Wildes Kristall - Rainer König - E-Book

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Rainer König

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Beschreibung

Er hatte von der Prozedur gehört: Ausreißen der Fingernägel, wahlweise als Bestrafung oder als Mittel, ein Geständnis zu erzwingen. Die Augen weit aufgerissen, setzte er zu einem herausgeschrienen Geständnis an. Doch der Vietnamese hatte ihm schon den Lappen in den Mund gestopft. Wer ist der Tote auf dem Scherbenhaufen im Selber Osten? Eine Spur führt ins benachbarte Eger. Als dann Jana,tschechische Gastschülerin am Walter-Gropius-Gymnasium, entführt wird, beginnt eine dramatische Suche nach dem Mädchen, an der sich auch ihr Pflegevater, Major Josef Brückner, und der deutsche Lehrer Jan Kral beteiligen. In einem Swinger Club, auf einem Asia-Markt und in einem baufälligen Schloss stoßen sie auf die Drogenbarone und ihre willigen Helfer, die weder vor Entführung noch vor Folter zurückschrecken. Bald wird klar, dass ihr Einfluss sogar bis nach Selb reicht. Die Leser bekommen in diesem packenden Krimi einen authentischen Einblick in die Crystal-Meth-Szene des Grenzlandes und werden sowohl mit Tätern als auch mit Opfern konfrontiert. Letztendlich wird auch die Frage beantwortet, warum der Kampf gegen die Droge nicht zu gewinnen ist

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Inhalte

Neuer Artikel

Rainer und Birgit König
WILDES KRISTALL
Krals fünfter Fall
Über die Autoren:
Rainer König, Jahrgang 1943, ist in Mittelfranken aufgewachsen. Nach sechs Jahren Seefahrt bei der Handelsmarine holte er das Abitur nach und studierte in Erlangen Germanistik, Geschichte und Geografie. Als Gymnasiallehrer kam er nach Selb, wo er seit 1978 lebt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Tochter Birgit König ist 1979 in Selb geboren. Nach dem Abitur ging sie zum Zoll. Seit 2003 arbeitet sie in Frankfurt am Main im Ermittlungsdienst. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt bei Gelnhausen.
Die Königs haben inzwischen sechs Romane vorgelegt:
   •   Wilder Mann, 2008
   •   Wilde Grenze, 2010
In Tschechien unter dem Titel Divocá hranice 
erschienen
   •   Wildes Erwachen, 2012
   •   Wilde Visionen, 2014
   •   Limes – Zeit der Abrechnung, 2014
   •   Wildes Kristall, 2016
Mehr über die Autoren:
www.rabiko-autoren.de
Die Handlung ist - fast - frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen
sind rein zufällig.
Prolog
Kopfschmerzen quälten ihn, sein Mund war völlig ausgetrocknet und er hatte das Gefühl, er müsse jeden Moment loskotzen. Er versuchte sich aufzurichten, aber der einsetzende Schwindel ließ seinen Kopf wieder auf das nassgeschwitzte Kissen sinken. Nichts hören, nichts sehen, nur schlafen! Wenn nur dieser verdammte Brand nicht wäre!
Er schob den linken Arm über die Matratze, um den Fußboden zu erreichen. Da musste doch eine Flasche Mineralwasser stehen! Die Hand tastete sich suchend voran. Was war das? Ein Schuh? Ein komischer Schuh! Wie festgenagelt auf dem Boden! Er drehte sich nach links, um einen Blick auf den Teppich zu werfen. Schemenhaft erfasste er seine Umgebung. Wichtiger als dieser komische Schuh war zunächst die Flasche. Verdammt, wo ist dieses beschissene Wasser?
Aber sein verschwommener Blick traf nur ein Paar Schuhe, zu denen Beine gehörten, zwei Beine in einer Jeans. Bin ich jetzt schon hirngefickt?, dachte er und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Doch da stand tatsächlich eine Gestalt, die ihm riesengroß erschien.
Das musste diese deutsche Sau sein, Ludmilas neuer Stecher, mit dem sie ihm gedroht hatte. Er ließ sich auf das Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Nur kein Zoff jetzt! »Ich gähä«, brabbelte er, »gib mir halbä Stundä, dann ich wäg.«
»Ahoj, Marek, du gehst, wenn wir das sagen!« Die Ansprache auf Tschechisch irritierte ihn und brachte ihn ein Stück näher an die Wirklichkeit. Er raffte sich auf, um die Besucher genauer in Augenschein zu nehmen: Den Kerl, der ihn angesprochen hatte, kannte er nicht. Aber das Schlitzauge, das neben ihm stand, versetzte ihn in Panik: Der sah aus wie dieser vietnamesische Wurzelzwerg, dem Pavel mit seinem Schlagring ein Ding verpasst hatte, um an den Stoff zu kommen. Klar, das war er! Wie wäre der sonst an die dicke Lippe gekommen?
Cool bleiben! Aber wie denn, du Idiot? Die merken doch, dass dir der Arsch auf Grundeis geht: Du schwitzt wie ein Schwein und kannst kaum sprechen, weil dir die Zunge im Mund festklebt.
»Was wollt ihr?«, stammelte er krächzend.
Die Antwort kam von dem Vietnamesen: »Nur das Scheinchen, das uns zu unserem Eigentum führt. Wir wissen genau, dass du es hast. Deine beiden Kumpels haben kräftig gesungen.«
Eigentlich wollte er die verächtliche Tour probieren, etwa so: »Die haben euch ganz schön verarscht!«, aber ihm gelang nureinheftiges Kopfschütteln und die eher gelallte Versicherung, er habe nichts versteckt.
Das Lachen der beiden zeigte ihm, dass sie ihm das nicht abnahmen. Er ließ sich zurücksinken. Verdammt, ich muss denen was anbieten! Lügen, was das Zeug hält! Nur was? Was? Aber schon merkte er, dass ihm keine Zeit mehr blieb: Das Schlitzauge ging zu seiner Linken auf die Knie und ein dreckiger Lappen näherte sich seinem Mund. Der glatzköpfige Riese zur Rechten hantierte mit einer Zange und griff nach seiner linken Hand.
Er hatte von der Prozedur gehört: Ausreißen der Fingernägel, wahlweise als Bestrafung oder als Mittel, ein Geständnis zu erzwingen. Die Augen weit aufgerissen, setzte er zu einem herausgeschrienen Geständnis an. Doch der Vietnamese hatte ihm schon den Lappen in den Mund gestopft.
Er spürte den kalten Stahl an seiner Hand. Seine Panik erfuhr jetzt eine weitere Steigerung, denn er verspürte einen höllischen Schmerz in der Brust. Ihm war, als bohre sich die Pranke des Schlächters in seinen Brustkorb, um dann zu heftigen Drehbewegungen anzusetzen. Sein Aufbäumen war ein verzweifelter Versuch, Luft in die Lunge zu bekommen. Aber so schnell der Schmerz gekommen war, so schnell nahm er auch sein Ende. Zu dem warmen Gefühl zwischen den Oberschenkeln kam jetzt auch eine tiefe Zufriedenheit: Sie geben mir noch eine Chance!
»Verdammt, hör auf! Siehst du denn nicht, dass der uns abnippelt!«
»Schauspielerei! Ich hab noch nicht einmal den einen Nagel richtig raus!«
»Schluss, sag ich! Schau doch selbst! Der atmet doch nicht mehr! Außerdem fühle ich keinen Puls!«
»Scheiße! Was jetzt?«
»Na, den Zettel suchen!«
»Und dann?«
»Uns wird schon was einfallen!«
1
Kral hatte sich für die „Vasa“ entschieden. Natürlich hätte er sich auch den Hafenschlepper „Greif“, den Fischkutter „Möwe“ oder die „Gorch Fock“, das Segel-schulschiff der Bundesmarine, vornehmen können.
Die schwedische Galeone war unzweifelhaft eins der prächtigsten Kriegsschiffe, das je eine Werft verlassen hatte. Dass der Kahn schon kurz nach dem Stapellauf am 10. August 1628 den Kriegsdienst verweigerte, indem er sich stark zur Seite neigte und kurz darauf in der Bucht von Stockholm versank, war wenig erfreulich, schadete aber in keinster Weise seiner Verehrung als maritimes Weltwunder. Wie sonst wäre die „Vasa“ zum großen Verkaufsschlager des Modellschiffbaus aufgestiegen.
Diese Wertschätzung spielte für Kral absolut keine Rolle. Für ihn war entscheidend, dass der Bausatz im Maßstab 1:150 aus Plastik war und sein Zusammenbau kein allzu großes handwerkliches Geschick verlangte. Außerdem hatte diese Variante den Vorteil, dass schon vor Jahren gewisse Vorarbeiten geleistet worden waren. Die mochten gut und gerne zehn oder fünfzehn Jahre zurückliegen. Damals hatte er sich meistens vor den Weihnachtsferien ein Schiffsmodell zugelegt, um sich in der „staden Zeit“ quasi spielerisch in längst vergangene Seefahrtszeiten zu versetzen. Er hatte allerdings einige Jahre gebraucht, um einzusehen, dass ihm fast alle Voraussetzungen zum erfolgreichen Modellbauer fehlten, nämlich das passende Handwerkszeug, Geschick, Geduld und vor allem Zeit, denn so ein Modell lässt sich eben nicht in gerade mal vierzehn Tagen zusammen-zaubern.
Eigentlich war Kral der Meinung gewesen, dass Eva diese in verschiedenen Pappkartons gelagerten Schiffs-Einzelteile schon längst entsorgt hatte. Aber kurz nach seiner Pensionierung fanden sich die Bausätze auf dem Esstisch des Wohnzimmers, allerdings in einem Zustand, der mit dem Prädikat „sehr ungeordnet“ treffend beschrieben war. Evas Botschaft: »Ich hab dir mal die Dinger vom Dachboden geholt«, interpretierte Kral als fürsorgliche Maßnahme, denn er verfügte ja nach seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst, womit auch die Abordnung an das Gemeinsame Polizei- und Zollzentrum ihr Ende fand, über gewaltige Zeitreserven, die verbraucht werden wollten. Gewiss, er hatte beschlossen, wieder mehr zu lesen und ausgedehnte Spaziergänge zu unter-nehmen. Aber Eva hatte eben einen Schritt weiter gedacht, indem sie der Meinung war, dass im Ruhestand auch ein kreatives Hobby nicht fehlen sollte. Dass für Kral allerdings der Modellbau nicht in Frage kommen würde, hätte sie aber ahnen können, denn ihr war bekannt, dass ihr Mann mit zwei linken Händen gesegnet war.
Kral war gerade dabei, den Inhalt des „Vasa“-Kartons genauer unter die Lupe zu nehmen, um die noch aus-stehenden Arbeitsschritte zu planen. Schließlich hatte er vor, zumindest dieses Modell fertigzustellen. Die anderen unvollendeten Werke konnte er dann irgendwann wieder auf dem Dachboden verschwinden lassen.
Das Klingeln des Telefons unterbrach sein eher lustloses Tun. Erster Hauptkommissar Schuster war am Apparat. Nach einem kurzen »Grüß dich!« kam er sofort zum Thema: »Mir homm a Leich, dou in Söll!« Diese fast überfallartige Eröffnung, verbunden mit der Verwendung des Dialekts, zeigte, dass der Hofer Polizist, der allerdings im benachbarten Schönwald sein Zuhause hatte, nicht gut drauf war.
Was geht das mich an, dachte Kral, wenn dem eine Laus über die Leber gelaufen ist? Ein bisschen verbindlicher könnte er sich schon zeigen! Seine eigene Reaktion fiel dann auch nicht gerade freundlich aus: »Karl, ich weiß jetzt nicht, ob ich dir mein Beileid aussprechen oder ob ich dich beglückwünschen soll. Aber abgesehen davon: Dir sollte bekannt sein, dass ich vor ein paar Tagen in den Ruhestand gegangen bin und damit auch nicht mehr im GPZ mitspielen darf. Abordnung geht ja jetzt nicht mehr.«
»Scho, owwer«, Schuster stockte und bequemte sich, ins Hochdeutsche zu wechseln: »Wir haben da ein Problem.«
»Welcher Art?«
Kral erfuhr, dass bei dem aufgefundenen Toten keinerlei Unterlagen gefunden worden seien, die auf seine Identität verwiesen. Bloß auf einen Zettel in tschechischer Sprache sei man gestoßen, »klar erkennbar das Logo einer Firma, eine Art Seriennummer, ein Datum und die Ortsangabe ‚Cheb‘. Vielleicht hat der Mann etwas in die Reparatur gegeben und es ist so etwas wie ein Abholschein.«
»Karl, darf ich dich auf den kurzen Dienstweg verweisen? Ich ahne zwar, dass das ein gewisser Politiker gar nicht gerne sieht. Aber der Josef könnte doch mal ganz zufällig einen Blick auf deinen Zettel werfen.«
Die Antwort »Du auch!« kam ziemlich trotzig daher.
Kral gab sich zögerlich: »Ich weiß jetzt nicht so recht, ob ich mich da ...«
Schuster fiel ihm hart ins Wort: »Kinnst etz her odder niat?«
Eigentlich unverschämt, dachte Kral, mich so anzu-raunzen! Aber irgendwie sah er auch sich selbst in der Verantwortung: Ein bisschen kooperativer hätte ich mich schon zeigen können! Er entschied sich für Deeskalation: »Ich komme! Wo treffen wir uns?«
»‚Hoferdeck‘ oder offiziell ‚Hafendecke‘. Du fährst über den ...«
»Kenne ich, gleich daneben ist doch auch die Feuerwehr.«
»Also dann, bis gleich!«
»Langsam reiten, Karl! Meine Frau ist noch fest im Arbeitsleben verankert, wie du vielleicht weißt. Und damit verfüge ich im Moment über kein Auto.«
Zehn Minuten später stand ein Streifenwagen vor seinem Haus, der ihn in das Stadtviertel transportierte, wo einst diverse Hinterlassenschaften der Porzellanindustrie entsorgt worden waren. Die Selber, bekannt für ihre griffigen Wortfindungen, hatten den durchaus ansehnlichen Hügel auf den Namen „Schermhaff’m“, also Scherbenhaufen, getauft.
Obwohl bereits einige Ermittler ihre Arbeit beendet hatten, war ein gutes Dutzend Zuschauer noch nicht bereit, das Feld zu räumen, denn jetzt war ein Vorgang zu beobachten, der noch einmal geeignet war, die Sensationslust zu bedienen: Die beiden Angestellten eines Beerdigungsunternehmens waren damit beschäftigt, den Sarg mit dem Opfer in Richtung des Leichenwagens zu tragen, um ihn dann in seinem Inneren zu verstauen.
Als Schuster den Lehrer wahrnahm, stapfte er, finster blickend, auf ihn zu.
»Hallo, Karl«, begrüßte ihn Kral, »warum schaust du denn gar so verdrießlich drein?«
Schuster zuckte mit den Schultern. »Ach, Jan, wenn du wüsstest! Morgen will ich in Urlaub gehen und jetzt habe ich einen Toten an der Backe, der sich nicht identifizieren lässt. Und dann gibt es auch noch eine Spur in die Tschechei!«
»Nach Tschechien!«, verbesserte ihn Kral.
»Wenn’sd moinst! Aber das macht die Sache auch nicht besser. Das zieht sich doch wieder!«
»Aber du kannst den Fall doch sicher abgeben?«, spekulierte Kral.
Schuster zwang sich einen verächtlichen Lacher ab: »Schön wär’s! Hätte ich eine Flugreise gebucht, dann wär das vielleicht machbar. Aber mein Chef weiß leider, dass ich nicht wegfahre! Und was das heißt, könntest du eigentlich ahnen. Aber kommen wir zum Fall!« Er holte eine gefaltete Plastikfolie aus seiner Jackentasche. »Also: Die Todesursache ist nicht eindeutig festzustellen: Wir wissen nur mit Sicherheit, dass man dem Mann einen Fingernagel ausgerissen hat. Und die Spurenlage zeigt, dass man ihn hier, wahrscheinlich nach seinem Tod, entsorgt hat. Der oder die Täter haben wahrscheinlich damit gerechnet, dass ihn auf diesem Scherbenhaufen so schnell niemand findet. Man wird also von gewissen Ortskenntnissen ausgehen können. Dass da ein Dackel den richtigen Riecher haben könnte, das kam ihnen wohl nicht in den Sinn. Wie gesagt, keine Papiere!« Jetzt überreichte er Kral die Folie: »Den Zettel hat das Opfer, wie ich annehme, gut versteckt, nämlich in dem kleinen aufgenähten Täschchen in der rechten Seitentasche seiner Jeans. Du weißt, was ich da meine?«
Kral nickte und nahm sich die Folie vor, in der gut sichtbar ein Zettel steckte, der einige Male gefaltet gewesen sein musste. »Aber Karl!«, lachte er, »Das Logo solltest du schon kennen, außerdem steht da doch auch klar und deutlich ‚České dráhy‘, was nichts anderes heißt als ‚Tschechische Bahnen‘.«
Schuster zuckte leicht verschämt mit den Schultern, zeigte sich dann aber doch störrisch: »Trotzdem weiß ich jetzt noch immer nicht, was da sonst noch draufsteht.«
»Also«, begann Kral, »das ist ein Gepäck-aufbewahrungsschein, ausgegeben vom Bahnhof Eger, und zwar am Samstag, dem 28. Juli, also vor acht Tagen. So«, Kral wandte sich der Rückseite zu, »schauen wir mal, was da noch so alles steht: ‚Verwahrung für längstens vierzig Tage‘ und dann«, er überlas den Text, »noch was ganz Wichtiges: ‚Der ausgebende Mitarbeiter der‘ – bla-bla – ‚ist nicht verpflichtet zu prüfen, ob die Person, die den Schein vorlegt, zur Übernahme des‘ – bla-bla – ‚Gepäckstückes berechtigt ist.‘«
»Interessant!«, reagierte Schuster, »hätte nicht gedacht, dass es drüben noch so was gibt!« Jetzt grinste er spitzbübisch: »Heißt doch, dass wir das Teil abholen könnten und dann vielleicht wissen ...«
»Hallo, Herr Schuster!«, dämpfte Kral den Eifer des Hofer Kommissars. »Jetzt begeben Sie sich aber auf dünnes Eis. Ich habe zwar mit Staunen festgestellt, dass du in den letzten Jahren mit zunehmender Energie auf Dienstvorschriften pfeifst, aber jetzt gehst du doch ein bisschen zu weit! Ich denke, es ist an der Zeit, die Sache mit dem Josef zu besprechen.«
»Kein schlechter Vorschlag! Aber«, Schusters sattes Grinsen leitete die deftige Gegenrede ein, »du gäihst irr! Dir sollte nämlich bekannt sein, dass unser tschechischer Freund demnächst in Pension geht und zurzeit seinen Resturlaub nimmt!«
»Gut, das mit der Pension war mir bekannt, aber ...«
»Obber etz woist des!«
Kral nahm den Anpfiff sportlich, beide Kontrahenten hatten ihr Fett abbekommen. Aber das war für ihn kein Grund, jetzt in der Defensive zu verharren: »Aber du weißt, dass er eine Nachfolgerin haben wird, mit der man auch sprechen kann.«
»Du meinst die Frau Dings, die ...« – »... die Aneta Kučerová, richtig!«
Allein die Miene, die Schuster jetzt aufsetzte, zeigte, dass er von der zukünftigen Chefin der Egerer Kripo nicht viel zu halten schien.
»Was hast du gegen die Frau?«, tastete Kral sich an seine Vermutung heran.
»Nichts. Aber ich glaube, die mag mich nicht, außerdem wirkt sie auf mich irgendwie arrogant.«
»Pff, arrogant!« Kral schüttelte lachend den Kopf: »Die Frau ist kein bisschen arrogant, die hat nur ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein.« Und jetzt stach ihn wieder der Hafer: »Kann es sein, dass du solche Frauen nicht magst?«
Schuster funkelte ihn verärgert an und reagierte situationsgerecht: »Oarsch!« Dann folgte, ganz entspannt vorgetragen, die Feststellung: »Du rufst deine Aneta an und teilst mir dann mit, was bei eurem Gespräch rausgekommen ist. Und verschone mich jetzt bitte mit irgendwelchen Ausflüchten!«
Aber Kral hatte gar nicht vor, Gegenrede zu führen, denn schließlich hatte er nun einen triftigen Grund, die Frau zu kontaktieren, die er bewunderte und verehrte.
Bei der Verabschiedung kam natürlich zur Sprache, dass es höchste Zeit sei, sich wieder mal mit Brückner beim Dämmerschoppen zu treffen.
»Aber wir sehen uns ja bald in Eger bei Josefs Verabschiedung«, vertröstete ihn Schuster, »und da wird sich schon die Gelegenheit zu einem zünftigen Umtrunk ergeben.«
Was blieb Kral anderes übrig, als dem Kommissar doch noch einen schönen Urlaub zu wünschen und sich dann wieder nach Hause chauffieren zu lassen.
Noch lagen die zwei Briefe und diverse Werbesendungen, die Kral am Morgen dem Postkasten entnommen hatte, auf dem Küchentisch. Er überließ die Sichtung des eingegangenen Materials in der Regel seiner Frau, denn sie war zuständig für den Schriftkram, der die Familie betraf, und außerdem unterzog sie auch die Werbung einer groben Durchsicht.
Aber der Brief, der obenauf lag, weckte sein Interesse, denn er war in Tschechien, und zwar in Asch, aufgegeben worden. Komisch, dachte er, wer mir von drüben etwas zu sagen hat, der ruft mich doch an! Der Absender lautete: „Detektivní služby s.r.o.“. Was will denn ein tschechisches Detektivbüro von mir? Er öffnete den Brief. Der Text erheiterte ihn, denn das Institut warb mit aufgeblasener Lobhudelei für seine Dienste:
„Das Unternehmen Detektivní služby s.r.o. ist spezialisiert auf die Gewinnung komplexer Informationen und zeichnet sich durch eine hohe Erfolgsquote aus. Die Mitarbeiter verfügen über ausgefeilte rhetorische Fähigkeiten und solide psychologische Kenntnisse, um bei Befragungen und anderen Recherchen ein Höchstmaß an verwertbaren Erkenntnissen zu gewinnen. Die Auftraggeber können versichert sein, dass alle eingeleiteten Maßnahmen jeder juristischen Überprüfung standhalten.“
Dass für dieses Machwerk sein tschechischer Kumpel verantwortlich sein sollte, mochte Kral zunächst nicht so recht glauben. Aber es hatte nun mal ein „Josef Brückner“ unterschrieben, der sich den Titel „ředitel (Direktor)“ zugelegt hatte. Zwar war der Polizist immer für eine Überraschung gut, aber dass sich der Mann einmal als klinkenputzender Privatermittler betätigen würde, hätte Kral nie und nimmer für möglich gehalten. Außerdem hielt er diese unpersönliche Kontaktaufnahme für unpassend: Ein paar persönliche Zeilen hätte ich ihm schon wert sein können!
Einfach so wegstecken oder Protest einlegen, lautete jetzt die Frage. Nachdem er sich eine Kanne Kaffee zubereitet hatte, machte er sich an die „Vasa“. Aber sein Hantieren hatte weder Hand noch Fuß, denn Brückners Brief ging ihm nicht aus dem Kopf. Schließlich erhob er sich und griff kurzentschlossen zum Telefon: Der Freund hatte schließlich Anspruch auf eine Reaktion! Klar, Kritik am Inhalt des Briefes war nicht angebracht. Da würde er aggressiv reagieren. Aber Josef sollte schon wissen, dass ihm dieses Procedere nicht gefiel.
Brückner zeigte sich zunächst überrascht, er wisse auch nicht so recht, wie seine Adresse in den Verteiler gekommen sei. »Dou is wos falsch gloff’n«, betonte er, »obber sunst passt’s doch?«, lautete die tastende Nachfrage. »Ich moin des Schreim, des wou ich dou assagloua ho.«
»Na ja«, reagierte Kral vorsichtig taktierend, »ich hätte das zwar etwas anders gemacht, aber das muss dich nicht jucken. Hauptsache, das Schreiben erfüllt seinen Zweck!«
Schließlich habe er sich einer professionellen Werbeagentur anvertraut, betonte Brückner, die sich auch um den deutschen Markt kümmere, »und dou ho ii halt glabbt, dass däi des scho richtig machen kenna.«
Stutzig machte Kral, dass sich der Major ihm gegen-über des Ascher Dialekts bediente, den er von seinem deutschen Vater übernommen hatte. Dafür hatte es in der Vergangenheit eigentlich nur zwei Gründe gegeben: den Wutausbruch oder, eher selten, den emotionalen Durchhänger. Und Brückner schien wirklich nicht gut drauf zu sein: Er wirkte irgendwie gedrückt, außerdem war ihm seine humorige Art abhandengekommen.
Kral glaubte auch die Gründe zu kennen: Der hoch motivierte Polizist, der viel Herzblut für seine Arbeit hingegeben hatte, wurde aufs Altenteil geschickt. Und jetzt war er gezwungen, seine im Vergleich zu deutschen Beamten kärgliche Rente aufzubessern. Gut, er hatte alle Voraussetzungen für einen Privatermittler. Aber er hatte auch nie ein Hehl daraus gemacht, dass ihm die Gilde zutiefst zuwider war.
Krals Hinweis, dass er ja mal die Absicht geäußert habe, im Ruhestand eine Kneipe aufzumachen, war jetzt eher als Auflockerung gedacht.
Aber Brücker schmetterte den Impuls ziemlich störrisch ab: »Wos intressiert mi mei G’schmarri vo gestern!«
Dem Versuch, den Noch-Chef der Egerer Kripo wieder mal zu einem gemeinsamen Dämmerschoppen mit Schuster in Wernersreuth zu verleiten, war natürlich auch kein Erfolg beschieden: Im Moment fehle ihm einfach die Zeit für solche Sachen.
Und nun folgte ein Hinweis, der Kral aufs Höchste beunruhigte: Man sehe sich ja bei seiner Verabschiedung und anlässlich dieses „Auftriebs“ müsse man sich einmal zusammensetzen. »Ich ho dou a Scheiß-Problem«, fügte er hinzu.
Kral hatte sich wieder der „Vasa“ zugewandt, aber auch diesmal kam er nicht zu Potte. Das Rätselraten brachte ihn auch nicht recht weiter: Welches Problem konnte denn ein knapp 60-Jähriger schon haben? Er ging die verdächtigen Positionen der Reihe nach durch: Schulden, Ehekrise, Depression oder Krebs. Außerdem war bei Brückner auch noch mit dem Einwirken der internen Ermittlung zu rechnen. Schließlich war er vor ein paar Jahren schon mal für eine gewisse Zeit suspendiert worden. Aber gegen diese Annahme sprach, dass in einem solchen Fall nie und nimmer eine offizielle Verabschiedung vorbereitet würde, von der Schuster ja gesprochen hatte. Der Rest war zwar nicht auszuschließen, nur: Stolz und Eigensinn eines Brückner erlaubten es eigentlich nicht, sich eines Beichtvaters zu bedienen.
Der fällige Kontakt mit Frau Kučerová am Nachmittag ergab sich über einen Umweg: In Ermangelung der Durchwahl wandte er sich an die Zentrale der Egerer Staatspolizei und wurde nach der Nennung seines Namens sofort, ohne auch nur im Ansatz sein Anliegen an den Mann bringen zu können, mit Leutnant Pospíšil verbunden, der vermutlich der Offizier vom Dienst war. Der zeigte sich angenehm überrascht und präsentierte die für ihn typische überschwängliche Begrüßung:
»Große Freidä! Der Känig von Deitschland! Ich hoffe, dass sich Hoheit in angenähme Gesundheit befindet! Was gibt mir Ähre?«
Den Hinweis, dass er eigentlich mit Frau Kučerová sprechen wolle, nahm Pospíšil mit einiger Enttäuschung zur Kenntnis: »Sähr schadä! War bei mir Hoffnung, dass Sie wieder machen Kontakt mit Cheb.«
»Na, es wird sich doch ein Ersatz für mich gefunden haben«, gab sich Kral ahnungslos, obwohl er die Information hatte, dass dem GPZ eine Beamtin zugeteilt worden war, die, so war es ihm von Dr. Wohlfahrt vermittelt worden, »eine blendende Beurteilung vorweisen kann und sehr gut tschechisch spricht«.
»Ja, natierlich! Aber ist schwär mit neier Dame, sie bohrt in Knie und spricht tschechisch wie Papagei.«
Kral konnte kaum das Lachen halten, denn er war sich ziemlich sicher, dass Pospíšil diese verunglückte Wendung mit dem Knie nur von Brückner haben konnte, der übereifrige Kollegen gerne als »Knäibohrer« bezeichnete. Und der Vergleich mit dem Papagei schien ihm nicht gerade treffend zu sein.
»Aber Herr Leutnant!«
»Obbrleitnant!«
»Ich bitte um Entschuldigung. Erlauben Sie mir, dass ich zur Beförderung gratuliere?«
»Genähmigt!«
»Also zunächst spricht doch nichts dagegen, wenn eine Beamtin eifrig ist, und das mit ihrem Tschechisch – wo liegt das Problem, wo Sie doch ohnehin so gut deutsch sprechen?«
Das Kichern des Spaßvogels war nicht zu überhören. »No, aber ich sprächä mit ihr nicht deitsch!«
Die muss ihn ganz schön genervt haben, dachte Kral, der Rest ist klar: Man hat nichts gegen Ausländer, aber wenn sie arrogant und überheblich auftreten, dann streikt die tschechische Seele. Trotzdem war ein Tadel angebracht: »Aber Herr Pospíšil! Was machen Sie denn für Sachen!«
»Das ist klare Sache: Sie muss lernen viele Ding-gä, bis ich spreche ihre Sprache!«