Wilderwald (2). Die Rache des Königshexers - Cressida Cowell - E-Book

Wilderwald (2). Die Rache des Königshexers E-Book

Cressida Cowell

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Beschreibung

Der Königshexer ist zurückgekehrt! Noch immer kann es Xar kaum glauben. Doch als sich immer mehr Hexen im Wilderwald dem dunklen König anschließen, weiß er, dass die Zeit gekommen ist: Nach jahrelangem Krieg müssen die Krieger und die Magier endlich zusammenarbeiten, um die Bedrohung zu bekämpfen. Mit Willa an seiner Seite wird er alles tun, um die Stämme zusammenzuführen - ob sie es wollen oder nicht!

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Cressida Cowell

Wilderwald

Die Rache des Königshexers

Cressida Cowell

Die Rache des Königshexers

Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr

Mit Illustrationen von Clara Vath

 

 

Über dieses Buch

Der Königshexer ist zurückgekehrt! Noch immer kann es Xar kaum glauben. Doch als sich immer mehr Hexen im Wilderwald dem dunklen König anschließen, weiß er, dass die Zeit gekommen ist: Nach jahrelangem Krieg müssen die Krieger und die Magier endlich Zusammenarbeiten, um die Bedrohung zu bekämpfen. Mit Willa an seiner Seite wird er alles tun, um die Stämme zusammenzuführen – ob sie es wollen oder nicht!

»Vermutlich endet das alles sowieso in einer Katastrophe, deshalb spielt es keine Rolle, WAS wir machen, solange wir es mit unseren Freunden GEMEINSAM tun.«

 

– Kaliburn der Rabe

Dieses Buch ist Maisie gewidmet.

 

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2018 unter dem Titel »The Wizards of Once. Twice Magic« bei Hodder Children’s Books, London. © 2018 by Cressida Cowell

 

1. Auflage 2019

© 2019 Arena Verlag GmbH, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr

Einband, Satz und Illustration: Clara Vath

Gesamtherstellung: Westermann Druck Zwickau GmbH

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing GmbH, Dortmundwww.readbox.net

 

E-Book ISBN 978-3-401-80797-3

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VORWORT DES UNBEKANNTEN ERZÄHLERS

Stelle dir eine Zeit vor, in der es noch Riesen gab.

Das ist lange, lange her, als die Britischen Inseln noch gar nicht wussten, dass man sie eines Tages »Britische Inseln« nennen würde. Als das ganze Land noch ein einziger wilder Wald war, ein Wald, in dem zwei Arten von Menschen gegeneinander kämpften: die Zauberer und die Krieger.

Die Zauberer lebten schon länger als Menschengedenken im Wilderwald. Sie waren selbst Zauberwesen und ritten auf gigantischen Schneekatzen.

Und sie hätten noch lange in Frieden mit den anderen magischen Geschöpfen leben können, wenn … ja, wenn die Krieger nicht gekommen wären.

Sie kamen über die Meere und fielen in das Land ein. Zuerst kämpften die Krieger gegen die Hexen, in einer langen, grausamen Schlacht, bis es keine Hexen mehr gab. Niemand weinte ihnen eine Träne nach, denn Hexen beherrschten die schlimmste Magie, die es gab: die dunkle Magie, mit der man die Welt und alles, was auf ihr lebte, vernichten konnte.

Aber damit gaben sich die Krieger nicht zufrieden. Nachdem sie die Hexen besiegt hatten, jagten sie auch alle übrigen Zauberwesen und bekämpften sie mit Schwertern und Feuer. Sie eroberten immer mehr Land und errichteten darauf ihre Festungen. Sie legten Äcker an und säten Getreide auf den Feldern und schufen eine neue, moderne Welt.

Man konnte vorhersehen, dass die Krieger den Kampf gegen die Zauberwesen gewinnen würden, denn ihre Waffen waren aus EISEN – und Eisen war das Einzige, wogegen alle Zauberkunst der Welt nichts ausrichten konnte.

Dies ist die Geschichte eines jungen Zauberers und einer jungen Kriegerin. Beide waren fröhliche Kinder voller Hoffnung und voller wunderbarer Ideen, aber seit ihrer Geburt war ihnen eingetrichtert worden, einander so sehr zu hassen, wie sich Menschen überhaupt hassen konnten.

Unsere Geschichte handelt davon, wie sie sich begegneten und wie sie lernten, Freunde zu werden und die Dinge auch mit den Augen des anderen zu sehen – und die Geschichte sollte eigentlich eine GLÜCKLICHE Geschichte werden. Nur leider machten die beiden schon bei ihrem ersten gemeinsamen Abenteuer einen furchtbaren Fehler: Ohne es wirklich zu wollen, befreiten sie den KÖNIGSHEXER aus dem Stein, in dem er seit vielen Jahrhunderten gefangen gewesen war.

Und so kam es, dass die HEXEN in den Wilderwald zurückgekehrt waren.

Ich möchte dich, liebe Leserin und lieber Leser, nicht unnötig erschrecken. Aber diese Hexen waren nun mal kein netter Anblick: Sie hatten gefiederte Flügel, in ihren Adern floss Säure statt Blut und ihre Klauenhände endeten in fünf Krallenfingern, jeder einzelne so lang und scharf wie ein frisch geschärftes Schwert.

Das hätte man vielleicht noch ertragen können, wenn sie gute, freundliche Wesen gewesen wären.

Aber die Hexen waren durch und durch böse, so böse, dass sie alles, was gut und gerecht war, hassten, dass sie die winzigen Herzen von Rotkehlchen als Leckerbissen verspeisten und die ganze Welt und alles, was in ihr lebte, vernichten wollten.

Und der Königshexer war der Herrscher über all diese Hexen.

Niemand wusste, wo sich der Königshexer nach seiner Befreiung versteckt hielt. Nur ich weiß das. Er lauerte in einem riesigen, höhlenartigen Gewölbe, tief unten in den Hexenbergen. Und ich weiß auch, was er dachte.

Ich will diesen Jungen namens Xar, ging es dem Königshexer ständig durch die hasserfüllten, bösen Gedanken. Ich will diesen Jungen, der fast mir gehört, denn ER kann mir helfen, das Mädchen mit der Magie-die-mit-Eisen-wirkt zu mir zu bringen … Denn erst, wenn ich diese Magie besitze, werde ich wahrhaft unbesiegbar …

Aber keine Angst, liebe Leser! Das müsste eigentlich unmöglich sein.

Denn Xar hatte man im großen Kerker von Gurmenkrag eingesperrt. Und niemand, der in Gurmenkrag eingesperrt war, kam jemals wieder heraus, was natürlich für Xar nicht besonders erfreulich war. Aber wie ihr euch denken könnt, war es auch für den Königshexer und seine Hexen nicht erfreulich, denn sie konnten auch nicht in das Gefängnis hinein.

Und was das Kriegermädchen Willa angeht … nun, Willas furchterregende Mutter, die große Kriegerkönigin Sychorax, hatte eine riesige Mauer an der Südwestgrenze ihres Königreichs errichten lassen, um ihr Volk vor den Angriffen der Hexen zu schützen – eine Mauer, die so hoch war, dass nicht einmal ein Hochtrabender Lang-schritt-Riese darüber hinwegspähen konnte, selbst wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte.

Und so kam es, dass unsere beiden Helden einander nicht mehr treffen konnten, aber auch der Königshexer konnte ihnen nichts anhaben, jedenfalls nicht in einer so kurzen Geschichte wie dieser hier.

Es war ohnehin höchst unwahrscheinlich gewesen, dass unsere Helden einander begegnet waren.

Aber genau das war EINMAL passiert.

Bestimmt konnte so etwas nicht EIN ZWEITES MAL passieren?

Ich bin eine Figur dieser Geschichte, die alles sieht und alles weiß.

Ich verrate dir nicht, wer ich bin.

Hast du es schon erraten?

Folge dem Tintenpfad der Geschichte.

(Verirre dich nicht. Diese Wälder sind GEFÄHRLICH.)

NIEMAND KANN AUS GURMENKRAG AUSBRECHEN

Es war eine Viertelstunde nach Mitternacht, zwei Wochen vor Winterende, als ein dreizehnjähriger Junge gefährlich hoch an einem Seil hing, das er selbst geflochten hatte und das kurz davor war zu reißen. Das Seil mit dem Jungen daran hing außen am düstersten Turm von Gurmenkrag, der »Besserungsanstalt für dunkle Wesen und Böse Zauberer«.

(Das ist natürlich ein ziemlich langer und umständlicher Name für ein Gefängnis, aber es war ja auch nicht irgendein beliebiges Gefängnis, sondern das aus- und einbruchsicherste Gefängnis im ganzen Wilderwald.)

Der Junge, der da am Seil baumelte, hieß Xar und er hätte wirklich unter gar keinen Umständen da draußen hängen dürfen.

Er hätte IM Gefängnis sein sollen. Das ist eine der wichtigsten Regeln, die für Besserungsanstalten und Gefängnisse gelten, und natürlich hätte Xar das wissen müssen.

Aber Xar gehörte nun mal nicht zu den Jungen, die sich an Regeln hielten.

Xar handelte zuerst und dachte später nach, und genau das war der Grund, warum man ihn in die Besserungsanstalt Gurmenkrag gesteckt hatte. Und es war auch der Grund, warum er den Ruf hatte, der ungehorsamste, wildeste Junge zu sein, der seit ungefähr vier Generationen im Königreich der Zauberer zur Welt gekommen war.

Nehmen wir zum Beispiel nur mal das, was Xar in der vergangenen Woche angestellt hatte:

Er hatte ein Schlafmittel in den Wein gegossen, den die Rogerschnüfflerwärter so gern tranken – nur leider war es kein Schlafmittel gewesen, sondern ein Fluchmittel. Er hatte die Stühle im Ratssaal des Hohen Kommandostabs der Druiden mit Leim bestrichen, sodass die Druiden darauf festklebten. Xar hatte gehofft, dadurch genug Zeit für die Flucht zu bekommen, nur leider hatte er vergessen, die Stühle auch auf dem Boden festzukleben, sodass ihn die Druiden mit den Stühlen am Hintern verfolgten. Er hatte ein bisschen Unsichtbarkeitstrank genascht, um sich unsichtbar zu machen, nur leider nicht genug, weshalb nur sein KOPF unsichtbar geworden war, sodass der Druide, der für Xars Besserung sorgen sollte, einen entsetzlichen Schock erlitt, weil er glaubte, kopflose Gespenster hätten das Gefängnis überfallen.

Natürlich war keine dieser Unfolgsamkeiten absichtlich geschehen. Alle hatten sich eher zufällig ereignet, als er versuchte, aus der Anstalt zu fliehen, denn obwohl Xar ein fröhlicher, unbekümmerter Junge war, hatten die zwei Monate Gefangenschaft seinem Frohgemut hart zugesetzt. Sogar sein sonst widerspenstiges Haar lag platt auf dem Kopf und manchmal fühlte sich Xar ein wenig verzweifelt.

Gurmenkrag war dafür bekannt oder berüchtigt, dass es unmöglich war, daraus zu entkommen, aber Xar hatte sich noch nie von etwas abschrecken lassen, das alle anderen für unmöglich hielten. Obwohl seine gegenwärtige Lage einem Unbeteiligten sicherlich recht ungünstig erscheinen mochte, war Xar ziemlich zufrieden mit sich selbst, jedenfalls für einen Jungen, der an einem ausfransenden Seil an einem Turm baumelte, über dem Meer, in dem es bekanntlich von so grauenvollen Ungeheuern wie Rotfeuerhaien, Dolchfischen und Blutbartnöcks nur so wimmelte.

Xar blickte sich um; seine Augen leuchteten vor Aufregung und Hoffnung.

»Seht ihr?«, flüsterte er triumphierend seinen Gefährten zu. »Was hab’ ich euch gesagt? Wir schaffen das mit links! Wir sind schon fast draußen!«

Damit hatte er recht, bisher hatten sie ihre Sache gut gemacht.

Nun war die Besserungsanstalt Gurmenkrag allerdings so geplant und gebaut worden, dass man darin die entsetzlichsten und gefährlichsten Monster der gesamten Zaubererwelt dauerhaft und völlig ausbruchsicher einsperren konnte. Oger, Butzemänner. Sumpfteufel, Kelpies, Nachtmahre, Schrate … und eine Menge mehr. Und früher sogar, ich wage es kaum zu sagen, HEXEN, die lange als ausgestorben galten, aber in jüngster Zeit in diesem Teil des Wilderwalds wieder gesichtet worden waren.

NIEMAND, weder ein Dunkelelf noch ein Rogerschnüffler, so groß und Furcht einflößend er auch sein mochte, und auch kein böser Zauberer, so grausam und gemein seine Zaubersprüche auch sein mochten, war JEMALS aus dem Gurmenkrag-Kerker entkommen. Versucht hatten es natürlich viele und es gab unzählige Sagen und Legenden über die fehlgeschlagenen Ausbruchsversuche, welche sich die Elfen seit Generationen weitererzählten. Aber, wie gesagt, geschafft hatte es bisher niemand, jedenfalls nicht lebend.

Selbst wenn du es durch irgendwelche unvorstellbaren Umstände schaffen würdest, die Außenmauer zu überwinden, ohne dass die Schreischädel zu schreien anfingen, würden da immer noch die Grimmtürme von Gurmenkrag auf dich warten, die auf sieben kleinen Inseln standen, welche in einem Meer mit dem hübschen Namen »Schädelmeer« lagen. Spätestens dort würden die trügerischen Wogen über deinem Kopf zusammenschlagen oder die bösartigen Meeresbewohner, die Blutbartnöcks, würden aus ihren Höhlen herausschießen und dich hinunter in den Versunkenen Wald auf dem tiefsten Meeresgrund zerren.

Als Sohn des Königs der Zauberer, aber auch, weil Xar der geborene Anführer war, hatte er eine stattliche Gefolgschaft.

Im Moment wurde er von fünf Elfen begleitet, nämlich Zippelsturm, Unzeitiel, Blassschimmer, Ariel und Senfhirn, wunderschönen, aber reichlich wild wirkenden Geschöpfen, die wie eine Kreuzung von sehr kleinen Menschen und gereizten, aber eleganten Insekten aussahen. Außerdem waren da noch zwei Haar-Feen – Flatterkopf und Hummelgrunde. Sie waren so klein wie Bienen, und außerdem so jung, dass sie noch nicht in ihren Kokon geschlüpft waren, wo sie sich in richtige erwachsene Elfen verwandeln würden.

Nachts können Elfen glühen, so hell wie Sterne am Himmel, aber im Moment wollten diese Elfen nicht entdeckt werden, deshalb hatten sie ihr Leuchten gedimmt, sodass ihre Körper nur noch ganz leicht schimmerten.

Die Elfen gehörten Xar und waren ihm treu ergeben, weshalb sie sich still und heimlich mit ihm in die sogenannte Besserungsanstalt Gurmenkrag geschlichen hatten, um bei ihm zu sein – und ihm bei seinem Ausbruch zu helfen.

»Du hast recht, Meister!«, flüsterte Flatterkopf zurück. Er summte aufgeregt um Xars Kopf herum. »Du hast immer recht, Meister! Deshalb bist du auch der Anführer und führst uns nie in Schwierigkeiten! Oooh! Was ist das für eine faszinastierende Höhle?«

Tatsächlich war die »faszinastierende« Höhle ein großer Schädel, dessen Ober- und Unterkieferknochen weit aufgesperrt waren.

Neugierig schwirrte Flatterkopf durch die große Öffnung, um die Höhle zu erkunden – doch plötzlich klappten die beiden Kiefer mit einem unheilvollen »Klang!« zusammen und die Augenlöcher kniffen sich richtig fest zu, als hätte der Schädel noch Augenlider.

»Halloooo?«, summte Flatterkopf und seine Stimme hallte in dem hohlen Schädel wieder. »Hallooo? Ich glaub’, ich bin eingesperrt!«

Die Elfen kugelten sich vor Lachen, sodass sie fast abstürzten, aber Xar erschrak und zischte: »Fliegt nicht über die Zinnen hinaus, verstanden? Gurmenkrag ist von einem magischen Kraftfeld umgeben. Man kann zwar prima hineinkommen, aber man kommt nicht durch das Kraftfeld hinaus!«

Xar musste sich in beträchtliche Gefahr begeben, um Flatterkopf zu befreien, denn der Schädel befand sich knapp außerhalb seiner Reichweite, weshalb er das Seil am Knöchel festbinden musste, um, kopfüber herabhängend, an den Schädel heranzukommen. Ganz, ganz vorsichtig drückte er den Unterkiefer herab, sodass Flatterkopf herausschwirren konnte, wobei der kleine Haar-Fee begeistert trällerte: »Mir geht’s prima! Keine Angst, Leute! Mir geht’s prima!«

Xar schwang sich auf einen sicheren Vorsprung und erklärte seinen Gefährten, dass diese Schädel keine normalen Totenschädel seien, sondern Schreischädel und dass sie Gurmenkrags letzte Ausbruchssicherung seien. Wenn man auch nur eine Fingerspitze über die Grenze des Gefängnisses streckte, würden die Schädel zu schreien anfangen, und zwar so laut und durchdringend, dass einem förmlich das Blut in den Adern gefror, und damit würden sie sämtliche Wärter Gurmenkrags aufwecken, die sich dann auf den Aus- oder Einbrecher stürzen würden.

Zu Xars Gefolgschaft gehörte auch ein sprechender Rabe, der sich in heillosem Entsetzen die Flügel über die Augen geschlagen hatte, denn die ganze Sache mit dem Kopfüberhängen und der Haar-Feen-Befreiung aus einem Schreischädel hatte er einfach nicht mit ansehen können. Außerdem befand sich Xar in Begleitung eines siebeneinhalb Fuß großen, einsamen Reißzahn-Werwolfs namens Oinsaam, der ein ängstliches Brummen hören ließ, als Xar die Gurmenkrag-Wärter erwähnte.

Xar hatte Oinsaam im Gefängnis kennengelernt, und obwohl einsame Reißzahn-Werwölfe nicht unbedingt zu den Geschöpfen zählten, mit denen man sich anfreunden sollte, hatten die beiden schon bald entdeckt, dass sie ein gemeinsames Interesse hatten: Beide wollten ausbrechen.

Der Werwolf jedenfalls schien unzufrieden zu sein, denn er konnte ein leises Aufheulen nicht unterdrücken.

»Was hat der Werwolf gesagt?«, erkundigte sich der Rabe.

Der sprechende Rabe hieß Kaliburn. Eigentlich hätte er ein recht hübscher Vogel sein können, doch leider war es sein Job, auf Xar aufzupassen, damit er nicht in noch mehr Schwierigkeiten geriet, eine Aufgabe, die völlig unmöglich war, sodass ihm vor lauter Sorgen ständig die Federn ausfielen.

»Ich glaube, er hat gefragt, ›Warum gehen wir in diese Richtung?‹«, erklärte Xar.

Xar hatte zwar die Werwolfsprache gelernt, aber im Unterricht nie so recht aufgepasst. Außerdem war das Problem mit den Werwölfen, dass sie ihre Wörter oft nur vor sich hin murmelten, sodass man die manchmal eher für ein Knurren oder Gurgeln halten konnte oder ein Oooohrrrrrrgggg! für ein Eeeehrrrrrgggg!, sodass man leicht missverstehen konnte, was sie eigentlich sagen wollten.

»Wir gehen hier entlang«, erklärte Xar, »weil wir noch kurz im Zimmer des Druidenkommandanten vorbeischauen wollen … Das ist sehr wichtig und gehört zum Ausbruchsplan.«

Der Werwolf wedelte so aufgeregt und entsetzt mit den zotteligen Vorderpfoten, dass er fast vom Seil fiel.

»Du darfst nicht ausbrechen! Und wir sollten dir nicht dabei helfen!«, warf Kaliburn ein. »Aber wenn wir dir schon beim Ausbrechen helfen, wäre es doch sicherlich besser, wenn wir das ganz leise tun? Quetscher und die Tiere warten unten an der westlichen Festungsmauer auf uns.«

(Quetscher war ein Hochtrabender Langschritt-Riese, der wie die Wölfe, die Schneekatzen und der Bär ebenfalls zu Xars Gefährtenschar gehörte.)

»Wir sollten also so schnell wie möglich genau dorthin gehen, wo sie auf uns warten«, fuhr Kaliburn fort. »Und das heißt, wir sollten über die hintere Mauer klettern und es niemandem verraten, statt ausgerechnet ins Zimmer des Gefängniskommandanten zu spazieren! Glaubst du wirklich, der wird uns zu einem netten kleinen Plausch und einer Tasse Kräutertee einladen?«

»Genau das ist der Grund, warum noch nie jemand aus diesem Schwitzkasten von einem Kerker entkommen konnte«, erklärte Xar. »Wie oft hast DU es denn schon versucht, Oinsaam?«

Der Werwolf knurrte etwas, das sich wie »dreiundzwanzig Mal« anhörte.

»Seht ihr?«, rief Xar. »Ihr müsst mir nur vertrauen! Ich habe nämlich einen Plan, der zum verwegensten, cleversten, wagemutigsten Ausbruchsplan in der gesamten Geschichte des Wilderwalds werden könnte!«

Xar hatte eine Menge guter Eigenschaften, aber Bescheidenheit gehörte nicht dazu.

Überzeugt von seinem Plan, begann Xar, an dem Seil hinunterzuklettern, dicht gefolgt von Oinsaam und seinen geflügelten Gefährten. Sie landeten auf dem Fenstersims vor dem Gemach des Druidenkommandanten und spähten hinein.

Der Raum war mal zackig wie ein Stern, dann rund wie ein Kreis geformt oder auch wie ein Fünfeck. Denn die Wände hatten die seltsame Angewohnheit, sich ständig zu bewegen, wenn man sie anschaute, und der Boden erinnerte an Meereswogen, während die Decke sich kaum vom echten Sternenhimmel unterschied. Das alles reichte, um einen schon vom bloßen Hinsehen völlig schwindelig werden zu lassen.

Nur der gewaltige Tisch in der Mitte des Raums stand völlig still. Drei Zauberer saßen daran, ins Gespräch vertieft.

Einer von ihnen war der Druidenkommandant von Gurmenkrag.

»Das ist der Grund, warum wir hier sind«, flüsterte Xar und deutete auf den Zauberstab, den der Kommandant in der Hand hielt. »Weil man mit dem Zauberstab des Druidenkommandanten die gesamte Kerkerburg beherrschen kann.«

»Oh nein, oh nein«, stöhnte der Rabe flüsternd, fast außer sich vor Sorge. »Sag bloß nicht, dass du vorhast, den Stab-der-die-Burg-beherrscht zu stehlen?«

Xar nickte. Genau das war sein Plan.

»Ist doch höchst brillisant, oder nicht?«, quiekte Flatterkopf und schwirrte so aufgeregt herum, dass ihm selbst fast schlecht wurde.

»Psssssst!«, flüsterten alle anderen im Chor.

Der Werwolf knurrte leise etwas vor sich hin, das man als Zustimmung verstehen konnte. Denn eigentlich war es ein recht guter Plan. Oder jedenfalls ein Plan, den der Werwolf selbst noch nie ausprobiert hatte.

Aber als Xar sich genauer im Raum umsah, zuckte er so heftig zusammen, dass er fast vom Fenstersims fiel.

Denn jetzt erst erkannte er die beiden anderen Zauberer, die am Tisch saßen und sich mit dem Druidenkommandanten unterhielten.

»Mein Vater und … mein Bruder…«, flüsterte Xar entsetzt.

Dort im Zimmer saßen tatsächlich Xars Vater, der große Zauberer Encanzo der Prächtige, König der Zauberer, und Xars älterer Bruder Robb.

Xar verspürte eine große Unruhe, eine Mischung aus Angst und Sorge, die sich tief in seinem Magen regte und dann in einer heißen Welle von Scham und Schande hochkochte.

Denn als Xar von den Druidenwärtern festgenommen wurde, waren sein Vater und sein Bruder nicht zu Hause gewesen – sie hatten sich auf einer Mission in den Hexenbergen befunden, um zu erkunden, wie ernst die Bedrohung war, die von den Hexen ausging.

Deshalb wussten sie noch nicht, dass Xar hier im Kerker eingesperrt war, und Xar wollte unter gar, gar keinen Umständen, dass sie es erfuhren …

Xar konnte gerade noch verstehen, was am Tisch gesprochen wurde, wenn er sich weit genug durch das Fenster in den Raum lehnte.

»Eure Druidenwärter haben sich in mein Königreich geschlichen, während ich abwesend war, und meinen Sohn entführt!«, rief Encanzo wütend. »Ich verlange, dass Ihr ihn auf der Stelle freilasst!«

Xars Vater war ein großer, unglaublich mächtiger Zauberer. Seine magische Kraft war so gewaltig, dass es einem schwerfiel, ihn direkt anzuschauen. Denn die Zauberkraft sorgte dafür, dass seine Umrisse nur verschwommen und undeutlich zu sehen waren, weil sie sich ständig veränderten, hin und her und auf und ab wallten, und wenn er sich so wie jetzt gerade richtig in Rage redete, strömte aus seinem Kopf eine Art magischer Wutrauch. Aber er wirkte auch ein wenig müde, denn er war am Ende seiner Weisheit, wie er sein Volk dazu bringen konnte, in den Krieg gegen die Hexen zu ziehen.

Der Druidenkommandant war sogar noch größer als er, ein wahrer Recke von einem Mann, entsetzlich mager, mit so langen Augenbrauen, dass er sie zu kleinen Zöpfen geflochten hatte. Schon so lange lebte er im Wald, dass er ein bisschen wie ein Baum aussah. Seine langen, krummen Finger waren zu Ästen ausgewachsen und sein Gesicht war so grün und knorrig wie die Rinde eines uralten Baums.

Der Druide war kein böswilliger Mensch, aber er war vollkommen überzeugt, dass er immer und mit allem, was er tat, recht hatte und dass deshalb alle anderen unrecht hatten. Im Laufe der Zeit kann das aus einem sanftmütigen Menschen einen bitteren Menschen machen, denn je älter man wird, desto stärker braut sich so etwas zu einem sauren, giftigen Gebräu zusammen. Und so blitzten die schmalen Augen wütend in seinem runzligen Rindengesicht, als er den König der Zauberer voller Selbstgerechtigkeit anstarrte und sich die knorrigen Klauen voller Eifersucht um seinen Zauberstab klammerten.

»Es bereitet mir keine Freude, Xar hier einzusperren!«, blaffte der Kerkermeister den König der Zauberer an. »In den zwei Wochen, seit er hier ist, hat Euer verfluchter Sohn den Alltag in meiner Anstalt völlig durcheinandergebracht! Zum Beispiel hat er dem Großen Heulenden Haarigen Hirschoger ein paar Schwanzhaare abgeschnitten, während der friedlich in seiner Zelle schlummerte, und selbst jetzt, fünf Tage danach, jammert der Hirschoger immer noch so laut, dass nachts im ganzen Westturm niemand mehr schlafen kann!«

»Ah!«, sagte Encanzo nachdenklich. »Ist dies das leise Stöhnen, das man aus der Ferne hört?«

»Das hab’ ich nicht ohne Grund gemacht!«, zischte Xar seinen Gefährten zu. »Ich brauchte die Schwanzhaare als Bart für meine absolut narrensichere Tarnung als Großfuß-Soldat!«

»Niemand wird dich mit einem Großfuß-Soldaten verwechseln, Xar!«, wandte Kaliburn ein. »Großfuß-Soldaten sind mindestens sechs Fuß groß!«

»Das war tatsächlich ein kleiner Fehler in meinem absolut narrensicheren Plan«, gab Xar zu.

Es war nicht der einzige Fehler. Denn das Winterfell der Haarigen Hirschoger hat eine sehr hübsche nachtblaue Färbung. Xar war deshalb schon nach fünf Minuten wieder gefangen genommen worden, weil die Druidenwärter genau wie Kaliburn der Meinung waren, dass es keine Großfüße gab, die nur fünf Fuß groß waren und einen leuchtend blauen Bart hatten.

Der Druidenkommandant redete sich immer mehr in Rage, als er die lange Liste von Xars Vergehen aufzählte:

»Und dann, aus schierer Boshaftigkeit, schüttete er meinen Wärtern Juckpulver in die Unterhosen … und er stahl einem Gefängniswärter den Kapuzenumhang und warf ihn in die Höhle der Vampirhunde … und er warf die stinkenden Socken eines Rogerschnüfflerwärters in den Frühstückshaferbrei, sodass der Brei widerlich nach faulen Eiern schmeckte …«

»War alles nur Zufall oder Missverständnis«, flüsterte Xar am Fenster.

»Und dann, aus einem verbrecherischen Trieb heraus, bestrich er die Stühle des Hohen Druidenkommandostabs mit Leim, sodass sie darauf festklebten, als sie arglos und friedlich beim Abendessen saßen! Das war ein unverzeihliches, unerklärliches, unentschuldbares Fehlverhalten!«

Dieser letzte Zwischenfall hatte den Druidenkommandanten besonders verärgert, denn er war ein Mann von großer Würde, dem es deshalb nicht im Geringsten gefallen hatte, die Krankenstation mit einem am Hintern klebenden Stuhl aufsuchen zu müssen. Der Kommandant hatte zwar einen weiten Mantel darübergeworfen, aber es war eben ein ziemlich großer Stuhl gewesen. Die Rogerschnüffler, die immer noch bis zu den haarigen Ohrspitzen voller Fluchzaubertrank waren, hatten ein paar sehr spöttische Bemerkungen losgelassen, über die sich der Kommandant immer noch grün und blau ärgerte, sobald ihm der Vorfall wieder in den Sinn kam.

»Das war ziemlich komisch«, gestand Xar seinen Gefährten und musste bei der Erinnerung daran grinsen, »aber auch das passierte eher aus, äh, Versehen! Wer mich einsperrt, muss eben damit rechnen, dass ich zu fliehen versuchen werde!«

»Alles, was Ihr mir geschildert habt, ist nichts weiter als Xars üblicher Ungehorsam«, erklärte Xars Vater Encanzo, sichtlich erleichtert. »Ich stimme Euch zu, dass so etwas natürlich ärgerlich sein kann, und Xar hätte längst aus solchen Lausbubenstreichen herauswachsen sollen, aber nichts an seinem Verhalten ist wirklich bösartig. Er hat nur genug davon, hier eingesperrt zu sein, und das kann ich ihm nicht zum Vorwurf machen, um ganz offen zu sein.«

»Ich habe eine Besserungsanstalt zu leiten«, widersprach der Druide schmallippig. »Ich kann nicht zulassen, dass Euer Sohn ständig die Anstaltsordnung stört. Er stellt eine ernsthafte Gefahr für die gesamte Gemeinschaft der Zauberer dar.« Der Kommandant stand auf. »Aber ich werde Euch beweisen, dass er hier vollkommen in Sicherheit ist. Kommt hierher, bitte …«

Überall an den Wänden des Druidengemachs hingen riesige Spiegel, aber es waren keine normalen Spiegel. Man sah darin sämtliche Zellen der Burg. Der Druidenkommandant konnte deshalb immer genau beobachten, was in der gesamten Gefängnisanstalt vor sich ging.

Der Druide wies auf einen der Spiegel, der sofort wie von Wasserdampf trüb wurde, dann wurde er langsam wieder klarer und das Bild einer kleinen Zelle im Hochsicherheitstrakt wurde sichtbar.

»Leer«, kommentierte Encanzo, der König der Magier trocken.

Und in der Tat: Die Zelle war leer.

Fassungslos starrte der Druidenkommandant auf die leere Zelle. »Das … das verstehe ich nicht!«, sagte er. »Das ist definitiv Xars Zelle. Wo um alles in der Welt steckt er nur?«

»Ich dachte, das hier sei das allersicherste Hochsicherheitsbesserungsgefängnis im ganzen Wilderwald?«, blaffte Encanzo den verdatterten Anstaltskommandanten an. »Wollt Ihr mir etwa sagen, dass Ihr meinen dreizehnjährigen Sohn irgendwie verlegt habt?«

»Das ist … höchst ungewöhnlich … «, stammelte der Druidenkommandant betreten und blinzelte nacheinander sämtliche Spiegel an, die daraufhin kurz beschlugen und dann den Blick in eine Zelle nach der anderen freigaben, und in jeder einzelnen saßen oder lagen die Gefangenen – Oger, Schwarzweiblein, Rachegeister … aber nirgendwo war auch nur eine Spur von Xar zu sehen. »Aber natürlich muss es dafür eine vollkommen normale und vernünftige Erklärung geben. Bestimmt haben ihn die Wärter woandershin gebracht, ohne es mir zu sagen …«

»Ach du meine Güte!«, höhnte Encanzo. »Das ist nicht gerade ein Beweis, dass diese Anstalt streng geführt und straff organisiert ist, oder? Ein Fall jämmerlich schlechter Kommunikation zwischen der Anstaltsleitung und den Wärtern, würde ich sagen. Ich frage Euch noch einmal, Kommandant: Wo. Ist. Mein. Sohn?«

»Hier bin ich!«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Als sie sich nun seeehr laaangsam umdrehten …

… stand da Xar vor ihnen.

Er wurde begleitet von einem sieben Fuß großen Werwolf, der direkt neben dem Schreibtisch stand. Über Xars Kopf surrten seine Elfen und ein ausgesprochen schuldbewusst aussehender Kaliburn flatterte unter der Decke herum.

Und Xar hielt alle drei Zauberstäbe in der Hand, die die Zauberer unklugerweise auf dem Tisch hatten liegen lassen, als sie vor die Spiegel getreten waren.

In der Elfensprache gibt es ein recht zutreffendes Wort für den Gesichtsausdruck, mit dem der Druidenkommandant, Encanzo und Xars Bruder Xar in diesem Augenblick anstarrten.

Das Elfenwort lautet »glubschglotzig«. Also total »flunderäugig« und »schlabberbaff«, um es genauer auszudrücken.

HAB’ ICH SCHON ERWÄHNT, DASS EINE FLUCHT AUS GURMENKRAG UNMÖGLICH IST?

»Hallo, Vater«, sagte Xar ein bisschen trotzig, weil er sich darüber ärgerte, dass er immer noch ein wenig zitterte, wenn er seinem Vater gegenübertrat.

»Hallo, Xar«, entgegnete der Große Zauberer ruhig. »Wir haben dich gesucht und schon bist du da … Was tust du hier?«

»Ich breche aus«, erklärte Xar ernsthaft.

»Es ist absolut unmöglich, aus Gurmenkrag auszubrechen!«, brauste der Druidenkommandant auf.

Weder Xar noch Encanzo beachteten ihn.

»Wenn du gerade ausbrichst«, sagte der König der Zauberer nachdenklich, »was hast du dann hier in diesem Raum zu suchen? Ich würde doch denken, dass man nicht unbedingt in das Zimmer des Kerkerkommandanten spazieren sollte, wenn man aus einem Kerker ausbrechen will?«

»Ganz genau meine Rede!«, warf Kaliburn ein und nickte nachdrücklich.

»Ich schlage vor, dass du zuerst einmal die Zauberstäbe auf den Tisch legst«, fuhr Encanzo fort, »damit wir vernünftig miteinander reden können. Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?«

Denn Xar sah ein bisschen erschüttert aus, sogar richtig erschöpft. Sein wirres Haar, das normalerweise in alle Richtungen vom Kopf abstand, lag flach und matt auf dem Kopf und er wirkte fast verzweifelt, nicht wie sonst unbekümmert und frech. Nein – er sah aus wie ein Dreizehnjähriger, dem gerade klar wird, dass er sich wieder mal eine Menge Probleme eingebrockt hatte.

Der Große Zauberer fuhr zum Gefängniskommandanten herum und blaffte ihn an: »Was habt ihr Druiden mit ihm gemacht? Wie könnt Ihr es WAGEN, den Sohn eines Königs so schlecht zu behandeln?«

»Fragt ihn doch selbst, was er angestellt hat, dass wir ihn hier einsperren mussten!«, fauchte der Druidenkommandant zurück. »Dann werdet Ihr begreifen, warum wir ihn so behandeln mussten! Los, macht schon, fragt ihn!«

»Warum haben sie dich hier eingesperrt, Xar?«, fragte Encanzo ruhig.

Aber Xar wollte nicht antworten.

Er konnte seinem Vater nicht einmal in die Augen schauen. Er spürte, dass er rot anlief.

»Du willst deinem Vater nicht die Wahrheit sagen, stimmt’s?«, schnaubte der Kommandant höhnisch. »Was denn … schämst du dich etwa?«

Xar packte die Zauberstäbe noch fester. »Sagt es ihm nicht!«, flehte er.

»Er ist hier«, brüllte der Druidenkommandant, »weil er Hexenmagie angewandt hat!«

Danach herrschte erst einmal betroffenes Schweigen.

»Ist das wahr?«, fragte der Große Zauberer und es war genauso schlimm, wie Xar befürchtet hatte. Die Stimme seines Vaters klang sehr, sehr enttäuscht.

Unglücklicherweise war es die reine Wahrheit.

Zauberer werden nicht mit Zauberkraft geboren; sie stellt sich von selbst ein, wenn sie ungefähr zwölf Jahre alt werden. Xar war aber schon dreizehn und die Magie hatte sich bei ihm noch nicht eingestellt. Das war hochgradig peinlich, vor allem für einen Jungen wie Xar, der sehr viel Stolz besaß. Der Sohn eines Königszauberers – ein Junge ohne Zauberkraft? Unvorstellbar!

Deshalb hatte Xar vor ungefähr einem halben Jahr aus reiner Verzweiflung versucht, sich die fehlende Zauberkraft selbst zu beschaffen.

Und was er getan hatte, war nicht nur verzweifelt gewesen, sondern auch dumm und gefährlich.

Er hatte sich mit voller Absicht Hexenblut in die Hand geritzt, damit es sich mit seinem eigenen Blut vermischte, und seither konnte er Hexenmagie anwenden.

Doch seitdem war auf seiner rechten Hand ein verräterisches grünes Kreuz zu sehen, das die Stelle markierte, an der das Hexenblut eingedrungen war. Xar hatte es zwar geschafft, das Schandmal eine Weile zu verbergen, aber die Druiden hatten ihre eigenen Methoden, um herauszufinden, ob gewisse Leute dunkle Magie anwendeten, und hatten deshalb Xar aus dem Lager der Zauberer entführt, während sein Vater abwesend war.

»Da! Er versteckt hinter dem Rücken die Hand, auf der sich ein Hexenfleck befindet, mit dem er dunkle Magie ausübte, obwohl das strengstens verboten ist!«, erklärte der Druidenkommandant. »Übrigens bin ich doch sehr überrascht, dass Ihr, ein fast allmächtiger Zauberer, nicht bemerkt haben wollt, dass Euer eigener Sohn dunkle Magie ausübte, sozusagen direkt unter Eurer Nase …«

Ja, in der Tat: Warum hatte es Xars Vater nicht bemerkt?

Nun, die Wahrheit ist: Eltern wollen es manchmal nicht wahrhaben, dass ihre Kinder etwas ganz Schlimmes getan haben könnten, selbst dann nicht, wenn es ganz offensichtlich ist, was sie getan haben.

»Zeig mir deine Hand«, befahl Encanzo, obwohl ihm schon ein Blick in Xars schuldbewusstes Gesicht zeigte, dass der Kommandant die Wahrheit sprach.

Xar schwang die Hand nach vorn, um die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, und zog den Handschuh aus, den er trug, um den Hexenfleck zu verbergen.

»Ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte Xar hoffnungsvoll.

Encanzo war geschockt, er erstarrte förmlich und seine verschwommenen Umrisse bebten und pulsierten mit wütender Energie.

Denn Xars Hand bot einen grausigen Anblick.

Sogar die Elfen zischten vor Entsetzen, als sie seine Hand sahen, und der kleine Flatterkopf machte sich zitternd so klein wie möglich.

»Armer, armer Xar«, flüsterte Flatterkopf.

Denn der grüne Hexenfleck hatte sich über Xars Hand ausgedehnt, war über sein Handgelenk den Arm hinaufgekrochen und breitete sich noch immer weiter aus – wie ein schleichender Bluterguss oder wie wucherndes Efeu, das sich langsam um den Stamm eines Baums windet und ihn allmählich zu erdrosseln droht.

Ja wirklich: armer Xar.

Das war eine harte Strafe für den kurzen Augenblick des Irrsinns, damals im mitternächtlichen Wald.

»Von all den Dummheiten, die du schon getan hast, Xar«, sagte Encanzo scharf, »ist das ohne jeden Zweifel die größte.«

»Hab’ ich es dir nicht gesagt, Vater?«, mischte sich nun Xars älterer Bruder Robb voller Schadenfreude ein. »Ein Zauberer ohne Zauberkraft, der nun die Magie einer Hexe benutzt! Er ist eine Schande für unsere Familie! Kein Wunder, dass ihn die Druiden einsperrten!«

Xar spürte, dass er vor Scham rot anlief, und schon stiegen ihm erste Tränen in die Augen.

»Das war doch nur, weil meine Zauberkraft noch nicht gekommen ist!«, erklärte er. »Du hast keine Ahnung, Vater, wie schlimm sich das anfühlt, ohne Magie aufzuwachsen, wenn alle anderen sie längst besitzen!«

»Oh, Xar«, seufzte der König der Zauberer und schüttelte den Kopf. Doch gleichzeitig verspürte er wachsende Wut. Warum musste ihn Xar immer in derart unangenehme Situationen bringen? Da war er den ganzen Weg hierhergereist, um Xars sofortige Entlassung aus dem Kerker zu verlangen, nur um jetzt feststellen zu müssen, dass die Druiden den Jungen aus vollkommen verständlichen Gründen eingesperrt hatten.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du diese Art Magie besitzt? Ich hätte dir helfen können, sie wieder loszuwerden!«, sagte Encanzo, wobei sich seine Augenbrauen unheilvoll zusammenzogen. »Und was ist mit dir, Kaliburn? Und mit dir, Ariel? Warum hat mir keiner von euch davon erzählt?«

Kaliburn sah sogar noch schuldbewusster aus als Xar. »Der Junge vertraut uns«, antwortete er. »Wir können ihn nicht verraten.«

»Außerdem hast du uns zu Xars Beratern gemacht, nicht zu seinen Wächtern«, zischte Ariel, flog schützend über Xars Schulter und fletschte die Zähne gegen den König der Zauberer.

Encanzo lief rot an vor Wut. »Ich jedenfalls habe ihn nicht ins Gefängnis gebracht!«

»Dankt den Göttern, dass wir ihn ins Gefängnis gesteckt haben!«, rief der Druidenkommandant. »Dieser Junge ist eine ernste Gefahr für die Gemeinschaft der Zauberer, und solange wir die dunkle Magie nicht beseitigt haben, die er gestohlen hat, darf er auf keinen Fall freigelassen werden.«

»Aber warum helft ihr mir nicht einfach, die Hexenblutmagie beherrschen zu lernen? Ich könnte sie meinem Willen unterwerfen, wenn ihr mir zeigt, wie das geht … sie funktioniert nämlich ganz prima.«

»Es ist nahezu unmöglich, Hexenblutmagie zu beherrschen«, antwortete der Kommandant. »Und erst recht nicht durch einen eigensüchtigen, unberechenbaren Jungen wie dich …«

»Er ist erst dreizehn!«, protestierte Encanzo. »Wart Ihr nie jung und manchmal ein wenig töricht, Kommandant? Habt Ihr nie einen Fehler gemacht und ihn später bereut?«

»Ich war einst jung, aber niemals töricht«, erklärte der Kommandant würdevoll und kniff verbittert die Lippen zusammen.

Xar wandte sich an seinen Vater.

»Es tut mir leid, Vater, ich wollte nicht, dass das passiert.

Und dass ich mir dunkle Magie angeeignet habe, tut mir auch leid. Und es tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe. Überhaupt tut mir alles leid, wirklich sehr, sehr leid …« Xar ließ traurig den Kopf hängen, denn er meinte es wirklich ernst.

Aber Xar konnte nicht lange traurig sein.

Schnell hellte sich sein Gesicht wieder auf und er rief eifrig: »Aber ich verspreche dir, dass ich alles wieder in Ordnung bringen werde! Und ich werde dafür sorgen, dass du wieder RICHTIG STOLZ auf mich sein kannst!«

»Ich bin doch schon stolz auf dich!«, sagte Encanzo, der sich jetzt erst richtig Sorgen zu machen begann. »Na gut, manchmal bin ich vielleicht ein wenig frustriert … oder wütend … Aber was planst du denn nun schon wieder?«

»Ich werde alles wieder in Ordnung bringen«, wiederholte Xar. »Zuerst werde ich hier aus dem Besserungskerker ausbrechen und dann ganz allein die Hexen vernichten und dadurch werde ich auch den Hexenfleck wieder los.«

Die Ankündigung löste verblüfftes Schweigen aus. Encanzo unterdrückte mühsam ein Lachen.

Aber Robb versuchte es nicht einmal.

Robb war nicht nur viel größer als Xar, sondern sah auch gut aus, war clever und schlau und überhaupt in allem besser als Xar, einschließlich der Zauberkunst.

»Ach, komm schon, kleiner Bruder!«, lachte Robb höhnisch. »Das schaffst du nun wirklich nicht!«

»Warum nicht?«, fragte Xar streitlustig.

»Weil du nur ein dummes kleines Kind bist!«, schnaubte Robb verächtlich. »Das hat alles mit deiner blöden Einbildung zu tun, du seist irgendein bescheuerter Schicksalsjunge.«

»Ich BIN der Schicksalsjunge!«, schrie Xar und boxte in die Luft.

Darüber mussten Robb und der Druidenkommandant noch mehr lachen und jetzt ließ sich auch Encanzo von ihrem Gelächter anstecken.

»Nein, nein, bitte nicht lachen!«, flehte Kaliburn und schlug die Flügel über die Augen. »Denkt an Xars Würde! Bitte lacht nicht, Encanzo!«

»Dein Ehrgeiz ist lobenswert«, sagte Encanzo und unterdrückte hastig sein Gelächter. »Es beeindruckt mich, dass es dir wirklich leidtut, Xar, und dass du die Sache wieder in Ordnung bringen willst. Das ist ein Zeichen, dass du endlich erwachsen wirst. Aber überlasse das mir, ich werde die Sache für dich wieder in Ordnung bringen, ich werde versuchen, die Hexen zu vertreiben. Und nun gib mir die Zauberstäbe.«

Ruhig streckte Encanzo die Hand aus.

Xar zögerte.

»Du willst also die Hexen vertreiben?«, fragte er misstrauisch.