Wie wird man heterosexuell? - Ilka Quindeau - E-Book

Wie wird man heterosexuell? E-Book

Ilka Quindeau

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Beschreibung

In biologistischer Sichtweise werden Geschlecht und Sexualität miteinander verknüpft. Es gibt männliche und weibliche Sexualität, egal ob homo oder hetero. Ilka Quindeau stellt diese Festlegungen in einem originellen Rückgriff auf Freud in Frage. Sie entwickelt ein Konzept von Bisexualität, die nicht nur in der Richtung des Begehrens offen ist, sondern auch im eigenen Empfinden nicht auf 'männlich' oder 'weiblich' festgelegt ist. Lustempfinden und Begehren sind demnach nicht einseitig im Körper verwurzelt, sondern bilden sich als Antwort, als Reaktion auf das heraus, was ihm von außen Befriedigung bereitet.

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Verlagstext

In biologistischer Sichtweise werden Geschlecht und Sexualität miteinander verknüpft. Es gibt männliche und weibliche Sexualität, egal ob homo oder hetero. Ilka Quindeau stellt diese Festlegungen in einem originellen Rückgriff auf Freud in Frage. Sie entwickelt ein Konzept von Bisexualität, die nicht nur in der Richtung des Begehrens offen ist, sondern auch im eigenen Empfinden nicht auf “männlich” oder “weiblich” festgelegt ist. Lustempfinden und Begehren sind demnach nicht einseitig im Körper verwurzelt, sondern bilden sich als Antwort, als Reaktion auf das heraus, was ihm von außen Befriedi gung bereitet.

Queer Lecture

Queer Lectures – so tituliert die Initiative Queer Nations e.V. ihre regelmäßig veranstalteten Vorträge zu aktuellen gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Fragen. In der gleichnamigen Schriftenreihe werden die Vorträge in loser Folge publiziert. Jedes Heft enthält einen Vortrag, die Bündelung zu Sammelheften ist möglich. Bestellhinweise am Ende des Hefts.

Kuratorium der Initiative Queer Nations e.V.:

Judith Arndt, Seyran Ateş, Prof. Dr. Henning Bech, Dr. Sophinette Becker, Dr. Alfred Biolek, Dr. Michael Bochow, Dr. Alexander Boroffka, Prof. Dr. Martin Dannecker, Dr. Lutz van Dijk, Ralf Dose, Ortrun Gauper, Prof. Dr. Dagmar Herzog, Gerhard Hoffmann, Manuela Kay, Necla Kelek, Kurt Krickler, Maren Kroymann, Prof. Dr. Rüdiger Lautmann, Prof. Dr. Claudia Liebrand, Prof. Dr. Andreas Meyer-Hanno (†), Mirjam Müntefering, Dr. Susanne zur Nieden, Dr. Andreas Salat, Gunter Schmidt, Dr. Claudia Schoppmann, Jaecki Schwarz, Dr. Hermann Simon, Dr.-Ing.-habil Wolfgang Voigt, Leo Volleth, Margrit Wendt, Gustav Peter Wöhler

ILKA QUINDEAU

Wie wird man heterosexuell?

Neues vom Sexuellen aus psychoanalytischer Sicht

Herausgegeben von Jan Feddersen

Männerschwarm Verlag Hamburg 2011

Impressum

Initiative Queer Nations e.V.

Postfach 44 03 24 – 12003 Berlin

Tel. 030-6242688 – Fax: 030-61305852

vorstand@queer-nations.de

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Queer Lectures

Zeitschrift der Initiative Queer Nations e.V., 4. Jg. 2011, Heft 10

Ilka Quindeau: Wie wird man heterosexuell?

Neues vom Sexuellen aus psychoanalytischer Sicht

Herausgegeben von Jan Feddersen

Die Vortragsreihe Queer Lectures wird organisiert von Bodo Niendel.

© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2011

Umschlaggestaltung: Hermann Schmidt, Neueform, Göttingen, mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Akademie Waldschlösschen

Druck: idee-satz-druck, Hamburg

1. Auflage 2011

ISBN 978-3-939542-85-8

ISBN des Ebooks: 978-3-86300-199-5

Männerschwarm Verlag GmbH

Lange Reihe 102 – 20099 Hamburg

http://www.maennerschwarm.de/

Umrisse eines geschlechterübergreifenden Modells von Sexualität

Ich möchte mich der Frage nach der sexuellen Orientierung – wie wird man hetero-/homo-/bisexuell – zunächst aus der Perspektive Sigmund Freuds nähern. Er hat mit den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Freud 1905b) zu Beginn des letzten Jahrhunderts eine bahnbrechende Sexualtheorie vorgelegt, die nach wie vor eine intellektuelle Herausforderung darstellt und hinter welche die weitere psychoanalytische Theoriebildung nicht selten zurück gefallen ist. Gewiss ist die Rückkehr zu einem konventionellen Sexualitätsbegriff bereits im Freudschen Werk selbst angelegt – etwa im letzten Teil der Abhandlungen, doch lohnt es sich, den anderen Spuren zu folgen und – mit Martin Dannecker (2006) – in Freud einen der ersten Vertreter der «queer studies» zu entdecken. Auf diese Spurensuche habe ich mich begeben und weitere Ansätze aus dem psychoanalytischen Theoriebestand der letzten hundert Jahre zusammengetragen mit dem Ziel, eine psychoanalytische Theorie einer genuin menschlichen Sexualität zu entwickeln (Quindeau 2008).

Was heißt genuin menschlich? Damit meine ich eine Sexualität, die weder auf ein angeborenes biologisches Programm noch eine biologische Funktion zu reduzieren ist, sondern die sich in einem interpersonalen Raum entwickelt und für die Phantasien und Erinnerungen konstitutiv sind. Kein Instinkt, sondern ein Begehren, das in der Beziehung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen entsteht, liegt dieser Sexualität zugrunde.

Wenn man die Sexualität nun in dieser Weise als unabhängig von ihrer biologischen Funktion, der Fortpflanzung, betrachtet, hat das eine Reihe von Konsequenzen:

Die wichtigste besteht in der Infragestellung des Primats der Heterosexualität bzw. der Heteronormativität. Mein Anliegen ist, ein nicht-hierarchisches, nicht-normatives Modell von Sexualität zu entwickeln, in dem Heterosexualität und Homosexualität als psychisch gleichwertige Formen nebeneinander stehen. Dies mag inzwischen – auf den ersten Blick zumindest – eigentlich selbstverständlich erscheinen. Selbst in der Psychoanalyse, die sich ja bekanntlich sehr lange sehr schwer getan hat, Homosexualität nicht als Krankheit zu begreifen. Auch wenn das inzwischen überwunden ist, findet sich Heteronormativität nach wie vor implizit in der Theoriebildung.

Nicht nur in der Psychoanalyse, sondern weit über diesen Diskurs hinaus scheint mir ein weiterer problematischer Aspekt dieses Primats der Heterosexualität verbreitet: die Verlötung von Sexualität und Geschlecht. So mutet es uns als völlig selbstverständlich an – und wird in den differenztheoretisch orientierten «gender studies» auch weiter befördert – von einer weiblichen und einer männlichen Sexualität zu sprechen, von einer Sexualität von Männern und einer von Frauen. Versucht man jedoch, diese jenseits der Fortpflanzungsfunktion genauer zu beschreiben oder gar zu definieren, wird es schon deutlich diffuser. Die intuitive Eindeutigkeit zumindest verschwindet. Ich nehme das zum Anlass, die behauptete Verbindung von Sexualität und Geschlecht infrage zu stellen und ein theoretisches Modell einer geschlechtsübergreifenden menschlichen Sexualität zu entwickeln, das die Polarität von Männlichkeit und Weiblichkeit überwindet und die Geschlechterspannung nicht zwischen Männern und Frauen, sondern in jeder einzelnen Person ansiedelt.

In einem solchen Modell erscheint das sexuelle Erleben und Verhalten als ein wichtiger Bereich, in dem – neben den bewussten, körpergestaltentsprechenden Befriedigungsmodalitäten – die unbewussten, verdrängten andersgeschlechtlichen Identifizierungen eine lustvolle Ausdrucksgestalt erhalten. Die Wiederkehr des Verdrängten trägt dabei in besonderer Weise zum Lustgewinn bei, ein Mechanismus, der uns bspw. bereits vom Witz vertraut ist.1

Die Heteronormativität zeigt sich nicht nur in der Verlötung von Sexualität und Geschlecht, sondern wirkt sich auch auf das Verständnis von Homosexualität aus. Mir scheint, dass vielfach auch dieses implizit der Heterosexualität nachgebildet ist und sich am Vorbild der Beziehung von Mann und Frau orientiert. Dies findet sich nicht nur auf der Ebene der Theorie, sondern auch ganz unmittelbar im Alltagsleben. So werden nicht nur in heterosexuellen, sondern oft auch in schwulen oder lesbischen Paarbeziehungen die männlichen und weiblichen Geschlechterrollen untereinander aufgeteilt. Eine Kritik der Heteronormativität zielt daher auch auf die Frage, inwieweit die Unterscheidung einer Hetero- und einer Homosexualität überhaupt sinnvoll ist.

In verschiedensten Diskursen wird zunehmend von sexueller Identität statt sexueller Orientierung oder Präferenz gesprochen. Das mag einer Übernahme aus dem angelsächsischen Diskurs und damit zusammenhängenden übersetzungstechnischen Schwierigkeiten geschuldet sein, weil (körper-)geschlechtliche und sexuelle Identität im Englischen sprachlich nicht zu unterscheiden sind. Problematisch erscheint dies jedoch, da damit ein starker – und im Übrigen auch nicht eigens begründeter – Zusammenhang von Sexualität und Identität hergestellt und der sexuellen Orientierung ganz besondere Bedeutsamkeit für das Identitätsgefühl zugeschrieben wird. Die postulierte identitätsbildende Funktion ergibt sich m. E. allerdings weniger aus der Sexualität selbst, als vielmehr aus der Setzung normativer Heterosexualität und der Ausgrenzung des davon Abweichenden.

Ich möchte diese Thesen nun ein wenig erläutern und einige Grundlinien meines Modells vorstellen. Dazu beginne ich mit der Frage nach der Entstehung der Sexualität und gehe den Fragen nach, wie die Lust in den Körper kommt, welche Rolle dabei das Unbewusste der Erwachsenen spielt und inwieweit sexuelle Erregung durch sinnliche Wahrnehmung, Erinnerungen und/oder Phantasien zustande kommt. In einem weiteren Kapitel werden die verschiedenen Lust- und Befriedigungsmodalitäten im Verlauf der psychosexuellen Entwicklung beschrieben, die als Umschriften der frühen Befriedigungserfahrungen verstanden werden können. Und abschließend diskutiere ich noch einmal die Frage nach der sexuellen Orientierung – wie wird man hetero-/homo-/bisexuell, die ich ebenfalls als eine Form der Umschrift lebensgeschichtlicher Erfahrungen betrachte.

1 Diesen psychischen Vorgang erläuterte Freud in seiner Psychopathologie des Alltagslebens (Freud 1901).

Die Entstehung des Sexuellen oder wie die Lust in den Körper kommt

Der sexuelle Körper geht in meiner Sicht nicht auf eine genetische Ausstattung zurück. Erst in der Mutter-Kind-Beziehung2 – genauer: im primären Befriedigungserlebnis eines Säuglings – wird der kindliche Körper zu einem sexuellen, d.h. erst in der Interaktion wird er ausgestattet mit der Fähigkeit, Lust zu erleben. Pointiert: Die sexuelle Lust entsteht nicht durch eine biologische Anlage, sondern durch die Befriedigung, sie ist erworben und nicht angeboren, gleichwohl biologisch. Die Gegenüberstellung von Biologie und Psychologie, die manchmal gegen die Allgemeine Verführungstheorie von Jean Laplanche vorgebracht wird, existiert also nicht. Es handelt sich vielmehr um die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten anlagebedingt ist, d.h. einem genetischen Programm unterliegt, oder ob es im Verlauf der Lebensgeschichte in einer zwischenmenschlichen Beziehung erworben wird. Laplanches Ansatz stellt demnach eine konsequente Beziehungspsychologie dar mit einem Akzent auf die Bedeutung des Anderen.

Der Primat des Anderen

Der Primat des Anderen ist die große Neuerung, die Laplanche in den psychoanalytischen Diskurs einbringt und die noch nicht wirklich eingeholt ist. Er überwindet damit den subjektzentrierten Ansatz der Psychoanalyse, der bis in die gegenwärtigen Strömungen der Neokleinianischen (u.a. Britton, Meltzer), der Objektbeziehungstheorie (u.a. Kernberg, Fonagy) oder der intersubjektiven, relationalen Psychoanalyse (u.a. Benjamin, Bassin) fortbesteht. Der Primat des Anderen oder der Alterität bedeutet, nicht vom Subjekt aus zu denken, sondern vom Anderen her. Die Beziehungsstruktur, von der die Allgemeine Verführungstheorie ausgeht, ist daher nicht wie in der intersubjektiven Psychoanalyse als gleichrangige Austauschbeziehung zwischen zwei Subjekten gedacht. Statt um eine wechselseitige Interaktion geht es hier um eine einseitige, asymmetrische Beziehungsstruktur wie wir sie in der Linguistik etwa in der Form der Anrede finden. So ist jede Anrede mit einem Anspruch verbunden, auf den der/die Angesprochene reagieren muss.3 Der Anspruch enthält verschiedene Ebenen; psychoanalytisch von Interesse ist die unbewusste Botschaft, die mit jeder Anrede transportiert wird.

In der alteritätstheoretischen Psychoanalyse wird die anthropologische Grundsituation, in der sich das Subjekt konstituiert, als eine solch asymmetrische Kommunikationssituation von Anrede und Antwort beschrieben.4 Damit wird eine andere Position vertreten als die heute in der Entwicklungspsychologie übliche. Das Kind wird nicht als «Gestalter seiner Entwicklung» betrachtet im geläufigen Sinne des modernen autonomen Subjekts, sondern vielmehr als strukturell dem Anderen unterworfen (als Subjekt im wörtlichen Sinne von «sub-iectum»). Die menschliche Entwicklung, die Entwicklung der Sexualität, wird damit nicht vom Ich aus, sondern vom Anderen, Fremden, Unverfügbaren her konzipiert. Diese Blickrichtung – der Primat des Anderen – entspricht dem zentralen Anliegen einer Psychoanalyse, die das Handeln und Erleben im wesentlichen vom Unbewussten, also dem Ich nicht Zugänglichen, Unverfügbaren, bestimmt sieht.

Jean Laplanche beschreibt die anthropologische Situation als «Urverführung», die mit dem Augenblick der Geburt einsetzt, indem der Säugling mit der Welt der Erwachsenen und das heißt insbesondere mit dem unbewussten – sexuellen – Begehren der Erwachsenen konfrontiert wird:

«Aber diese Erwachsenenwelt ist keine objektive Welt, die das Kind zu entdecken und zu erfahren hätte, so wie es lernt zu laufen oder die Dinge zu handhaben. Die Welt ist durch (linguistische oder bloß semiologische, d.h. prä- oder paralinguistische) Botschaften gekennzeichnet, die das Kind in Anspruch nehmen, bevor es diese noch versteht, und welchen es Sinn verleihen und auf welche es Antworten geben muß». (Laplanche 1988, S. 221f)

Von besonderer Bedeutung im Hinblick auf die Entstehung des Unbewussten und seines Kerns, des Sexuellen, ist die Konfrontation mit dem unbewussten Begehren der Erwachsenen. Laplanche spricht in diesem Zusammenhang von «rätselhaften Botschaften». «Rätselhaft» sind sie für den Säugling zum einen, weil er sie aufgrund seiner noch wenig ausgebildeten somatischen, kognitiven und affektiven Verhaltens- und Erlebensmöglichkeiten nur sehr unzureichend verarbeiten kann; zum anderen sind sie aber auch für den Erwachsenen nicht zugänglich, «rätselhaft» aufgrund ihres unbewussten Gehalts. Dieser letzte Punkt ist noch einmal zu betonen: In der Beziehung zum Kind werden unbewusste Phantasien angesprochen, die als rätselhafte Botschaften fungieren. Keinesfalls geht es dabei in konkretistischer Weise um sexuelle Handlungen. Die Konfrontation mit dem unbewussten Begehren des Erwachsenen schreibt sich in die entstehende psychische Struktur des Säuglings ein. Laplanche nennt diesen Vorgang «Intromission», um ihren traumatischen Charakter deutlich zu machen. Es werden innere Fremdkörper eingeschrieben und damit der Kern des Unbewussten des Kindes gebildet.

In meiner Argumentation möchte ich Laplanche in seiner Betonung des traumatischen Moments in diesem Konstitutionsprozess nicht folgen und statt dessen die daraus hervorgehenden produktiven psychischen Vorgänge akzentuieren: Ich konzipiere die Beziehung zwischen dem Säugling und dem Erwachsenen als einen Ort, an dem die psychische Struktur des Kindes, das Unbewusste und die infantile Sexualität auf eine nicht-endogene und nicht notwendig traumatische Weise entstehen. Nicht das Trauma des Subjekts, sondern das Begehren des Anderen erhält in meinem Ansatz zentrale konstitutive Bedeutung. Das Begehren des Erwachsenen richtet sich als Anspruch auf den Säugling. Auf diesen Anspruch antwortet das Kind mit der Entstehung seines eigenen, infantil-sexuellen Begehrens. Der Konstitutionsprozess der Sexualität und darüber hinaus der gesamten psychischen Struktur könnte in Abwandlung der berühmten kartesianischen Wendung «cogito ergo sum» pointiert formuliert werden mit: «desideratus/a ergo sum» – «weil ich begehrt werde, bin ich».

Diese Formulierung trägt der grundlegenden Heteronomie menschlicher Existenz Rechnung, die Passivform desideratus verweist auf die dem Einzelnen vorgängigen Strukturen, denen das Subjekt unterworfen ist, und zugleich auf die Angewiesenheit auf den Anderen im Prozess seiner Entwicklung. Das sexuelle Begehren ist somit weder ein endogener Prozess, also etwas, das genetisch bereits im Menschen angelegt ist, noch ist der Einzelne Subjekt oder Schöpfer seines Begehrens. Vielmehr verstehe ich jegliches Begehren als Antwort auf das Begehrtwerden. Formuliert man die Entstehung des Begehrens unter dem Primat des Anderen, trifft man damit nicht nur eine Aussage hinsichtlich der frühkindlichen Situation. So antwortet jegliches Begehren – auch im Erwachsenenalter – auf diese frühkindlich internalisierten Szenen des Begehrtwerdens durch Mutter, Vater oder eine andere primäre Bezugsperson.

Die Bildung des sexuellen Körpers als Einschreibung

Noch einmal zurück zum Vorgang der Intromission: Das Begehren der Erwachsenen wird als Kern des Unbewussten in den kindlichen Körper eingeschrieben. Diese Einschreibung ist nun nicht nur metaphorisch zu verstehen. Es entsteht dabei nicht nur das Unbewusste, sondern zugleich wird der Körper mit sexueller Erregbarkeit ausgestattet. Diese These stellt das gängige Verständnis von Sexualität infrage, nach dem der angeborenen körperlichen Erregbarkeit die konstitutive Bedeutung für die Sexualität zugeschrieben wird. In traditioneller Sicht ist sexuelle Erregung bedingt durch die genetisch angelegte körperliche Ausstattung des Menschen, zu der psychische Aktivitäten wie Phantasien lediglich hinzukommen. Meines Erachtens bleibt das spezifische Gepräge der menschlichen Sexualität – etwa im Unterschied zu anderen Lebewesen – mit dieser Betonung des Hereditären unterbestimmt. Aus der Perspektive eines Primats des Anderen möchte ich eine andere Sichtweise vorschlagen: Die sexuelle Erregbarkeit wird in der universellen Verführungssituation, in der Begegnung des Säuglings mit dem/r Erwachsenen, in den kindlichen Körper eingeschrieben. Exemplarisch verdeutlichen lässt sich die Bildung des sexuellen Körpers an der Entstehung der erogenen Zonen.

Mit dieser These, das Begehren als Einschreibung zu fassen, knüpfe ich an frühe Konzeptualisierungen Freuds an, die ihn im Zusammenhang mit dem Gedächtnis und der Entstehung der psychischen Struktur beschäftigten. In einem Brief an Wilhelm Fließ aus dem Jahr 1896 skizziert er seine vollkommen neuen Ansichten über die Arbeitsweise des Gedächtnisses, das die Wahrnehmungen nicht einfach abbildet, sondern in verschiedenen Zeichensystemen niederlegt. Dadurch wird die psychische Struktur sowohl konstituiert als auch immer wieder verändert:

«Du weißt, ich arbeite mit der Annahme, dass unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt. Das wesentlich Neue an meiner Theorie ist also die Behauptung, daß das Gedächtnis nicht einfach, sondern mehrfach vorhanden ist, in verschiedenen Arten von Zeichen niedergelegt.» (Freud 1986, S. 217)

Obgleich Freud zum Zeitpunkt des Entstehens an dieses Umschrift-Modell noch ehrgeizige Pläne knüpfte und der Ansicht war, mit den «psychologischen Charakteren der Wahrnehmung und der drei Niederschriften [...] eine neue Psychologie» (ebd., S. 218) beschreiben zu können, hat er es nie weitergeführt.

Eine solche Weiterführung der freudschen Idee der mehrfachen Kodierung sehe ich im Konzept der Interaktionsformen aus der Sozialisationstheorie Alfred Lorenzers, auch wenn dieser sich nicht explizit darauf bezogen hat. Lorenzer unterscheidet verschiedene Ebenen von Interaktionsformen, die im Verlauf der Ontogenese aus der Interaktionspraxis gebildet werden und die sich meines Erachtens als Umschriften begreifen lassen: bestimmte, sinnlich-symbolische und (sprach-)symbolische Interaktionsformen (Lorenzer 1977). Diese Formen sind der Niederschlag einer Vielzahl von konkreten, lebensgeschichtlichen Interaktionen zwischen einem Kind und seinen Bezugspersonen und bilden eine Struktur, die dem weiteren Verhalten und Erleben im Sinne eines Erwartungs- und Orientierungsmusters zugrunde liegt. Im Hinblick auf die hier diskutierte Frage sind vor allem die ontogenetisch frühesten Strukturen oder Interaktionsformen interessant, die auf sensomotorisch-organismischer, vorsprachlicher Ebene niedergelegt sind. Als Beispiel kann man etwa die Art und Weise anführen, wie ein Kind von seiner Mutter in den Arm genommen wird. Diese bahnt eine koenästhetische Erinnerungsspur in Form einer Geste, die ebenso das aktive Verhalten des Kindes formt wie auch als passive Erwartung festgehalten wird. Gestützt wird dies durch vielfältige klinische Beobachtungen, dass Mütter meist ein Gefühl fragloser Selbstverständlichkeit haben, wie ihr Kind zu tragen sei. Darin kommen offenbar Erinnerungsspuren an die eigene Kindheit, an die Art und Weise, wie man selbst getragen wurde, zum Ausdruck. Einen eindrucksvollen Beleg für diese koenästhetischen Erinnerungen liefert auch die berühmte Fallgeschichte «Monika» von René Spitz (1959).5

Die ungezählten Wiederholungen dieser Interaktionserfahrungen schlagen sich nieder in einer Interaktionsstruktur, der «bestimmten Interaktionsform». Deren vorsprachliche, sensomotorisch-organismische Registrierung ist eine Einschreibung in den Körper, die sich noch ohne reflexives Bewusstsein vollzieht. Über Lorenzer hinausgehend möchte ich die These formulieren, dass diese Nieder- oder Umschriften von sensomotorischen Interaktionen in ihrer Gesamtheit nicht nur eine Art von Körpergedächtnis strukturieren, sondern darüber hinaus diesen Körper selbst und seine Wahrnehmungsfähigkeiten.

Die Bildung des sexuellen Körpers vollzieht sich ebenfalls auf der Grundlage von Erinnerungen durch die Herausbildung von erogenen Zonen. Mit diesem Begriff bezeichnet Freud «eine Haut- oder Schleimhautstelle, an der Reizungen von gewisser Art eine Lustempfindung von bestimmter Qualität hervorrufen» (Freud 1905a, S. 84). Entscheidend ist nun, dass diese Lustempfindung nicht primär an der Körperstelle haftet, also nicht von der genetischen Ausstattung des Körpers ausgeht und in irgendeiner Weise ausgelöst wird, sondern durch das Einwirken einer anderen Person erst entsteht.

Als Beispiel dient die Situation des Stillens: Durch das Saugen an der Brust der Mutter werden die Lippen und der Mund des Kindes zu einer erogenen Zone. Die Erfahrung von Befriedigung bildet den kindlichen sexuellen Körper, sie stattet ihn mit einer spezifischen Reizbarkeit oder Erregbarkeit aus. «Anfangs war wohl die Befriedigung der erogenen Zone mit der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses vergesellschaftet» (ebd., S. 82). Diese «Anlehnung» ist ein wesentliches Merkmal der infantilen Sexualität und prädestiniert bestimmte Körperstellen als erogene Zonen. Gleichwohl löst sich die sexuelle Aktivität von diesen Stellen und so kann «ganz wie beim Ludeln jede beliebige andere Körperstelle mit der Erregbarkeit der Genitalien ausgestattet und zur erogenen Zone erhoben werden» (ebd., S. 84).

Die erogenen Zonen bilden sich somit durch die sexuelle Aktivität, durch die Erfahrung von Lust und Befriedigung, die ihren Ausgang bei den Pflegehandlungen der Erwachsenen nimmt. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für das Stillen, sondern für alle körperlichen Berührungen zwischen einem/r Erwachsenen und einem Kind, beim Wickeln und Baden ebenso wie beim Spielen oder Schmusen. In den ersten Lebensmonaten eines Kindes sind die Interaktionen im wesentlichen körperbezogen. Aus diesen Erfahrungen entwickelt sich ein Körpergedächtnis, das bestimmte Körperstellen auszeichnet, die in besonderer Weise lustempfindlich sind. Diese Sichtweise wird wesentlich durch die Beobachtung gestützt, dass es zwar bestimmte Körperzonen gibt, die bei allen Menschen erogen sind, dass es darüber hinaus aber auch höchst individuelle erogene Zonen gibt, Körperstellen, die bei manchen Menschen Lustempfindungen hervorrufen und bei anderen nicht. Genau dieses idiosynkratische Moment kann nun sicherlich nicht hinreichend mit biologischer Ausstattung erklärt werden – etwa in dem Sinne, dass sich bei manchen Menschen an bestimmten Körperstellen die empfindsamen Nervenendigungen häufen, sondern weit plausibler mit unterschiedlichen Interaktionserfahrungen. Jeder Säugling macht jeweils spezifische Erfahrungen im körperlichen Umgang mit seinen Eltern und bildet daher jeweils besondere erogene Zonen aus.

Die erogenen Zonen sind demnach Spuren der Erinnerung an frühere Befriedigungserlebnisse, die in den Körper eingeschrieben sind. Sexuelle Erregbarkeit gründet gemäß dieser Sichtwiese nicht in besonderen physiologischen Bedingungen von einzelnen Körperzonen, sondern in unbewussten Erinnerungen, die bei der Stimulierung der erogenen Zonen aktiviert werden können, aber dieser perzeptiven Stimulierung nicht notwendig bedürfen. In der prinzipiellen Unabhängigkeit der sexuellen Erregung von sinnlicher Wahrnehmung und in dem Umstand, dass diese Erregung durchaus auch von Phantasien und Erinnerungen ausgelöst werden kann, besteht meines Erachtens das eigentliche Kriterium menschlicher Sexualität. Das macht die sexuelle Erregung zu einem hochkomplexen, vielschichtigen psychischen Geschehen, das nicht in mechanisch-technischer Weise durch bestimmte Reize aktiviert werden kann. Vielmehr resultiert sie aus einem Zusammenspiel von Phantasie und Erinnerung, das durch taktile und kinästhetische ebenso wie visuelle und auditive Wahrnehmungen intensiviert werden kann.

Sexuelle Phantasien

In seinen frühen Schriften, in den Briefen an Wilhelm Fließ (1986), beschreibt Freud einen engen Zusammenhang von Phantasie und Erinnerung. Ebenso wie der Erinnerung beruht die Phantasie auf Wahrnehmungen wie etwa auditiven Eindrücken, die nachträglich verwertet und ausgestaltet werden. Phantasien stellen demnach Verarbeitungsformen von Erinnerungsspuren dar. Dieser lebensgeschichtliche Ursprung der Phantasie wird in Freuds späteren Schriften zunehmend zugunsten universeller, phylogenetischer Phantasiebildungen verworfen, und doch ist er gerade im Hinblick auf das sexuelle Begehren interessant. Während Freud die «Urszene» – der sexuelle Akt zwischen den Eltern als Ursprung der eigenen Existenz – im wesentlichen für die Ätiologie hysterischer Erkrankungen in Betracht zieht, sehe ich sie darüber hinaus vor dem Hintergrund der allgemeinen Verführungsszene zwischen Erwachsenem/r und Kind als Form der Verarbeitung dieser Verführung. Die Urszene ist damit eine universelle Ausdrucksgestalt sexueller Phantasiebildung, eine Art Prototyp, aus dem sich im Verlauf des Lebens verschiedenste Variationsformen entwickeln. Im Unterschied zu Konzeptualisierungen, welche die Urszene als universelle Struktur oder als phylogenetische Erbschaft verstehen, beruht diese Phantasie meines Erachtens auf konkreten Wahrnehmungen, die gleichwohl in einem gesellschaftlich vorgegebenen Schema – der Triade Vater, Mutter, Kind – organisiert werden. In diese Urszene gehen Wahrnehmungen unterschiedlichster Herkunft ein; die konkrete Wahrnehmung elterlichen Geschlechtsverkehrs ist dabei weder notwendig noch in besonderer Weise förderlich für die Konstruktion dieser Szene. Andererseits haben die konkreten Erfahrungen mit den Eltern und anderen Bezugspersonen große Bedeutung. Insbesondere gilt dies für die Intromission des sexuellen Begehrens der Eltern in der universellen Verführungssituation. Diese unbewussten Dimensionen der Eltern-Kind-Interaktion werden in und mit der Urszene verarbeitet. Diese Szene wird dabei gleichsam zum Organisator, zur Strukturierungshilfe der ‹rätselhaften› Botschaften, sie bündelt diese Botschaften wie ein Prisma und gibt ihnen auf diese Weise nachträglich eine Form.

Diese Urszenen-Konstrukte verändern sich nun im Laufe der kindlichen Entwicklung und des Erwachsenenalters. Idealtypischerweise unterliegen sie – analog den Erinnerungen – einem permanenten Prozess nachträglicher Umschrift. Sie werden dabei sowohl der jeweils aktuellen kognitiven und affektiven (Entwicklungs-)Lage angepasst als auch entsprechend den Bedürfnissen und insbesondere den unbewussten Konfliktkonstellationen der jeweiligen Gegenwart verändert.

INHALT

 

Verlagstext

Queer Lecture

Wie wird man heterosexuell?

Impressum

Umrisse eines geschlechterübergreifenden Modells von Sexualität

Die Entstehung des Sexuellen oder wie die Lust in den Körper kommt

Infantile, polymorph-perverse Sexualität

Wie wird man hetero-/homo-/bisexuell?

Schlussbemerkung

Literatur

Über die Autorin