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William und Abigail leben in einem Schloss in Gladbeki, wo die Kohle – das sogenannte "schwarze Gold" – als Schlüssel zum Wohlstand gilt. Doch ihre Heimat birgt dunkle Geheimnisse. Ein geheimnisvoller Freund aus einem fernen Land geleitet sie auf eine Reise, die sie tief in die Vergangenheit und in die Zukunft ihres Landes führt. Auf der Suche nach Antworten stellen sich die Geschwister die Frage, ob die Kohle wirklich den erhofften Wohlstand bringen kann oder ob sie einen gefährlichen Schatten wirft. Der historische Hintergrund der Kohlenindustrie, gepaart mit einem fesselnden Abenteuer, macht diesen Roman zu einem spannungsgeladenen Leseerlebnis.
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Seitenzahl: 195
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Vorwort
Widmung
Danksagung
William & Abby
In eigener Sache
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Cover
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0783-6
ISBN e-book: 978-3-7116-0784-3
Lektorat: Eva Schoetzau
Umschlagabbildung: Robert Hörbe
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Die Geschwister William und Abigail leben mit ihrer Familie und einem geheimnisvollen Freund aus einem fernen Land in dem wunderschönen Wasserschloss Wittringen, in dem kleinen Dorf Gladbeki. Zu diesem Zeitpunkt wissen die Kinder noch nicht, dass diesem Ort und seiner Umgebung ein großer Wandel bevorsteht. Die Eltern sprechen oft darüber und immer wieder ist vom „schwarzen Gold“ die Rede, welches das Land einmal reich machen wird. Die Geschwister bezweifeln das, da die Kohle alles andere als Gold ist. Abigail beschließt, mit ihrem Bruder William genau das herauszufinden:
ist es wirklich möglich, dass die staubige, schwarze Kohle ein ganzes Land reich machen kann? Und ist es ebenfalls möglich, dass man einzig und allein nur durch die Kraft seiner Gedanken wirklich alles erreichen kann? So wie es der geheimnisvolle Freund stets behauptet?
Für:
Meine Söhne Mario und Fabio Hörbe
Danke für alle großen und kleinen Wunder dieser Welt, welche ihr mit mir geteilt habt – einschließlich euch beiden. Ihr habt mich gelehrt, was es heißt, bedingungslos zu lieben.
Meinen Mann Norbert Skubacz,
der jeder meiner Ideen, seien sie noch so verrückt, liebevoll unterstützt. Ich liebe dich.
Meine Eltern
Ihr seid großartig.
Meine Schwiegereltern Elisabeth und Gerhard Skubacz
Zwei wunderbare Menschen.
Mit diesem Buch möchte ich mich aufrichtig und von ganzem Herzen bei allen Bergarbeitern, heute wie in der Vergangenheit, auf der ganzen Welt für ihren unermüdlichen Einsatz bedanken. Dazu gehören ganz besonders meine beiden Großväter Joseph Hörbe und Herrmann Mohrbacher. Sie haben wie alle Berg- bzw. Minenarbeiter täglich ihre Gesundheit und Leben riskiert, um ihre Familien zu ernähren. Das „schwarze Gold“ hat dieses Land ohne Zweifel groß gemacht und dadurch zum Wohlstand aller Menschen beigetragen. Wo wären wir jetzt wohl ohne sie: die Kohle und die Menschen, die diese abgebaut haben!?
„Glück Auf!“
Aufgrund des umfangreichen Wissens meiner Großväter bezüglich unserer Stadt und ihrer Umgebung konnte ich Städtenamen, Sagen und andere Erzählungen in diesem Buch weitergeben. Es hat mir immer sehr viel Spaß gemacht, ihren Geschichten zu lauschen.
Auf der Suche nach dem schwarzen Gold
William sitzt wieder einmal an einem der drei Erkerfenster des Jagdzimmers im Schloss seiner Ahnen, seinem Zuhause. Ursprünglich handelt es sich hierbei um eine Burg – aber bekannt ist sie in Gladbeki als das Wasserschloss Wittringen. William macht das, was er immer macht, wenn der tägliche Unterricht vorbei ist und er, wie von ihm erwartet wird, artig seine Hausaufgaben erledigt hat. Dabei lauscht er dem knisternden Kaminfeuer und lässt seinen Blick über das Land schweifen, welches von seiner Familie bewohnt und bewirtschaftet wird. Dieses Zimmer befindet sich in der oberen Etage in einem turmähnlichen Anbau. Am anderen Ende des Schlosses befindet sich ein weiterer, baugleicher Anbau. Darin befindet sich das Kaminzimmer mit eben den gleichen Erkerfenstern. Dieses ist das Lieblingszimmer seiner Mutter. Hier lädt sie Freunde zum Tee ein, liest in einem Buch oder genießt einfach nur die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster scheinen. William bevorzugt allerdings das Jagdzimmer. Von hier aus hat er den besten Überblick auf die Welt, die Menschen da draußen und den Schlosshof.
Die Einrichtung ist recht einfach gehalten. In der Mitte steht ein quadratischer, schwerer Holztisch mit vier Stühlen daran. Die Stühle verfügen über Armlehnen, an deren Enden Drachenköpfe geschnitzt wurden; ein Rückenteil gibt es jedoch nicht. Die Sitzfläche folgt einem Halbkreis, während die Stuhlbeine in ihrer Anordnung an ein X erinnern. In der einen Ecke des Raumes steht eine Ritterrüstung, in der anderen eine riesengroße Bodenvase. Diese ist so groß, dass sich ein Kind darin verstecken könnte, und rundherum mit Jagdmotiven verziert. In diesem Zimmer erinnert nichts mehr daran, wonach es benannt wurde, denn die Jagdtrophäen an den Wänden und über dem Kamin wurden auf Anweisung der Mutter entfernt. Sie konnte die Geweihe und ausgestopften Tierköpfe nicht mehr ertragen. „Scheußlich, einfach nur scheußlich“, hat sie immer gesagt, wenn sie diesen Raum betrachtet hat. William hat sich noch nie für die Einrichtung dieses Zimmers interessiert. Für ihn sind nur die Fenster von großer Bedeutung. Dort hat er seinen Lieblingsplatz gefunden, denn jedes der drei Fenster verfügt über fünfzehn rechteckige Buntglasscheiben in den unterschiedlichsten Farben: drei rechteckige Scheiben in der Breite und fünf rechteckige Scheiben in der Höhe. Die gleichen Fenster zieren ebenfalls das Kaminzimmer, doch hier hat er seine Ruhe, und von hier aus kann er es sich am besten aussuchen, in welchen Farben die Welt erscheinen soll. Wenn er durch das grüne Buntglasfenster blickt, sehen die Menschen aus, als hätten sie etwas Verdorbenes gegessen, und wenn er durch das rote schaut, könnte man meinen, dass alle zu lange in der Sonne gewesen wären.
Doch in diesem Jahr helfen alle Farben dieser Welt nicht, um drüber hinwegsehen zu können, wie unerbittlich der Winter in diesem Jahr ist. Der Wind wirbelt die herabfallenden Schneeflocken mit hoher Geschwindigkeit über das Land. Überall türmen sich die Schneewehen gen Himmel, die meisten Äste an den kahlen Bäumen neigen sich unter der Last des Schnees der Erde zu. Einige berühren sie fast, ein paar wenige konnten die Last, der mittlerweile nicht mehr erfreulichen Schneemassen standhalten und sind geborsten. Wann wird es wohl aufhören zu schneien? Der Himmel klart auch heute nicht auf, sowie schon die vielen anderen Tage zuvor auch nicht. Kaum dass ein neuer Morgen angebrochen ist, wird es auch schon wieder dunkel. Bis auf ein paar Krähen im Schlosshof und auf den Dächern der angrenzenden Gebäude kann man keine weiteren Tiere finden. Dabei gibt es hier auf dem 450 Morgen großem Gebiet unzählige Tierarten. Zu Wasser, in der Luft, auf der Erde und sogar darunter. Nichts. Einfach nichts. Keine Spuren im Schnee und auch keine typischen Rufe diverser Tierarten. Es hat den Anschein, als wolle der Schnee alles Leben ersticken. Selbst der Wassergraben, welcher sehr großzügig um das Schloss angelegt wurde, sowie der an der Nordseite angrenzende See sind längst zugefroren und nicht mehr als solches zu erkennen.
„Ich dachte immer, dass ich in einem Wasserschloss wohne und nicht in einem Eispalast.“ William verzieht ein wenig genervt das Gesicht.
Er mag diese Jahreszeit überhaupt nicht. Eigentlich findet er an keiner einzigen Jahreszeit großen Gefallen. Warum auch? So richtig genießen, wie es andere Kinder in seinem Alter können, bleibt für ihn ohnehin nur ein Traum. Er kann sich nicht wie seine Zwillingsschwester Abigail in den Schnee werfen und den Abdruck eines Schneeengels im frischen Pulverschnee hinterlassen. Auch ist er nicht dabei, wenn sich die anderen Kinder in zwei Lager aufteilen, eine Vielzahl an Schneebällen vorbereiten, um dann in einer ausgiebigen Schneeballschlacht um den Sieg kämpfen, sich letzten Endes wieder lachend in die Arme fallen und zu einer erneuten Schneeballschlacht verabreden. Manchmal winkt William ihnen zu und dann kann es passieren, dass einer von ihnen schüchtern zurückwinkt. Wenn die Kinder sich unbeobachtet fühlen, werfen sie auch schon mal ein paar Schneebälle an das Fenster. Allerdings nicht, um ihn zu ärgern, sondern um ihn an ihrem Spiel so gut es geht teilhaben zu lassen. Obwohl er durch die riesigen Fenster vor den Schneebällen sicher ist, tut er so, als müsse er diesen ausweichen. Dann beugt er sich von links nach rechts oder von oben nach unten. Was für ein Spaß. Es sind die Kinder der Knechte, Mägde, Köche, Waschfrauen und anderer Bediensteter dieses Schlosses. Allesamt wohnen in einem anliegenden Fachwerkhaus, dem ursprünglichen Teil des Schlosses. Wie gerne würde er sich den anderen anschließen. Oh ja, das würde er. Auch wenn Professor Pillwein, der Hauslehrer von ihm und seiner Schwester, es nicht gutheißen würde. Ständig spricht er mit erhobenem Zeigefinger davon, dass sie sich niemals mit dem Gesindel abgeben sollen. „Sie sind eurer Gesellschaft nicht würdig“, ermahnt der Professor sie nahezu täglich. Abigail rollt bei diesem Satz ständig mit den Augen und schneidet hinter seinem Rücken Grimassen. „Es sind Kinder, die über viel weniger Besitz verfügen als ich und doch um so viel mehr glücklicher sind“, schmollt William in sich hinein, schaut gleichzeitig an sich herab und erkennt selbstverständlich sofort den Grund dafür. Es sind seine Beine. Seine Beine, welche nicht in der Lage sind, ihn zu tragen. Die ihm nicht gestatten zu laufen, zu rennen oder zu springen. Ihm bleibt nur der Rollstuhl, um von einem Punkt zum anderen zu gelangen. Dieser verflixte Rollstuhl. Es ist ja nicht so, als ob William nicht ein paar Schritte gehen könnte. Doch, doch. Das kann er sehr wohl. Mit seinen Gehhilfen unter den Armbeugen kommt er mühsam voran. Auch wenn er seine Beine lediglich über den Boden schleift, so fühlt es sich für einen kurzen Moment an, als könne er gehen. Als wäre er ein ganz normaler Junge. Ein großartiges Gefühl. Doch das muss für immer ein Geheimnis bleiben. Bis auf Abby weiß niemand davon. Sie ist schließlich diejenige, die ihm die Gehhilfen besorgt hat, und sie ist es auch, die immer Schmiere stehen muss, damit er den kurzen Augenblick des Glücks genießen kann. Niemals – darf jemand etwas von ihrem kleinen Geheimnis erfahren. Niemals – und seine Mutter erst recht nicht, denn sie würde es ihm auf der Stelle verbieten und ein noch wachsameres Auge auf ihn haben, als sie es ohnehin schon hat. Abby bekäme bestimmt ebenfalls einen riesen Ärger. Er darf nichts. Gar nichts. Selbst den ungeliebten Rollstuhl eigenständig zu bewegen hat sie ihm untersagt.
Keiner hat eine Erklärung dafür, warum er seit seiner Geburt so schwach ist. Seine Zwillingsschwester erfreut sich bester Gesundheit. Es scheint ohnehin so, als ob sie von allem das Beste mitbekommen hätte, denn sie hat wunderschönes langes und dichtes Haar, einen rosigen Teint und ist erfüllt von unermüdlicher Lebendigkeit. Sie ist ständig gut gelaunt. William hingegen hat nur ein paar helle Flusen auf dem Kopf und ist im Gesicht weiß wie der Schnee, von dem er langsam aber sicher mehr als genug hat, und gleichzeitig fühlt er sich alles andere als lebendig. Genau das ist wohl auch der Grund, warum er mit seinen gerade mal elf Jahren mehr Ärzten und Gelehrten begegnet ist, als er ertragen kann. Jeder weiß es besser, jeder hat eine Lösung für das Problem, und kein einziger konnte wirklich helfen. Einmal wurden ihm stinkende Dampfbäder verordnet. Diese rochen so widerlich, dass die Fliegen von den Wänden gefallen sind, und noch eine sehr lange Zeit danach konnte man den üblen Geruch an seinem Körper wahrnehmen – und zwar so stark, dass er seine Mahlzeiten getrennt von den anderen zu sich nehmen musste. William will noch heute nicht darüber nachdenken, was wohl in diesen Bädern enthalten war.
Ein anderes Mal haben sich zwei Ärzte seiner angenommen, die behauptet haben, wahre Experten in Sachen menschlicher Anatomie zu sein. Erneut voller Hoffnung auf Genesung stimmte seine Mutter einer äußerst fragwürdigen Behandlung zu. Was haben sich die beiden eigentlich davon erhofft, ihn an Armen und Beinen zu packen, diese zu verbiegen und zu verdrehen, zu knicken und zu strecken? Was verspricht man sich davon, einen kleinen und schwachen Jungen zu verknoten, bis er keine Luft mehr bekommt, um dann festzustellen, dass das nicht die Lösung des Problems ist? Danach hat er alles für einige Zeit doppelt und dreifach gesehen, und es hat sehr, sehr lange gedauert, bis William sein Umfeld wieder klar und deutlich erkennen konnte. Was für ein Elend. Seither hat es keine weiteren Heilungsversuche mehr gegeben. Was allerdings auch daran liegen könnte, dass Maamuni seit einem Jahr bei Ihnen wohnt. Maamuni kommt aus einem weit entfernten Land auf einem anderen Kontinent: Afrika. Er nennt dieses Land Tansania. Dort ist es immer sehr heiß. Es gibt dort wilde Tiere, viel Sand und keinen Schnee. Männer wie Frauen tragen bunte Wickelgewänder mit noch bunteren, riesengroßen Kragen um den Hals. Das hat William selbst gesehen, als Vater ihnen Maamuni zum ersten Mal vorgestellt hat. Abigail fand ihn anfangs etwas unheimlich, da seine Haut fast so dunkel ist, wie die Tafel in ihrem Unterrichtszimmer, und Professor Pillwein war vollkommen entsetzt, als er das Gewand unseres neuen Gastes sah. Ein Mann in einem bunten Kleid? Was ihn aber noch mehr entsetzen ließ, war die Tatsache, dass der Fremde keine Schuhe trug. Was bis heute übrigens immer noch der Fall ist. Er selbst war so fasziniert von ihm, dass er nicht in der Lage war seinen Blick abzuwenden.
Williams und Abigails Vater Alwin ist ein echter Abenteurer und hat schon fast die halbe Welt bereist. Leider ist er bei seinen Erkundungsreisen immer sehr lange fort und niemand weiß, ob er auch unversehrt wieder heim kommt. Ein Umstand, welchen ihre Mutter ständig sorgenvoll dreinblicken lässt, aber ihn von seinen Unternehmungen abzuhalten wäre sowieso aussichtslos. „Man kann einem Vogel nicht die Flügel nehmen und erwarten, dass dieser fröhlich weiter singt“, sagt sie den Kindern immer mit einem zaghaften Lächeln, wenn sich ihr Vater wieder mit Sack und Pack in das nächste Abenteuer stürzt.
Mutter ist eine äußerst liebevolle und friedliebende Person. Sie hasst Streit und in ihren Augen sind alle Menschen gleich. Egal, ob arm oder reich, jung oder alt, gesund oder krank. „Jeder Mensch verdient es, mit Respekt behandelt zu werden“, weist sie ständig den Professor zurecht. Genau das ist es, was Vater – er nennt sie liebevoll Lizzy – an ihr so sehr liebt, und die Kinder auch. Vermutlich ist sie auch der Grund, warum sich Maamuni sehr schnell im Schloss eingelebt hat. Widerstandslos hat sich dieser von Lizzy in eine Art Schlafanzug stecken lassen, um zu verhindern, dass Professor Pillwein seinen Job mit sofortiger Wirkung kündigt. Abigail findet das neue Aussehen Maamunis recht schick. Er trägt jetzt ein langes, gelbes Beinkleid und ein bis zum Knie reichendes, gelbes Hemd, welches unter anderem von einem roten Gürtel aus feiner Seide gehalten wird. An dem Gürtel baumeln ein paar wenige Habseligkeiten Maamunis, die er aus seinem Land mitgebracht hat; unter anderem ein kleiner Lederbeutel, dessen Inhalt niemand kennt. Abby mag es, wenn Maamuni in ihrer Nähe ist. Denn ihn umgibt immer ein süßlicher Duft. Er erinnert sie an Irmas leckere Plätzchen. Abby vermutet, dass es sich nur um Vanille handeln kann. Lecker. „Bis auf die fehlenden Schuhe sollte der Professor keine weiteren Einwände mehr haben“, hoffte Lizzy damals und freute sich auf ein fröhliches miteinander. Wie gesagt: hoffte.
Ein neuer und noch immer kalter Wintertag ist angebrochen. Noch ist es im und außerhalb des Schlosses recht ruhig. William und Abby sitzen bereits in ihrem eigens für sie eingerichteten Klassenzimmer als der Professor sichtlich verärgert den Raum betritt und sogleich lospoltert. „Ich weiß gar nicht, wieso euer Vater diesen Fremden von seinem letzten Abenteuer mitgebracht hat. Ist es nicht schon genug, dass wir alle mit den ganzen anderen Souvenirs seiner Reisen dieses schöne Schloss teilen müssen? Hölzerne, gruselige Masken, schrecklich gemusterte Stoffe, widerlich duftende Öle und schlechtsitzende Hüte? Von den übelschmeckenden Gewürzen ganz zu schweigen.“ Professor Pillwein redet sich momentan alles von der Seele, was ihn seit seiner ersten Unterrichtsstunde bei uns stört. Lizzy wird nicht begeistert darüber sein, sollte sie jemals davon erfahren, dass der Lehrer ihrer Kinder Maamuni noch immer einen Fremden nennt oder ihn gar mit einem Souvenir vergleicht. Warum hält Mutter an ihm als Lehrer so fest? Es gibt doch bestimmt tausend andere?
Wann immer der Professor sich anmaßend und abfällig über andere Menschen äußert, fragt sich Abigail, ob er jemals in den Spiegel geguckt hat. „Wenn er so klug ist, wie er es immer vorgibt zu sein, lässt er es lieber bleiben, denn sonst könnte er vermutlich vor seinem eigenen Spiegelbild zurückschrecken“, überlegt das kleine Mädchen laut und muss bei der bloßen Vorstellung daran lachen. Ob er weiß, dass er sie eher an einen Totengräber erinnert als an einen Lehrer? Pillwein ist sehr groß und sehr dünn. Seine Haut an den Händen und im Gesicht ist faltig und grau. So grau wie die Asche im Kamin. „Das kommt bestimmt davon, wenn man immer so mürrisch ist“, stellt Abby für sich fest. Mehr als sein Gesicht und seine Hände sind nie zu sehen, denn der Rest des Körpers steckt in einem über alle Maßen gestärkten, weißen Hemd. Darüber trägt er einen schwarzen Frack und auf dem Kopf einen schwarzen Zylinder. Sie könnte nicht einmal sagen, ob er überhaupt Haare hat, denn sie hat ihn noch nie ohne diesen Zylinder gesehen. Aber das aller auffälligste an ihm sind seine stechenden, hervorstehenden und ebenfalls farblosen Augen. Vielleicht ist er ja ein Geist? Das würde erklären, warum man ihn nur sehen aber nicht hören kann, egal welche Bewegungen er auch ausführt. Außerdem sieht er aus, als wäre er bereits zweihundert Jahre alt. Mindestens.
„Sei nicht albern“, weist William sie zurecht. „Es gibt keine Geister und das Einzige, wovor wir uns fürchten müssen, ist Rupert, der neue Koch, den Mama eingestellt hat. Ich habe nämlich gehört, dass er dazu angehalten wurde mehr Gemüse für uns zu kochen und dafür weniger Pudding.“ Er verzieht angewidert das Gesicht.
Das Gespräch der beiden bleibt dem Professor nicht verborgen. Ein lautes und ungehaltenes Räuspern erfüllt den Raum. „Auweia. Warnstufe eins“, flüstert Abby ihrem Bruder zu. Beide kichern. Sie wissen nur zu genau, was es bedeutet, sollten sie ihren Hauslehrer noch weiter provozieren. Ein weiteres Räuspern wird es nämlich nicht geben. Um noch mehr Aufmerksamkeit zu fordern, wird Pillwein mit dem langen Holzlineal auf den Schreibtisch schlagen und das so heftig, dass man es durch das halbe Schloss hören kann. Für einen kurzen Moment schafft er es tatsächlich, seine Gesichtsfarbe zu ändern. Er bekommt dann einen hochroten Kopf. So hochrot, dass man befürchten muss, er könnte explodieren. Das wäre somit Alarmstufe zwei. Alarmstufe drei ist die für die Kinder gefährlichste Warnstufe überhaupt, denn diese verfügt über keinerlei warnenden Vorzeichen mehr und bedeutet sehr viele Strafarbeiten für die beiden. Ein unendlich langes und langweiliges Gedicht von heute auf morgen auswendig zu lernen, ist dabei noch das kleinere Übel. Die zwei sind klug genug, den weiteren Unterricht folgsam hinter sich zu bringen. Vielleicht gibt es ja doch nicht allzu viel Gemüse zu Mittag?
Nach einigen, nie enden wollenden Unterrichtseinheiten, schaut der Professor endlich auf seine Taschenuhr, nickt den Kindern wohlwollend zu und verlässt den Raum. Schulfrei für heute.
Abby rennt los, um sich von Ruperts Kochkünsten zu überzeugen. „Sie hat mich vergessen. Sie hat mich wirklich vergessen und hier allein zurückgelassen“, knurrt William vor sich hin. Soll sie doch. Sie hat schließlich kein Problem damit, nur Gemüse essen zu müssen. Nicht weil sie weiß, dass Gemüse gesund ist, sondern weil seine Schwester einfach alles mag, was ihr aufgetischt wird. Seine Portion kann sie gerne auch noch haben.
Gegen die Anweisungen seiner Mutter versucht William seinen Rollstuhl alleine in Bewegung zu setzen, um zu dem großen Tisch zu gelangen, auf dem sich die zahlreichen Anschauungsobjekte befinden, die ihr Vater von seinen vielen Reisen zusammengetragen hat. Darunter befinden sich unter anderem ein Teleskop und zwei Globen. Dann gibt es dort noch ein Mikroskop, mehrere Landkarten, alte Bücher und ein aus einem sehr dunklen Holz geschnitzter Elefant. Maamuni hat ihnen erklärt, dass dies ein Elefant aus seiner Heimat ist. Zu erkennen sei dies an seinen großen Ohren. Elefanten von anderen Kontinenten haben viel kleinere Ohren beteuert er immer wieder. Des Weiteren erhebt sich in der Mitte des Tisches neben den Globen, eine ägyptische Pyramide aus Sandstein sowie eine riesengroße Sanduhr. William schätzt, dass sie mindestens so groß ist wie einer seiner Arme. Der Glaskolben im Inneren der Sanduhr wird von einem Gestell aus reinem Messing gehalten. Abby glaubt noch immer, dass es sich dabei um reines Gold handeln würde. So sehr glänzt dieses Metall. William hat es bereits aufgegeben, dem zu widersprechen.
Vater ist der Meinung, dass der Unterricht Spaß machen solle, denn nur so würde man neugierig bleiben. „Neugier ist ein eifriger Forscher“, hört er seinen Vater Alwin im Geiste sagen. Erneut versucht er alleine voranzukommen, aber das erweist sich jedoch schwieriger als erwartet, denn der schwere und sperrige Rollstuhl ist aus einem extrem harten Holz aus einem sehr fernen Land gefertigt worden und auch nicht dafür gemacht, ihn selbstständig zu bewegen oder zu lenken. Alle Bemühungen auch nur einen einzigen Zentimeter näher an sein Ziel zu kommen, bleiben erfolglos. Wut keimt in ihm auf und ein weiteres Mal versucht er den hölzernen Rädern den nötigen Schwung zu geben, wieder und wieder. Leider vergebens. William sackt traurig und erschöpft in sich zusammen. Er stellt sich die Frage, warum er so viel lernen soll, wenn seine Welt doch nicht über die Ränder seiner Stadt hinausgehen wird.
„Einen Moment, kleiner König.“ Maamuni eilt durch die geöffneten Flügeltüren des Raumes, um William bei seinem Vorhaben behilflich zu sein. „Nur weil ich in einem Schloss wohne, bin ich noch lange kein König. Streng genommen ist das hier nicht einmal ein Schloss, sondern eine Burg und das seit nunmehr seit 587 Jahren. Ich weiß auch nicht, warum alle hier mein Gefängnis immerzu ein Schloss nennen müssen!“, blafft er ihn an. Erschrocken über sich selbst hält er inne. Tränen steigen ihm in die Augen. Für einen kurzen Augenblick scheint die Welt still zu stehen. Schweigen breitet sich aus. Nun rollen die Tränen unaufhaltsam über sein Gesicht. Er ist verzweifelt und wütend. Verzweifelt, weil sich seine Situation wohl niemals ändern wird und wütend darüber, dass das Leben es augenscheinlich nur mit ihm nicht gut gemeint hat. Aber viel schlimmer wiegt die Tatsache, dass sich seine angestaute Wut gegenüber einem unschuldigen Menschen entladen hat. Was hat er sich nur dabei gedacht? Was würde Mama dazu sagen, wenn sie davon erfährt?
„Es tut mir leid. Es tut mir unendlich leid“, schluchzt William.
Maamuni ergreift wortlos den Rollstuhl und schiebt den weinenden Jungen vor den Tisch, den dieser zuvor so vergeblich versucht hat zu erreichen. „Wonach suchst du, kleiner Freund?“, zwei große, strahlende Augen schauen ihn fragend an. William zeigt mit dem Finger auf die zwei Globen gleich vor ihm, neben der ägyptischen Pyramide. Der eine ist ein Erdglobus, der andere ein Himmelsglobus. Der Himmelsglobus ist ausgestattet mit ein paar wenigen Planeten wie Jupiter und Venus, sowie dem Sternenhimmel, ist für ihn momentan nicht von großem Interesse. Es ist der Erdglobus, welcher William so fasziniert. Er weiß genau um die Bedeutung dieses Objekts mitsamt seinen Längen- und Breitengraden, das der Vater von einer Reise aus Italien einst mitgebracht hatte. Mit zittriger Stimme und verstopfter Nase sagt er: „Ich möchte herausfinden, ob ich unser Schloss auf dem Globus entdecken kann.“