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Verrauchte Clubs, rotes Licht, treibende Musik und verborgene Ecken und Winkel. Geflüsterte Liebesschwüre, verstohlene Blicke und Körper, die im Rhythmus verschmelzen. Hinter den Tresen die Engel des Rauschs, offene Ohren für betrunkene Beichten, Bewahrer vieler Geheimnisse und Hüter der Feuer der Leidenschaft. "Arbeite ein paar Nächte in den Clubs und Kneipen von Hamburg und du lernst mehr über das Leben als in staubigen Uni-Seminaren", sagt Ulf Werner, Pastor und Punkrocker aus Hamburg. "Dort unterrichten dich oft Menschen, die sich schon längst aus dieser Art Leben zurückgezogen haben. Dem Leben, das in den Kathedralen der Nacht pulsiert, in denen auch Jesus tanzen würde." Werner lädt ein auf eine kraftvoll pulsierende und zugleich sensible Reise, stets mit dem aufmerksamen Blick für die göttlichen Momente, in denen sich Himmel und Erde berühren. Diese Erlebnisse findet man selten in traditionellen Kirchenräumen, wild: ungezähmt und dann doch wieder ganz zart. Sein Buch ist ein inspirierender Mix aus tiefgründigen Geschichten und den Einsichten eines "Tresenpredigers" und "Barstuhlpropheten". Begleitet wird er von vielen künstlerischen Fotos sowie ausgewählten Songs.
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ulf Werner
ULF WERNER
PUNK, PREDIGT UND PASSION
Der Rhythmus meines Lebens
EINLEITUNG
KINDER DER NACHT
GOTTESMOMENTE
DER SCHWARZE HUND
TÜBINGEN – HIER KOTZTE GOETHE
ZEIT ZU HANDELN
HAMBURG CALLING
HEAVEN IS A HALFPIPE
GEISTERFAHRER
ENTLANG DER WEISSEN LINIE
TRESENTHESEN
ENGEL DES ALLTAGS
DER LEBENSFICKER
AUF DER SUCHE
LACHEN – KUSS DER ENGEL
KAPUTTTTTT!
FLUCHT NACH VORN
WILDE SEHNSUCHT
ALERTA, ALERTA ANTI-AKW-TRECK
STAY RUDEL – STAY REBEL
DIE SUCHE GEHT WEITER
ERSTE MALE
UNSER KREUZ HAT KEINE HAKEN
DAS WUNDER VON JAMEL – TANZEN GEGEN DIE ANGST
FREISCHWIMMER
ÜBER DEN TEICH, IN DIE VERGANGENHEIT
DAS WŬDĀNG SHĀN-GEBIRGE
DER SHAOLIN MÖNCH
DAS BUCH DER WANDLUNG
WU WEI
FASS DIE UHR NICHT AN
LIEBESPANZER
„HAJDE JASHA“ – LEBE DEIN LEBEN
BERLIN
DIE BANK GEWINNT
RATZEBURG AHOI!
HUSUM VERDAMMT
GOTTESMOMENTE II
DAS ENDE DER WELT
HUSUM, HAMBURG, RATZEBURG – QUO VADIS, DIGGER?
SÜNDER UND HEILIGER
COBRA BAR, ST. PAULI
EIN TON WIE EIN GEBET
NEW YORK, NEW YORK
DUNKEL
ALLES FLIESST
LAND IN SICHT
GLÄSERNES GLÜCK
WEICHES HERZ
SHAKE IT OFF
VON DER WIEGE BIS ZUR BAHRE
TRAUER, TOD UND TAUFE
ROCKER VS. REICHTUM
DIE BARTRAUUNG
ALLES DREHT SICH
KONTEMPLATION IM STUDIO
BRÜDER IM GEIST
ROCKPALAST
MEMENTO FUCKING MORI
LICHT UND SCHATTEN
ENDSTATION SEHNSUCHT
„PRACTICE YOU SAD FUCKS“
HOFFNUNGSTANKSTELLEN
ÜBER DIE KUNST LOSZULASSEN
DER SILBERNE WALFISCH
EPILOG: JEDE MELODIE IST WICHTIG
DANKE AN
FOTONACHWEISE
„Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.“
Dietrich Bonhoeffer
Für Doro und meine Kinder,
das Rudel,
die Engel des Alltags,
alle Herzensmenschen und die, die vorgegangen sind
über die weltliche Ziellinie Richtung Ewigkeit.
Seit Anbeginn der Zeit weht der Gesang des Windes über unseren blauen Planeten, den wir Erde nennen. Es ist sein Rhythmus, zu dem die Ähren der Roggenfelder tanzen, und seine Melodie, die nachts durch gekippte Fenster und Schlüssellöcher in die Träume der Menschen dringt.
Sein geheimnisvolles Echo hallt in ihren Herzen wider, lockt sie aufzustehen und sich auf die Suche zu machen – nach etwas, das ihrem Leben Tiefe verleiht.
Wer diesem Ruf folgt, begibt sich auf eine abenteuerliche Reise.
Startet seine persönliche Expedition Ewigkeit.
Jeden Tag machen sich Menschen auf den Weg und folgen dieser Wilden Sehnsucht.
Sie tauchen hinab in die Tiefen ihrer Seele oder jagen im Rudel vereint den Momenten nach, in denen der Himmel die Erde küsst.
Unterwegs begegnen sie Gott an den verschiedensten Orten und in den unterschiedlichsten Situationen.
In einem tiefen Gespräch am Tresen einer Bar, in den Wellen des ewigen Ozeans oder in den grünen Blättern des Waldes. In gemeinsam geweinten Tränen der Trauer, in der großen Stille oder im fröhlichen Tanz des Lebens.
Die Zugänge zum Göttlichen sind vielfältig. Bunte Pinselstriche eines göttlichen Malkastens.
Menschen, die es wagen, auf Expedition Ewigkeit zu gehen, werden zu Schatzsuchern und Forschern. Sündern und Heiligen, Geisterfahrern und Tagedieben.
Die Reise ist kein Wettrennen.
Es geht nie darum, gegen andere zu gewinnen.
Es geht um die Kunst, ein möglichst erfülltes Leben zu führen, auf dem eigenen Tanz durch die Jahrzehnte.
Es geht darum, seinen eigenen, persönlichen Entdeckungspfad hin zu einem intensiven Glauben zu erforschen.
Im Kleinen und Großen.
Lachen und Weinen.
Stolpern und Aufstehen.
Im Lauten und Leisen.
In Licht und Schatten.
Im Schweigen und in der Musik.
Gott steckt in allen Dingen.
Dieses Buch möchte Mut machen, dem Gesang des Windes zu folgen.
Es erzählt Geschichten eines Suchenden, die so oder so ähnlich passiert sind, und singt Lieder, die auf dem Weg entstanden sind.
Es ist ein Weg, der noch nicht zu Ende gegangen ist.
Genau wie dein Weg.
Ich grüße dich aus der Ferne, wünsche dir alles Glück und immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel für deine Expedition Richtung Ewigkeit.
Ulf Werner
Dieses Buch kann singen:
Scanne den QR-Code mit einem Smartphone, schon werden Titel aus dem Buch bei Spotify – Playlist von Ulf Werner: „Wilde Sehnsucht“ – abgespielt.
„Ich hab geträumt, es fallen Sterne.
Nicht nur einer, nein, eine Billion.
Über allen Ländern dieser Erde
eine Feuerwerksfunkenvision.
Ich hab gehört, dass heut ein Sturm kommt,
weißes Rauschen statt Rockradio.
Über allen Städten frischer Regen,
erste Tropfen auf meinem Balkon.
Eine Sprache, eine Liebe,
egal, wer du bist, egal, wo du bist:
Eine Sprache, eine Liebe,
egal, wie verloren du bist: Komm vom Schatten ins Licht.
Aus meinen Augen fallen Tränen.
Aus dem Bach wird ein Fluss, wird ein Strom.
Alle Tage eines schweren Lebens
fließen weiter und weiter davon.
Und durch die Straßen laufen Menschen,
bunte Farben auf grauem Beton.
Und auf einmal höre ich sie singen …
Song: Vom Schatten ins Licht
Ich lebe in einer Welt, die erfüllt ist vom Klang der Ewigkeit. Göttliche Schwingungen, die durch jeden Riss im Beton und jeden Spalt von uns errichteter Mauern dringen. Sie sickern durch jedes Grau des Alltags. Fegen über jede Grenze. Schwingungen, die mich für einen Moment in die Unendlichkeit heben. Mächtiges Rauschen, ekstatische Freude oder sanftes Echo der Hoffnung, das in den tiefsten Tiefen und dunkelsten Stunden widerhallt.
Immer dann, wenn ich von diesen himmlischen Melodien erfasst und durchdrungen werde, bin ich verbunden mit diesem himmlischen Dynamo, dessen Kern sich dreht und dreht und die Schwingung verwandelt in Energie, die uns alle leuchten lässt.
Verbundenheit. Dankbarkeit. Liebe.
All das schwingt nach. Wie eine Stimmgabel aus Metall, deren leiser werdende Schwingung in uns nachhallt.
Ich weiß, dass ich noch nicht im Paradies lebe und wie alle anderen durch Licht und Schatten wandere.
Ich weiß, die Welt wird weiterhin täglich nach uns greifen und uns einholen.
Dennoch. Bei meinem Stolpern und Tanzen durch die Jahrzehnte, bei meinen Versuchen, mich selbst so anzunehmen, wie ich bin, bei jedem Höhenflug, bei jedem Scheitern, immer wieder habe ich diesen geheimnisvollen Gesang gehört. Nicht nur im Licht, sondern auch im Schatten.
Egal, wie tief die Nacht war. Dieser Gesang trägt eine Wilde Sehnsucht in sich und die Hoffnung, dass ein erfülltes Leben möglich ist. Selbst im tiefsten Sumpf der Sorgen. Diese Sehnsucht hat etwas Aufrichtendes. Egal, in welcher Lebenslage sie erwacht.
Jedes Mal, wenn mich diese Melodie wieder verlässt und aus meinem Körper rinnt, bleibt neben der Trauer ein leises Echo zurück und diese Wilde Sehnsucht. Es ist Gottes liebevoller Lockruf, der uns einlädt, wieder am Leben teilzunehmen, trotz allem Bullshit und allem Elend, das uns auf unserer Expedition Richtung Ewigkeit begegnet. Es ist der Ton, der uns zum Schwingen bringt und wieder resonanzfähig macht. Der Kuss, der vertrocknete Liebe wiederbelebt, und der Kompass, der uns zu den Momenten leitet, die das Leben lebenswert machen.
Ich habe viele Dinge im Leben nicht verstanden und eher durch Schmerz als durch Weisheit gelernt. Mittlerweile bin ich mir zumindest in einem sicher: dass meine Aufgabe im Leben darin besteht, Menschen wieder dafür zu begeistern, ihren Sehnsüchten nachzujagen und schwingungsfähig zu werden für die Gottesmomente, die unser aller Leben lebenswert machen. Auch wenn manches beschissen ist, selbst wenn die Welt immer wieder nach uns greift und uns einholt.
Egal, ob als Barkeeper hinter den Tresen St. Paulis oder als Musiker auf den Bühnen der Republik, als Pastor am Krankenhausbett eines Sterbenden oder als Sexualtherapeut auf der Suche nach der verlorenen Leidenschaft, mir geht es immer darum, Herzenstüren zu öffnen und miteinander auf spirituelle Suche zu gehen.
Auf diesem spirituellen Weg geht es darum, miteinander in Beziehung zu treten und voneinander zu lernen. Es ist ein dynamischer Prozess, in dem wir uns immer wieder als Menschen begegnen. Wir sind miteinander auf Augenhöhe durch das Bewusstsein, dass wir Licht und Schatten in uns tragen und gemeinsam voneinander lernen wollen. Es geht darum, sich gegenseitig berühren zu lassen von den Melodien des Alltags. Und darum, gemeinsam zu wachsen – während unseres Tanzes durch dieses verrückte Leben, auch wenn wir nicht genau wissen, wohin es uns führen wird.
Wir sind verbunden durch den Rhythmus des Lebens, drehen bei unserem Tanz durch die Jahrzehnte unsere Pirouetten und Kreise, sind dabei Sünder und Heilige, Licht und Schatten, vor allem Menschen mit Herz. Es ist das goldene, klingende Band der Ewigkeit, das uns verbinden möchte, so lange bis wir irgendwann über die weltliche Ziellinie in die Ewigkeit gleiten.
Von ein paar besonderen Momenten auf dieser spirituellen Reise möchte dieses Buch erzählen. Ich selbst bin bloß einer von vielen Geisterfahrern da draußen, die das Leben lieben und manchmal auch hassen – die scheitern, küssen, lachen, weinen, zusammenbrechen, aufstehen und neu anfangen. Und die versuchen, zu dieser geheimnisvollen Melodie der Ewigkeit zu tanzen. Mit der Wilden Sehnsucht im Herzen, dass wir am Ende dort ankommen, wo alles gut ist.
Dieses Buch ist für euch.
„Und den einen Moment war’n wir kurze Zeit eins
mit dem Großen und Ganzen.
Bitte begreif,
dass uns dieses Gefühl, Stück für Stück,
aus den Fingern glitscht.
Iggitiggiti, oh what a pity.
Fuck war das schön.“
Song: Fass die Uhr nicht an
Kennst du diese Momente im Leben, in denen alles Sinn ergibt? In denen Subjekt und Objekt verschmelzen, in denen alle Sorgen vergessen sind und du eins wirst mit dem göttlichen Großen und Ganzen?
Sie sind wunderschöne Erfahrungen, die in verschiedenster Gestalt auf uns zukommen: ein tiefes Gespräch, ein Erlebnis in der Natur, ein sinnliches gemeinsames Erleben, der Moment eines Konzerts, wo der Funke überspringt. Momente eben, die unser Leben lebenswert machen. Momente, die bleiben. Momente, denen wir nachjagen, die wir aber selbst nie erzwingen können, sondern die uns von Gott geschenkt werden, selbst wenn wir gerade nicht mit ihnen rechnen.
Wir können sie nicht aus eigener Kraft herbeiführen, das haben mich vor allem die vielen Jahre als Tourmusiker gelehrt. Da gab es Abende, an denen der Schweiß von der Decke tropfte, die feiernde Menge symbiotisch verschmolz und sich Menschen vor Begeisterung röhrend im Einklang mit sich selbst und unserer Musik Arm in Arm über den bierversifften Boden eines Kellerclubs wälzten.
Während dieser Momente hoben wir für kurze Zeit ab in die Unendlichkeit, es gab kein Publikum und keine Band mehr. Wir waren alle eins, wir waren die Musik. Wir waren Schwingung. Und jedes Mal war es schmerzhaft, diesen Moment wieder zu verabschieden.
Er glitschte uns durch die Finger. Wie ein nasser Aal. Egal, wie viel Whisky und Rum getrunken wurde, egal, wie viele Joints entzündet oder wie viel Koks gezogen wurde, keine Droge der Welt schaffte es, diesen paradiesischen Zustand wiederherzustellen. Wir standen wieder vor dem Garten Eden. Wir waren nackt und verschwitzt, verwirrt grinsend, weil wir etwas Wunderbares erleben durften. Aber auch zutiefst traurig, dass uns dieser Moment wieder genommen wurde. Als hätte uns der Wächter des Paradieses mit einem Arschtritt von Wolke 7 in den stinkenden Tourbus befördert. Und wir jagten in die nächste Stadt, hungrig, genau diesen Moment erneut zu bekommen.
Aber nicht immer wurde er uns geschenkt.
Wir konnten noch so gut vorbereitet sein auf unsere Shows. Doch manchmal wollte der Funke einfach nicht überspringen – obwohl sich unser Posaunist ausnahmsweise die Zähne geputzt hatte, obwohl vor der Show einmal gnädigerweise unsere Instrumente gestimmt waren (inklusive Soundcheck), obwohl wir alles gleich machten wie am Abend zuvor. Ich fühlte mich dann jedes Mal um die Auszeit im Paradies betrogen und haderte – bis mich die Liebe meiner Band wieder aufrichtete.
Die Jagd nach diesen Gottesmomenten zieht immer wieder Verlust, Wilde Sehnsucht und neue Suche nach sich. Wir sind einfach noch nicht im Paradies. Aber die Möglichkeit, einen solchen Moment zu erleben, ist immer alle Mühe wert.
Das habe ich als junger Punkmusiker intuitiv gespürt, als ich mit 23 in diesen kleinen, klapprigen Tourbus gestiegen bin, der für mich viele Jahre die Welt bedeutete. Und das sage ich auch heute, viele Jahre später, als Hamburger Großstadt-Pastor, der auch andere Orte und Formen von Gottesmomenten erleben durfte. Am Ende geht es genau um diese Momente, egal, in welcher Lebensphase wir uns befinden, egal, wie lost oder wie gesettelt wir sind. Egal, wie reich oder arm.
Also, lieber Geisterfahrer, der du auf der Suche bist nach einem Ort, an dem du dich zu Hause fühlst: Ich grüße dich. Gesegnet sei deine heilige Suche nach dem verloren gegangenen Paradies.
Dein Weg wird nicht immer einfach sein, denn manchmal ist es nur ein schmaler Grat zwischen Freiheit und Einsamkeit, zwischen Rausch und Sucht, zwischen Aufstieg und Absturz … und dennoch: Jeder göttliche Moment, an dem es dir vergönnt sein wird, die Unendlichkeit zu schmecken, ist die Reise wert. Denn nur so erhältst du einen Vorgeschmack auf das, was uns alle am Ende unseres Weges erwartet.
Für diese Gottesmomente lohnt es sich zu leben, ihnen nachzujagen, sie zu feiern und zu betrauern, wenn sie uns verlassen, wenn sie uns wieder durch die Finger glitschen und die Welt wieder nach uns greift, indem sie uns ins Ohr flüstert: Das ist noch nicht das Paradies.
Mittlerweile glaube ich, jeder Moment der Verlorenheit birgt die Chance in sich zu wachsen und jede Krise, die du zu überwinden schaffst, macht dich stärker, auch wenn ich persönlich gerne auf die ein oder andere verzichtet hätte auf meiner eigenen Geisterfahrt durch das verrückte Leben.
„Warum willst du die
Welt verändern?
Was bildest du dir eigentlich ein,
du Nichts?
Wenn überhaupt wird dich die Welt verändern,
sie kann auch ganz gut ohne dich!
Er greift jetzt an, mit dem Hass der Welt,
eine Pest, die mich schwächt, langsam frisst und entstellt,
denn die Welt wiegt so viel, ist so viel, wiegt so schwer,
hier ist meine Kehle!
Vor meinem Bett,
steht ein schwarzer Hund,
auf dunklem Grund,
drängt mich in den Hintergrund.“
Song: Der schwarze Hund Davidstrasse 35
Die Davidstraße. Seitenader der großen, pulsierenden Vene Reeperbahn. Vorbei an der Davidwache, über glänzendes Kopfsteinpflaster. Vorbei an den roten Laternen. Immer geradeaus, bis sich die ersten Masten und Schornsteine der im Hafen liegenden Schiffe aus dem Hamburger Schietwetter schälen. Wenn der Wind richtig steht, hörst du den Hafen singen. Folgst du seiner tiefen, lockenden Melodie, kannst du am Ende der Straße Platz nehmen auf einem Logenplatz, der den Blick auf die ganze, strahlende Szenerie des Hafens freigibt. Du siehst die Lichter und hörst die Sinfonie, gespielt von einem Orchester, das niemals schläft.
Dock 17 schlägt Feuerwerksfunken, es wird geschweißt, repariert, gewartet und neu gebaut. Die kraftstrotzenden Motoren der kleinen Schlepper ziehen wummernd große Tanker zu den emsigen Entladekränen. Alles hat seinen Rhythmus und seinen Beat. Es riecht nach Schnaps und Limetten. Nach Dieselbenzin und Marihuana. Zertretene Zigarettenstummel und Plastikbecher am Boden der hölzernen Zuschauerbänke.
Der Hafen singt sein Lied für alle, die zuhören.
Wenn ich mich damals aus dem Fenster meines Wohnhauses mit der Nummer 35 lehnte, konnte ich seine Lichter sehen, wenn ich die Augen schloss und wirklich ruhig wurde, konnte ich seinen Rhythmus fühlen. Hier am Hafen beginnt diese Geschichte. Im dritten Stock der Davidstraße.
Ich hatte dort eine kleine Musikerkommune gegründet, gemeinsam mit Johnny Mocanelli, einer weiteren Musikerseele auf der Suche nach der Ewigkeit.
Die Davidstraße war unser Kreativort. Johnny und ich teilten uns ein großes Zimmer, in das wir einen Vorhang eingezogen hatten. Er wurde immer dann zurückgezogen, wenn einer von uns eine zündende Songidee hatte, Johnny schnappte sich dann seine Gitarre und rockte los. Ich steuerte die Lyrics für den Song bei und schlug die Gesangsmelodien vor. Das klappte in der Regel ziemlich gut. Wir beide hatten ein gutes Gespür dafür, wenn der andere mal seine Ruhe brauchte und der Vorhang als Sichtschutz vorgezogen bleiben sollte.
Unsere Wohnung lag über der Methadonausgabestelle, im Zentrum des Orkans, der jeden Abend aufs Neue entfacht wurde, wenn die Prostituierten der Davidstraße ihre Arbeit begannen und die roten Laternen in die über St. Pauli hereinbrechende Nacht strahlten.
Aus unserer Wohnung konnten wir direkt in Hamburgs berühmteste Straße, die Herbertstraße, sehen. Ich habe Stunden auf unserer Fensterbank verbracht und auf das Treiben unter mir geschaut. Viele bunte Szenen gab es da: Dominas, die ihre Freier an Hundeleinen Gassi führten oder ihnen hingebungsvoll den Arsch versohlten, die Heilsarmee auf Tour in ihren Uniformen, aber auch unschöne Schlägereien befeuert durch den steigenden Alkoholpegel der Feierwütigen. Je später die Nacht wurde, desto häufiger kam es zu Gewalteruptionen dieser Art.
Mit der Morgendämmerung wurde es meist etwas stiller, dann übernahmen wieder die Tauben mit ihrem monotonen Gurren den Stadtteil. Ab und zu, wie auch an diesem Morgen, hörte man die ekstatischen Laute eines Freiers, der in einem Hinterhof die späten Dienste einer Prostituierten in Anspruch nahm. Monotones fünfminütiges Grunzen und der traurige, betrunkene Ausruf:
„Wer ist der Beste? Wer ist der Beste?“
Immer wieder die Antwort: Du! Du! Du!
Dann ein gespielter und ein echter Orgasmus.
Danach Stille.
Ich lag wach mit geschlossenen Augen und lauschte in die Dunkelheit. Bis ich irgendwann eindöste.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich geschlafen habe. Fünf Minuten oder drei Stunden. Ich schreckte auf einmal hoch. Aufgeweckt von einem ungewöhnlichen Geräusch.
Es war das stetige Hecheln eines Hundes.
Als ich verwundert die Augen öffnete, saß er da. Genau dort, wo sonst das alte, verbrannte Loch im Dielenboden zu finden war: ein schwarzer Hund.
Lange Zeit schauten der Hund und ich uns in die Augen. Dann griff er an. Sprang mir an die Kehle. Drückte mich in die Matratze. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Als ich es wagte, die Augen zu öffnen, saß er direkt vor mir, starrte mich an – bis er auf einmal langsam vor meinen Augen zerschmolz, wie schwarzer Schnee in der Sonne.
Durch die Poren meines Körpers drang eine dunkle Flüssigkeit in mich ein, die langsam in mein Herz sickerte. Tropfen für Tropfen. So lange bis alles kalt und dumpf wurde. Absolute Taubheit. In mir. Um mich. Kein Gesang des Lebens. Nur das weiße Rauschen des Windes.
War früher noch das Gefühl vorherrschend gewesen, dass da irgendwo eine ausgleichende Kraft war, die am Ende dafür sorgen würde, dass jeder bekommen würde, was er verdiente, schien die Schallplatte des Lebens einen Kratzer bekommen zu haben. Sie hakte an einer empfindlichen Stelle, sodass die Nadel immer wieder an derselben Stelle einsetzte und ihren hoffnungslosen Kehrvers wie ein Mantra in den Hamburger Sternenhimmel schmetterte:
Die Welt schuldet dir nichts. Die Welt schuldet dir nichts. Die Welt schuldet dir nichts.
Die neueste Erkenntnis meiner damals frischen 30er-Jahre.
Mit 23 hatte ich das Gefühl, die Welt verstanden zu haben in all ihrer Tiefe, Komplexität und Vielschichtigkeit.
Mit 30 bemerkte ich: Ich lag verdammt falsch.
Wer sich anstrengt, tapfer und fleißig ist, der wird belohnt werden. Gott ist mit den Sanftmütigen … Bullshit. So funktioniert die Welt einfach nicht.
Ich weiß nicht, ob es damals an meinem frisch versiebten theologischen Examen lag, an der bröckelnden Beziehung zu einer Frau, mit der ich zehn Jahre durch dick und dünn gegangen war, dem Wahnsinn des Lebens, der an jeder Straßenecke lauerte, dem Weltschmerz oder einer Mischung aus allem.
Nun war es auch bei mir so weit: Der schwarze Hund war mir erschienen, wie so vielen meiner Freunde zuvor.
All den Herzensmenschen, die ich über die Jahre in den psychiatrischen Anstalten dieses Landes besucht hatte, mit ihren aufgequollenen Zungen und geritzten Armen, betäubt von Tavor, Clozapin, Zyprexa.
All den Aufrechten, die mir auf den Fußböden der geschlossenen Anstalt auf allen vieren entgegengekrochen kamen, überdosiert bis in die Haarspitzen, nachdem sie die Wände ihres Zimmers mit Hilferufen an diejenigen bemalt hatten, die ihnen nicht helfen konnten.
Wie oft war ich mit dem elenden Gefühl der Hilflosigkeit nach Hause gefahren oder hatte mir die Knie wund gebetet in der Hoffnung, dass die Engel vom Himmel herabsteigen würden, um die zu retten, die zu sensibel, zu zärtlich, zu liebevoll für diese Welt waren.
All diejenigen hatte der schwarze Hund zuerst geholt.
Nun hatte er mich gebissen.
Was blieb, waren innere Kälte und die schaurige Erkenntnis: Die Welt schuldet dir nichts.
In diesem Moment war das Maximum der Verlorenheit erreicht. Hätte ich damals nicht noch als letzten Ausweg eine Notfallnummer gerufen, ich weiß nicht, was passiert wäre.
Viele Jahre später sollte ich für mich verstehen, dass die Erkenntnis „Die Welt schuldet dir nichts“ auch eine Erlösung in sich trug und der schwarze Hund nicht nur Monster, sondern auch Befreier sein wollte.
Heute weiß ich, dass der schwarze Hund immer Teil meines Lebens sein wird.
Das heißt aber nicht, dass dieses verrückte Leben nicht auch trotz der Dunkelheit wunderschön sein kann. Es gibt Mittel und Wege, den schwarzen Hund zu zähmen. Eine große Rolle spielt dabei die große ozeanische Liebe.
Damals aber wusste ich davon noch nichts. Ich ließ ich mich in die Finsternis fallen und verzweifelte.
Ich starrte auf die verwaschene Wand des Innenhofs und sann darüber nach, wie zur Hölle ich an diesen Punkt in meinem Leben geraten war.
Ich bin damals sehr unwissend in dieses Studium gegangen. Gott sei Dank, sonst hätte ich es gar nicht erst angefangen.
Ich hatte einen Traum, der mich packte, herumwirbelte und nach Tübingen an die Universität schwemmte. Das beschauliche Städtchen am Neckar, in dem bis heute die Zeit stehengeblieben zu sein scheint.
Ich bekam sogar ein Stipendium, an der geistigen Kaderschmiede, dem Evangelischen Stift, und dennoch, ich fühlte mich von Anfang an wie ein Fremdkörper.
An der Universität schwebten die meisten Professoren an den unwürdigen Studenten vorbei. Sie rieten mir in Beratungsgesprächen, neben Altgriechisch und Hebräisch doch bitte auch noch Aramäisch und Keilschrift zu erlernen – wie sie es damals in meinem Alter getan hatten.
Sie hielten theoretische Vorlesungen über Praktische Theologie und teilten gegen Ende des Semesters Feedbackbögen aus mit der Ansage: „Schreiben Sie, was Sie wollen, ich lese es sowieso nicht.“
Es war alles ziemlich zum Kotzen und so ganz anders, als ich es mir gewünscht hatte. Anfangs schüchterte mich das ganze elitäre Gehabe noch ein. Dann wurde ich wütend.
Ich bin sehr traurig darüber, dass es eine intellektuelle Elite geschafft hat, sich selbst über Jahrzehnte so auszuleben, dass heutzutage kaum jemand mehr Lust hat, ihren Ausführungen zu folgen.
Wo waren die Dozenten, die sich am Leben von Menschen orientierten? Die selbst gelebt hatten und sich mit ihrem Licht und Schatten zeigten und bereit waren, selbst zu lernen. Lehrer, die eine neue, spirituelle Revolution einläuteten, und die die Herzen junger Menschen entflammten, indem sie ihren Blick weiteten. Indem sie sich öffneten für die verschiedensten Formen und Möglichkeiten, Gott in dieser Welt zu suchen und zu finden. All das war nur im Dialog möglich. Nur war Dialog mit den Lehrenden in dem Uni-System nicht möglich.
Relativ schnell wurde mir klar, dass ich mit dem universitären Studienangebot nicht die Erfahrungen machen würde, die für mich und mein spirituelles Wachstum notwendig waren.
Ich wollte lernen, mit aller Kraft zu lieben, ich wollte goldene Unendlichkeit trinken und zur Melodie der Ewigkeit tanzen. Ich wollte brennen und mich der großen Expedition Richtung Ewigkeit anschließen.
Stattdessen lernte ich einiges über das hebräische Schwa quiescens und Schwa mobile, trank außer goldener Unendlichkeit bittere Prüfungsangst, verteilt von Dozenten, die uns für die Prüfungen schliffen. Manch einer folgte entmutigt den Sprüchen der Schleifer und packte seine Sachen. Ein weiterer leerer Stuhl im Seminar.
„Wieder einer weniger. Denken Sie daran, vielleicht wäre ein Handwerk doch besser für manche hier im Raum.“
Eines Tages, als ich mich wieder zu einer Altgriechisch-Vorlesung durch den alten botanischen Garten Richtung Theologicum schleppte, wurde mir klar, dass ich meinen eigenen Studienplan entwickeln musste, um nicht wahnsinnig zu werden. Ich blieb unvermittelt stehen und fasste einen Entschluss:
Das Leben selbst sollte mein spiritueller Lehrmeister werden, und ich betete zu Gott, dass er mich dorthin führen sollte, wo sich am Ende alles richtig anfühlen würde.
An die Orte, an denen mein Herz begeistert brennen würde.
„Gang zur Saide, du Seggel, des isch’en Radweg!“, keifte ein mit dem Fahrrad heranrasender Student, auch er war unterwegs zu der Altgriechisch-Vorlesung.
Am Schwarzen Brett in der Mensa wurden Sportgruppenleiter für die Tübinger Untersuchungshaft gesucht. Vielleicht war das eine Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun. Menschen zu helfen und selbst zu lernen, ging es nicht darum im Studium? Mussten nicht allen Worten auch automatisch Taten folgen?
Ich begann, regelmäßig eine Volleyballgruppe anzuleiten, die sich im Innenhof der JVA zum gemeinsamen Spiel traf. Eine Stunde Sport. Eine Stunde den Kopf ausschalten. Das klappte bei den Gefangenen nicht immer. Das Strafmaß stand bei vielen oft noch nicht fest und ihre Prozesse liefen über lange Zeiträume. Die Stimmung war deswegen oft angespannt und der Druck auf die inhaftierten Menschen enorm.
Der Innenhof war nicht viel größer als das Volleyballfeld. Ein großer Schacht, umgeben von hohen Mauern. Wenn der Ball zu energisch in den durch die Mauern zu einem Viereck geformten Himmel gedroschen wurde, verfing er sich auf dem Rückweg manchmal in den auf den Spitzen der Mauern angebrachten Stacheldrahtrollen.
Dann schrumpfte er zischend und unter den saftigen Flüchen der Spieler zu einem Häuflein Elend zusammen und flatschte auf den harten Betonboden des Hofes zurück. Dennoch half der Sport etwas, um aus der starren und angespannten Situation kurzzeitig auszubrechen. Bei besonders schönen Ballwechseln wich für einen Moment die Anspannung aus den Gesichtern. „Ahhhh, geiler Schuss …“ – Wenn es auch nur für Sekunden war.
Ich erinnere mich an einen Gefangenen, zwei Meter groß und 120 Kilo Muskelmasse, der seine innere Anspannung abbaute, indem er den großen Metallspind seiner Zelle zum Bankdrücken nutzte. Selten habe ich solche Kraft gesehen. Auf seinen Unterarm hatte er die Worte „Only God can judge me“ tätowiert. An manchen Tagen schaffte er es, sich selbst über das intensive Training in einen meditativen Zustand vollkommener Ruhe zu bringen. Während um ihn herum alles nervös und angespannt war, bewegte er sich ruhig und gelassen zwischen all den aufgeschreckten Seelen. Er wirkte auf mich wie ein Stoiker, der es geschafft hatte, in die absolute Seelenruhe hinabzutauchen.