubauwohnung, die 2018 runde 8000 Euro kostete, während die Miete einer vergleichbaren Wohnung (bei einer jährlichen Preissteigerung von 9,4 Prozent) in der bayerischen Metropole inzwischen bei 19,55 Euro pro Quadratmeter liegt. Selbst die Hauptstadt Berlin, die nach der Wende auch für viele Studenten mit kleinem Geldbeutel attraktiv war, ist mittlerweile nicht nur zum Ressort der Besserverdienenden, sondern zum absoluten hotspot internationaler Immobilieninvestoren geworden. Im trendigen Stadtteil Kreuzberg-Friedrichshain kostete 2017 der Grund und Boden viermal so viel wie ein Jahr zuvor. Und im Verlauf von zehn Jahren sind in Berlin die Wohnungspreise um 159 Prozent gestiegen. Tatsächlich hat der 2017 erschienene »Global Residential Cities Index« des internationalen Immobilienberaters und Maklerunternehmens Knight Frank ergeben, dass in Berlin der Preisanstieg bei Immobilien – im Vergleich zum Vorjahr um 20,5 Prozent – weltweit am größten ist. Optimales Investitionsklima also.

Dass in etlichen Städten Wohnungs- und Immobilienpreise geradezu irrsinnig anschwellen, hängt auch damit zusammen, dass einige Immobilienagenturen vornehmlich in Berlin und Frankfurt einen Markt für ihre Luxussegmente aufgebaut haben. Zu ihnen gehört die Firma Rubina Real Estate, die sich darauf spezialisiert hat, hochpreisige Wohnungen an ausländische, vornehmlich chinesische Investoren zu vermitteln. Erst kürzlich fusionierte Rubina mit Warren Buffetts Unternehmen Berkshire Hathaway Home Services, um dem amerikanischen Starinvestor einen ungehinderten Zugriff auf den Berliner Immobilienmarkt zu eröffnen. Carsten Heinrich, der Geschäftsführer von Rubina, sieht seine vornehmste Aufgabe darin, den Chinesen, denen »eine Wohnung im Ausland als Statussymbol gilt«, in Berlin und Frankfurt den Markt zu bereiten, denn diese empfänden »die Immobilien in Deutschland geradezu als Schnäppchen«.2 Die Kollegen von Berlin Property Services bestätigen, dass viele Chinesen in der Bundeshauptstadt regelrecht auf Einkaufstour gehen. Dass chinesische Kunden bei ihren Deutschlandreisen bis zu vier Wohnungen im Gesamtwert von zwei Millionen Euro erwerben, sei keineswegs eine Seltenheit, denn mittlerweile gehen deutsche Verkaufsprofis mit neuen Bauprojekten in China auf Roadshows oder präsentieren sie auf Immobilienmessen.3

Wie sehr sich in den Metropolen der Markt für Luxussegmente ausbreitet, wird im Frankfurter Europaviertel deutlich, einem Neubauviertel mit millionenteuren Apartments und steriler architektonischer Ausführung, am Rande einer breiten Verkehrsschneise. In der Mainmetropole, die viele Chinesen für die Bundeshauptstadt halten, hat sich Anjia Immobilien & Consulting niedergelassen, das erste chinesische Immobilienmaklerbüro in Deutschland, das für chinesische Klienten den Immobilienmarkt neu aufrollen will. Anjia kooperiert mit dem chinesischen Staatsfonds China Investment Corporation (CIC), der 16 000 Mietwohnungen in Berlin, Kiel, Rendsburg und Köln erwarb und dabei die beiden größten deutschen Immobilienkonzerne Vonovia und Deutsche Wohnen ausstach. Seither zeigt sich deutlich, dass chinesische Investoren nicht allein die deutschen Metropolen im Visier haben, sondern auch Kleinstädte wie das schleswig-holsteinische Rendsburg, das weniger als 30 000 Einwohner zählt.

Deutsche Wohnen, der Zweitplatzierte mit einem Börsenwert von 17 Milliarden Euro, hat sich im Übrigen genauso wie Rubina Real Estate und Berlin Property Services auf die Hauptstadt konzentriert, wo der Immobilienkonzern immerhin 115 000 Wohnungen besitzt. 2009 verleibte sich der von der Deutschen Bank gegründete Börsenkonzern die legendäre Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft (GEHAG) ein, die als gemeinnütziges Wohnungsunternehmen den Bau von zahlreichen modernen Siedlungen etwa von Bruno Taut und Walter Gropius ermöglicht hatte. Heute geht es dem Immobilienkonzern angesichts der mächtigen Konkurrenten Vonovia4 und LEG Immobilien5 um einen beständigen Ausbau seiner Marktanteile. Der Berliner Wohnungsmarkt ist für das Management umso profitabler, als ein Ende des rapiden Anstiegs der Mieten und Wohnungspreise nicht absehbar ist. Auf diese Weise ist vorprogrammiert, dass sich die Wohnungsnot verschärfen wird. Dass sich die Manager von Deutsche Wohnen von der Berliner Bürgerinitiative »Deutsche Wohnen enteignen« oder von Mieterprotesten beeindrucken lassen, die drastische Mietpreissteigerungen nach Modernisierungsmaßnahmen beklagen, ist nicht anzunehmen. Lieber lassen sie sich von den Großaktionären der internationalen Fondsgesellschaft Blackrock, der kanadischen Versicherungsgruppe Sun Life und der Massachusetts Financial Service Company beeindrucken, die bei den Mieten noch viel profitablen Spielraum nach oben sehen. Immobilienwissenschaftler nennen das gerne »Verwertungsdruck«; man kann auch vom Profitkalkül der ausländischen Investoren sprechen, das die Mieten nach oben treibt.6

Derweil ziehen jährlich 50 000 Frankfurter aus der City ins Umland, weil sich die Mittelschicht die Wohnungspreise nicht mehr leisten kann. Die Vororte im Rhein-Main-Gebiet sind in früheren Jahrzehnten oft genug von landeseigenen Wohnungsfirmen und Genossenschaften in Schlafstädte umgebaut worden, denen jegliche lebendige soziale Durchmischung und infrastrukturelle Angebote fehlen. Heute trifft man in den einstigen »Speckgürteln« auf endlose Einfamilienhausreihen, die die bislang vorherrschende tristesse noch verschärfen, zumal sich die klammen Kommunen mit Blick aufs Gemeindebudget den privaten Projektentwicklern nur allzu gerne ausliefern. Mit dem Verkauf der kommunalen »Filetstücke« lässt sich immer gut Geld verdienen. Leider sind die Investoren des freien Marktes an gut funktionierenden Infrastrukturen nur wenig interessiert, weshalb diese zersiedelten Vororte zumeist wie tot wirken – es gibt dort oft keinen Kindergarten und keinen Bahnhof, keinen Supermarkt und kein Krankenhaus, keine Stadtbibliothek und mit Sicherheit auch keinen gut gestalteten, lebenswerten öffentlichen Raum.

Die herrschende Wohnungsmisere hat viele Facetten: Am Stadtrand genießt beispielsweise das populäre, im Akkord hergestellte Massivhaus Dauerkonjunktur. Die meisten dieser Wohnkisten werden von großen Ketten en masse hergestellt – und dem Käufer ohne Keller, ohne Bodenbelag, ohne Innenanstrich übergeben. All das muss beim sogenannten »schlüsselfertigen Haus« bedacht werden. Und vor allem wird die »freie Planung« dem Bauherrn lediglich vorgegaukelt. Eigentlich hat er kaum Möglichkeit, auf die Gestaltung Einfluss zu nehmen. Zudem muss man leider davon ausgehen, dass von den 285 000 Neubauwohnungen, die 2017 fertiggestellt worden sind, ein sehr hoher Prozentsatz stümperhaft ausgeführt worden ist. Wenn im Spiegel7 defekte Steckdosen und Kratzer im Parkett bemängelt werden, dann sind das noch Petitessen, denn oft wird der Bauherr gröbere Mängel entdecken. Beispielsweise wenn den Badezimmerfliesen die Grundierung und Feuchtigkeitsisolierung fehlt, weswegen sie komplett abgerissen und erneuert werden müssen.

Das Baugewerbe ist in den letzten fünf Jahren um 30 Prozent gewachsen, während die Qualifikation der Gewerke gesunken ist, da vornehmlich ausländische Handwerker, die zumeist schlecht ausgebildet sind, auf den Baustellen arbeiten. Dieses Dilemma hat im Neubausektor zu dramatischen Einschnitten geführt. Einen Beleg liefert der letzte Bauschadensbericht, den der Bauherren-Schutzbund gemeinsam mit dem Institut für Bauforschung erstellt hat: Demzufolge hat sich die Zahl der Bauschäden, der von der »Architekt-Ingenieur-Assekuranz« gelisteten Haftpflichtfälle, zwischen 2009 und 2016 nahezu verdoppelt.

Der Altbausektor, der zu Recht wegen seiner besseren Bausubstanz gepriesen wird, kommt bei Renovierungsmaßnahmen auch nicht besser weg. Für die Bauherren steigen die Modernisierungskosten fast regelmäßig ins Unermessliche, weil sich anfangs gesetzte Budgetlimits kaum einhalten lassen. Das liegt aber weniger am Unvermögen der Bauherren als daran, dass die Handwerker Aufträge in vielen Fällen nicht pünktlich, fehlerlos, vereinbarungsgemäß, ohne drastische Kostenüberschreitung sowie ohne Tricks und Machenschaften ausführen. Die meisten Bauherren in Großstädten sind schon froh, wenn überhaupt ein Handwerker vorbeikommt, und die Stimmung wandelt sich schnell in Ernüchterung, wenn sie am Ende die Schadensfälle summieren. Für viele Handwerksbetriebe ist die Altbaurenovierung zum ersehnten Eldorado geworden, weil die Komplexität des Projekts den größten Profit verspricht. Die Jahre des Immobilienbooms, der bekanntlich durch günstige Zinsen angeheizt worden ist, haben viele Vertreter der Handwerkerzunft, die sich vor Aufträgen kaum retten können, dazu verleitet, die Sorgfaltspflicht zu vernachlässigen. Ein glücklicher Bauherr ist der, der aus einer riesigen Herde schwarzer Schafe einige wenige weiße herauszufinden vermag.

Doch Wohnungsneubau und Altbaurenovierung sind sicherlich nicht einmal die krassesten Erscheinungen eines Wohnungsmarkts, der dem Geist des Neoliberalismus zunehmend ausgeliefert ist. Die Leidtragenden sind die zahlreichen Menschen, die nicht einfach vor den steigenden Mieten aus den Städten ins Umland fliehen können. Weil zahlreiche Kommunen zum Zwecke der Haushaltssanierung neben den städtischen Wohnungsbaugesellschaften auch zahllose Sozialwohnungen verkauft haben, fehlen heute beispielsweise in der Mainmetropole Frankfurt, die so gerne auf das Luxussegment setzt, für die nicht so mobilen unteren Schichten 28 000 Sozialwohnungen. In Berlin wurden jahrelang nicht allein kommunale Flächen meistbietend an Investoren verkauft, sondern fast ein Drittel der städtischen Wohnungen privatisiert. Ein ähnlicher Ausverkauf preisgebundener Mietwohnungen ereignete sich in den letzten 30 Jahren auch in Nordrhein-Westfalen. Gerd Landsberg, Vorsitzender des Städtebunds, kritisiert zutreffend, dass sich der Mangel an bezahlbarem Wohnraum als »sozialer Sprengstoff«8 erweisen werde.

Im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung untersuchten Stadtsoziologen der Berliner Humboldt-Universität und der Frankfurter Goethe-Universität 2018 das Beziehungsgeflecht aus Armut und Wohnungsmangel. Dabei fanden sie heraus, dass es in 77 deutschen Städten einen Bedarf von insgesamt 1,9 Millionen bezahlbaren Wohnungen gibt. In der Studie heißt es:

Der größte Mangel herrscht bei Alleinstehenden unterhalb der Armutsgrenze, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens haben. Hier fehlen Wohnungen für Mietpreise von vier bis fünf Euro der Quadratmeter.9

Es mangelt vor allem an kleinen Wohnungen bis 45 Quadratmeter, die für allein Lebende mit niedrigem Einkommen vorgesehen sein sollten. Von ihnen gibt es einen Fehlbedarf von 1,4 Millionen. Und für die in den Großstädten stark anwachsenden Singlehaushalte fehlen deutschlandweit sogar 3,8 Millionen Kleinstwohnungen. Wenn überhaupt welche angeboten werden, weisen sie lediglich Grundrisse auf, die gemeinhin viel zu unflexibel und nicht an neue Lebenssituationen anzupassen sind. In der Tat ist Berlin auch in diesem Segment ein Negativbeispiel: Neben dem höchsten Preisanstieg bei Neuvermietungen (76 Prozent) weist die Hauptstadt mit über 310 000 Stück auch den höchsten Fehlbedarf an bezahlbaren Wohnungen bis zum Medianeinkommen auf.

Zum Glück dämmert es mittlerweile in den Frankfurter und Berliner Baudezernaten, dass der Verkauf der kommunalen Wohnungsunternehmen und der Abbau der Sozialwohnungen die sozialen Engpässe auf dem Wohnungsmarkt verschärft haben. Ebenso scheint es zahlreichen Wohnungspolitikern zu dämmern, dass durch die Absetzung des so genannten Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes,10 das immerhin von 1851 bis 1989 Bestand hatte, ein wirksames Instrument beseitigt wurde, das für die soziale Wohnraumversorgung in Deutschland unerlässlich war. In der Folge wurden die Fördermittel für die Sozialwohnungen gestrichen und Jahr für Jahr ca. 100 000 der einst vom Staat geförderten Wohnungen privatisiert und auf dem Wohnungsmarkt verkauft. Allein die zwischen 1999 bis 2006 an globale Finanzinvestoren zum jeweiligen Höchstpreis veräußerten öffentlichen Wohnungen summieren sich auf 500 000. Und was bedeutet diese Entwicklung für Berlin? Den Exzessen des liberalisierten Wohnungsmarkts begegnen heute die Baustadträte vermehrt mit der Strategie der »Rekommunalisierung«. Für die städtische Bevölkerung bleibt zu hoffen, dass der soziale Wohnungsbau langfristig durch Private, Genossenschaften und die noch vorhandenen öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften gestärkt wird.

Gerade in der so zentralen Bodenfrage hat der Berliner Senat im Verein mit anderen Akteuren erstaunliche Fortschritte erzielen können. Man entschied sich für die Kommunalisierung von möglichst vielen Wohnflächen, um der Spekulation auf künftig steigende Mieteinnahmen und Verkaufspreise vorzubeugen. Am Kreuzberger Blumengroßmarkt wurde im Herbst 2018 ein spannendes Wohnprojekt (IBeB) eröffnet, das von den Architekturbüros ifau und Heide & von Beckerath sowie der Selbstbaugenossenschaft Berlin gestemmt wurde. Das städtische Grundstück wurde an das Team ausnahmsweise nicht wegen des höheren Erlöses für die Stadtkasse, sondern wegen des besseren Konzepts vergeben. Denn bezahlbare Wohnräume und Arbeitsplätze für die Kreativbranche in der Stadtmitte sollten dort unbedingt erhalten bleiben. Das IBeB, dessen Name für »Integratives Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt« steht, bietet eine bunte Mischung aus 66 verschiedenen Wohn- und Studioeinheiten, 17 Ateliers, drei Gewerbeeinheiten sowie Räumen für einen sozialen Träger.

Mittlerweile ist der Senat noch einen Schritt weiter gegangen: Freie kommunale Wohnbauflächen vergibt er nur noch über das Erbbaurecht, was angesichts der hohen Grundstückspreise eine Möglichkeit ist, über Baugemeinschaften und Genossenschaften bezahlbaren Wohnraum anbieten zu können. Auf diese Weise begrenzt das Erbbaurecht die Bodenspekulation und begünstigt ökologische sowie soziale Projekte. Es ist die Chance für eine andere städtebauliche Entwicklung. Mit dieser Maßnahme versuchen Senat und Bezirke, unter Anwendung von Vorkaufsregelungen einzelne Immobilien vom Markt zu nehmen. Das könnte sich als wirksames Mittel erweisen, um der Spekulation auf steigende Mieten und Eigentumspreise vorzubeugen. Die Berliner tageszeitung sieht darin auch aus finanziellen Gründen eine wirksame Strategie: Dass für die Kommunalisierung genug Geld vorhanden sei, liege ironischerweise nicht zuletzt am Immobilienboom. Denn die Grunderwerbssteuer, die die FDP am liebsten abschaffen will, habe in den letzten zehn Jahren gut eine Milliarde Euro in die Berliner Stadtkassen gespült.11

Die Wende am Berliner Baumarkt zeigt sich daran, dass seit kurzem die Lage für die Deutsche Wohnen auf Berliner Terrain zunehmend ungemütlich wird. 2018 stoppte das Berliner Landgericht per einstweiliger Verfügung das Vorhaben des Immobilienkonzerns, 675 Wohnungen und 57 Gewerbeeinheiten auf der prominenten Karl-Marx-Allee zu erwerben und begründete das Urteil damit, die Mieter dürften nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Das hinderte die Deutsche Wohnen nicht daran, weitere 151 Wohnungen auf der Karl-Marx-Allee kaufen zu wollen. Doch Florian Schmidt, der grüne Bezirksstadtrat für Friedrichshain-Kreuzberg, sicherte das Vorkaufsrecht der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft – so wie zuvor bei dem genossenschaftlichen Projekt IBeB. Diese Strategie der Rekommunalisierung von Wohnungen trägt mittlerweile Früchte: Im Januar 2019 wurde bekannt, dass der Berliner Senat vom Immobilienkonzern Deutsche Wohnen 51 000 ehemals landeseigene Mietwohnungen, die 2004 an amerikanische Fondsgesellschaften verscherbelt und später an Deutsche Wohnen weiterverkauft wurden, zurückerwerben will.12

Von der Höhle zum Nest: Wie die moderne Wohnung entstand

Der Traum von der Wohnhöhle

In seinen Pariser Exiljahren wählte Walter Benjamin die ehrwürdige Bibliothèque Nationale als zweite Heimstatt. Dort ließ sich der Philosoph nieder, um sein legendäres Passagen-Werk zu schreiben. Die Lesesäle verwandelten sich für Benjamin gleichsam in einen privaten Schutzraum, in dem er sich, wie er im März 1934 Theodor W. Adorno nach Amerika schrieb, »wohnlich einrichtete«.13 Die Fotografin Gisèle Freund hielt damals in Porträtserien fest, wie der Freund Walter Benjamin selbstvergessen seine Studien an einem riesigen Tisch betrieb, in Büchern blätterte und Notizen anfertigte. Der deutsche Exilant dehnte wegen seiner prekären und wechselnden Privatunterkünfte den Aufenthalt in der Bibliotheks-Wohnung so weit wie möglich aus. Dort legte er die Wurzeln der modernen europäischen Kultur frei, dort erforschte er die öffentlichen Plätze und die luxuriös ausgestatteten Geschäftspassagen, die ihm ein Bild von den Anfängen des Kapitalismus vermittelten.

Die Lektürestunden in der Bibliothèque Nationale gewährten dem Exilgelehrten schließlich auch tiefere Einblicke in die intimen Wohngemächer des fin de siècle, die er selbst noch in seiner Berliner Kindheit erlebt hatte. Benjamin war fest davon überzeugt, die »Urgeschichte des 19. Jahrhunderts«14, zu der er auch die gründerzeitlichen Wohnungen zählte, könne er einzig im selbstgewählten Pariser Exil schreiben. Dabei interessierte ihn auch jener bürgerliche Wohnkosmos, in den er Ende des 19. Jahrhunderts selbst hineingeboren worden war und den er nun, zurückgezogen in die Bibliotheksgemächer, mit schonungslosem Blick auf jedes noch so kleine Detail in den Aufzeichnungen zum Passagen-Werk festhielt. Gebannt war Benjamin von jenen träumerischen Phantasien, in denen das zu Ende gegangene Jahrhundert so sehr geschwelgt hatte:

Das neunzehnte Jahrhundert war wie kein anderes wohnsüchtig. Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, dass man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt. Für was nicht alles das neunzehnte Jahrhundert Gehäuse erfunden hat: für Taschenuhren, Pantoffeln, Eierbecher, Thermometer, Spielkarten – und in Ermangelung von Gehäusen Schoner, Läufer, Decken und Überzüge.

Bis ins fin de siècle hinein lebten die Menschen im »Gehäuse«, und diese Wohnform verstand Benjamin als »Daseinszustand des neunzehnten Jahrhunderts«.15 Der Wohnraum wurde zur Prägemasse, die überall die Abdrücke ihrer Bewohner konservierte. In diesen Gehäusen waren die Menschen – wie Georg Simmel in der Philosophie des Geldes anmerkte – mit den Gegenständen ihrer privaten Umgebung »verwachsen«. Bevor sich um die Jahrhundertwende allmählich die ersten Umbrüche ankündigten, muss das bürgerliche Wohnen im 19. Jahrhundert ein freiwilliger Rückzug in ein Höhlendasein gewesen sein.

Im Passagen-Werk beschreibt Walter Benjamin ein Wohnen wie in unzugänglichen Höhlen. Es waren regelrechte Schutzhöhlen, in denen sich die Menschen eingenistet hatten. Diesen Eindruck bestätigt die Politikerin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Louise Weiss, die in ihren ›Erinnerungen an eine republikanische Kindheit‹ (Souvenirs d’une enfance républicaine, 1937) eine Pariser Wohnung um 1860so beschreibt, als seien deren Bewohner zu Lebzeiten bereits zu Mumien erstarrt:

Die Wohnung auf der Rue d’Anjou war reich ausgestattet durch Teppiche, Türvorhänge, schwere drapierte Querbehänge sowie doppelte Vorhänge, die den Gedanken aufkommen lassen, das Höhlenzeitalter sei unmittelbar vom Leben hinter Wandvorhängen abgelöst worden.16

Das Symptom des Verwurzeltseins der Dinge und Personen in der Wohnstatt diagnostizierte der Journalist (und spätere Politikwissenschaftler) Dolf Sternberger noch für die Wohnrituale der nachfolgenden Generation:

[…] den Wänden, dem Fußboden und der Decke scheint eine eigentümlich ansaugende Fähigkeit einzuwohnen. Immer mehr Möbelstücke werden untransportabel, immobil, schmiegen sich den Wänden und Ecken an, haften am Boden und ziehen gleichsam Wurzeln. […] Aller bleibende Inhalt des Heims wird auf diese Art dem Tauschverkehr, der Bewohner selber aber seiner Freizügigkeit entnommen und an Boden und Eigentum geheftet.17

Dieses Leben in Wohnhöhlen erlaubte es, sich vom Weltgeschehen abzuschirmen und in den Weltinnenraum abzutauchen. Nichts anderes deuteten die schweren, drapierten Vorhänge an, die sich seit den erstarrten und politisch restaurativen Zeiten nach dem Wiener Kongress 1815 durchgesetzt hatten, zum depressiven Markenzeichen des Biedermeier wurden und allmählich das Höhlendasein populär machten. Die von Louise Weiss beschriebene Wohnung drückt die Innerlichkeit von Bewohnern aus, die den Blick in die Welt scheuen und sich lieber hinter den schweren Stoffen einer drückenden Wohnatmosphäre einigeln.

Ein Wohnkosmos voller Nippes um 1900. Foto von Sasha Stone aus dem Nachlass von Walter Benjamin.

In der Immobilie vor der Jahrhundertwende war gleichsam jedes Möbelstück immobil. Walter Benjamin drückt ein Wohngefühl aus, das zum Signum des gesamten saeculum geworden ist:

Das Interieur des 19. Jahrhunderts […] verkleidet sich, nimmt wie ein lockendes Wesen die Kostüme der Stimmungen an. […] Am Ende […] sind selbst die großen welthistorischen Momente nur Kostüme, unter denen sie die Blicke des Einverständnisses mit dem Nichts, dem Niedrigen und Banalen tauschen. Solch Nihilismus ist der innere Kern der bürgerlichen Gemütlichkeit. […] Er verrät damit, wie das Interieur dieser Zeit selbst ein Stimulans des Rausches und des Traums ist. […] Mit der ausschweifenden Tapezierkunst der damaligen Innenräume […] zu leben […], war wie sich eingewebt, sich eingesponnen haben in ein Spinnennetz, in dem das Weltgeschehen verstreut, wie ausgesogene Insektenleiber herumhängt. Von dieser Höhle will man sich nicht trennen.18

Das Gehäuse hüllte die Menschen ein, die selbst für die Utensilien des Wohnens (»Sammethöhlen«) wiederum verschiedenste Höhlen bereithielten. Als die ersten, noch zaghaften Erscheinungsformen modernen Wohnens im Jugendstil auftauchten, erschütterten sie, wie Benjamin feststellte, »das Gehäusewesen aufs tiefste«.19 Doch der Jugendstil ließ allenfalls die ersten tektonischen Erschütterungen erahnen, die dem bürgerlichen Wohnkosmos drohten. Walter Benjamin hat sich während seiner Studien zur Genealogie der modernen Wohnung, die er in der Bibliothèque Nationale betrieb, ausführlich mit den Publikationen Dolf Sternbergers beschäftigt, der von einem Heim sprach, das die Jugendstilarchitekten zum quasi natürlichen Lebensraum ihrer Bewohner gestalteten. Diese Heimstatt drückte ihr Verwurzeltsein in einem ornamental arrangierten Pflanzenreich aus.

Welche Blüten der Jugendstil in den Wohngemächern trieb, zeigt sich beispielhaft in der Casa Lleo i Morera von Lluís Domènech i Montaner in Barcelona. Der rundum verglaste Erker verbreitet einen Farbenrausch, der auf Fauna und Flora anspielt. Die Familie Lleo i Morera brauchte nicht mehr eigens hinaus in die Natur zu gehen, sie hatte sich die friedliche und gezähmte Natur in die eigene Wohnung hinein geholt. Die Eigentümer der Jugendstilpaläste auf Barcelonas Paseo de Gracia waren zumeist wohlhabende Textilfabrikanten, die in ihren Häusern »das Dröhnen der Städte, das ungeheure Toben […] der Industrien, die alles überziehende Macht der modernen Verkehrswirtschaft«20 auf Abstand halten wollten.

Als Walter Benjamin Mitte der dreißiger Jahre die Arbeit an seinem Passagen-Werk begann, lebte er freilich schon längst nicht mehr in der Epoche, die er darin beschrieb. Seit Antoni Gaudi 1926 von einer Straßenbahn tödlich verletzt worden war, war der fulminante katalanische Jugendstil am Ende. Im gleichen Jahr vollendete Walter Gropius das Dessauer Bauhaus. 1927 gestalteten Ludwig Mies van der Rohe und Le Corbusier die Stuttgarter Weißenhofsiedlung, 1928 wurde im schweizerischen La Sarraz der legendäre Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM) gegründet, und 1929 errichtete Mies van der Rohe anlässlich der Weltausstellung in Barcelona den Deutschen Pavillon, der zum Sinnbild Neuen Bauens im 20. Jahrhundert werden sollte. Benjamin wusste über diese Ereignisse bestens durch die Bücher von Le Corbusier und des CIAM-Generalsekretärs Sigfried Giedion Bescheid. Aus der Lektüre ihrer Schriften schloss er, dass das Gehäusewesen »heute abgestorben ist und das Wohnen sich vermindert hat. Für die Lebenden durch Hotelzimmer, für die Toten durch Krematorien.«

Das war auch ein Verweis auf seine eigene nomadische Existenz. Tatsächlich lebte Benjamin wiederholt in Hotels und in ständig wechselnden Pariser Logis. Der Hinweis auf die Krematorien wiederum klingt so, als hätte er seinen Selbstmord vom September 1940