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Mit seinem Hauptwerk „Wien wörtlich“ gelingt dem Schriftsteller Josef Weinheber in insgesamt 56 Gedichten eine treffende Charakterisierung seiner Heimatstadt und ihrer Bewohner. Die von Johann Nestroy und Karl Kraus beeinflussten Texte sind lyrische Milieu- und Charakterstudien voller Komik und Satire, und so mancher Vers ist sprichwörtlich geworden. Bei seinem Blick in die Gründe und Abgründe der menschlichen Existenz bedient sich Weinheber teilweise des Wiener Dialekts, um in wenigen pointierten Worten bunte Genrebilder vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen zu lassen. Um die Lesbarkeit hinsichtlich Dialekt und historischer Umstände zu erleichtern, wurde der Text mit knapp 400 Fußnoten umfangreich kommentiert und kontextualisiert.
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur kommentierten Neuauflage
LEITSPRUCH
ES WÄRE NICHT WIEN
DER PRÄSIDIALIST
WAASST? NET? VERSTEHST?
WIR WIENER
SIEG DER PROVINZ
VORFRÜHLING IN SCHÖNBRUNN
WIENERISCH
IMPRESSION IM MÄRZ
VERSCHWUNDENES WIEN
DER AUFLAUF
DIE PENSIONISTEN
KALVARIENBERG
PRATERFRÜHLING
WIENERWALD
ANCIEN RÉGIME
SIEVERINGER ELEGIE
COLOMBINGEN
BIEDERMEIER
GRINZINGER WEINSTEIG
DER PHÄAKE
DIETHELM TRAUSENIT
WIRTSHAUSGESPRÄCHE
BALLADE VOM KLEINEN MANN
DIE LANDPARTIE
ELEGIE AUF DEN TOD EINES ALTEN WIENERS
AUF EINE WIENERIN
WURSTELPRATER
DER HOCHZEITSTAG
SYNONYMA
ALT-OTTAKRINGER PILGERFAHRT
IM HAUSE DES GERICHTS
VORSTADTGASSE IM SOMMER
DIE WERBUNG
HOFMUSIKANTEN
BEIM HEURIGEN
DIE HAUSFRAU UND DAS MÄDCHEN
HERBSTVORMITTAG IN DER WILDGRUBE
DER PHILOSOPH
BLICK VOM OBEREN BELVEDERE
MORALISCHER
ALT-OTTAKRING
DER STAMMGAST
STRASSENVOLK
UNIFORMEN IN DER REPUBLIK
DIE KAFFEEHAUSPOSITUR
LEOPOLDITAG
DER OBER AN DEN STIFT
LIEBHARTSTAL
SANKT NIKOLAUS
PLATZ AM HOF
DAS ROSS
WEIHNACHTSG‘SANGL
VORHER - NACHHER
AUS KRÄNKUNG
Josef Weinheber
Wien wörtlich
Erstveröffentlichung 1935 Kommentierte Neuauflage 2022
Nach persönlich schwierigen Jahren gelang Josef Weinheber Mitte der 1930er Jahre der künstlerische Durchbruch. Fortan galt er als einer der angesehensten Lyriker seiner Zeit. Dennoch sind heute sämtliche Werke des Künstlers vergriffen und wurden seit Jahren nicht wieder aufgelegt. Der Grund dafür liegt in Weinhebers Rolle während des NS-Regimes, die ihn bis heute zum vielleicht umstrittensten österreichischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts macht.
Und trotzdem verdient das Werk dieses „Hyperions aus Ottakring“ (Ernst E. Stein) einen zweiten Blick, um die beiden sehr unterschiedlichen Gesichter in Leben und Schaffen des Künstlers wahrzunehmen.
So berichtet der antifaschistische österreichische Lyriker Wilhelm Szabo in seinen persönlichen Erinnerungen an Weinheber von dessen „fast leidenschaftlichen Hassausbrüchen gegen die Nazis“ sowie dass der Schriftsteller ein überzeugter Befürworter der österreichischen Unabhängigkeit war.
Und noch 1937 fasste Weinheber seine Distanz zu NS-Deutschland im Gedicht „St. Michael“ in folgende Worte: „Laß uns nicht schrein um Deutschlands Ehr, / weniger ‚Deutschland‘, das ist mehr.“
Wohlgemerkt, diese Begebenheiten trugen sich vor dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland zu. Womit auch bereits die Bruchlinie im Werk Weinhebers beschrieben ist – vor 1938 entstanden vor allem humoristisch-melancholische Gedichte über die „Wiener Seele“, die zum Verständnis dessen, was Wien und den Wiener ausmacht, essenziell sind.
Der ehemalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl (in Ottakring sozialisiert) hat diese Notwendigkeit der Weinheberschen Lyrik treffend zusammengefasst – wobei seine Aussage wohl auch für die anderen 22 Bezirke der Stadt gilt:
„Wer Ottakring verstehen will, muss ausführlich Weinheber gelesen haben.“
Um dieses Verständnis wieder einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen, hat sich edition:nihil.interit entschlossen, mit dem vorliegende Buch Wien wörtlich das wohl beliebteste und erfolgreichste Werk aus Weinhebers Œuvre neu aufzulegen. Um die Lesbarkeit hinsichtlich sprachlicher Finessen und historischer Umstände zu erleichtern, wurde der Text mit knapp 400 Fußnoten umfangreich kommentiert und kontextualisiert. Dabei wurde bewusst auf tiefergehende Erläuterungen (etwa zur Sprachwurzel der wienerischen Ausdrücke) verzichtet, um so das Verstehen prägnant zu erleichtern, ohne dabei die Lesefreude durch langatmige Erklärungen zu mindern.
edition:nihil.interit
Ein årmer Dichter, wenig nur bekannt,
der sågt sich, meine Weis1 is überspannt2,
bei dem Sonetten3- und Terzinendreck4
bleibt mir am End die ganze Kundschaft weg,
i setz mi hin und schreib auf wienerisch,
was i so reden hör am Wirtshaustisch,
damit das Publikum der entern Gründ5
hålt auch einmål sein Dichter findt, jå, jå:
Des håt ka Goethe gschriebn, des håt ka Schiller dicht6,
is von kan Klassiker, von kan Genie,
des is a Weaner, der mit unsern Göscherl7 spricht,
und segn S', erst des is für uns Poesie.
Weise: Besondere Methode oder Art, die jemand in seinem Tun anwendet.↩
überspannt: über das Maß des Vernünftigen hinausgehend↩
Sonett: Vierzehnzeiliges Gedicht, bestehend aus zwei vierzeiligen und zwei dreizeiligen Strophen.↩
Terzine: Gereimte, aus beliebig vielen Strophen bestehende Gedichtform, wobei jede Strophe drei Verse umfasst.↩
entere Gründ‘: Volkstümliche Bezeichnung für die jenseits des Gürtels gelegenen Vororte (entere bedeutet „auf der anderen Seite befindlich“, hat aber auch die übertragene Bedeutung von „unheimlich“).↩
Das hat ka Goethe g'schrieb'n, das hat ka Schiller 'dicht: Titel eines bekannten Wienerlieds des Volkssängers Wilhelm Wiesberg (1850-1896), das vom Komponisten Johann Sioly (1843-1911) vertont wurde.↩
Gosche: Mund/Maul↩
War net Wien, wann net durt,
wo ka Gfrett1 is, ans wurdt.
Denn dås Gfrett ohne Grund
gibt uns Kern, hålt' uns gsund.
War net Wien, ging net gschwind
wieder amål der Wind,
daß der Staub wia net gscheit
umanandreißt die Leut.
War net Wien, wolltst zum Bier
und es stößert mit dir
net a B'soffener z'samm,
der a Feuer mächt ham.
War net Wien wann net gråd,
aufgråbn wurdt in der Ståd,
daß die Kübeln mit Teer
sperrn den Fremdenverkehr.
War net Wien, kam net glei
aner dasig2 vorbei,
der von d' Federn aufs Stroh
g'rutscht3 is, so oder so.
War net Wien, Pepi, wannst
raunzen mächst und net kannst:
Denn dås Gfrett ohne Grund
gibt uns Kern, hålt' uns gsund!
Gfrett: Ärger, Mühe↩
dasig: niedergeschlagen↩
von den Federn aufs Stroh rutschen: verarmen↩
Gehn S', sind S' so freundlich, lieber Herr von Schur,
richten S' mir ja den Sprechakt für elf Uhr,
der Sektionschef2 hat ihn gestern schon
dringend urgiert zur Approbation3,
gleich nach der Sitzung — was? schon wieder zehn?
muß ich hinüber — ham S' ihn? — sprechen gehn.
Nun, lassen S' sehn, ich bin nicht informiert:
.. ersucht anher4.. wenn da nur nix passiert..
im Zuge aller die Konzession
betreffenden .. verdammtes Telephon!
Ob man nur einen Augenblick .. hallo?
Ach, du bist's, Margit, denk dir, ich bin so
pressiert5.. der Herr Minister .. Küßdiehand!..
beim Ronacher6? So geh! Wars intressant?..
Nein, heut gehts nicht .. ich ruf dann noch, wir sind
heut abend in der Burg7.. leb wohl, mein Kind ..
.. betreffenden und im Verfolge des
h. o.8 bezogenen Bedingnisses9,
sowie der etwa unter Rücksicht auf
den abzuwartenden Prozeßverlauf
erforderlichen Maßnahmen, womit
der Bundesschatz10 die Pfandrechte vertritt
und unter Anschluß — Servus, Herr Baron,
weißt schon das Neueste, nimm Platz, der Sohn
vom Hofrat Krk soll sich, no ja, man sagt,
— Gehn S', Herr von Schur, ich brauchert noch den Akt —
du glaubst nicht, wie der aufpaßt .. also soll
sich auch betätigt .. gestern? Alles voll,
die Jeritza11, ich sag dir, epochal!
Was? Gleich elf Uhr? Entschuldige .. Eine Qual,
wie man gehetzt ist, schrecklich! Apropos:
Gehst heut zum Rennen? Weißt, auf Nitschewo
ist kein Verlaß — no schau halt, daß d' gewinnst.
Jetz' muß ich rüber, Servus! Dienst ist Dienst.
Präsidialist: Dem jeweiligen Chef eines Amtes unmittelbar unterstellter Beamter.↩
Sektionschef: Leiter einer Sektion, also der obersten Organisationsebene eines Ministeriums.↩
Approbation: behördliche Zulassung↩
anher: hierher↩
pressiert sein: in Eile sein↩
Ronacher: Ein 1872 eröffnetes Theater in Wien I, in dem ab 1928 auch der österreichische Rundfunk (RAVAG) mit einem Studio für Musikprogramme eingemietet war.↩
Burgtheater: Im Jahr 1888 als k.k. Hof-Burgtheater gegenüber dem Wiener Rathaus eröffnet, galt das Theater lange als „erste Sprechbühne“ des deutschen Sprachraums.↩
h.o.: hierorts↩
Bedingnis: vereinbarter Vertragspunkt↩
Bundesschatz: Nachfolger des k.k. Ärars (staatliches Eigentum, das vom Kaiserhaus genutzt und verwaltet wurde) in der Ersten Republik.↩
Maria Jeritza (1887-1982): Die böhmisch-österreichische Opernsängerin war als eine der besten Sopranistinnen ihrer Zeit bekannt. Ab 1921 sang sie u.a. auch an der New Yorker Metropolitan Opera (deren Ensemble sie angehörte) und emigrierte 1935 nach New York.↩
(Selbstgespräch eines Biertipplers)
Wann i, verstehst, wås z'reden hätt, i schåffert ålles å. Wås brauch ma denn des ålles, net? Is eh gnua då. Zum Beispü' die Gehälter, waaßt, i streichert s' glått. Net einz'segn, net, daß aner praßt und aner går nix håt. Und dann die Auto: Hårmlos gehst — du bist do' Publikum — då kummt a so a Gfraßt1, verstehst, und scheibt di um2. Die Fremden, waaßt, de schmeißert i — a Schupfer, net? — beim Tempel außi3. Schert des mi, wo so a Denkmål steht? Die Pflåsterer, verstehst, de stiern4 mirs heulig5 aa. I låsserts ålle arretiern, daß 's nur a G'hörtsi6 war. Die ewige Aufgråberei, verstehst, des Röhrlwerch, då leb i, waaßt, do liaber glei am Bisamberg7. Und d' Wächter, net, i bin do g'wiß a rare8 Söl, åber de müaßten weg, sunst is nie Schluß mit den Bahöl. Wo unseraner do nix wül, waaßt, åls sei Ruah. Sogår die Tschecherln9, in mein Schwül10, verstehst, i sperrerts zua.