Wild Pride Inc. - Quantensprünge - Bianca Nias - E-Book

Wild Pride Inc. - Quantensprünge E-Book

Bianca Nias

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Beschreibung

Es sind nur wenige Monate vergangen, seit sich die Gestaltwandler gezwungenermaßen vor der Weltöffentlichkeit geoutet und ihre Existenz offengelegt haben – doch damit fangen die Schwierigkeiten für Tajo, Marc und ihre Freunde erst richtig an. Die Nachricht spaltet die Menschheit, sie gerät in Aufruhr und vielerorts entstehen Konflikte, die sich obendrein in Gewalttaten gegenüber Wandlern äußern. Mithilfe der Wild Pride Incorporation als staatenübergreifende Organisation der Gestaltwandler versucht Tajo, die Probleme auf politischer Ebene zu lösen und ein friedliches Miteinander mit den Menschen herbeizuführen, während gleichzeitig seine Freunde alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um die Wandler dieser Welt zu schützen. Im Auftrag der WPI reist Tahar, der Wüstenluchs, nach Chicago, um die Leute dort bei der Suche nach vermissten Wandlerkindern zu unterstützen. Doch dann geschieht ein Mord und er ist gezwungen, mit dem äußerst mürrischen und permanent schlecht gelaunten Detective Vince Sullivan von der Mordkommission zusammenzuarbeiten, der keinen Hehl aus seiner Verachtung für Wandler macht. Mit Tahar und Vince prallen zwei Welten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten – und die erst herausfinden müssen, dass sie mehr gemeinsam haben, als es auf den ersten Blick scheint.

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Bianca Nias

Wild Pride Inc.

Quantensprünge

Band 1 der Shape Shifter Society

IMPRESSUM

© dead soft verlag, Mettingen 2023

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© PiasArt – adobe.stock.com

© Video Flow – adobe.stock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-597-8

ISBN 978-3-96089-598-5 (epub)

Vertraue nur jemandem, der diese drei Dinge in dir sehen kann:

Die Trauer hinter deinem Lächeln,

die Liebe hinter deinem Zorn

und den Grund für dein Schweigen.

-T.S. Eliot-

~~~~~~~~~~~

Für Doris

Meine Zuckerfee, mein großes Vorbild − und meine liebe Freundin.

Klappentext

Es sind nur wenige Monate vergangen, seit sich die Gestaltwandler gezwungenermaßen vor der Weltöffentlichkeit geoutet und ihre Existenz offengelegt haben – doch damit fangen die Schwierigkeiten für Tajo, Marc und ihre Freunde erst richtig an. Die Nachricht spaltet die Menschheit, sie gerät in Aufruhr und vielerorts entstehen Konflikte, die sich obendrein in Gewalttaten gegenüber Wandlern äußern.

Mithilfe der Wild Pride Incorporation als staatenübergreifende Organisation der Gestaltwandler versucht Tajo, die Probleme auf politischer Ebene zu lösen und ein friedliches Miteinander mit den Menschen herbeizuführen, während gleichzeitig seine Freunde alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um die Wandler dieser Welt zu schützen.

Im Auftrag der WPI reist Tahar, der Wüstenluchs, nach Chicago, um die Leute dort bei der Suche nach vermissten Wandlerkindern zu unterstützen. Doch dann geschieht ein Mord und er ist gezwungen, mit dem äußerst mürrischen und permanent schlecht gelaunten Detective Vince Sullivan von der Mordkommission zusammenzuarbeiten, der keinen Hehl aus seiner Verachtung für Wandler macht.

Mit Tahar und Vince prallen zwei Welten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten – und die erst herausfinden müssen, dass sie mehr gemeinsam haben, als es auf den ersten Blick scheint.

Bisher erschienen und empfohlene Reihenfolge:

Tajo@Bruns_LLC: Das Herz des Löwen

Jonathan@Bruns_LLC: Löwengebrüll

Keyla@Bruns_LLC: Honigbär

Daniel@Bruns_LLC: Katzenmenschen

Devon@Bruns_LLC: Wolfsblut

Navy Seals – Wild Forces (Volume I): Operation Alpha und Operation Polarfuchs

Navy Seals – Wild Forces (Volume II): Operation Icebreaker

Ferris@Bruns_LLC: Problembär

Navy Seals – Wild Forces (Volume III): Operation Wühlmaus

Navy Seals – Wild Forces (Volume IV): Operation Breaking Point

Wild Pride Inc.: Quantensprünge

Kapitel 1

»Warum glauben eigentlich immer die Löwen, die Geschicke der Welt zu lenken? Wer hat das bestimmt? Sollten nicht eher die das Sagen haben, die die größte Wandlergruppe unter uns vertreten?«

Tajo ignorierte zunächst sowohl den Zwischenruf als auch das vielstimmige Raunen, das daraufhin durch den Saal ging. Unbeeindruckt schob er die Karteikärtchen zusammen, die Stichpunkte seiner soeben gehaltenen Antrittsrede enthielten. Erst dann hob er den Kopf und maß den russischen Wolfswandler mit einem strengen Blick.

»Mr. Wolkow, Sie haben Ihre Redezeit bereits gehabt und Ihre Ansichten vorgetragen. Dies hier ist keine Personaldebatte, sondern ein erster Austausch über die Satzung unserer Organisation«, erklärte er, wobei er sich bemühte, seine Stimme möglichst neutral zu halten. »Die Wild Pride Incorporation wird als staatenübergreifendes Bündnis die Interessen aller Wandler vertreten, wobei sowohl Ernest Dunford als auch ich zur Geschäftsführung berufen worden sind. Darin sind wir uns schon vor dieser Sitzung einig geworden. Bis im nächsten Herbst aus allen Staaten Vertreter gewählt und in den Rat entsendet wurden, der aus seiner Mitte einen Ratspräsidenten bestimmt, stehen wir beide der Wild Pride vor.«

»Im nächsten Herbst?« Wolkow lachte hämisch. »Das ist zu spät. Wir brauchen nicht nur umgehend eine einheitliche politische Führung, sondern auch autorisierte Schutztruppen, eine Gerichtsbarkeit und Gesetze, die uns vor den Menschen schützen. Überall, auf der ganzen Welt, passieren schreckliche Dinge. Wandlerkinder und -frauen werden auf offener Straße drangsaliert, reihenweise verlieren Familienväter ihre Jobs, nachdem sie sich als Wandler geoutet haben. War es das, was Sie mit Ihrer überstürzten Aktion erreichen wollten, als Sie das streng gehütete Geheimnis über unsere Existenz an die Weltöffentlichkeit verraten haben?«

Bevor Tajo antworten konnte, erhob sich Ole-Innunguaq Sorensen, ein grönländischer Polarwolf, und musterte den jungen Russen verächtlich. »Sehen Sie lieber zu, Wolkow, dass Sie in Ihrem Land Wahlen hinbekommen, die unserem demokratischen Grundgedanken entsprechen, bevor Sie Kritik an diesem Gremium üben«, knurrte er ungehalten.

»Die Wahlen in unserem Land sind immer demokratisch! Jeder, der etwas anderes behauptet, ist ein Lügner!« Wolkow sprang auf und fletschte angriffslustig die Zähne, doch Sorensen lachte lediglich spöttisch.

»Demokratisch? Wem wollen Sie das weismachen? Wenn sich das Volk lediglich zwischen zwei Kandidaten entscheiden kann und der Einzelne genau weiß, dass er politisch verfolgt wird, wenn er nicht parteikonform und linientreu wählt, dann hat das mit Demokratie so wenig zu tun wie ein Elefant mit Hochseilakrobatik.«

Aus dem Stimmengemurmel im Saal wurden laute Protest, die russischen Abgeordneten sprangen ebenso wie die Vertreter anderer Nationen auf und schrien sich wütend an. Ein Wunder, dass alle dabei in ihrer menschlichen Gestalt blieben und sich nicht gegenseitig an die Kehle gingen.

Tajo unterdrückte ein Seufzen und überließ das Rednerpult Ernest Dunford, in der Hoffnung, dass dieser die Hitzköpfe wieder beruhigen könnte. Der ehemalige Admiral der Navy Seals stieß sogleich einen gellenden Pfiff aus, der Tajo in den Ohren schmerzte und alle Anwesenden auf der Stelle zusammenzucken und innehalten ließ.

»Ruhe! Alle hinsetzen! Sofort!«, bellte Dunford scharf, woraufhin die Streithähne tatsächlich verstummten und wie ferngesteuert auf ihre Stühle sanken.

»Ladies und Gentlemen«, fuhr der Admiral dann wesentlich leiser fort. »Sie sind nicht nur diplomatische Entsandte Ihrer Nationen, sondern auch Vertreter der einzelnen Wandlerarten, also verhalten Sie sich auch dementsprechend würdevoll! In diesem Plenarsaal dulde ich keine Diffamierungen oder sonstigen Entgleisungen!«

Abwartend ließ der Panther den Blick aus dem ihm verbliebenen rechten Auge über die versammelten Abgeordneten schweifen, doch niemand wagte es, erneut das Wort zu ergreifen oder ihm gar zu widersprechen.

Sein militärisch strenger Tonfall zeigte offensichtlich mehr Wirkung als jede gut gemeinte Ermahnung. Vielleicht tat auch die schwarze Augenklappe ihr Übriges hinzu, die der Admiral seit dem Kampf gegen Shirkou Soran über seinem zerstörten linken Auge trug. Sie verlieh ihm eine düstere, gefährliche Ausstrahlung, der sich niemand entziehen konnte. Jeder hier im Saal spürte instinktiv, dass man sich besser nicht mit dem kampferprobten Panther anlegen sollte.

Tajo schmunzelte unverhohlen und erklomm die zwei Stufen zur Empore, die sich hinter dem Rednerpult befand und wo Mitch dabei war, auf seinem Laptop ein Protokoll mitzuschreiben. Der junge Polarfuchs schaute auch nicht von seiner Arbeit auf, als er sich neben ihn setzte, dafür nickte ihm Ric, der zu dessen anderer Seite saß und für die Öffentlichkeitsarbeit der WPI zuständig war, flüchtig zu. Neben ihm hatte sein Mann Daniel Platz genommen, der die Finanzen der Organisation verwaltete. Marcs bester Freund war der einzige Mensch in diesem Saal, doch er hatte die Arme lässig vor der Brust verschränkt und wartete scheinbar unbeeindruckt ab, was als Nächstes passieren würde.

Für einen kurzen Moment schloss Tajo die Augen und erlaubte es sich, unbemerkt durchzuatmen. Da würde noch ein Haufen Arbeit auf ihn zukommen. Die heutige Sitzung war erst der Anfang; in den nächsten beiden Wochen würden sie mit diesem provisorischen Rat letzte Feinheiten ausarbeiten und den vorgesehenen Ablauf der Wahlen für die Ratsmitgliedschaft festlegen, an den sich alle zu halten hatten. So war jedenfalls der Plan. Ob und inwieweit die Urnengänge in den einzelnen Staaten dann demokratisch, frei, gleich und geheim sein würden – das wusste der Himmel.

Vielleicht sollten sie unabhängige Beobachter in die einzelnen Staaten entsenden, die die Wahlen überwachten? Aber wer zum Geier war nicht nur neutral, sondern genoss unter ihnen auch den dafür nötigen Respekt, um diese Aufgabe zu übernehmen?

Nachdenklich schaute er zur großen Fensterfront hinüber. Vom Kongresscenter aus hatte man einen unverbauten Blick auf das Schloss von Vaduz. Die malerische Burganlage der liechtensteinischen Fürstenfamilie thronte auf einem Felsplateau hoch oben über der Stadt und sah aus, als wäre sie direkt einem Märchen entsprungen.

Das Fürstenhaus hatte sie für die konstituierende Sitzung der neu gegründeten Gesellschaft der Gestaltwandler in seinen kleinen Zwergstaat eingeladen und ihnen das neugebaute, hypermoderne Kongresscenter zur Verfügung gestellt. Ein Glücksfall, wie es schien. Die Liechtensteiner hatten sie freundlich und vorurteilsfrei willkommen geheißen, welches nicht jeder Staat dieser Erde hatte garantieren können. Anscheinend war dies der entspannten und weltoffenen Mentalität der Einwohner geschuldet, die kein Problem damit hatten, über einhundert Wandler der verschiedensten Gattungen, Glaubensrichtungen und politischen Gesinnungen gleichzeitig zu beherbergen.

Nicht zum ersten Mal drängte sich ihm der Gedanke auf, den Sitz der Wild Pride Incorporation, die unter ihrem Kürzel WPI nun weltweit in aller Munde war, in diesem Land aufzubauen. Liechtenstein lag zentral im Herzen Europas, war politisch unabhängig und stabil. Selbst von ihrem Hofgut in Nordhessen aus war Vaduz innerhalb von nur fünf Stunden mit dem Auto erreichbar, er müsste also keine halbe Weltreise unternehmen, um hierher zu kommen. Mit dem Privatjet oder per Heli wäre er zwar wesentlich schneller, doch Marc hatte ihm kürzlich erst das Versprechen abgenommen, so weit wie möglich auf Kurzstreckenflüge zu verzichten.

Tajo seufzte bedrückt. Manchmal war es nicht leicht, auf liebgewonnene Gewohnheiten zu verzichten, wie eben mal schnell in den Helikopter zu springen, um jemanden in Frankfurt vom Flughafen abzuholen oder Jon und Luke in Berlin zu besuchen. Doch Marc hatte recht. Wenn es um Umweltschutz ging, war es wichtig, zuallererst bei sich selbst anzufangen und das eigene Verhalten daraufhin zu überprüfen, ob man es ändern sollte.

Nun gut. Für Liechtenstein als Sitz der WPI sprach neben dem Prestige, den dieses kleine Fürstentum hatte, auch die verkehrsgünstige Lage. Natürlich musste er die Idee zunächst mit dem Fürsten besprechen, ob dies überhaupt möglich wäre, bevor er sie an den Rat der WPI herantragen würde.

Nein, viel wichtiger war es, zuerst Marc zu fragen, was er von einem Zweitwohnsitz in Liechtenstein hielt. Schließlich war das Hofgut im Reinhardswald ihr Zuhause, das würde er keinesfalls aufgeben. Nein, es war bestimmt nicht nötig, ihre Zelte in Nordhessen endgültig abzubrechen und den Rest des Rudels hierher überzusiedeln. Lieber pendelte er so oft wie nötig nach Liechtenstein, obwohl es ihm widerstrebte, die Familie andauernd allein zu lassen.

»Die Sitzung ist hiermit beendet«, verkündete Dunford in diesem Augenblick. »Morgen früh geht es wie geplant mit der Abstimmung über die nächsten Punkte der Satzung weiter. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.«

Sofort setzte ein allgemeines Stühlerücken ein, als hätte der Panther eine Schulglocke geläutet. Die Abgeordneten erhoben sich und strebten direkt dem Ausgang zu, jeder Einzelne von ihnen schien es kaum erwarten zu können, wieder an der frischen Luft zu sein.

Auch Tajo atmete befreit auf. Endlich Feierabend. Politik zu machen und alle Interessen unter einen Hut zu bekommen, war nicht nur zeitraubend, sondern auch unwahrscheinlich anstrengend.

»Oh Mann. Da wünscht man sich die alten Zeiten herbei, in denen einfach jeder sein Ding gemacht hat. Von dem vielen Gequatsche raucht mir der Schädel«, grummelte nun auch Ric genervt.

Der Panther erhob sich ebenfalls, kratzte sich geistesabwesend am Kopf und schüttelte sich, als hätte er einen Floh unter dem Hemd sitzen.

»Gerade wollte ich vorschlagen, dass wir uns im kleinen Kreis noch treffen und ein paar wichtige Dinge besprechen«, gab Daniel seinem Mann süffisant lächelnd zurück. »Oder brauchst du zuerst eine Pause, um dein Fell zu putzen? Ich kann dich auch später noch ein bisschen auskämmen.«

»Vorsicht, mein Süßer«, grollte Ric gespielt beleidigt. »Sonst schieb ich dir die Bürste in deinen … du-weißt-schon-wohin.«

Tajo musste sich schwer zusammenreißen, um ein Lachen zu unterdrücken. Ric war in den letzten Tagen dank der frühlingshaften Temperaturen in den Fellwechsel gekommen und nicht gerade guter Laune. Vielleicht sollte es Daniel mit seinen Sticheleien nicht zu sehr auf die Spitze treiben, doch der wusste sicherlich, wie er mit seinem mürrischen Panther umzugehen hatte.

»Du hast recht, Daniel«, schaltete er sich ein, verstaute seine Papiere in der Aktentasche und nickte dem Admiral zu, der sich zu ihnen gesellte. »Wir müssen uns unbedingt zusammensetzen. Sagen wir, in einer Stunde? Bei mir im Hotel?«

»In nur einer Stunde?« Mitch klappte den Laptop zu und schnaufte unglücklich. »Kann das nicht bis morgen früh warten? Ich hatte Ty eigentlich versprochen, dass wir …«

Er unterbrach sich mitten im Satz und hielt inne. Offenbar hatte er den strengen Blick des Admirals aufgefangen, mit dem dieser ihn soeben bedachte.

»Äh … Nein, das kann warten«, ergänzte er auf der Stelle, sprang von seinem Stuhl auf, nahm Haltung an und salutierte zackig. »Um neunzehn Uhr im Hotel. Verstanden, Sir.«

»Sie können das Salutieren lassen, Foley«, erinnerte ihn der Admiral. »Wir sind nicht mehr bei der Navy.«

»Ja, Sir, ich weiß, Sir«, versicherte Mitch hastig, hob allerdings erneut die Hand an die Schläfe, bremste sich dann im letzten Moment und sah Dunford aus großen Augen an.

»Entschuldigen Sie«, murmelte er unglücklich. »Das ist wie ein Reflex.«

»Wir werden uns alle schon irgendwann daran gewöhnen.« Dunford drehte sich abrupt um und verließ grußlos ihre kleine Runde.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Tajo, wie Ric die Augenbrauen zusammenzog und seinem Vater stirnrunzelnd hinterherschaute.

»Wie geht es deinem Dad eigentlich?«, raunte er seinem Freund zu. »Bereut er es, die Navy verlassen zu haben?«

Ric zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Er hat noch nie großartig darüber geredet, was in ihm vorgeht. Schon gar nicht mit mir. Du weißt ja, dass wir nicht gerade das beste Verhältnis zueinander haben.«

»Mach dir keinen Kopf.« Daniel legte locker den Arm um Rics Schultern, sah aber ebenso nachdenklich auf die Tür, durch die der Admiral verschwunden war. »Jetzt, wo wir eng zusammenarbeiten, hast du jede Menge Zeit, deinen Vater besser kennenzulernen. Vielleicht wartet er ja darauf, dass du den ersten Schritt machst?«

Ric schnaubte abwehrend. »Vergiss nicht, von wem du da redest. Ob in Uniform oder im zivilen Anzug – das ist immer noch mein Vater.«

»Eben drum.« Daniel tätschelte seinem Mann den Rücken und bedachte ihn mit einem milden Lächeln. »Denk daran, wie toll er sich um Kendar kümmert. Wenn die beiden zusammen spielen, taut dein Dad richtig auf. Es ist so schön zu sehen, wie gut sie sich verstehen.«

Plötzlich machte sich Ric mit einem Ruck von Daniel frei und trat einen Schritt zurück. »Ja, echt toll, nicht wahr?«, zischte er. »Bei unserem Sohn ist er der liebevolle Opa, der jede Menge Zeit für seinen Enkel hat und ihm jeden Wunsch erfüllt. Aber wo war er, als ich in Kendars Alter war? Als ich ihn … Ach, Scheiße!«

Wütend rang Ric die Hände, wirbelte auf dem Absatz herum und verließ überstürzt den Saal.

»Ups.« Daniel sah zerknirscht zu Tajo auf. »Ich würde das ja gerne auf die Hormone und den Fellwechsel schieben, aber bei dem Thema reagiert er immer so empfindlich.«

»Familie.« Tajo grinste verständnisvoll. »Ich habe zu meinem Dad auch ein … nun ja, eher angespanntes Verhältnis. Zwei Alphalöwen zusammen geht selten gut. Lass Ric einfach mehr Zeit. Das renkt sich schon wieder ein.«

»Dein Wort in Gottes Gehörgang«, murrte Daniel leise. Dann schüttelte er den Kopf und nickte ihm und Mitch zum Abschied zu, bevor er ebenfalls verschwand.

»Bringst du Ty bitte später mit?«, wandte sich Tajo an den kleinen Polarfuchs. »Ich gebe noch Miles und Jon Bescheid, dass sie sich online zu unserem kleinen Meeting zuschalten. Devon und Siku sind in Kanada, Niko und Quentin in Russland. Stell bitte eine sichere Verbindung zu allen her, damit sie ebenfalls dabei sind.«

Mitch riss erstaunt die Augen auf. »Du brauchst uns alle zusammen?«

»Ja, jeden Einzelnen unserer Freunde. Wir brauchen jetzt jede Hilfe, die wir bekommen können«, erwiderte Tajo ernst. »Und ich wüsste niemand anderes, dem ich mehr vertrauen würde.«

***

Noch während Tajo die Zimmertür seiner Suite im Plaza-Hotel hinter sich schloss, zog er sein Handy aus der Innentasche seines Jacketts und wollte gerade Marc anrufen, als ihm etwas einfiel. Rasch unterdrückte er die eigene Rufnummer in den Einstellungen und wählte die offizielle Festnetznummer ihrer Firma in Holzhausen.

»Bruns LLC, Marc Bruns, guten Abend?«, meldete sich sein Mann umgehend am anderen Ende der Leitung.

Bewusst ließ Tajo ein paar Sekunden verstreichen, ohne zu antworten.

»Hallo?«, hörte er Marc wie erwartet verwundert fragen.

»Ich liebe es, wenn du dich mit deinem vollen Namen meldest«, knurrte Tajo mit dunkler Stimme. »Mit meinem Namen.«

»Ach, du bist es.« Marc lachte ausgelassen. »Seit wann rufst du mich auf der Firmenleitung an?«

»Genau deshalb. Ich wollte es mal wieder hören.« Tajo grinste und ließ sich mit einem Seufzen auf den nächsten Sessel fallen. »Oh Mann. Es tut echt gut, zur Abwechslung mit einem vernünftigen Menschen zu reden.«

»War es denn heute so schlimm?«, fragte Marc mitfühlend.

Anscheinend konnte er Tajos Erschöpfung selbst durchs Telefon hindurch spüren.

»Ach, nein, eigentlich lief es besser als erwartet«, räumte er ein und rieb sich über die Stirn. »Es blieb zumindest halbwegs friedlich, sogar die Möbel sind heil geblieben. Ich hab vorher nicht glauben wollen, dass man vierundsechzig Wandler über Stunden hinweg in einen Raum sperren kann, ohne dass es ausartet, aber alle haben sich einigermaßen zusammengerissen.«

»Die ganze Welt setzt ihre Hoffnungen auf die WPI«, erinnerte ihn Marc. »Die Sache ist zu wichtig, als dass man jetzt in alte Muster verfällt und die eigenen Interessen oder Empfindlichkeiten voranstellt.«

Tajo brummte zustimmend.

»Ich hab zumindest versucht, ihnen genau das klarzumachen. Kommt bei manchen mehr, bei anderen weniger an. Mir geht gerade nur nicht aus dem Kopf, was Wolkow heute eingewendet hat.«

»Der russische Abgesandte? Was hat er denn gesagt?«, hakte Marc neugierig nach.

»Es geht ihm nicht schnell genug.« Tajo schloss für einen Moment schmerzerfüllt die Augen. »Und ich gebe ihm recht. Überall auf der Welt leiden Wandler, weil ich unser Geheimnis verraten habe. Weil ich den Stein ins Rollen gebracht habe, der eine ganze Lawine an Veränderungen ausgelöst hat.«

»Du warst es nicht allein, es war unsere gemeinsame Entscheidung«, erinnerte Marc ihn. »Wir hatten aber keine andere Wahl. Was meinst du, was passiert wäre, wenn Shirkou Soran mit seinem Plan Erfolg gehabt hätte? Dann hätte die Existenz der Menschen auf dem Spiel gestanden, nicht die der Wandler.«

»Eben das scheinen aber die Menschen vergessen zu haben«, stieß Tajo verbittert hervor. »Dabei ist es kaum ein paar Monate her, dass sie fast ausgelöscht worden wären. Hast du die Nachrichten verfolgt? Ich meine jetzt nicht die Demonstrationen in Deutschland, wo sie Schilder hochhalten, auf denen steht, dass man die Menschen vor uns schützen sollte. Dass Wandler unkontrollierbare Wesen wären, die eingesperrt gehören! Dass wir keine Rechte hätten und nicht zur Gesellschaft zählen, weil wir nicht normal wären!« Aufgeregt sprang Tajo auf und begann, im Zimmer umherzulaufen. »Nein, ich meine die Berichte in den Medien, wie viele von uns schon zu Tode gekommen sind oder plötzlich vermisst werden! Hatte Soran uns nicht genau das prophezeit? Vielleicht hat er ja doch recht gehabt!«

Am anderen Ende der Leitung blieb es unnatürlich still.

»Entschuldige, Schatz«, lenkte er ein und versuchte, sich wieder einigermaßen zu beruhigen. »Natürlich war Sorans Plan total daneben und ich bin sicherlich der Letzte, der alle Menschen über einen Kamm schert und sie für alles verantwortlich macht. Aber es ist irre schwer, angesichts dieser Entwicklungen ruhig zu bleiben und zu versuchen, die Probleme lediglich auf der politischen Ebene zu lösen.«

Marc seufzte vernehmlich. »Ich verstehe dich doch, mir geht es bei diesen Nachrichten nicht anders. Aber was sollen wir bloß dagegen tun?«

»Genau deshalb habe ich für neunzehn Uhr eine Besprechung angesetzt. Mit dem gesamten Team«, antwortete Tajo ernst.

»Unserem Team? Du meinst damit jetzt nicht nur unser Rudel, sondern auch die Wild Forces?«, vermutete Marc folgerichtig.

Tajo grinste verschmitzt. Wie immer hatte sein Mann eine Ahnung, in welche Richtung seine Gedankengänge gingen.

»Ja, auch die Wild Forces. Es wird Zeit, den faulen Haufen der Ex-Seals wieder zu aktivieren. Es gibt jede Menge zu tun.«

***

Pünktlich um neunzehn Uhr startete Mitch das Online-Meeting über eine abhörsichere Verbindung und streamte das Bild auf den großen Plasmafernseher in Tajos Hotelsuite, damit sie die anderen gut sehen konnten. Alle waren seinem Aufruf gefolgt, ob es jetzt ihrer Ortszeit nach mitten in der Nacht war oder ob sie gerade etwas anderes zu tun gehabt hatten. Erwartungsvoll setzte sich Tajo neben Mitch auf die Couch und sah zu, wie sich einer nach dem anderen in die Besprechung einschaltete. Ty nahm im Sessel neben ihnen Platz, Ric und Daniel schleppten sich zwei Stühle herbei. Nur der Admiral zog es vor, stehenzubleiben.

Sein jüngerer Bruder Jon hatte neben Luke sogar Tahar und Rayn an seiner Seite, die gerade Berlin einen Besuch abstatteten. Der junge Falkenwandler sah sichtlich nervös in die Runde, während aus Tahars fein geschnittenen Gesichtszügen keinerlei Regung erkennbar war. Der Wüstenluchs, der beim Kampf gegen Shirkou Soran zusammen mit seinem gefiederten Freund auf ihre Seite gewechselt war und durch sein Eingreifen Marc gerettet hatte, nickte ihm lediglich höflich zu und schien entspannt abzuwarten, was es mit dem kurzfristig anberaumten Treffen auf sich hatte.

Wohlüberlegt überließ Tajo es Admiral Dunford, ihre Freunde auf den neuesten Stand zu bringen. Niko schnaubte verächtlich, als dieser von den Einwänden der russischen Fraktion und dem daraufhin folgenden Disput unter den Wandlern berichtete.

»Wolkow ist ein Arsch«, erklärte er aufgeregt. »Die Wölfe haben in Moskau zwar einen großen Rückhalt, aber auch nur, weil sie alle anderen Wandlergruppen in meinem Land unterdrücken und sie in der Öffentlichkeit mundtot gemacht haben.«

»Es steht uns nicht zu, irgendwelche innenpolitischen Vorgänge anderer Staaten zu bewerten oder gar zu verurteilen«, mahnte Dunford streng. »Die WPI muss politisch neutral aufgestellt sein, alles andere widerspricht ihrem Zweck, als Organ aller Wandler zu dienen.«

»Wolkow mag sein, wie er will, aber sein Einwand war gerechtfertigt«, mischte sich nun Siku ein. »Selbst hier in Kanada formieren sich Gruppen von Menschen, die offen über irgendwelche Erkennungspflichten, Einreisebestimmungen oder sonstige Sanktionen gegenüber Wandlern diskutieren.«

Der Eisbärwandler sprach gewohnt souverän und ruhig, doch Tajo erkannte an einer winzigen Nuance seiner Stimme, dass dieser ebenfalls höchst alarmiert war.

»Wie ist denn die Lage in Kanada?«, fragte er daher besorgt. »Irgendwelche besonderen Vorkommnisse? Ich meine, außer diesen schlechten Neuigkeiten.«

»Ich hab mich umgehört«, antwortete Devon anstelle seines Mannes. »Der Zustrom von Einwanderern aus den USA hat in den letzten Wochen merklich zugenommen – und dieser besteht hauptsächlich aus Wandlern. Anscheinend fühlen sich diese in den Staaten verfolgt und versuchen teils illegal, über die Grenze nach Kanada zu kommen.«

»Dasselbe geschieht gerade in meiner Heimat«, ergänzte Tahar. »Derzeit fliehen ganze Rudel aus dem Nahen Osten, um ihre Familien in Europa oder wenigstens in den Balkanstaaten in Sicherheit zu bringen.«

»Die gesamte Weltbevölkerung unserer Art ist in Bewegung geraten«, fasste es Miles Hollings, der ehemalige Commander der Wild Forces, zusammen, und sprach damit aus, was auch Tajo befürchtet hatte. »Das sind nicht bloß Wirtschaftsflüchtlinge oder solche, die vorübergehend einem kriegerischen Konflikt in ihrem Land ausweichen wollen. Kein Wandler gibt freiwillig seine Heimat und damit sein angestammtes Revier auf, das machen wir nur dann, wenn wir ums nackte Überleben kämpfen müssen.«

»Aber was sollen wir dagegen tun?«, fragte Marc bedrückt. »Es sind so viele! Wir können schließlich nicht überall auf der Welt gleichzeitig eingreifen und versuchen, die Wandler zu schützen.«

»Jedes einzelne Leben zählt«, warf Rayn verschüchtert ein. Der junge Falke zog zwar sofort den Kopf ein, als hätte er etwas Ungehöriges gesagt, doch dann straffte er sich und richtete sich wieder gerade auf. »Wenn wir nur hier herumsitzen und erst gar nicht versuchen zu helfen, haben wir schon verloren.«

»Wir brauchen schnellstmöglich einen Plan«, gab Tajo zu. »Denn während wir hier über die Satzung der WPI und ihre Aufstellung beraten, holen uns die Ereignisse auf dieser Welt gnadenlos ein. Ich für meinen Teil werde alles dafür tun, die Dinge hier in Liechtenstein zu beschleunigen – aber wir müssen trotzdem sofort aktiv werden und eingreifen. Es bleibt uns nichts anderes übrig.«

»Überlass die Organisation eines solchen Einsatzes uns«, schlug Miles sofort vor. »Zwar können wir nur ein paar wenige Krisenherde in einer Handvoll Länder abdecken, selbst wenn wir uns in Teams aufteilen – aber das ist besser als nichts und sendet vielleicht ein entsprechendes Signal in die Welt hinaus. Wir kümmern uns. Wir sehen die Probleme und packen sie an. Außerdem können wir unsere alten Kontakte nutzen, um Verstärkung zu rekrutieren.«

»Danke, Miles.« Tajo nickte dem Commander anerkennend zu. »Ich hab mit nichts anderem als deiner Zustimmung und Unterstützung gerechnet. Außerdem gehe ich davon aus, dass auch andere Ratsmitglieder ihre Leute entsenden wollen, um zu helfen. Ich stelle sie unter dein Kommando, die wirst du also ebenfalls koordinieren müssen.«

»Ich werde die wissenschaftliche Fachwelt einspannen und eine Vortragsreise unternehmen«, erklärte Quentin. Der Professor der Archäologie und Anthropologie hatte sich bislang ungewohnt zurückgehalten, strahlte aber jetzt den von ihm gewohnten Feuereifer und Enthusiasmus aus. »Die Aufklärung beginnt und erfolgt vor allem über die Fakultäten. Die Wissenschaft ist eben nicht derart emotional belegt wie die öffentliche Meinung, außerdem ist sie staatenunabhängig und wird länderübergreifend anerkannt.«

»Was ist mit Publicity?«, fragte Jon. »Unser bisheriger Plan hat doch vorgesehen, die Menschen nicht nur aufzuklären, sondern ihnen über sämtliche verfügbaren Medien zu zeigen, dass wir keine Gefahr für sie sind.«

»Jedenfalls keine größere als vor dem Outing«, ergänzte Ric sarkastisch.

»Publicity ist wichtig, das stimmt.« Dunford nickte bedächtig und überging Rics Bemerkung. »Bislang haben wir versucht, über die Presse und das Internet ein harmonisches Bild von Wandlern zu zeigen, die jahrelang unter den Menschen gelebt haben, ohne bemerkt worden zu sein. Vielleicht reicht das aber nicht aus.«

»Das meine ich auch.« Jon verschränkte die Arme vor der Brust und hob herausfordernd das Kinn. »Ich hab da ja eine Idee – aber die ist, ehrlich gesagt, ziemlich verrückt.«

»Warum hab ich jetzt von dir nichts anderes erwartet?« Tajo stöhnte zwar theatralisch, lächelte aber seinem Bruder über die Kamera hinweg zu. »Spuck’s schon aus. Welche glorreiche Idee ist dir jetzt schon wieder gekommen?«

»Ganz einfach: Wir veranstalten jede Menge Sportwettkämpfe der Wandler.« Jon sah wie um Beifall heischend in die Runde, doch die von ihm anscheinend erwartete, allgemeine Zustimmung der anderen blieb aus.

»Was soll denn der Unfug?«, brummte Siku.

»Willst du den Menschen noch stärker unter die Nase reiben, über welche Fähigkeiten wir verfügen?«, knurrte Ric erbost. »Ihnen zu allem Überfluss auch noch beweisen, dass wir stärker, schneller und ausdauernder als jeder gewöhnliche Mensch sind?«

»Ach, kommt schon! Das wird lustig!« Jon verzog schmollend den Mund. »Die Menschen sind völlig unvorbereitet mit uns konfrontiert worden. Kaum einer von ihnen weiß oder hat je gesehen, was ein Wandler tatsächlich kann oder was ihn ausmacht. In ihrer Vorstellung sind wir doch Werwölfe oder irgendwelche Monster, haarige Überwesen mit Zähnen und Krallen, die sinnlos alles zerfetzen und gegen die niemand ankommt.«

»Und was ist daran falsch?« Ric hob die Augenbrauen. »Genau das entspricht doch teilweise sogar der Wahrheit!«

»Ja, okay, vielleicht. Aber die Menschen lieben Sport. Sie sehen zu Sportlern auf, die etwas Besonderes können. Das wirkt dann keinesfalls bedrohlich, sondern eher interessant. Oder von mir aus auch außergewöhnlich und exotisch«, entgegnete Jon hartnäckig.

»Denkt mal an die Klitschkos oder andere menschliche Boxer. Mit denen würde ich mich auch nicht anlegen wollen«, stimmte Niko ihm überraschenderweise zu. »Aber ich finde sie trotzdem toll.«

»Die Idee gefällt mir immer besser. Ich würde gerne sehen, wie die Bären beim Ringen gegeneinander antreten«, frotzelte Devon ausgelassen und knuffte Siku in die Rippen. »Ein Kindheitstraum würde wahr werden.«

»Wie willst du das überhaupt so schnell auf die Beine stellen?«, wandte sich nun Marc an Jon. »Das braucht doch eine gewisse Vorbereitung. Austragungsstätten, Security, Unterkünfte, Logistik, die Medien … Gott, ich darf gar nicht daran denken, was solche Events an Planung bedürfen.«

»Alles schon erledigt«, tönte Jonathan selbstbewusst. »Berlin freut sich, die Sportler aus aller Welt begrüßen zu dürfen. Das Olympiastadion ist groß genug, die Infrastruktur ist vorhanden, selbst Wettkampfrichter und genügend Helfer wurden bereits rekrutiert. Niko und ich übernehmen das Sponsoring.«

»Danke, dass du mich als Sponsor einplanst, ohne zu fragen«, murrte der Polarfuchs, seufzte aber ergeben. »In Ordnung, geht klar. Meine Firma kann im Moment wirklich etwas Werbung vertragen. Seit die Menschen wissen, dass mit mir ein Polarfuchs hinter der Alopex Industries steht, sind die Umsätze erheblich eingebrochen.« Er stockte und schaute in die Runde. »Keine Sorge, ich nage nicht am Hungertuch, aber genau so geht es auch anderen Firmen, die von Wandlern geführt werden. Es gibt nicht wenige Zulieferer, Händler oder auch Kunden, die uns und unsere Produkte plötzlich boykottieren.«

Tajo seufzte unterdrückt. »Wirtschaft, Politik, Gesellschaft. Alles hat sich in den letzten Monaten verändert, alles ist im Fluss. Daher sind Aufklärung und Publicity genauso wichtig wie unser Eingreifen zum Schutz der Wandler. Also – sind wir uns einig?«

Er schaute aufmerksam von einem zum anderen, konnte aber nichts als Zustimmung in den Gesichtern der Freunde erkennen.

»Okay, dann gehen wir es an.« Dunford nickte zufrieden. »Die Bruns übernehmen die Pressearbeit und die Ausrichtung der Sportwettkämpfe, der Professor die wissenschaftliche Aufklärung und die Wild Forces den Schutz der Wandler. Soweit letzteres eben möglich ist.«

Mit wenigen Worten verabschiedeten sie sich voneinander, nachdem sie vereinbart hatten, an jedem Sonntag ein solches Meeting abzuhalten, um sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten.

Zum Schluss blieb nur noch Marc online, der ihn über die Kamera hinweg forschend ansah und abwartete, bis Dunford, Ric und Daniel sowie Mitch und Ty das Zimmer verlassen hatten.

»Du siehst echt müde aus«, bemerkte er dann und bestätigte damit Tajo, wie gut sie sich inzwischen kannten. Er glaubte jedenfalls kaum, dass seine Erschöpfung den anderen aufgefallen war.

»Ja, bin ich auch«, gab er offen zu und rieb sich über die brennenden Augen. »Das ist alles ziemlich viel auf einmal. Manchmal habe ich das Gefühl, permanent auf der Stelle zu treten. Egal, wie viel ich strampele, ich komme einfach nicht vom Fleck. Im Gegenteil, es wird immer schlimmer.«

Er schnaufte unzufrieden und griff nach der Glaskaraffe mit dem Whisky, die auf dem Wohnzimmertisch bereitstand. Schwungvoll goss er sich einen Doppelten ein, drehte dann aber das schwere Bleikristallglas in den Händen und stellte es mit einem Seufzen wieder weg, ohne einen Schluck zu trinken.

»Du versuchst nichts anderes, als die Welt zu retten und zu verändern«, erinnerte ihn Marc leise. »Das geht nicht von heute auf morgen.«

Tajo nickte lediglich, hob aber den Kopf, um seinen Mann anzusehen.

»Ich wünschte, ich könnte mehr tun, als hier herumzusitzen und irgendwelche Reden zu schwingen. Doch dann sag ich mir, dass alles, was ich momentan machen könnte, sowieso nur ein Tropfen auf dem heißen Stein wäre. Verstehst du, was ich meine? Es ist nicht genug. Egal, was ich mache, es wird nie genug sein!«

»Hör verdammt noch mal auf, die ganze Last und die Probleme dieser Welt nur auf deine Schultern nehmen zu wollen«, wandte Marc sofort in strengem Tonfall ein. »Die WPI ist eine gute Sache und ein notwendiger Schritt, um den gesellschaftlichen Umschwung in halbwegs geordnete Bahnen zu bekommen. Aber letztendlich muss jeder Mensch und jeder Wandler seinen eigenen Teil dazu beitragen, dass sich alles zum Guten wendet. Jeder muss zuerst bei sich selbst anfangen, alles andere bringt nichts.«

Traurig schüttelte Tajo den Kopf.

»Manchmal denke ich, wir hätten eher dich an die Spitze der WPI stellen sollen, nicht mich. Ich bin viel zu ungeduldig dafür, mir geht es nicht schnell genug.« Er seufzte abermals. »Außerdem vermisse ich dich. Ich wünschte, ich könnte dich jetzt wenigstens in den Arm nehmen.«

»Ich vermisse dich auch.« Marc lächelte milde. »Und jetzt hau dich ins Bett und versuch, eine Runde zu schlafen. Ich ruf dich morgen Abend an, okay?«

»Okay. Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

Marc kappte die Verbindung, doch Tajo starrte noch eine Zeitlang auf den schwarz geworden Bildschirm des Fernsehers. Es war rührend, wie Marc ständig versuchte, ihn wieder aufzubauen – doch jede einzelne schlechte Nachricht über die aktuellen Geschehnisse brachte dieses ungute Gefühl mit sich, hilflos vor einem riesigen Berg an Aufgaben zu stehen und die Verantwortung für das Wohlergehen von Hunderttausenden Wandlern auf dieser Welt zu tragen, deren Zukunft mehr als ungewiss war.

Einer Zukunft, die davon abhing, was sie heute taten.

Kapitel 2

Tahar warf sein Rasierzeug, Zahnbürste und Zahnpasta in das kleine Täschchen und verstaute es sorgsam in seinem Rucksack. Ein letztes Mal schaute er sich in dem noblen, geräumigen Gästezimmer um, das Jon ihm hier in Berlin zur Verfügung gestellt hatte. Nein, er hatte nichts liegengelassen. Zum Glück kam er immer mit wenigen Dingen aus, sein gesamtes Hab und Gut passte ins Handgepäck und würde ihm das Einchecken am Flughafen erleichtern.

»Warum hast du das Angebot nicht angenommen, im Auftrag der WPI in deine Heimat zurückzugehen?«

Tahar verkniff sich eine harsche Antwort. Er hatte bereits gespürt, dass Rayn das Zimmer betreten hatte und hinter ihm aufgetaucht war, doch er hatte keine Lust, auf seine Frage zu antworten. Unbeeindruckt fuhr er fort, seinen Rucksack zuzuschnüren, und vergewisserte sich sicherheitshalber ein zweites Mal, dass er auch das Ladekabel des Handys eingepackt hatte.

»In Marokko hättest du doch deine Familie besuchen und nach dem Rechten sehen können«, hakte sein Freund nun jedoch unerbittlich nach.

Genervt presste Tahar die Lippen aufeinander, bemühte sich dann aber, seine Gesichtszüge neutral zu halten. Was hatte Rayn nur ständig mit seiner Familie? Er konnte kaum mitzählen, wie oft der kleine Falke schon versucht hatte, das Gespräch auf dieses Thema zu bringen, obwohl er genau wusste, dass Tahar bereits vor Jahren das Elternhaus in Agadir verlassen hatte. Unter Katzenwandlern war es nicht ungewöhnlich, dass man früh eigenständig wurde und in die Welt hinaus zog, er hatte schon seit einiger Zeit keinen Kontakt mehr zu seiner Familie gehabt.

»Marokko kenne ich doch. Wann aber hat man schon die Gelegenheit, sich Chicago anzusehen?«, antwortete er mit reichlich Verspätung und versuchte, seine Stimme dabei möglichst emotionslos zu halten.

»Ja, klar. Aber ausgerechnet Chicago?«

Nun wandte sich Tahar doch Rayn zu und musterte ihn reserviert. »Warum nicht? Außerdem ist Chicago so gut wie jeder andere Ort.«

»Und vor allem ist er weit genug weg von mir, nicht wahr?«, stieß Rayn verbittert hervor.

»Quatsch keinen Scheiß!« Tahar knurrte unterdrückt. »Das hat mit dir nicht das Geringste zu tun.«

»Hat es nicht? Dann hab ich mir das bloß eingebildet, dass du dich kurzfristig umentschieden hast, nachdem klar war, dass ich nach Marokko gehen werde?«

»Jetzt mach aber mal einen Punkt!«, hielt Tahar resolut dagegen. »Wir sind schließlich nicht zusammen! Also hör verdammt noch mal auf, dich ständig an mich zu klammern und immer genau das machen zu wollen, was ich gerade tue!«

Er konnte sehen, wie sämtliche Farbe aus Rayns schmalem Gesicht wich und er blass wurde. Verdammt, es tat ihm in der Seele weh, dem Freund dermaßen vor den Kopf zu stoßen, aber ihm blieb keine andere Wahl. Schließlich hatte er von Anfang an klargestellt, dass zwischen ihnen nichts laufen würde. Sie waren Freunde, nichts weiter. Punkt.

»Nein, wir sind nicht zusammen«, bestätigte Rayn nun leise. »Da war ja auch nichts zwischen uns, was zählt.«

»Oh Mann, Rayn! Es war bloß ein einziges Mal!«

Tahar verdrehte die Augen und schulterte seinen Rucksack. Scheiße, er hatte geahnt, dass es bescheuert war, ausgerechnet mit dem besten Freund ins Bett zu steigen. Ein blöder Fehler. Ein einmaliger Ausrutscher. Er hatte an dem Abend total neben sich gestanden und war wohl nicht voll zurechnungsfähig gewesen. Zu seiner Verteidigung konnte er lediglich vorbringen, dass er emotional reichlich durcheinander gewesen war, weil er beim Kampf gegen Shirkou Soran fast draufgegangen wäre, wenn Rayn ihm nicht das Leben gerettet und dabei sogar seinen eigenen Hals riskiert hätte. Doch nun war das, was er absolut hatte vermeiden wollen, geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen.

»Ja, ich weiß«, erklärte Rayn sichtlich verschnupft. »Für dich war es bloß Sex. Nichts von Bedeutung.«

»Genau. Endlich hast du’s kapiert.«

Gerade wollte sich Tahar an ihm vorbeidrücken, um schnellstmöglich das Penthouse zu verlassen, da hielt Rayn ihn mit einem Griff um sein Handgelenk zurück.

»Tahar, bitte«, beschwor er ihn leise. »Wenn du willst, dann vergessen wir einfach, was passiert ist, okay? Unsere Freundschaft ist mir zu wichtig, die will ich nicht riskieren.«

Ein klammes Gefühl machte sich in seinem Inneren bemerkbar, als er den flehenden Ausdruck in Rayns ungewöhnlichen, fast schwarzen Augen entdeckte. Die silbern schimmernde Umrandung der Iris reflektierte das Licht der Deckenleuchte und verlieh dem Blick des Falken etwas Sonderbares, Eindringliches, dem er sich nur schwer entziehen konnte.

»Wir werden immer Freunde bleiben«, bestätigte er aufrichtig. »Die besten. Aber ich muss jetzt erst einmal hier raus. Mein eigenes Ding machen.«

»Darin warst du schon immer gut«, gab der kleine Falke mit belegter Stimme zurück. »Einfach deine Sachen zu packen und abzuhauen, damit deine heilige Unabhängigkeit nicht …« Rayn unterbrach sich selbst und lachte freudlos auf. »Keine Sorge. Mir ist schnell klargeworden, dass du meine Gefühle nicht auf dieselbe Art erwiderst. Ich wünsche dir natürlich trotzdem alles Gute. Vor allem, dass du irgendwann auf jemanden triffst, der dir wirklich etwas bedeutet und bei dem du auf Granit beißt. Vielleicht wirst du dann deinen verdammten Stolz runterschlucken und endlich lernen, was es heißt, auch mal Gefühle zuzulassen. Die sind nämlich nicht ganz so schlimm, wie du immer denkst.«

Tahar lächelte nachsichtig. »Danke. Das ist übrigens das, was ich schon immer an dir mochte, mein kleiner Flattermann«, schimpfte er gutmütig. »Deine schonungslose Ehrlichkeit und Offenheit.«

Damit wandte er sich ab und stieg die Wendeltreppe zum Wohnbereich hinauf, um sich von Jon und Luke zu verabschieden.

»Hab ich mir bei dir abgeguckt«, murmelte Rayn hinter seinem Rücken, doch Tahar drehte sich nicht mehr zu ihm um.

Jetzt war eben nicht die Zeit, um zurückzublicken. Die Dinge, die vor ihm lagen, waren weitaus wichtiger.

***

Es war später Abend, als er in Chicago landete. In dem futuristisch anmutenden Flughafengebäude war offenbar der Teufel los, jedenfalls warteten hier, in der Ankunftshalle, unzählige Menschen auf ihre Koffer.

Wieder einmal war Tahar froh, dass er wie gewohnt bloß mit einem Rucksack unterwegs war und damit die öde Warterei am Gepäckband umgehen konnte. Das lange Stillsitzen und die Enge des vollbesetzten Flugzeuges hatten schwer an seinen Nerven gezerrt, er musste jetzt erst einmal aus der Menschenmenge raus. Egal, wohin. Hauptsache nach draußen, wo er sich die kühle Nachtluft um die Nase wehen lassen konnte, und wo es etwas anderes zu riechen gab als die Ausdünstungen der verschwitzten oder gar übertrieben parfümierten Mitreisenden. Er holte sein Handy hervor, das er während des Fluges ausgeschaltet gelassen hatte, ließ es hochfahren und entsperrte es. Eine WhatsApp-Nachricht von Jon wurde ihm angezeigt und er öffnete sie neugierig.

Du wirst am Flughafen abgeholt, schrieb der Löwe. Schau dich erst einmal um, mach dich mit der Umgebung vertraut und mit den Leuten vor Ort bekannt. Sie brauchen dringend Hilfe, weil in den letzten Wochen mehrere Wandler, hauptsächlich Jugendliche, spurlos verschwunden sind. Falls dahinter mehr steckt und es sich nicht bloß um Teenager handelt, die von zu Hause ausgerissen sind, fordere umgehend Miles’ Hilfe an. Dann schicken wir ein Spezialkommando.

Na, prima. Er war zwar zunächst auf sich allein gestellt, konnte aber im Notfall die Wild Forces anfordern. Das klang nicht nur beruhigend, sondern kam ihm mehr als entgegen. In aller Regel arbeitete er lieber allein, mit Teamarbeit hatte er bislang eher Schwierigkeiten gehabt. Dies war auch einer der Gründe gewesen, weshalb er es abgelehnt hatte, mit Rayn zusammen nach Marokko zu gehen. Zugegeben, die kompliziert gewordene Beziehung zu seinem Freund war ein Aspekt, aber nicht der ausschlaggebende Punkt gewesen, sich gegen ihn und stattdessen für den Auftrag in Chicago zu entscheiden. Tatsächlich drängte es ihn, sich zu beweisen und allen zu zeigen, dass er das entgegengebrachte Vertrauen verdiente – und vor allem, dass der Einsatz für die WPI seiner festen Überzeugung entsprach und Tajo in ihm einen verlässlichen Verbündeten gewonnen hatte. Ihm war klar, dass die Truppe rund um Miles Hollings, die ehemaligen Navy Seals, ihn misstrauisch beobachtete, da er ein enger Vertrauter von Shirkou Soran gewesen war und recht spontan die Seiten gewechselt hatte, womit er dem eigenen Boss in den Rücken gefallen war.

Tahar unterdrückte ein Seufzen und atmete tief durch. Ja, er hatte sich gegenüber seinem ehemaligen Anführer nicht gerade als loyal erwiesen. Aber was hätte er denn machen sollen? Einfach Marc und Niko ihrem Schicksal überlassen und ihnen in der Wüste beim Sterben zuschauen?

Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Nein, das hatte er nicht zulassen können. Shirkou Sorans politische Ansichten mochten zwar größtenteils seiner eigenen Meinung entsprochen haben, doch an dessen Weg, diese durchzusetzen, hatte er schon länger gezweifelt. Er war nicht so skrupellos, dabei über Leichen zu gehen oder gar so irre, die gesamte Menschheit auszulöschen, damit die Wandler die Herrschaft über diesen Planeten übernehmen konnten. Außerdem hatte ihm Marc von Anfang an imponiert, da er als Mensch fest zu seinen Überzeugungen stand und ohne zu zögern sein Leben aufs Spiel setzte, um seinen Wandlerfreunden zu helfen.

»Mr. El-Massoun! Mr. El-Massoun, bitte!«, drang in diesem Augenblick eine männliche Stimme an sein Ohr.

Suchend sah er sich um. Hinter der Absperrung zum öffentlichen Bereich des Terminals stand tatsächlich ein Typ, der ein Schild mit seinem Namen darauf hochhielt. Tahar winkte ihm zu, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, gleichzeitig musterte er ihn neugierig. Der Mann mochte ein paar Jahre älter als er sein, hatte kurze, schwarze Haare und trug Jeans, Rollkragenpullover und eine wetterfeste Jacke. Er war offenkundig asiatischer Abstammung, wobei die mandelförmigen Augen, das runde Gesicht und die platte Form der Nase auf Nepal, Kambodscha oder China als Heimatland hindeuteten. Eine winzige, verräterische Reflexion in seinen Augen, die Tahar selbst auf die Entfernung hinweg entdecken konnte, ließ ihn vermuten, dass es sich bei seinem Abholservice um einen Wandler handelte. Instinktiv sog er die Luft über Mund und Nase gleichzeitig ein, um zu wittern, doch in seiner menschlichen Gestalt waren seine Sinne nicht so ausgeprägt, um die Düfte der Umgebung zu überprüfen und darin einzelne Partikel eines spezifischen Geruchs zu entdecken.

Der junge Mann bemerkte ihn nun ebenfalls, winkte zurück und trabte zum Durchlass hinüber, an dem Tahar den gesicherten Passagierbereich verlassen würde.

Gerade wollte er sich auf direktem Weg dorthin begeben, als ihm ein uniformierter Mann in den Weg trat.

»Sir?«, sprach dieser ihn an und deutete gleichzeitig auf den Bereich, in dem das Gepäck einer Zollkontrolle unterzogen wurde.

»Ich habe nichts zu verzollen«, erklärte Tahar höflich.

»Dann haben Sie sicherlich nichts dagegen, wenn wir das überprüfen«, gab der Beamte zurück. »Wenn ich bitten dürfte?«

Tahar verkniff sich ein frustriertes Stöhnen, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Mann zur Zollkontrolle zu folgen und dort seinen Rucksack auf einen der Tische zu legen. Während ein weiterer Typ mit Handschuhen diesen öffnete, seine Habseligkeiten auf dem Tisch ausbreitete und sämtliche Seitentaschen und Fächer durchsuchte, prüfte der andere sein Ticket und den Reisepass.

»Sie reisen allein?«

»Ja.«

»Wie ich sehe, stammen Sie aus Marokko. Warum kommen Sie dann aus Berlin?«

Tahar runzelte irritiert die Stirn. Waren das die üblichen Fragen, die man einem Reisenden stellte?

»Ich habe dort Freunde besucht«, gab er knapp zurück.

»Sind Sie geschäftlich oder privat in Chicago?«

Erneut zögerte er mit der Antwort, was der Beamte mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte.

»Geschäftlich«, gab er nach kurzer Bedenkzeit wahrheitsgemäß zurück.

»In welchen Angelegenheiten?«, bohrte der Mann jedoch umgehend nach.

Langsam wurde es Tahar zu bunt. Was sollte diese Fragerei?

»Hören Sie, ich dachte, Amerika wäre ein freies Land«, platzte es aus ihm heraus. »Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht.«

»Wenn Alleinreisende aus den arabischen Staaten hierher kommen, geht es uns sehr wohl etwas an«, antwortete der Beamte, sein Tonfall war dabei erheblich härter als zuvor.

Ach, daher wehte der Wind! Hielten die ihn etwa für einen Terroristen?

»Ich bin Nordafrikaner, kein Araber«, stellte Tahar wütend klar.

»Das ist dasselbe.« Der Beamte winkte abfällig ab.

»Ist es nicht. Marokko liegt von Iran, Irak oder was Sie meinen, in etwa so weit entfernt wie Chicago von Mexico«, erklärte er sauer.

»Danke für den ungefragt erteilten Geographieunterricht«, entgegnete der Kerl sarkastisch. »Wenn Sie mir dann bitte folgen würden?«

»Wohin denn?«

»Zur Leibesvisitation.« Der Beamte grinste hämisch.

»Warum das denn?« Fassungslos sah er den Mann an.

»Dass wir in Ihrem Gepäck nichts gefunden haben, heißt ja nicht, dass Sie nicht irgendetwas Illegales in unser Land einschleusen«, bekam er zur Antwort.

»Wie bitte? Das habe ich natürlich nicht! Sie haben absolut keinen Grund für so einen Sch… äh … für so eine Maßnahme!« Tahar musste sich zügeln, um nicht frustriert loszubrüllen.

»Den brauche ich auch nicht. Folgen Sie mir jetzt ohne Widerstand zu leisten, sonst werde ich …«

»Das ist doch die Höhe! Das ist reine Willkür, daher werde ich das nicht tun!« Tahar verschränkte die Arme vor der Brust und starrte den Zollbeamten herausfordernd an.

Das konnte jetzt nicht sein Ernst sein!

»Gibt es hier Schwierigkeiten?«, ertönte plötzlich eine angenehm tiefe, eher gelangweilt klingende Stimme hinter Tahars Rücken.

Erstaunt drehte er sich um – und musste den Kopf in den Nacken legen, um zu dem hünenhaften Kerl hochzuschauen, der direkt hinter ihm aufgetaucht war. Tahar erstarrte umgehend zur Salzsäule. Im selben Sekundenbruchteil, in dem er in seinem Gegenüber einen Bären witterte und sämtliche Alarmglocken in seinem Kopf zu schrillen begannen, erfasste er mit einem Blick dessen ausgeprägte Muskeln, die sich unter dem Uniformhemd der Military Police spannten, das Namensschild, das ihn als Officer Bronski auswies, ein rundes Gesicht und ein kantiges Kinn mit einem leichten Bartschatten. Braune, kluge Augen musterten ihn von Kopf bis Fuß, scannten seine Wandlerart, seine Herkunft, seine Kampfbereitschaft.

Instinktiv machte sich Tahar ein Stück kleiner und wich dem Blick des Bärenwandlers respektvoll aus. Man brauchte nicht viel Grips im Hirn zu haben, um zu wissen, dass er gegen diesen Kerl nicht den Hauch einer Chance haben würde. So behäbig die Bären oft wirkten, so blitzschnell konnten sie bei Gefahr zuschlagen.

»Der Mann weigert sich, meinen Anordnungen Folge zu leisten«, ereiferte sich der Zollbeamte.

»Komm schon, Philipps. Eine Leibesvisitation?« Der Bärenwandler schnaubte belustigt, legte den Kopf schief und betrachtete Tahar eindringlich. »Das ist nicht nötig. Der Mann ist sauber.«

»Aber«, setzte der Beamte nochmals an, doch er verstummte sofort, als Bronski ihn mit einem strengen Blick bedachte.

»Ich sagte, es ist nicht nötig«, wiederholte er gelassen.

»Ja, Sir«, brummte der Zollbeamte, gab Tahar seinen Pass und das Ticket zurück und stapfte sichtlich unzufrieden von dannen.

»Danke«, murmelte Tahar so leise, dass nur der Wandler ihn hören konnte, wandte ihm als Vertrauensbeweis den Rücken zu und begann, seine Sachen zurück in den Rucksack zu stopfen.

»Angenehmen Aufenthalt in Chicago«, wünschte Officer Bronski ihm noch mit einem süffisant klingenden Unterton in der Stimme, dann verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und schlenderte davon.

Aus den Augenwinkeln sah Tahar ihm nachdenklich hinterher, doch dann raffte er seine Sachen zusammen und beeilte sich, den Zollbereich zu verlassen, um endlich aus dem Gebäude herauszukommen.

Puh, war das unangenehm gewesen!

Noch immer ärgerte er sich darüber, dass er wahrscheinlich aufgrund seines Aussehens für die Zollkontrolle herausgepickt worden war und dann auch noch fast eine Leibesvisitation über sich hatte ergehen lassen müssen. Das war so ungerecht! War man denn bloß aufgrund der Haar- und Hautfarbe sofort verdächtig, ein Krimineller zu sein? Oder gar ein Terrorist?