Wild Economy - Lars Reppesgaard - E-Book

Wild Economy E-Book

Lars Reppesgaard

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Beschreibung

In Deutschland haben es kreative Köpfe schwer, an Kapital für innovative Projekte zu kommen. Nach einer DIW-Studie von 2009 ist Deutschland weit weniger innovativ als andere Industrieländer. Auch der BDI-Präsident Hans-Peter Keitel sieht hier Handlungsbedarf. Lars Reppesgaard stellt in seinem neuen Buch Projekte und Ideen vor, die Begeisterung für Innovationen wecken. Früher waren Adam Opel und Wilhelm Benz die "wilden Kerle" der Wirtschaft, heute sind das große Industrieunternehmen. Doch wer sind die Großen von morgen? Natürlich die Kleinen von heute. Dieses Buch stellt die Frage, ob wir wirklich noch das Land der Dichter und Denker und das Land der Ideen sind. Es stellt die Selbstgewissheit in Frage, mit der viele Politiker immer noch behaupten, der Exportweltmeister Deutschland werde nach der Krise umso erfolgreicher durchstarten. Der Autor bezweifelt das, denn die wirklich guten Ideen, die wirklich radikalen Gedanken haben hier wenig Platz und werden kaum gefördert. Lars Reppesgaard sagt daher: "Wir brauchen jedoch die Ideen der Querköpfe, der Wilden, der unangepassten Tüftler, denn die bequemen Innovationsmodelle, auf die wir uns derzeit verlassen, um unsere Zukunft zu sichern, funktionieren angesichts der globalen Herausforderungen wie der Wirtschaftskrise und dem Klimawandel nicht mehr." Im Klartext: Wir brauchen die Querdenker und ihre schillernden Ideen für kleine Motoren, für stromsparende Wasserreinigung, und wir brauchen sie besonders in Zeiten der Klima- und Finanzkrise. Die großen Systeme sind in Frage gestellt, ein Paradigmenwechsel steht vor der Tür. Reppesgaard zeigt Wege, wie die Probleme der kreativen Technik-Köpfe hierzulande gelöst werden können, damit wir alle mehr von der Zukunft haben.

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Lars Reppesgaard

Wild Economy

Durchstarter, die unsere Gesellschaft verändern

Für Sandi

Inhalt

TEIL 1 Durchstarten oder stehen bleiben?

KAPITEL 1 Ein Visionär gibt Gas: Mit dem E-Rockit durch Berlin

KAPITEL 2 Bestandsaufnahme: Das einfallslose Land der Ideen

TEIL 2 Wie den Erfindern das Erfinden abgewöhnt wurde

KAPITEL 3 Goldene Zeiten: Deutschlands tüftelnde Gründerväter

KAPITEL 4 Entschlossene Typen: Die ersten Erfinder und wie das Erfinden zum Geschäft wurde

KAPITEL 5 Die Erfinderfabrik: Innovation als neuer Antrieb der Industrie

KAPITEL 6 Querdenker unerwünscht: Warum in vielen Unternehmen gute Ideen keine Chance haben

KAPITEL 7 Genial, aber pleite: Warum manche Erfinder trotz erstklassiger Ideen scheitern

KAPITEL 8 Der Traum vom Jackpot: Wie die Tüftler in den Nischen überlebt haben

KAPITEL 9 Die Start-up-Revolution oder: Wie die Internetwirtschaft für radikale Visionäre neue Chancen eröffnet

TEIL 3 Durchstarter: Was Erfinder heute erfolgreich macht

KAPITEL 10 »Man kann nicht damit leben, dass irgendwo eine Blackbox ist«Warum Spieltrieb und Neugier die besten Ideengeber sind

KAPITEL 11 »Warum bauen wir eigentlich kein Motorrad?«Wieso es richtig ist, auch scheinbar verrückten Ideen eine Chance zu geben

KAPITEL 12 »Ein Problem, das man selbst hat, ist auch für andere ein Problem«Warum man Sinnvolles erfindet, wenn man sich klarmacht, was man selbst braucht

KAPITEL 13 »Techniker haben einen Tunnelblick«Warum Quereinsteiger eher einen visionären Plan umsetzen

KAPITEL 14 »Eine Datenbank aufzubauen gilt als langweilig«Warum auch scheinbar Unscheinbares die Welt verändern kann

KAPITEL 15 »Ich habe mich kopfüber in die neue Welt gestürzt«Warum Naivität wichtig ist, um mit etwas völlig Neuem Erfolg zu haben

KAPITEL 16 »Vorher wollte ich nicht wahrhaben, dass etwas schiefgehen kann«Warum es lohnt, sich von Rückschlägen nicht stoppen zu lassen

KAPITEL 17 »Wir wären schon sehr viel weiter«Warum es wichtig ist, beim großen Plan keine Kompromisse zu machen

KAPITEL 18 »Es baut sich eine neue Welle auf«Warum es sinnvoll ist, genau das Gegenteil von dem zu tun, was große Unternehmen machen

KAPITEL 19 »Alles, was wir brauchen, ist vorhanden«Warum man mit einer großen Idee sogar die Welt retten kann

TEIL 4 Aufbruch in eine neue Ära des Erfindergeistes

KAPITEL 20 Schluss mit der Zaghaftigkeit! Was Erfinder tun müssen

KAPITEL 21 Was systematisch falsch läuft – und wie wir das ändern können

KAPITEL 22

TEIL 1 Durchstarten oder stehen bleiben? Wirtschaft am Wendepunkt

KAPITEL 1 Ein Visionär gibt Gas: Mit dem E-Rockit durch Berlin

Die Ampel schaltet auf Grün. Stefan Gulas tritt kräftig in die Pedale und lässt die erstaunten Autofahrer locker hinter sich. Blitzschnell saust er die Straße entlang und legt sich wie ein Rennradfahrer in die Kurve. Selbst wenn die Autos auf der breiten Straße des 17. Juni mehr als die erlaubten 50 Kilometer in der Stunde fahren, holt Gulas sie ohne große Anstrengung ein – und erntet immer wieder ungläubige Blicke. Im Rückspiegel sieht er mit dem massigen Motorradhelm aus wie ein heranrauschender Biker auf einer PS-starken Maschine. Aber kein Knattern und kein Röhren ist zu hören. Wie ein Schatten fliegt das schlanke E-Rockit heran und zischt an den Autos vorbei. Und das auch auf der Autobahn. Über 80 Stundenkilometer schnell fährt es, wenn man richtig Gas gibt – oder genauer gesagt: wenn man ordentlich strampelt. Stefan Gulas hat das E-Rockit mit seiner einzigartigen Kombination aus Muskelkraft und einer intelligent eingesetzten Batterie erfunden. Die Kraft, um federleicht an den Autos vorbeizuziehen, bekommt es durch einen Elektromotor. Wie stark der das Gefährt vorantreibt, hängt von den Geschwindigkeit ab, mit der man in die Pedale tritt. Der Fahrer steuert durch seinen Muskeleinsatz den Motor, der die Antriebskraft jedes Pedaltritts um das Fünfzigfache verstärkt. Deshalb kann das E-Rockit so zügig durchstarten und so schnell fahren wie ein kleines Motorrad. Gulas zischt mit dem E-Rockit über die Berliner Stadtautobahn bis nach Potsdam, ohne ins Schwitzen zu geraten. »Man soll sich körperlich bewegen wie auf einem Fahrrad, aber die Kraft eines Motorrads spüren«, beschreibt er seine Idee. Dieses hybride Antriebsprinzip ist etwas völlig Neues. Nicht der mit dem dicksten Motor könnte in Zukunft der Schnellste sein, sondern der, der am kräftigsten in die Pedale tritt.

Das Konzept des motorisierten Fahrzeugs ist seit seiner Entwicklung im späten 19. Jahrhundert im Prinzip unverändert geblieben. Egal, ob der Fahrzeuglenker auf einem Motorrad, im Kleinwagen, in einer Luxuslimousine, am Steuer eines Busses oder auf einem Traktor sitzt: Stets bewegt ein Motor eine gehörige Menge Stahl, während der Fahrer sich regungslos transportieren lässt. Damit die Antriebsmaschine ihre Kraft entfalten kann, muss sie reichlich Treibstoff verbrennen, was bekanntlich große Mengen Kohlendioxid und andere Schadstoffe freisetzt. Vom Grundsatz her funktioniert ein kleiner Fiat Uno, ein protziger Hummer-Jeep oder eine Daimler-Limousine von heute genau so wie die Tin Lizzy, die bei Ford im Jahr 1914 das erste Mal vom Band lief. Und Fords T-Modell funktionierte auch nicht anders als der Patent-Motorwagen Nummer 1, mit dem Carl Benz 1886 an staunenden Passanten vorbeiknatterte.

Nun, wo sich abzeichnet, dass der Klimawandel eine der großen Herausforderungen für die Menschheit darstellt, dass der Weltvorrat an fossilen Brennstoffen endgültig zur Neige geht und der Preis für Treibstoff in astronomische Höhen schnellen wird, könnte es sein, dass eine völlig neue Klasse von Fahrzeugen die Dinosaurier aus der Zeit der Sorglosigkeit und des Überflusses von den Straßen verdrängen wird: Fahrzeuge, die sich mit einem Mix aus Muskel- und Elektrokraft fortbewegen. Lädt man ihre Batterien mit Solarstrom auf, kann man losfahren, ohne schädliche Emissionen in die Hemisphäre zu blasen.

Mit Spaß Gas zu geben ist bisher fast zwangsläufig mit qualmenden Motoren verbunden. Das Autofahren ist nicht nur deshalb so beliebt, weil das Auto als Statussymbol, oft gar als ein persönlicher Kokon und Lebensraum empfunden wird, sondern vor allem, weil es einfach ein tolles Gefühl ist zu spüren, wie man mit Hilfe eines starken Motors eine Tonne Stahl vorantreibt. Unliebsame Beifahrer sind das schlechte Gewissen und die Angst vor der Spritrechnung. Denn der Ferrari, der Porsche, das Motorboot und die dicke Harley-Davidson, sie alle begeistern ihre Fans, aber sie verbrauchen nicht nur Kraftstoff, sie saufen ihn regelrecht. Und nun kommt ein revolutionär neuartiges Gefährt und verspricht intelligenten Spaß mit gutem Gewissen.

Dabei ist das E-Rockit auch noch cool. Von weitem sieht es aus wie ein tolles Mountainbike: ein elegant geschwungener, blitzender Stahlrahmen, ein schlanker Ledersattel, zum Zupacken ein breiter, wuchtiger Lenker. Wenn man näher herankommt, sieht man, dass das Gefährt mit dicken Motorradreifen und massiven Bremsen ausgestattet ist. Der kleine Motor ist hinter das Tretlager geschraubt. Wenn Gulas’ Rechnung aufgeht, finden genug Leute das Gefährt so hip wie einen iPod oder einen Porsche. »Der Sex-Appeal des E-Rockit ist kein tief röhrender 300-PS-Motor, sondern das Konzept. Es ist smart, schnell, wendig und CO2-neutral. Damit ist es auch für Leute attraktiv, denen es völlig egal ist, ob sie sich klimaneutral fortbewegen oder nicht«, sagt der E-Rockit-Erfinder.

Selbst ist der Mann

Gulas hat keinen gut bezahlten Job in der Entwicklungsabteilung eines Auto- oder Technologiekonzerns. Er hat auch keine hoch dotierte Planstelle bei einem Fraunhofer-Institut oder an einer Universität. Gulas muss selbst sehen, dass er sich über Wasser hält. Er ist nicht nur Erfinder, er ist Erfinder-Unternehmer. Er muss das Geld selbst zusammensuchen, um seine Vision in die Tat umzusetzen. Erfinder-Unternehmer wie Gulas sind mutig. Sie tun, was sie tun, ohne die Rückendeckung großer Institutionen oder finanzstarker Organisationen. Sie gehen persönlich volles Risiko ein. »All in«, wie man beim Pokern sagt. Wie gut ihr Blatt ist und ob nicht jemand eines auf der Hand hat, das ihres wertlos macht, wissen sie nicht. Für die Gesellschaft sind solche Menschen ein Segen, auch wenn einige von ihnen scheitern. Denn sie bringen die Dinge, für die sie sich begeistern, radikal voran. Und manchmal schreiben sie im Alleingang Geschichte.

Es ist kein Zufall, dass Gulas das E-Rockit erfunden hat. Genauer gesagt: dass ein Typ wie Gulas dieses vollkommen neuartige Gefährt entwickelt hat und nicht ein Ingenieur, der bei einem Motorradhersteller wie Suzuki, einem Fahrradhersteller wie Giant oder einem Autohersteller wie Volkswagen arbeitet. Gulas ist ein Radikaler, ein Weltenbummler. Er hat so wenig Selbstzweifel, dass man sich mitunter fragt, ob er mit seinen großen Plänen nicht ein bisschen fantasiert. Jedenfalls wollte er von Beginn an mit dem E-Rockit etwas radikal Neues entwickeln. »Ich habe von etwas geträumt, das es vorher so noch nicht gab.«

Gulas wurde in Österreich geboren. Doch dort ist er nicht geblieben, in seinem Leben hat er schon einiges probiert. Er liest gerne internationale Managermagazine und erdenkt laufend neue Visionen und Pläne. »Am liebsten erfinde ich Dinge oder schmiede Geschäftsideen«, sagt er. Aber Gulas träumt nicht nur vom Machen. Er macht auch. Das unterscheidet ihn von vielen anderen, die ebenfalls große Pläne entwerfen. Nach einem Ingenieurstudiengang, Fachgebiet Bergbau, arbeitete er in einer Unternehmensberatung. Dann ging er im Jahr 2000 ins Silicon Valley, um ein kleines Start-up-Unternehmen auf die Beine zu stellen. Doch das Timing für den Aufbau seines Internet-Jobportals stimmte nicht. Die Internetblase platzte, keiner war bereit zu investieren. Desillusioniert ging er zwei Jahre später nach Berlin. Dort arbeitete er für T-Systems. Ein braver Job im Marketing, um wieder das Konto zu füllen. Aber Stefan Gulas hörte nie auf, vom großen Wurf zu träumen. Er las weiter, plante, überlegte, konzipierte. Bis ihm 2004 die Idee mit dem E-Rockit kam. »Ein Fahrrad, mit dem ich Autos abziehen kann – das ging mir nicht mehr aus dem Kopf«, sagt er. »Es ist für mich ungeheuer reizvoll, mit scheinbar unterlegenen Ressourcen einfach durch ein gutes Konzept die Großen zu überholen.« So wie David, der mit seiner Schleuder den körperlich überlegenen Goliath zu Fall brachte.

Bei seinen Recherchen war Gulas auf ein Patent aus den Vereinigten Staaten gestoßen. Dort hatte jemand schon 1975 das hybride Antriebsprinzip mit den Pedalen, die die Leistung des Elektromotors steuern, beschrieben. »Technisch hätte man so etwas wie das E-Rockit also schon vor zehn Jahren machen können, nur dass die Batterien dann dicker gewesen wären«, sagt Gulas. »Aber wenn man es wirklich bauen will, stellt man fest, dass die technischen Herausforderungen groß sind. Der Clou ist nicht allein das Konzept, sondern das Lösen der ganzen technischen Probleme.« Es gibt ein weiteres Moment, das den Erfinder, der das Patent angemeldet hatte, vermutlich davon abhielt, ein Gefährt wie das E-Rockit zu bauen. Das Fahrzeug ist so radikal anders und unorthodox, dass nur jemand, der selbst ein radikaler Denker ist, sich überhaupt vorstellen kann, dass es ein Erfolg wird. »So was können eigentlich nur Spinner tun«, meint Gulas selbst.

Dabei liegen die Gründe, etwas wie das E-Rockit zu probieren, auf der Hand. Im Bereich der individuellen Mobilität steht ein Paradigmenwechsel an. Die Autokonzerne haben jahrzehntelang glänzende Geschäfte gemacht mit ihrem Konzept vom schweren, spritverschwendenden Stahlboliden. Lange waren die Treibstoffkosten kein ernst zu nehmendes Problem. Ende der 1970er Jahre lag der Benzinpreis in Deutschland im Schnitt bei 50 Eurocent. Seit Ende der 1980er ist die Zeit des Billigsprits endgültig vorbei. Mitte des Jahres 2000 durchbrach der Benzinpreis die Ein-Euro-Marke. Heute kostet ein Liter Treibstoff etwa 1,40 Euro. Verblüffenderweise haben die Autohersteller auf diesen Trend nie reagiert. Ihre Autos bekommen immer stärkere Motoren, aber sparsamer werden sie dabei kaum.

Außerdem stehen sie immer häufiger, statt zu fahren. Schon 1999 ermittelte der Allgemeine Automobilclub Deutschland, dass deutsche Autofahrer pro Jahr 4,7 Milliarden Stunden im Stau feststecken. Dabei verpuffen etwa 12 Milliarden Liter Sprit. Seitdem fahren noch mehr Autos auf den deutschen Straßen, der Verkehr ist immer dichter, die Staus sind noch länger geworden. Das Feld ist offen für eine attraktive Alternative, um individuell von A nach B zu gelangen. Deshalb musste jemand wie Stefan Gulas fast zwangsläufig das E-Rockit erfinden. Ein Träumer, der Lust hat, die Welt zu retten und dabei mit seiner Idee reich zu werden. Aber eben auch ein Typ, der tatsächlich versucht, seine Visionen in die Tat umzusetzen, auch wenn er selbst, wie er zugibt, zwei linke Hände hat. Fräsen und bohren können schließlich auch andere.

Also begeisterte Gulas zunächst ein paar Freunde für seinen kühnen Plan, die jeweils einen Teil ihrer Zeit opferten, ohne voll in das Projekt einzusteigen. Zusammen mit ihnen baute er ab Dezember 2005 das erste Gefährt. »Nur eine Idee zu haben bringt nichts«, sagt der Österreicher. »Man muss möglichst schnell einen Prototyp vorweisen und sehen, wie die Menschen auf das Ding reagieren. Daraus kann man ablesen, wie attraktiv das Fahrzeug ist und was man noch verbessern muss.« Bewundert und bestaunt wurde schon das erste E-Rockit von allen, die es in Aktion sahen. Immerhin 33 Kilometer in der Stunde konnte man mit dem 45 Kilo schweren Prototyp fahren. Und das war bereits deutlich mehr, als mit den Pedelecs, Fahrrädern mit Elektromotor, möglich ist.

Gulas stieß auf eine Gruppe von Fahrrad- und Motorradfreaks aus der linken Hausbesetzerszene, die in ihrer Wohnung in Berlin-Friedrichshain die Produktion der ersten beiden E-Rockits übernahmen. Im Gegensatz zu anderen Zweiradexperten hatten sie sofort begriffen, worauf der unkonventionelle Unternehmer hinauswollte. »Für die war das Konzept gar nicht so verrückt. Es passt zu dem, wie sie sich selbst sehen – eben far out.« Zehn Mitarbeiter beschäftigt Gulas zurzeit in der Werkstatt, in die er keine Besucher blicken lässt. Unter den Fachleuten sind auch Spezialisten für Elektrotechnik, Metallbau und Fahrzeugbau. Es zeigte sich nämlich schnell, dass reine Fahrradkomponenten nicht stabil genug sind für ein Gefährt, das eine Zulassung vom Kraftfahrtbundesamt benötigt. »Auf Fahrradreifen darf man einfach nicht mit 80 Kilometern die Stunde über die Autobahn rasen«, sagt Gulas, »und auch in vielen anderen Bereichen braucht man Motorradteile.«

Zwischen 2005 und 2008 perfektionieren Gulas und sein Team die Erfindung. Die Friedrichshainer fertigen Karbonteile wie die Akkuverkleidung des E-Rockit. Eigenhändig fräsen sie auch die meisten Anbauteile, etwa Bremshebel und Generatorendeckel. Alle Teile der ersten E-Rockit-Prototypen werden sorgfältig geprüft und, wenn es geht, verbessert. Unterm Strich hat die Tüftelei viel gebracht. Der ursprüngliche Kettenantrieb ist beim aktuellen Typ durch eine saubere Riemenlösung ersetzt. Da tropft kein Öl, und Benzindämpfe dünsten ja sowieso nicht aus dem Fahrzeug. Gulas muss das E-Rockit nicht auf der Straße lassen. Er rollt es über ein Brett in seine Erdgeschosswohnung und stellt es wie ein Fahrrad nachts in sein Arbeitszimmer. Dort schließt er das Technikwunder an die Steckdose an und kann am nächsten Morgen wieder losbrausen. Die Batterien, die er einsetzt, werden immer kleiner und halten immer länger. Damit er für sein Bike die besten kriegt, fliegt Gulas bis nach Boston. Dort schwatzt er sie direkt dem Hersteller ab.

Andere Teile wie den Sattel haben die Bastler ganz bewusst so einfach wie möglich gelassen. »Man soll ja nicht vergessen, dass man auf einem Radl unterwegs ist«, schmunzelt Gulas. Der größte Feind des Projekts sind nun nicht mehr zögerliche Investoren oder ablehnende Fahrradbauer. Es ist Gulas’ eigener Ideenreichtum. Auch wenn er an dem großen Wurf seines Lebens arbeitet und ackert wie noch nie, bleibt er rastlos. Ständig hat er neue Ideen. Aber Einfälle wie der Roboterfisch, von dem auch ein Prototyp auf einem Regal in seinem Arbeitszimmer liegt, müssen warten. Erst einmal gilt es, das Bike zu vermarkten, das er in Kleinserien baut. Etwa 12.000 Euro soll ein E-Rockit kosten. Die erstklassigen Komponenten haben ihren Preis. »Irgendwann wird jemand diese Idee aufnehmen und auch eine Billigvariante dieses Fahrzeugs bauen und es für den Massenmarkt anbieten.«

Wer die Welt bewegt

Ob Gulas einmal seinen Platz in den Geschichtsbüchern finden und in einem Atemzug mit Carl Benz oder Gottlieb Daimler, dem Erfinder des Motorrads, genannt werden wird? Zugegeben: Das grundlegende Patent für den Hybridantrieb hat er nicht entwickelt. Und Hand an die Zweiräder legt er auch nur im Ausnahmefall. Er sagt ja von sich selbst, dass er zwei linke Hände hat. Außerdem verbauen seine Werkstattfachleute vieles, was es fertig zu kaufen gibt, etwa die Motorradreifen. Trotzdem hat die Idee des rastlosen Österreichers das Potenzial, ihm einen Platz in der Geschichte zu sichern. Denn dazu ist es nicht notwendig, das Rad neu zu erfinden, es geht darum, etwas zu entwickeln, das unser Leben verändert.

Auch Johannes Gutenberg hat den Buchdruck nicht aus dem Nichts ersonnen, er perfektionierte die Reproduktionstechnik aus dem alten China. Heute hätte er Probleme gehabt, ein Patent auf seine Erfindung zu bekommen, oder er wäre von einem chinesischen Druckermeister verklagt worden. Gutenbergs historische Innovationsleistung ist der Buchdruck mit beweglichen Metalllettern. Dank seiner Legierung zur Herstellung einzelner Lettern und des von ihm ausgetüftelten Holzrahmens, dem sogenannten Satzschiff, konnte der Buchdruck ein Massenphänomen werden, das die Welt veränderte.

Der Wandel kommt nicht über Nacht. Ob Stefan Gulas’ harte Arbeit mehr als eine Randnotiz der Technikgeschichte hervorbringen wird, hängt davon ab, ob massenhaft Leute diese neue Form der Fortbewegung akzeptieren werden – so wie zunächst Hunderte, dann Tausende, dann Millionen Gutenbergs Erfindung nutzten. Die Konkurrenz ist stark: Das Auto hat sich als individuelles Fortbewegungsmittel weitgehend durchgesetzt, in der Stadt ist für viele das Fahrrad eine kostengünstige Alternative. Und es gibt bereits andere Technikpioniere, die mit ihren Versuchen gescheitert sind, angesichts von Klimawandel und teuren fossilen Brennstoffen die Mobilität des Einzelnen auf neue Füße zu stellen.

Der Segway, den der exzentrische Milliardär Dean Kamen erfand, ist ein Beispiel für ein völlig neues Fahrzeugkonzept, das es nicht geschafft hat, zum Gefährt der Massen zu werden. Das futuristische Zweirad wurde im Januar 2001 vorgestellt: Auf einer Plattform mit Lenksäule gleitet man aufrecht stehend mit bis zu 20 Stundenkilometern durch die Gegend. Neigungssensoren registrieren die Richtung, in die sich der Fahrer lehnt. Jedes der beiden Räder wird von einem separaten Elektromotor angetrieben. Eine Computersteuerung hält das Fahrzeug automatisch im Gleichgewicht. Auch der Segway wäre eine Alternative für die Fortbewegung in der Stadt, und wer ihn mit Ökostrom füttert, fährt ebenfalls emissionsfrei. Er hat allerdings einen entscheidenden Nachteil: Das selbstbalancierende Zweirad scheitert am Bordstein.

Das E-Rockit kann überall dort fahren, wo ein Mountainbike hinkommt. Trotzdem wird es im allergünstigsten Fall noch viele Jahre dauern, bis das E-Rockit auch nur annähernd so populär ist wie heute das Auto. Mehr als 40 Millionen Autos hat das Kraftfahrtbundesamt Anfang 2009 in Deutschland gezählt. Von solchen Zahlen kann Gulas nur träumen. Und das liegt nicht an seiner Strategie, das E-Rockit als Edelgefährt zu vermarkten. Selbst wenn morgen ein Massenhersteller ein vergleichbares Fahrzeug herstellen würde, das nur 1000 Euro kostet, bräuchte eine solche Entwicklung Zeit. Denn was Gulas’ Erfindung so interessant macht, ist ja gerade das radikal neue Mobilitätskonzept.

Bis der Gutenberg’sche Buchdruck ab dem Jahr 1500 ein Massenphänomen wurde, waren fast 70 Jahre verstrichen. Bis das E-Rockit oder ein ähnliches Fahrzeug die Welt bewegt, wird vermutlich viel weniger Zeit ins Land gehen. Von heute auf morgen kann sich das neue Konzept vom Hybridantrieb aus Muskel- und Elektrokraft aber nicht durchsetzen – so wie das Automobil und das Konzept, sich in spritverbrauchenden, schweren Stahlkästen zu bewegen, auch nicht innerhalb weniger Jahre Millionen begeisterte.

Es erforderte im Jahr 1886 eine gehörige Portion Fantasie, sich auszumalen, dass der Patent-Motorwagen Nummer 1 nicht nur schnell der Kutsche überlegen sein, sondern Lebensstil und Lebensgefühl ganzer Nationen auf Jahrzehnte hin prägen würde. Der Motor des knatternden Gefährts erreichte gerade mal eine Höchstgeschwindigkeit von 16 Kilometern in der Stunde. Er hatte nicht einmal die Zugkraft einer Pferdestärke. Bei den Ausfahrten auf der Ringstraße in Mannheim lief Carl Benz’ Sohn Eugen mit einer Flasche Benzin neben dem Fahrzeug her und füllte nach, damit der Sprit nicht ausging. Bei der Pariser Weltausstellung 1887 platzierte man das Fahrzeug kurzerhand zwischen den Pferdedroschken, weil niemand mit dem neuen Gefährt so recht etwas anfangen konnte. Es dauerte Jahrzehnte, bis das Auto breite Bevölkerungsschichten ansprechen sollte, zunächst einmal weckte es Ängste. Droschkenkutscher verfluchten es, Fußgänger fürchteten sich. Für Otto Normalverbraucher war es unerschwinglich teuer, und es funktionierte leidlich, während der Pferdewagen zuverlässig fuhr. Die Autohersteller brauchten mehr als 50 Jahre, um das Automobil zu vervollkommnen und die wohlhabende Welt zu gewinnen.

Das E-Rockit von heute wird mit seinen Nachfolgern so wenig gemeinsam haben wie Benz’ Patent-Motorwagen, der an eine Kutsche ohne Pferde erinnert, mit Fords Tin Lizzy von 1920 oder dem Citroën DS, der Mitte der 1950er Jahre durch die Straßen kreuzte und von Designern zum schönsten Auto aller Zeiten gewählt wurde. Das E-Rockit wird sich Moden anpassen, technische Neuerungen werden sichtlich ihre Spur hinterlassen, so wie Fahrtrichtungsanzeiger, Stoßstange oder Aerodynamik beim Automobil. Welches Potenzial in dieser Erfindung steckt, kann man sich vor Augen führen, wenn man daran denkt, wie gering die Bedeutung der Automobilindustrie noch vor 100 Jahren war. Um das Jahr 1905 herum gab es weltweit etwa 21.500 Autos. Allein die Zahl der Opel Corsa, die zwischen Januar und März 2009 in Deutschland zugelassen wurden, liegt höher. Weltweit fahren heute mehr als 600 Millionen Autos auf den Straßen. Gut möglich, dass die Jungs in der Werkstatt in Friedrichshain bald richtig was zu tun bekommen.

Stefan Gulas geht jedenfalls davon aus, dass seine Erfindung die Welt verändert. Und dieser Gedanke ist nicht größenwahnsinnig, sondern die notwendige Voraussetzung dafür, dass der kühne Plan vom E-Rockit aufgehen kann. »Ambitionierte Ziele sind das Fundament, auf dem große Erfolge aufbauen«, erklärt der Unternehmensberater Herman Simon in seinem Buch über unbekannte Top-Unternehmen, Hidden Champions. »Nie ergeben sich solche Erfolge zufällig oder ex post. Am Anfang steht immer eine Vorstellung von der Zukunft, von dem, was eine Person erreichen will, eine Vision, zumindest jedoch ein Zustand des Vorbereitetseins … Wenn man die Menschen betrachtet, gibt es die vielen, die keine besonderen Ambitionen haben, die einen mehr oder weniger vorgezeichneten Weg gehen. Und es gibt die wenigen, die ein Ziel, eine Mission verfolgen. Die Gründer und Manager der Hidden Champions gehören zur zweiten Kategorie. Sie wissen nicht nur, was sie wollen, sondern sie haben auch die Willensstärke und die Energie, manchmal die Besessenheit, ihre Ziele in Taten umzusetzen.«

Vision, Hartnäckigkeit und Obsession – darum wird es in diesem Buch gehen. Und der Besuch bei Stefan Gulas war eine gute Gelegenheit, diesen frischen Wind zu erleben. Die Zeit wird zeigen, ob seine Erfindung das Zeug dazu hat, Geschichte zu schreiben. Doch unabhängig davon, ob das E-Rockit bald die Straßen bevölkert oder ein Nischenfahrzeug bleibt, ist es schade, dass man Leute wie Stefan Gulas in Deutschland mit der Lupe suchen muss. Die lahmende Exportnation hat mehr von diesen Typen bitter nötig. Denn gute, abgedrehte und wirklich neue Einfälle sind im selbsternannten Land der Ideen leider Mangelware.

KAPITEL 2 Bestandsaufnahme: Das einfallslose Land der Ideen

Wer über die Elbbrücken stadtauswärts fuhr und dann in Richtung der Hamburger Innenstadt blickte, konnte sich das ganze Jahr 2009 hindurch anschauen, wie eine globale Wirtschaftskrise aussieht: Dicht aneinandergereiht lagen Schiffe dort vor Anker, tagelang, wochenlang, einige schon seit Monaten. Und das, obwohl sonst im Hafen beim Be- und Entladen jede Minute zählt. An den Elbpfählen aber wurde nicht geladen, sondern geparkt. Ein Großteil der Schiffe, die bis zum Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise rund um die Welt unterwegs waren, um T-Shirts und DVD-Player aus China nach Hamburg zu bringen und von hier Daimler-Limousinen, Bohranlagen oder Textilmaschinen für Schanghai zu laden, war im Abseits gelandet. Noch immer liegen rund 10 Prozent der Weltflotte auf Reede. Und wenn der Welthandel zum Stillstand kommt, leidet der Exportweltmeister Deutschland darunter in besonderem Maße.

Die Krise, die hier unübersehbar wurde, begleitet uns schleichend schon seit Jahren. Die Euphorie über neue Absatzmärkte in Fernost hat uns eine gewisse Zeit darüber hinwegtäuschen können, dass wir die Welt schon lange nicht mehr mit etwas Neuem verblüfft haben, sondern stattdessen brav und gewissenhaft unsere einstmals bahnbrechenden Ideen und Produkte perfektionieren. Und die Gefahr ist groß, dass wir nicht nur in akuten Krisenzeiten auf ihnen sitzen bleiben werden.

Schauen wir auf die Slogans und Statistiken, scheint die Welt in Deutschland in bester Ordnung zu sein. »Deutschland – Land der Ideen« nannte sich großspurig während der Weltmeisterschaft 2006 eine Imageinitiative der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft. Und Ideen scheint es in der Tat reichlich zu geben. Im Rennen um die Patente, die bei der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) eingereicht werden, liegt Deutschland nach den USA und Japan an dritter Stelle. Allein der Technologiekonzern Siemens, an dem in Deutschland 130.000 Jobs und weltweit 410.000 Arbeitsplätze hängen, scheint eine echte Ideenfabrik zu sein. Innovationen werden dort offenbar am Fließband produziert. »Die rund 30.800 Forscher und Entwickler verbuchten 2009 rund 7700 Erfindungsmeldungen; das sind 35 Erfindungen pro Arbeitstag. Rund 4200 neue Patente wurden angemeldet«, erklärt das Unternehmen für das Geschäftsjahr 2008/2009.

Die Deutschen machen tolle Erfindungen und bauen komplexe Maschinen, effiziente Kraftwerke und die besten Autos der Welt – Waren, die rund um den Globus begehrt sind. An diese Erfolgsstory haben wir uns gewöhnt. Ein wenig ist das wie beim Fußball. Neunzig Minuten rennen alle hinter dem Ball her, und am Ende gewinnen die Deutschen. Herrlich einfach. Und praktischerweise ist das Ergebnis ziemlich gut für uns. In der Wirtschaft funktioniert dieses Spiel derzeit allerdings nicht – und vermutlich wird es auch nicht wieder so prima laufen wie früher, denn die Regeln haben sich geändert. Scheinbar ohne dass jemand in Deutschland es gemerkt hat. Siemens hält insgesamt weltweit mehr als 56.000 Patente. Aber diese Geniestreiche werden uns keineswegs in dem Maße aus den Händen gerissen, wie es früher der Fall war.

Stellt man sich die Frage, was Werner von Siemens von den Neuerungen halten würde, die sein Unternehmen heute hervorbringt, begreift man, warum das alte Spiel nicht mehr läuft. Die Erfindungen, die er schon als Offiziersanwärter und später als Industrieller machte, legten den Grundstein für den heutigen Weltkonzern. Er entwickelte unter anderen ein Verfahren zur elektrischen Galvanisierung, Seeminen mit Fernzünder, den elektrischen Zeigertelegrafen und ein Verfahren zur Herstellung von isolierten Leitungen und Stromkabeln. Außerdem baute er 1866 die erste Dynamomaschine. 1879 wurde im Familienunternehmen die erste elektrische Lokomotive und die erste elektrische Straßenbeleuchtung entwickelt, 1880 der erste elektrische Aufzug, 1881 die elektrische Straßenbahn.

Seine wegweisenden Innovationen reihen sich in eine Ahnengalerie der Erfindungen »Made in Germany« ein, die weltweit ihresgleichen sucht. Siemens’ Zeitgenossen und die Tüftlergeneration, die ihnen folgte, legten durch ihre Ideen die Grundlage für viele deutsche Konzerne, die heute Weltgeltung haben. In den Jahren zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg erhielt die Wirtschaft des Landes so starke Impulse, dass ihre Auswirkungen bis heute spürbar sind. Die Chemieindustrie, der Maschinen- und der Fahrzeugbau haben in dieser Zeit durch das Wirken talentierter Tüftler einen Schub bekommen, der sie bis in die Gegenwart getragen hat.

Carl von Linde entwickelte 1871 eine Kältemaschine, die in der Münchner Spaten-Brauerei installiert wurde – die Wurzeln der Linde AG, heute einer der wichtigsten Lieferanten von Industriegasen. 1883 patentierte Gottlieb Daimler erstmals einen »Gasmotor mit Glührohrzündung« und sicherte sich zudem ein Patent für die »Regulierung der Geschwindigkeit des Motors durch Steuerung des Auslassventils«. Drei Jahre später stellte Carl Friedrich Benz sein »Automobil« vor, das kaum mehr als ein dreirädriges Fahrzeug mit Verbrennungsmotor und elektrischer Zündung war. Hier liegen die Wurzeln der Daimler AG und des deutschen Autobaus. 1893 brachte Rudolf Diesel den Dieselmotor auf den Markt, 1902 Robert Bosch die erste Zündkerze. Bosch ist heute der größte Lieferant für Automobilteile weltweit. Etwa 1500 weitere Zulieferfirmen versorgen neben Bosch die großen Autobauer mit Teilen und Ideen. Jeder sechste Arbeitsplatz hängt hierzulande vom Automobil ab.

Auch der starke deutsche Maschinen- und Anlagenbau hat seine Gründerväter, etwa Nicolas August Otto, den Erfinder des Otto-Motors. Er gründete 1864 zusammen mit dem Ingenieur Eugen Langen die erste Motorenfabrik der Welt. Ihr gemeinsames Unternehmen, die Gasmotorenfabrik Deutz, existiert heute noch als Deutz AG. Chemiker bei den Farbenfabriken Friedr. Bayer et comp. und der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik lernten zur gleichen Zeit, buchstäblich aus Dreck – dem schmierigen Steinkohleteer, der bei der Verkokung von Kohle anfiel – Farbstoffe zu machen. Später stellten sie auch Medikamente her.

Eindrucksvolle Innovationen gab es in den Jahren zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg in Hülle und Fülle. Es war ein Zeitalter der Tüftler. Werner von Siemens etwa hatte die Dynamomaschine durch tagelanges Ausprobieren erfunden. Es war in seinem Unternehmen lange Zeit üblich, selbst komplexe Maschinen und Anlagen nicht lange zu berechnen und zu konstruieren, sondern einfach draufloszubauen. »Bei jedem größeren Modell wurde rein gefühlsmäßig entwickelt und getestet; wurden die Wicklungen zu heiß, dann wurde eben ein stärkerer Draht genommen – nach diesem Rezept ging es bei allen Einzelheiten«, berichtet ein Chronist.

Der Tüftler und Eigenbauer Werner von Siemens wusste aber auch sehr gut, dass nicht jede mit lauter Fanfare vorgestellte Neuerung gleich eine bahnbrechende Innovation ist. Im Gegenteil, gerade der Gründervater der modernen Elektrik war skeptisch, wenn sich Ingenieure und Entwickler mit ihren vermeintlich großartigen Werken brüsteten. »Wenn der Schlüssel zu einer lange vergeblich gesuchten mechanischen Combination gefunden ist, wenn das fehlende Glied einer Gedankenkette sich glücklich einfügt, so gewährt dies dem Erfinder das erhebende Gefühl eines errungenen geistigen Sieges, welches ihn allein schon für alle Mühen des Kampfes reichlich entschädigt und ihn für den Augenblick auf eine höhere Stufe des Daseins erhebt«, schrieb er in seinen Memoiren. »Freilich dauert der Freudentaumel in der Regel nicht lange.« Meist kämen Erfinder, die ehrlich zu sich sind, bei genauerer Betrachtung »zu der Erkenntnis, dass man nur Altbekanntes in neuem Gewande gefunden hat«.

Altbekanntes im neuen Gewande? Das ist auch heute eher die Regel, wenn sich große Firmen mit ihrem Erfindungsreichtum brüsten. Denn so ideenreich, wie sie tun, sind die deutschen Konzerne leider nicht. Die meisten deutschen Patente werden in Deutschland seit Jahren von großen Firmen wie der Robert Bosch GmbH, Siemens oder Daimler angemeldet. Dort gehört es zum Geschäftsmodell, bereits Bekanntes zu verfeinern. Radikale Würfe wagt kaum ein großes Unternehmen – zumindest nicht, solange das alte Geschäftsmodell noch leidlich funktioniert. Zu den Erfindungen, die Siemens beispielsweise für das Jahr 2008 selbst als herausragend prämiert hat, gehörten: ein neues Verfahren zur Herstellung von Gasturbinenschaufeln (es gibt bereits einige etablierte Verfahren, um sie herzustellen), ein Verfahren zur Produktion von Stahlblechen, das im Gegensatz zu vielen anderen Herstellungsverfahren für Stahl etwas Energie spart, sowie Leuchtdioden, die noch ein bisschen optimaler als im Jahr zuvor produziert werden. Das ernüchternde Fazit: Es handelt sich um Dinge, die andere seit Jahren machen oder die Siemens selbst seit Jahren herstellt.

Stefan Gulas hat im Alleingang ein komplett neuartiges Gefährt erdacht und konstruiert. Eine Innovation, die zu einer vollkommen anderen Form der individuellen Mobilität führen kann. Viele Ingenieure bei Siemens sind sicher ebenfalls einfallsreiche Köpfe, und auf ihrem Fachgebiet dürften die meisten dem Autodidakten einiges voraushaben. Eines aber fehlt ihnen: der Geistesblitz. Sie arbeiten ohne die Inspiration und den Antrieb, etwas völlig Neues zu erfinden. Denn selbst wenn einer der fast 410.000 Mitarbeiter eine revolutionäre Idee hätte: Er würde sie nicht umsetzen dürfen.

Lange gehörte es bei Siemens zur Tradition, dass Techniker den Vorrang vor Verkaufsmanagern hatten. Als die Firma 1897 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, beanspruchte die Siemens-Dynastie weiterhin, »den technischen Fortschritt zu kontrollieren, auf dem die Zukunft des Unternehmens und der Wert unseres Eigentums im wesentlichen basiert«. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Heute geben bei Siemens Controller und Vertriebsmanager den Innovationstakt vor. Was wann gebaut wird, diktieren Topmanager und Businesspläne. Woran geforscht und was entwickelt wird, ist keine Frage der Neugier, sondern eine der Renditeerwartungen.

Ja, der Konzern wagt sich inzwischen auch an den Bau von Solarthermie-Kraftwerken. Doch dafür, dass das Unternehmen bereits seit 2005 auf dem Solarmarkt Fuß fassen will und dass diese Technologie bereits seit über 30 Jahren erforscht wird, hat Siemens kaum eigene Innovationen in diesem Bereich vorzuweisen. Siemens lieferte bisher Dampfturbinen, Elektro- und Leittechnik oder Generatoren – kaum etwas, was nicht auch andere Firmen anbieten können. Erst der Kauf des israelischen Solarunternehmens Solel im Herbst 2009 sorgte dafür, dass Siemens heute auf diesem Markt punkten kann.

Das Grundproblem ist immer das gleiche. Eigentlich müsste ein Unternehmen wie Siemens neue Märkte im Sturm erobern. Doch die mächtigen Dinosaurier wagen sich nur mit Trippelschritten voran. Denn es lohnt sich für Siemens eher, das, was man ohnehin verkauft, schrittweise zu verbessern, als grundsätzlich neue Produkte zu entwickeln, die eingespielte Märkte durcheinanderbringen und bei denen nicht von vornherein klar ist, wem man sie wie verkaufen kann.

Da ist es kein Wunder, dass es sich bei den Siemens-Erfindungen der Jahre 2008 und 2009 vor um allem Verbesserungen bereits bestehender Produkte wie dem Computertomografen, dem Autoscheinwerfer oder der Gasturbine handelt. Führt man sich die revolutionären Neuerungen der letzten 30 Jahre vor Augen, landet man fast zwangsläufig an der amerikanischen Westküste und nicht irgendwo in Deutschland. Googles Suchmaschine, Microsofts Computerbetriebssystem, Amazons weltweiter Online-Buchladen, die Auktionsplattform Ebay, Apples schicke Computer, MP3-Player und Mobiltelefone, aber auch etwa der Tesla, das erste autobahntaugliche Elektroauto, kommen von dort.

Auch Siemens hat lange Jahre Computer gebaut und Software entwickelt. Auf ein neues Google wartet man jedoch von dieser Seite vergeblich. Stattdessen arbeitet man bei dem Technologieriesen an einem neuen Autoscheinwerfer oder daran, wie Schiffe ein wenig optimaler angetrieben werden können. Man verbessert Bestehendes, statt etwas völlig Neues zu entwickeln.

Und die vielen Patente? Siemens und die anderen großen Technologieunternehmen tragen seit Jahren jede noch so kleine Neuerung zum Patentamt, egal ob sie später einen praktischen Nutzen hat oder nicht. Die Firmen lassen heute selbst kleinste Detailneuerungen patentieren – um Positionen zu sichern, Märkte zu besetzen und Verhandlungsmasse für Geschäfte zu haben. Zwischen 1990 und 2000 nahm die Zahl der Anmeldungen am Europäischen Patentamt jährlich um 7,4 Prozent zu. Sie stieg von 70.955 auf 145.241 Anmeldungen. Die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung stiegen in dem Zeitraum in den 30 Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt aber nur im Schnitt um 3,4 Prozent. Die Zahl der Patentanmeldungen wächst in den Industriestaaten mehr als doppelt so schnell wie die Investitionen in Neues. Zudem sinkt die Qualität der Patentanmeldungen beständig, immer öfter werden sie abgelehnt. Dass die Firmen häufiger Patente anmelden, heißt definitiv nicht, dass sie mehr Ideen haben.

Wenn sich die Großkonzerne aufgrund einer Vielzahl angemeldeter Patente selbstgerecht auf die Schulter klopfen, erzeugt das ein falsches Bild. Der bürokratische Akt einer Patentanmeldung beweist noch nicht, dass da etwas bahnbrechend Neues erfunden worden ist. Und wenn etwas vom Patentamt nicht als Neuerung anerkannt wird, heißt das noch lange nicht, dass sich dahinter keine zukunftsträchtige Innovation verbirgt. Professor Dieter Seitzer, der ehemalige Leiter des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltung in Erlangen, hatte schon vor mehr als 20 Jahren die Idee, Musik über das Telefonnetz zu übertragen. Das Patentamt weigerte sich, diese visionäre Idee zu patentieren. Das sei technisch unmöglich, hieß es zur Begründung. Dass es doch funktionierte, zeigte sein Doktorand Karlheinz Brandenburg in seiner Dissertation. Heute ist das von Brandenburg entwickelte MP3-Datenformat weltbekannt. Es ermöglicht es, Musik fast ohne hörbaren Qualitätsverlust so abzuspeichern, dass die MP3-Dateien mit nur 8 Prozent der bisher benötigen Datenmenge auskommen. »MP3« ist einer der am häufigsten gesuchten Begriffe im Internet. Ohne dieses Verfahren gäbe es keine Abspielgeräte wie den iPod, und ohne digitale Musikangebote wäre das Internet und unser Leben um eine wesentliche Attraktion ärmer.

Deutschland – Land der Ideen? Der Slogan klingt vor diesem Hintergrund schal. Dabei ist er wie maßgeschneidert für die Republik, die als Hochlohnland ihre Stellung in der Welt behaupten muss, indem hier am laufenden Band erfunden wird, was rund um den Globus benötigt und begehrt wird. Ideen und Innovation allein schaffen Wohlstand und sorgen dafür, dass die Wirtschaft hier der Konkurrenz rund um die Welt immer um die entscheidende Nasenspitze voraus ist.

Doch in der Praxis besteht die Substanz der deutschen Industrie vor allem aus Branchen, deren Wurzeln ins späte 19. und frühe 20. Jahrhundert zurückreichen. Lange haben die Firmen, die aus dem Wirken der Pioniere Linde, Siemens, Daimler, Bosch und Co. entstanden sind, die ökonomische Dynamik befeuert. Branchen wie Maschinen- und Fahrzeugbau, Metallerzeugung und -verarbeitung und Elektrotechnik sind neben der Chemie nach wie vor das Rückgrat der Wertschöpfung in der deutschen Industrie. Fast 80 Prozent aller Exporte der deutschen Firmen kommen aus dem produzierenden Gewerbe. Ein Viertel der Bruttowertschöpfung in Deutschland entsteht in diesem Sektor. In Großbritannien beträgt diese Zahl nur 13 Prozent, in Frankreich 11 Prozent. Rund ein Fünftel aller Erwerbstätigen arbeitet in Deutschland in der Industrie. Der industrielle Kern ist also nach wie vor der Schlüssel zum Wohlstand in Deutschland. Ohne das Geld, das dort verdient wird, ist es auch für die emporstrebenden Dienstleister, vom Café-Betrieb über den Friseur und die Bank bis hin zum Coach und Psychologen, schwer, Geld zu verdienen. Interessante Produkte brauchen auch der Handel, der sonst nichts zu verkaufen hat, und die Logistiker, die sonst nichts ausliefern können.

Die klaren Warnsignale werden bis jetzt nicht ernst genug genommen: Unserem auf Erfindungen und Neuerungen angewiesenen Schlüsselsektor Industrie geht langsam die Puste aus, auch wenn die Patentzahlen ein anderes Bild vermitteln. Das Problem ist nicht, dass Siemens und andere Technologieriesen ihre Innovationskraft in selbstgefälligen Broschüren übertreiben. Das Problem besteht darin, dass man in der Patentflut wenig Wegweisendes und grundsätzlich Neues findet. Erfindergeist ist etwas anderes als kurzatmige Ingenieursinnovationen, die in einen Businessplan passen.

Beispiel Automobilindustrie: Zwar gibt es immer wieder neue Designs für die Fahrzeuge, grundlegend neue Antriebskonzepte wie etwa den emissionsfreien Betrieb mit Wasserstoff oder Elektroenergie hat die Autoindustrie jedoch jahrelang vernachlässigt. Die Technologie war da, aber das Geschäft mit den Spritschluckern lief zu gut, als dass es sich lohnte, neue Wege zu gehen. Statt grundsätzlich neue Autos zu bauen, wurden immer mehr Zusatzteile in Fahrzeuge gepresst, die im Großen und Ganzen nicht anders funktionieren als die ehemals innovativen Gefährte der Pioniergeneration. Kleine Neuerungen wie eine Klimaanlage, Airbags, die elektronische Schleuderhilfe EPS, ein Anti-Blockier-System oder elektrische Fensterheber unterscheiden neben Modifikationen am Design das neue vom Vorjahresmodell. Die Autos verändern sich nicht im Kern, sie werden nur – unter dem Vorwand, dass der Kunde mehr Komfort will – immer komplizierter. In vielen Firmen ist eine unheilige Allianz am Werk zwischen verspielten Entwicklern und Marketingabteilungen, die meinen, Kundenwünsche identifiziert zu haben.

Der fehlgeleitete Tüftlerwahn gaukelt den Konsumenten nicht nur Neuerungen vor, wo keine sind. Er verärgert die Kunden sogar, etwa wenn die immer komplexere Autoelektronik zur Fehlerquelle wird. Wagen bleiben heute häufig nicht mehr wegen eines handfesten Motorschadens liegen, sondern weil Software und Elektronik nicht korrekt zusammenspielen. Nicht ohne Grund überraschte der Autobauer Daimler 2004 – damals firmierte man noch unter dem Namen DaimlerChrysler – die Fachwelt mit der Ankündigung, dass man in diesem Jahr nach vielen Kundenbeschwerden über 600 elektronische Komponenten bei der Autoentwicklung weggelassen hatte. Es hat sie dann offenbar auch niemand vermisst.

Derartige Fehlentwicklungen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel, wenn sich deutsche Konzerne daranmachen, ihre Ware zu erneuern. Statt neue, stabile Produkte zu entwickeln, werden alte, bewährte Produkte mit unnötigen Detailneuerungen überfrachtet. Viele Firmen verschwenden bis heute viel Energie und Zeit, um ihre Klassiker mit umständlichen Funktionalitäten aufzufrischen, die dann doch keiner braucht und im schlimmsten Fall auch noch fehleranfällig sind.

Typisch für dieses Phänomen sind die ICE-3-Züge von Siemens, die der Deutschen Bahn bis heute Kopfzerbrechen bereiten. Mal fiel das Computersystem aus, das die Bremsen des Hightech-Zuges steuert, dann wieder spielten die Türen verrückt. Bis zu 700 Störungsmeldungen pro Tag registrierte die Bahn. Für diese mit Elektronikbauteilen und Software vollgepackten Züge wurden viele Teile von Siemens-Ingenieuren neu erfunden, statt bewährte Bauteile von Vorgängermodellen zu nutzen. Das war gut für die Patentbilanz. Ein Exportschlager ist der ICE 3 allerdings im Gegensatz zum französischen Hochgeschwindigkeitszug TGV nicht geworden – was angesichts der Bahnkunden, die wegen ausgefallener Klimaanlagen im Sommer schwitzen oder wegen ausfallender Wirbelstrombremsen im Winter warten müssen, auch nicht verwundert.

Dabei gehen Siemens oder Daimler, verglichen mit anderen deutschen Industriegrößen, keineswegs besonders unbeholfen vor. Die meisten vermeintlichen Champions im selbsternannten Land der Ideen tun seit vielen Jahren immer nur das Gleiche. »Viele Branchen haben in den fetten Jahren, die hinter uns liegen, einfach nur ›Spoiler‹ an ihre Produkte geklebt, ohne die Substanz zu verbessern«, kritisiert der Zukunftsforscher Matthias Horx. Ganz zu schweigen von wirklich bahnbrechenden neuen Ansätzen. Das bittere Fazit: Im Grunde herrscht Ideenlosigkeit.

Im Wellental

Was vielen Firmen in Deutschland bei allem Ingenieursgeist fehlt, ist ein Gespür für das, was der Harvard-Professor Clayton M. Christensen als »revolutionäre« oder »disruptive« Technologien bezeichnet. Es sind Innovationen, die mehr sind als der evolutionäre Ausbau des Bestehenden, auf den sich der deutsche Fahrzeug- und Maschinenbau so gut versteht. Die Deutschen sind die Weltmeister in einer Disziplin, die man als »Wirkungsgradoptimierung« bezeichnen kann. Niemand auf der Welt ist besser darin, ein Leuchtdiodensystem noch ein wenig effektiver, eine Gasbrenneranlage noch ein wenig umweltfreundlicher zu machen, einen Zug oder ein Auto zu einem überzüchteten Hightech-Objekt weiterzuentwickeln.

Eine Zeitlang funktionierte das als Strategie. Die deutschen Konzerne und auch die vielen mittelständischen Unternehmen, die ihre Anlagen, Module und Bauteile in alle Welt exportieren, investierten in Marketing und Vertrieb und profitierten zugleich von der zunehmenden Globalisierung. Die sorgte dafür, dass ihre Produkte auch in Ländern nachgefragt wurden, die früher nicht auf der Kundenliste standen. Nach der Jahrtausendwende erlebten die deutschen Schlüsselindustrien deshalb noch einmal eine erstaunliche Blüte. Die Umsätze beim Fahrzeugbau stiegen von 2001 bis 2007 um mehr als ein Drittel, die des Maschinenbaus um fast 30 Prozent und die der Metallindustrie sogar um über 40 Prozent. Die Exportquote des Maschinenbaus stieg von 59 Prozent im Jahr 2001 auf 70 Prozent im Jahr 2007; die der Chemie von 61 Prozent auf 77 Prozent.

Doch langsam verlöschen auch diese letzten Strohfeuer. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat dafür gesorgt, dass der weltweite Handel lahmt und die Nachfrage nach den Produkten, die bisher produziert wurden, rapide abnimmt. Vor allem die Exportweltmeister aus Deutschland leiden darunter. Fabrikanten in Abnehmerländern wie den Vereinigten Staaten, China, Brasilien oder Indien haben in den Boomjahren zum Beispiel Werkzeugmaschinen für Fabriken gekauft, die sie jetzt nicht auslasten können. Deswegen wird die neue Generation der dann wiederum leicht verbesserten Werkzeugmaschinen »Made in Germany« auf lange Sicht schwer zu verkaufen sein. Firmen, die Getriebe und Antriebstechnik liefern, stehen vor ähnlichen Problemen. Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagenbau müssen sich laut der renommierten Beratungsfirma Oliver Wyman darauf einstellen, dass der Markt für ihre Produkte mittelfristig um 20 bis 30 Prozent schrumpft.

In der Automobilbranche ist die Lage nicht besser. Weltweit bestehen hohe Überkapazitäten – und nicht erst durch die Krise. Schon in guten Zeiten gab es zu viele Autofabriken. Im Boomjahr 2008 etwa waren die Hersteller rund um die Welt in der Lage, 25 Prozent mehr Autos zu produzieren, als sich überhaupt verkaufen lassen. In der Krise brach die Nachfrage überall dort umgehend ein, wo sie nicht mit Konjunkturmaßnahmen wie der Abwrackprämie künstlich hochgehalten wurde. Und auch in Deutschland ging, wie von Experten befürchtet, die Zahl der Kfz-Neuzulassungen in den ersten drei Monaten 2010 um fast ein Viertel zurück.

Selbst wenn die Nachfrage nach dieser historischen Nachfragedelle wieder anziehen sollte, bleibt das Problem mit den Überkapazitäten. Vor allem Deutschland ist hier betroffen. Die wichtigsten Autokunden von morgen, die großen Schwellenländer wie China oder Indien, werden in Zukunft vor allem über Produktionsstätten vor Ort bedient. Hier wird man sich in Zukunft nur mit einzigartigen und besonders cleveren Lösungen behaupten können. Und der Trend geht wegen des Klimawandels und der steigenden Kosten für Rohstoffe eindeutig zu Kleinwagen und schadstoffarmen Autos. Gerade in diesen Bereichen sind die deutschen Premiumproduzenten extrem schlecht aufgestellt. Und weil die Metall- und die Chemieunternehmen als die großen Kunststofflieferanten eng vom Wohl und Wehe der Autohersteller abhängen, stehen auch ihnen stürmische Zeiten bevor.

Auch Hightech-Bereiche, die gemeinhin als Zukunftstechnologien gelten, sind keine Selbstläufer mehr für die Produzenten in Deutschland. Selbst die hochgelobte Solarindustrie steckt tief in der Krise. Hoffnungsträger wie Solarworld und Q-Cells leiden unter dem starken Preisverfall und der wegbrechenden Nachfrage in wichtigen Abnehmerländern wie Spanien. Sie haben wie die meisten Hersteller von Solarzellen- und Modulen ihre Kapazitäten fortlaufend ausgebaut, so dass jetzt auch hier Überkapazitäten das Geschäft bestimmen. Selbst wenn die Nachfrage nach Solarzellen wieder langsam ansteigt, werden die Preise für die Solarmodule weiter niedrig bleiben, weil sie nicht mehr nur in Deutschland hergestellt werden. Mit China, Taiwan, Indien und Südkorea sind neue Konkurrenten hinzugekommen, deren Produktionskosten zum Teil um ein Drittel niedriger liegen. »Deutschland darf und kann sich nicht mehr auf die Exportmärkte und auf die Weiterführung des Geschäftsmodells ›Exportweltmeister‹ verlassen«, lautet deshalb das Fazit der Unternehmensberater der Boston Consulting Group. Sie gehen davon aus, dass es auch bei einer raschen Erholung der Konjunktur für die deutschen Schlüsselindustrien kein Zurück zu den Zuständen vor der Krise geben wird.

Wohin aber kann der Weg führen, wenn es kein Zurück mehr gibt? Die heile Welt von gestern besteht nicht mehr, und sie wird auch nicht wiederkommen. Das heißt aber auch, dass die Erfolgsrezepte der vergangenen Jahrzehnte nicht mehr funktionieren. Deswegen bieten die Detailinnovationen der großen Unternehmen keinen Ausweg. Deswegen sind die radikalen Erfindungen von kühnen Visionären und sturen Einzelkämpfern so wichtig. Kontinuierliche Optimierungen halten Kunden bei der Stange, aber sie erschließen keine wirklich neuen Märkte oder Kundenkreise. Niemand kauft eine neue Gastherme, nur weil sie etwas sparsamer ist als das Vorgängermodell. Wer sich keinen Mercedes kaufen würde, wird sich das nicht anders überlegen, weil das neue Modell mit verbessertem ABS und elektrischen Fensterhebern daherkommt.