Der Wunsch nach Nähe – Liebe und Begehren in der Psychotherapie - Ilka Quindeau - E-Book

Der Wunsch nach Nähe – Liebe und Begehren in der Psychotherapie E-Book

Ilka Quindeau

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Beschreibung

Ein gelungener therapeutischer Prozess kann sich nur entwickeln, wenn zwischen Therapeut/-in und Klient/-in eine vertrauensvolle Beziehung entsteht und die Therapeuten eine wohlwollende Zugewandtheit spüren lassen. Diese beidseitigen Gefühle können durchaus »Liebe« genannt werden und das »Werben« umeinander auch »Verführung«. Doch wie sieht ein professioneller Umgang mit diesen Gefühlen aus? Sicherlich schließt psychotherapeutische Professionalität eine reale körperliche und erst recht sexuelle Annährung zwischen beiden aus. Dennoch sollte offen damit umgegangen werden, dass die hohe Intimität gerade in längeren Therapieprozessen ein intensives und vertrauensvolles Bearbeiten der psychischen Schwierigkeiten aufseiten der Klientinnen und Klienten erst ermöglicht. Dem therapeutisch auszuweichen wäre genauso falsch wie ein übergriffiges Verhalten. In bemerkenswerter Offenheit wenden sich Ilka Quindeau und Wolfgang Schmidbauer im Gespräch dieser diffizilen Problematik zu und plädieren dafür, die große zwischenmenschliche Nähe mit einer liebevollen Zuwendung von Klient/-in und Therapeut/-in zu nutzen, um den Klienten und Klientinnen Einsichten in sich zu ermöglichen. Sie betonen aber in aller Entschiedenheit auch die Notwendigkeit, bestimmte Grenzen strikt einzuhalten.

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Herausgegeben von Uwe Britten

Ilka Quindeau/Wolfgang Schmidbauer

Der Wunsch nach Nähe –Liebe und Begehrenin der Psychotherapie

Ilka Quindeau und Wolfgang Schmidbauerim Gespräch mit Uwe Britten

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99858-9

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: dalinas/shutterstock.comTexterfassung: Regina Fischer, DöngesKorrektorat: Edda Hattebier, Münster; Peter Manstein, Bonn

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung:Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Professionelle Intimität

Die strukturgebende, haltende Liebe

Die »Verführung« durch den Therapeuten

Übertragungsliebe und Widerstand

Die Liebe wächst zur therapeutischen Zusammenarbeit

Die emotionale Bedürftigkeit des Therapeuten

Narzisstische Piraterie

Sexuelle Übergriffe

Missbrauchserfahrungen der Klientinnen

Verliebtheitsgefühle

Idealisierungen auf beiden Seiten

Übertragungsliebe und Schutzsuche

Herausforderungen in der Therapie begegnen

Kollegiale Unterstützung

Ansprechen oder nicht?

Hilfebedürfnisse ausdrücken

Liebesverhältnisse beenden

Möglichkeiten und Unmöglichkeiten

Gelungene Beendigungen

Ausgewählte Literatur

Frankfurt am Main im Februar 2016. Im Stadtteil Westend treffen sich Ilka Quindeau und Wolfgang Schmidbauer zu einem Gespräch über Nähewünsche, Liebe und Sexualität zwischen Therapeuten und Klientinnen während des Therapieprozesses. Ein heikles Thema. Ein Tabuthema. Ein entsprechendes Therapeutenverhalten wird durchweg von allen Fachverbänden strikt abgelehnt und führt zu massiven berufsrechtlichen Konsequenzen. Trotzdem tritt es auf, und zwar nicht nur in seltenen Einzelfällen. Die Nähewünsche und auch die aufkommende innere Verbundenheit, die auf beiden Seiten während des therapeutischen Prozesses aufscheinen, sind gleichwohl nicht überraschend, sondern sogar konstitutiv für die psychotherapeutische Beziehung und den therapeutischen Prozess. Wie also mit Liebesgefühlen und dem Wunsch nach Sexualität umgehen?

Ilka Quindeau, Jahrgang 1962, studierte Psychologie und Soziologie und ist heute Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Frankfurt University of Applied Sciences, Fachbereich »Soziale Arbeit und Gesundheit« sowie als Lehranalytikerin und Psychoanalytikerin in eigener Praxis tätig. Neben der Psychoanalyse mit den Konzepten zum Unbewussten, zu Trieb beziehungsweise Begehren, Erinnerung und Fantasie gehören zu ihren Arbeitsschwerpunkten die Biografie- und Geschlechterforschung, besonders die Sexualität.

Im Jahr 2008 veröffentlichte sie mit »Verführung und Begehren« ein Standardwerk zur »psychoanalytischen Sexualtheorie nach Freud«. Sie selbst bezieht sich in ihren Veröffentlichungen stark auf die Verführungstheorie des Franzosen Jean Laplanche, über den sie gemeinsam mit Lothar Bayer den Band »Die unbewusste Botschaft der Verführung. Interdisziplinäre Studien zur Verführungstheorie Jean Laplanches« herausgegeben hat. Mit Laplanche die Freud’sche Psychoanalyse weiterentwickelnd, hat sie ihre Konzeption in dem Titel »Sexualität« dezidiert ausgearbeitet und versucht darin, die normativen Konzepte vermeintlich »weiblicher« und »männlicher« Sexualitätszuschreibung zu überwinden. Die Frage nach geschlechtsspezifischem Verhalten von Psychoanalytikern steht in dem mit Frank Dammasch herausgegebenen Band »Männlichkeiten. Wie weibliche und männliche Psychoanalytiker Jungen und Männer behandeln« im Zentrum.

Wolfgang Schmidbauer, Jahrgang 1941, promovierte Mitte der Sechzigerjahre zu »Mythos und Psychologie«, arbeitete aber zunächst als Redakteur und Autor weiter, bis er die psychoanalytische Ausbildung begann und anschließend in eigener Praxis tätig wurde. Von Anfang an reflektierte er in seinen Veröffentlichungen nicht nur die psychotherapeutische Arbeit, sondern die aller helfenden Berufsgruppen. Sein Buch »Hilflose Helfer« (zuerst 1977 erschienen) hat bis heute mehr als zwanzig Auflagen erreicht und sprach sofort Helferinnen und Helfern »aus der Seele«. Später schloss »Wenn Helfer Fehler machen« an das Thema an.

Liebe und Sexualität sind ebenfalls bereits langjährige Schwerpunktthemen, die er in Titeln wie »Das Rätsel der Erotik« oder »Die heimliche Liebe: Ausrutscher, Seitensprung, Doppelleben« auch für ein populäres Publikum durchleuchtet hat. Eine Einführung in die Paaranalyse stellt das Buch »Unbewusste Rituale in der Liebe« dar.

Seine publizistischen Fähigkeiten machen ihn außerdem zu einem oft angefragten Autor bei aktuellen gesellschaftlichen Fragen.

PROFESSIONELLE INTIMITÄT

»Man kann die Abstinenz besser einhalten, wenn man weiß, wozu, und wenn man als Therapeutin weiß, dass die unbewusste sexuelle Dimension in jeder Therapie vorhanden ist beziehungsweise die therapeutische Beziehung geradezu konstituiert.«

Ilka Quindeau

Die strukturgebende, haltende Liebe

Frau Professorin Quindeau, wollen Menschen, die Psychotherapeuten werden, nicht eigentlich immer nur das eine, nämlich geliebt werden?

QUINDEAU Ja, in der Tat glaube ich, dass es etwas universell Menschliches ist, geliebt werden zu wollen. Michael Balint hat es als »Urwunsch«, als primären Wunsch des Menschen bezeichnet, bedingungslos geliebt zu werden.

Die Liebe ist daher auch von zentraler Bedeutung in der Psychotherapie. Es ist die haltende, strukturgebende Liebe, die eine Veränderung erst möglich macht. Das Gefühl, angenommen zu werden, lässt sich nicht technisch erzeugen, sondern muss sich einstellen. Schon Freud sprach von der »Heilung durch Liebe«, und damit hatte er völlig recht. Die libidinöse Hinwendung zum Patienten oder zur Patientin ist Teil der analytischen Haltung, des Arbeitsbündnisses. Wir sagen häufig, dass der Rahmen, das Setting, eine haltende Funktion hat, aber wenn man es genauer betrachtet, wird deutlich, dass es die emotionale Zuwendung ist, die hält. Das Gefühl, aufgenommen und verstanden zu werden, ist eine starke gefühlsmäßige Erfahrung, die einen Patienten oder eine Patientin oft richtig aufblühen lässt.

SCHMIDBAUER Wir werden wohl noch öfter dem Problem begegnen, dass sich Liebe schlecht definieren lässt. Wo fängt sie an, wo hört sie auf, was muss sie erdulden, was leisten? Schon in den Bildern über die Liebe vor fünfhundert Jahren gibt es Amor und Caritas, die begehrende und die sorgende Liebe; in der Therapie geht es um beide, aber zugelassen wird nur die zweite. Die Elternliebe verlangt, dass wir am Wohlergehen und an der Entwicklung des Kindes interessiert sind und unsere eigene Bedürfnisbefriedigung zurückstellen; die Liebe des Therapeuten leitet sich aus dieser Form der Liebe ab. Sie wird uns aber auch leichter gemacht, wir sind privilegiert, werden für unseren Zeitaufwand entschädigt und können ihn begrenzen. Ich finde es auch wichtig, die eigene Praxis so zu gestalten, dass es leicht möglich ist, die Patienten und Patientinnen zu lieben in dem Sinn, dass sie des wohlwollenden Interesses an ihrem Wohlergehen und ihrer Entwicklung sicher sein können. Die analytische Situation schützt ja beide Seiten; sie ist begrenzt, die Rollen sind klar.

QUINDEAU Die Patientinnen spüren, dass man sie mag, und das macht neue Entwicklungen möglich, denn häufig ist es ja gerade das Gefühl, nicht verstanden, nicht genügend geliebt worden zu sein, das jemanden in die Therapie führt. Wenn sie jedoch merken, dass ich mich emotional auf sie einlasse, dass ich mit all meinen Gefühlen und Gedanken dabei bin, entsteht eine neue tragende Erfahrung, die die therapeutische Arbeit ermöglicht. Ich glaube, dass diese Zuwendung, wie sie charakteristisch ist für Liebesbeziehungen, der stabilisierende Faktor in der Therapie ist. Sie scheint mir die Voraussetzung dafür zu sein, dass sich jemand überhaupt mit seinen schmerzlichen, traumatischen oder beschämenden Erfahrungen auseinandersetzen kann.

In der Psychoanalyse geht es uns um das Bewusstmachen unbewusster Wünsche und Fantasien, die den Symptomen zugrunde liegen beziehungsweise diese aufrechterhalten. Und diese Wünsche sind ja nicht zufällig unbewusst, sondern wurden im Laufe des Lebens unbewusst, weil sie unerträglich waren, weil sie zu schmerzlich waren oder weil sie einfach unerfüllbar waren. Daher muss sich der Patient oder die Patientin erst rundum angenommen – also geliebt – fühlen, um sich auf das Wagnis einzulassen und sich diesen unbewussten, angsterregenden Dimensionen zu nähern. Erst auf dieser Basis kann man die bisher abgewehrten Ängste und Fantasien, die Schuld- oder Schamgefühle allmählich zulassen, sie spüren und aushalten. Die tastenden Annäherungen an diese schwer erträglichen Dimensionen gehen mit einer erhöhten Verletzbarkeit einher; auch dies braucht das Gefühl, angenommen zu sein, es braucht Vertrauen, sonst kann man sich dem nicht nähern.

SCHMIDBAUER Wir haben es ja oft mit traumatisierten Menschen zu tun, und – das finde ich wichtig – seelische Verletzungen machen Menschen nicht selten uncharmant, latent aggressiv, ängstlich. Daher kommen Personen zu uns, die im üblichen sozialen Rahmen wenig liebenswürdig sind, selbst wenig Liebe erfahren haben und daher »schwierig« erscheinen. Naive Liebe ist da nicht angebracht, sie würde schnell enttäuscht und dazu führen, dass entweder der Therapeut gekränkt ist oder der Patient mit seinem Mangelzustand alleingelassen wird. Es geht um eine forschende Liebe, die durch Verständnis für die persönliche Geschichte und die in ihr wurzelnden Eigenheiten erst möglich werden kann.

QUINDEAU Vielleicht kann man dies auch umgekehrt formulieren: Analyse – die Arbeit am Unbewussten – ohne Liebe wäre sadistisch. Sie übt Macht aus, diszipliniert im Foucault’schen Sinne und zielt auf Unterwerfung. Die therapeutische Arbeit funktioniert nur, wenn sie wahrhaftig ist und von Zuwendung getragen. Die Liebe des Analytikers trägt entscheidend dazu bei, dass die abgespaltenen, unerwünschten Anteile vom Patienten angenommen und akzeptiert werden können. Ein kleines Beispiel mag dies verdeutlichen: Eine Patientin mit einem ziemlich chaotischen lebensgeschichtlichen Hintergrund, die sich wenig geliebt fühlte, spürte, dass ich sie mag. Erstaunt nahm sie ihre Veränderung wahr: »Ich werde ja plötzlich ganz anders.« Ihre fragmentierten Anteile wurden gleichsam libidinös zusammengebunden.

Natürlich läuft es nicht bei allen Patienten und Patientinnen gleich. Manche mag man von Anfang an und diese Zuwendung hat etwas Tragendes, bei anderen ist die gefühlsmäßige Nähe nicht sofort vorhanden, sondern entwickelt sich erst langsam. Auch das können sehr gelungene therapeutische Entwicklungen werden, wenn sich die Liebe erst mit der Zeit einstellt. Mir scheint es allerdings nötig für die gemeinsame Arbeit, dass es irgendeinen Aspekt gibt, den man an einer Person mag oder zumindest interessant findet, der die Neugier weckt. Sonst kann sich der analytische Prozess kaum entwickeln.

SCHMIDBAUER Ich finde auch, dass Liebe ein Geschenk ist, während das wohlwollende intellektuelle Interesse das professionelle Fundament der analytischen Arbeit darstellt, auf dem sich dann eine haltgebende und liebevolle Beziehung entwickeln kann – auch durch ein genaues Verständnis für die destruktiven Aspekte im bisherigen und aktuellen Sozialverhalten der Analysandinnen.

QUINDEAU Es ist schade, dass die Frage von Liebe in der Therapie meist sehr verkürzt und konkretistisch diskutiert wird, auf die genitale Liebe und Sexualität eingeschränkt. Da geht es gleich um die problematischen Seiten wie Missbrauch und um Widerstand, aber die eigentlich tragende Liebe, die konstitutiv ist für die Behandlung, wird kaum thematisiert, weder theoretisch noch klinisch. Oder sie wird als Kitsch empfunden. Das ist ein interessantes Phänomen, diese Entwertung. Vielleicht liegt es daran, dass die Liebesgefühle zu intim sind, um darüber zu sprechen?

Herr Dr.Schmidbauer, wollen Psychotherapeuten nur genauso geliebt werden wie alle anderen Menschen auch? Also spielt es keine besondere Rolle, etwas Gutes tun zu wollen und sich damit auch gut zu fühlen?

SCHMIDBAUER Nein, das ist spezifischer, glaube ich, denn es gibt eher das Bedürfnis danach, Beziehungssituationen unter Kontrolle zu haben. Vielleicht ist das schon eine frühe Entscheidung etwa gegen die üblichen Orientierungen, wie viel Geld verdienen oder Erfolg haben zu wollen – beides ist einem ja in den helfenden Berufen eher nicht beschieden. Ich denke, es gibt bei Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ein Beziehungsbedürfnis, das vielleicht ausgeprägter ist als in anderen Berufen.

QUINDEAU Ich finde das ein zentrales Stichwort, das Beziehungsbedürfnis. Das scheint mir eine Voraussetzung für diesen Beruf zu sein. Freud hat die Aufgabe der Analyse mal schön auf den Punkt gebracht, es gehe darum, verdrängte Liebe zu befreien. Und diese Befreiung kann nur in einer Beziehung geschehen. Sicher ist das Beziehungsbedürfnis bei jedem von uns ganz verschieden ausgeprägt, denn da gibt es ja sehr unterschiedlich intensive Formen von Beziehungen. Vielleicht spielt es eine Rolle bei der Frage, ob jemand Verhaltenstherapeutin wird oder Analytikerin. Wichtig scheint mir zu sein, dass man seine eigenen Beziehungsbedürfnisse kennt und sie in der Arbeit reflektiert. Das Beziehungsbedürfnis hängt wohl auch zusammen mit dem Wunsch, Beziehungen »unter Kontrolle« zu halten. Darin sehe ich ein mächtiges unbewusstes Motiv auf beiden Seiten, nicht nur bei Patientinnen, sondern ebenso bei Therapeutinnen. Und da ist es nicht leicht aufzuspüren, weil es oft durch das »Helfenwollen« verborgen ist. Daher sind die Lehranalysen auch so wichtig für die Ausbildung, denn man muss seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse kennen, damit sie nicht unbemerkt in die Beziehung zum Patienten eingehen und dort agiert werden. Es ist ja gerade nicht die Idee der Psychoanalyse, Beziehungen »unter Kontrolle« zu halten, sondern die Analyse zielt eher umgekehrt darauf, dieses Kontrollbedürfnis zu mildern und dem anderen Raum zu lassen.

SCHMIDBAUER Na ja, ich denke, der Therapeut hat schon sehr viel Kontrolle über die therapeutische Situation. Wenn ich an mich selbst denke, dann glaube ich durchaus, dass mich bei der Entscheidung für die psychoanalytische Ausbildung viel mehr die Neugier auf die Beziehungsgestaltung gereizt hat als nur dieses Helfenwollen. Ja, durchaus eine Neugier, und dabei gleichzeitig aber auch das Sicherheitsbedürfnis.

In Deutschland ist ja die Psychologie inzwischen eines der beliebtesten Studienfächer geworden. Psychologie ist etwas, was verspricht, Kontrolle über die Welt, über die Beziehungswelt zu haben. Man versteht dann mehr von den sozialen Interaktionen. Man kann sich auf einem Gebiet, in dem sich andere nicht so gut auskennen, doch gut orientieren, sich sicher fühlen. Das hat ja etwas Faszinierendes.

QUINDEAU Keine Frage! Und gerade deshalb muss der Wunsch nach Kontrolle und Sicherheit reflektiert werden, um sich nicht hinterrücks in unsere Arbeit einzuschleichen.

SCHMIDBAUER Übrigens glaube ich nicht, dass alle Menschen geliebt werden wollen. Das primäre Bedürfnis ist das nach Sicherheit oder nach Angstvermeidung. Und das wiederum macht uns Therapeuten empfänglich dafür, uns genau jene kulturellen Werte anzueignen, die es ermöglichen, das zu erreichen.

QUINDEAU Aber das muss ja auch kein Widerspruch sein. Ich würde Ihnen völlig zustimmen, dass das Bedürfnis nach Sicherheit zentral ist. Und es passt hervorragend zusammen mit dem Bedürfnis, geliebt zu werden. So ist es doch die liebende Mutter, die dem Kind Sicherheit und Geborgenheit verspricht …

SCHMIDBAUER Ja, bei denen, die sie gehabt haben und die sich ihrer sicher sein konnten, die können offenen Auges auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten zugehen und ihre Karriere planen. Meistens sind aber künftige Therapeuten oder künftige Helfer eher jene, die sich genau dieser mütterlichen Zuwendung nicht so ganz sicher gefühlt haben. Das haben sie dann eben mit der Wahl dieses Berufes auszugleichen versucht.

QUINDEAU Ich weiß nicht, ob man das so generell sagen kann, und würde gerne auf den anderen Punkt noch einmal zurückkommen, weil er so wichtig ist für die Therapieausbildung, nämlich den selbstkritischen Umgang mit eben diesem Wunsch nach Kontrolle. Mit diesem Wunsch kommen viele Kandidaten und Kandidatinnen in die Ausbildung, und ich glaube, dass es notwendig ist – und deswegen machen wir ja die langen Lehranalysen –, von diesem Wunsch Abstand zu nehmen. Ich würde sagen, das Ziel zum Beispiel einer Psychoanalyse ist, die Ungewissheit zu ertragen und nicht zu versuchen, etwas zu kontrollieren, was nicht zu kontrollieren ist. Eine Beziehung lässt sich nicht kontrollieren. Das zu verstehen während der Ausbildung, das ist schon sehr wichtig.

Auch Liebesbeziehungen zum Beispiel sind einfach grundlegend asymmetrisch und wir sind immer auf den anderen angewiesen. In unserer Kultur gehen wir jedoch meistens von Austauschbeziehungen aus, die reziprok sind, wechselseitig, und in denen das Geben und das Nehmen gleich verteilt sind. Wenn ich etwas gebe, kann ich erwarten, dass ich auch etwas bekomme. Doch so funktionieren Liebesbeziehungen nicht. Liebe ist immer einseitig, das gilt freilich für beide Partner. Aber wir können die Liebe nicht festhalten, wir können sie nicht kontrollieren und steuern. Liebesbeziehungen sind die ersten, also die grundlegenden Beziehungen im Leben eines Menschen; sie wiederholen sich dann in der Analyse.

SCHMIDBAUER Das ist sehr treffend gesagt, wobei diese Wiederholung ja eine indirekte, partielle, auf Erlebnisse, ihre Beschreibung und Deutung zentrierte ist, und zwar in einer quasi experimentellen Situation mit einem festen Rahmen. Ich würde auch sagen, dass es einen erfahrenen Therapeuten oder Analytiker vom unerfahrenen gerade nicht unterscheidet, dass er schneller die »richtige« Deutung findet, sondern dass er es einfach viel eher aushält, wenn er etwas nicht versteht, dass er denkt: Das wird sich dann schon irgendwann klären. Er ist nicht so ängstlich und kann eine zwischenmenschliche Situation einigermaßen offenhalten und sie trotzdem persönlich gestalten. Der unerfahrene denkt in jedem Moment darüber nach, was ein guter Analytiker jetzt tun würde. Das engt natürlich sehr ein.

QUINDEAU Ja, das zeichnet einen guten Therapeuten, eine gute Therapeutin aus, dass sie Unsicherheiten aushalten und Mehrdeutigkeiten ertragen kann. Das soll ja gerade mit dem erneuten Durcharbeiten des Ödipuskonflikts in der Lehranalyse erworben werden.

Die Kontrolle mag ja eine Illusion sein, aber die Macht scheint mir doch recht eindeutig verteilt.

SCHMIDBAUER Ich würde sagen, der Analytiker ist sozusagen gewappnet, der Analysand ungeschützt. Der Analytiker trägt eine professionelle Rüstung, er kann sich schützen, er hat Routine im Umgang mit der analytischen Situation erworben. Es mag Patienten geben, die das auch haben, die schon mehrere Behandlungen hinter sich haben, aber sie sind doch die Ausnahme. Es ist also ein Machtgefälle da, und solange es dominiert, ist die Kooperation schwierig – erst wenn sich die beiden Spieler im Feld auf Regeln geeinigt haben, die sie beide für sinnvoll halten, kann der konstruktive Prozess beginnen, und in diesem ist die Macht dann auf beide verteilt. Nur wenn sie kooperieren und einander vorwiegend – nicht absolut – vertrauen, kann dieser Prozess zu positiven Folgen führen.

QUINDEAU Zweifellos haben wir als Therapeutinnen Routine im Umgang mit der Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, aber es wäre doch zu wünschen, dass dies eben gerade nicht zur »Rüstung« wird. Wie dieses Bild deutlich macht, könnte der notwendige Schutz auf Kosten der Feinfühligkeit und Resonanzfähigkeit gehen. Zu dieser Feinfühligkeit gehört auch ein Gespür für die eigene Macht, für die Wahrnehmung des Machtgefälles. Der Frankfurter Soziologe und Psychoanalytiker Alfred Lorenzer hat vor vielen Jahren die Besonderheit der Psychoanalyse einmal damit beschrieben, dass Freud eine radikale Umkehrung der Arzt-Patient-Beziehung vorgenommen habe. Im Unterschied zu anderen therapeutischen Verfahren geht die Definitionsmacht nicht vom Analytiker aus. Vielmehr folgt er seinem Patienten. Das ist sicher idealtypisch formuliert und leider von Analytikerinnen nicht selten so missverstanden worden, als ob sich dies ganz automatisch aus dem Verfahren ergeben würde. Das ist natürlich nicht automatisch der Fall, sondern eine Aufgabe für den Analytiker, seine eigene Macht kritisch zu reflektieren und sich ihrer bewusst zu sein. Dies erst eröffnet den Raum für den Analysanden.

Lassen Sie uns trotzdem noch mal auf das Gutes-Tun zurückkommen: Spielt es im eigenen Berufsziel eine Rolle oder spielt es keine Rolle?

SCHMIDBAUER Na, ich würde sagen, es differenziert sich: In einer professionellen Entwicklung will man einfach seine Arbeit gut machen. Das ist etwas anderes, als Gutes tun zu wollen. Was definiert überhaupt etwas »Gutes«? Das Gute in so einer komplizierten Profession ist ja immer etwas, was eher von außen, also beispielsweise von Kollegen beurteilt werden kann, beziehungsweise im Endeffekt, jedenfalls wenn es gut läuft, sollte das natürlich der Patient beurteilen. Der sollte zufrieden sein mit der Therapie. Aber ich denke, man kann sich nicht in jeder Situation als Analytiker so verhalten, dass der Patient zufriedengestellt ist, das ist unter Umständen sogar unprofessionell. Die Orientierung muss eine doppelte sein: Das Gute ist das, was ich tue, indem ich meine Profession gut mache, und das Gute ist ebenso, was die Kollegen, die mich kennen und mit denen ich in der Intervisionsgruppe bin, fachlich in Ordnung finden.

QUINDEAU Das ist eine diffizile und komplexe Frage. In der Kollegenschaft gibt es ja sehr unterschiedliche Vorstellungen, was das »Gute« in einer Psychotherapie ist oder was einen guten Analytiker beziehungsweise eine gute Analytikerin ausmacht. Darüber herrscht ja nicht in allen Punkten Konsens. Wichtig erscheint mir, dass jede und jeder für sich und mit seiner Bezugsgruppe erst mal definiert, was das Entscheidende ist, damit beurteilt werden kann, ob eine Therapiestunde oder eine ganze Therapie gelungen ist oder nicht. Dafür brauchen wir andere, man kann nicht allein Analytikerin sein. Es ist immer wichtig, dass man eine Gruppe hat, mit der man sich darüber austauschen kann. Außerdem, Herr Britten, als Analytikerinnen befassen wir uns weniger mit moralischen Fragen.

SCHMIDBAUER In der Analyse fällt die Definition des Guten ohnehin schwer. In anderen Dienstleistungsberufen erfolgt die Rückmeldung viel schneller. Es wäre zu einfach zu sagen: Wenn die Praxis leer bleibt, dann arbeitet man vermutlich nicht gut, und wenn die Praxis voll ist, dann arbeitet man gut. Aber in einem Beruf wie dem des Analytikers mit diesen lang andauernden Prozessen, in denen beispielsweise auch Widerstand bearbeitet werden muss, ist dieses schlichte Kriterium dafür, was das Gute ist, nicht so ganz leicht zu haben, zu füllen. Oder ein anderer Fall: Wenn jemand eine lange Warteliste hat, muss auch das nicht heißen, dass er gut arbeitet. Trotzdem gibt es in jedem Institut ein paar Leute, die darüber klagen, dass sie keine Patienten mehr finden. Die sind sicher nicht nur nicht gut, sondern die sind vermutlich ausgesprochen schlecht. Die machen krasse Fehler.

Tja, aber was ist ein guter Therapeut? Es reicht meiner Ansicht nach aus, wenn »gut« eine durchschnittliche Qualifikation ist. Diese Sehnsucht nach jemandem, der als Therapeut sehr gut oder perfekt sein soll, das ist ja auch schon wieder ein Problem.

QUINDEAU Absolut.

SCHMIDBAUER Mir persönlich ist es immer unheimlich, wenn Leute von weit her kommen, weil sie mit mir eine Ehetherapie machen wollen. Solche Ansprüche und Erwartungen sind nicht so ganz einfach zu bewältigen, die machen nur überflüssige Komplikationen.

Wenn jemand eine Blinddarmentzündung hat, dann versucht er vielleicht, den besten Chirurgen von Deutschland zu finden, und fährt sechshundert Kilometer zu ihm hin, um sich operieren zu lassen. Das ist aber überhaupt nicht funktional, sondern es ist eine reine angstmindernde Maßnahme, dass man sich den vermeintlich perfekten Helfer sucht. Der nächste professionell arbeitende Chirurg kann das genauso gut, und zwar mit viel weniger Aufwand und Stress für den Patienten. Ich würde mal sagen: Jeder professionell arbeitende Therapeut arbeitet, indem er durchschnittlich arbeitet, auch gut genug – und das meiste kann man auch durch Brillanz nicht verbessern. Man braucht beispielsweise nur eine gute Krankenschwester und keine perfekte.

QUINDEAU Dazu passt sehr schön das Winnicott’sche Konzept der »ausreichend guten« Mutter. Das ist wahrscheinlich auch für Therapeuten und Therapeutinnen sehr zutreffend.

SCHMIDBAUER Ja, aber das geht der Konsumgesellschaft eigentlich gegen den Strich, denn darin muss ja einfach alles »optimiert« werden.

QUINDEAU Die Suche nach dem Optimalen macht sicher auch vor der Therapie nicht halt. Ich weiß nicht, ob es eine Frage des Konsums ist. Mir scheint es eine Überzeugung zu sein, dass man das Optimale vorfindet. Und so gibt es zunehmend Patientinnen, die nach dem richtigen Therapeuten oder der richtigen Therapeutin googeln und nach Spezialistinnen für spezifische Fragestellungen suchen. Dabei entwickelt sich das »Richtige« für den Klienten ja aus einer Beziehung heraus und entsteht damit erst. Das heißt, es gibt vermutlich ein »gutes« analytisches Paar, das im therapeutischen Prozess gut miteinander funktioniert. Es gibt nicht die eine Person des Therapeuten, die alles »kann«. Damit wir unsere Arbeit gut genug machen können, sind wir existenziell angewiesen auf eine funktionierende Beziehung zum Klienten. Das relativiert ebenfalls unsere eigenen Fähigkeiten. Gut zu sein wäre dann also nicht eine Eigenschaft des Therapeuten oder der Therapeutin, sondern das Ergebnis der Beziehung, der gemeinsamen Arbeit. Selbstverständlich setzt dies die Entwicklung professioneller Kompetenzen wie Reflexions- und Resonanzfähigkeit sowie Ambiguitätstoleranz voraus, die in der Ausbildung vermittelt werden und während des gesamten beruflichen Lebens immer wieder aufrechterhalten werden müssen, wie es Reimut Reiche einmal schön auf den Punkt gebracht hat: »Es ist nicht schwer, Analytiker zu werden, aber es zu bleiben.«

SCHMIDBAUER Ich denke auch, dass eine ständige Übung des eigenen geistigen Handwerks und ein Lernen von den Analysandinnen der beste Schutz vor Langeweile und Burn-out ist, die es auch unter Therapeuten gibt. Persönlich stehe ich aber gegenwärtig vor einer anderen Aufgabe: Ich muss allmählich meine Freude an der Arbeit loslassen, ich kann mit 75 Jahren keine Langzeitanalysen mehr beginnen, arbeite vor allem als Supervisor und in kurzen Paartherapien und kann nur sagen, es ist nicht ganz einfach, Analytiker zu werden, aber auch schwer, nicht Analytiker zu bleiben, sondern sich von diesem Beruf zu verabschieden.

Die »Verführung« durch den Therapeuten

Herr Dr.Schmidbauer, ich habe in Ihrem Buch »Wenn Helfer Fehler machen« die Aussage gefunden: »Der Hunger nach dankbaren Blicken«, und zwar auf den Therapeuten bezogen. Dürfen Therapeuten auf Dankbarkeit aus sein?

SCHMIDBAUER Ja, denn das ist ein allgemein menschlicher Hunger. Therapeuten haben den auch, sicher. Jedem, der ein ehrlicher Selbstbeobachter ist, ist es lieber, wenn die Patienten dankbar und zufrieden aus der Stunde weggehen als gestresst und unzufrieden. Allerdings darf man nicht aus der professionellen Rolle herausfallen, nur um jemanden zufriedenzustellen. Das ist das Dilemma, das auch zu dem Thema des Missbrauchs in der Psychotherapie gehört. Wenn man eine Grenze überschreitet, ist die gespendete Dankbarkeit, die es durchaus aufseiten der Klienten zunächst geben kann, nicht mehr in Ordnung.

QUINDEAU