Willkommen im 21. Jahrhundert - Joschka Fischer - E-Book

Willkommen im 21. Jahrhundert E-Book

Joschka Fischer

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Beschreibung

Jenseits von Furor teutonicus und Pazifismus – Deutschlands Aufgaben in der EU und in der Welt. Zwei Jahrzehnte ist das 21. Jahrhundert jetzt alt, und die Konturen einer neuen Welt(un)ordnung werden immer deutlicher erkennbar: der Aufstieg Chinas, die Verlagerung der weltpolitischen Achse hin zum Pazifik, eine zunehmend konfuse Weltmacht USA, die in den Nationalismus zurückfällt, eine frustrierte Nuklearmacht Russland, ein stagnierendes Europa … Seit dem Abstieg der USA als globale Ordnungsmacht nach 1989 gibt es eine gefährliche neue Rivalität nuklearer Weltmächte, die jederzeit eskalieren kann: Korea, Hongkong, Kaschmir, Iran, Jemen, Syrien, Ukraine. Ein neues Wettrüsten. Handels- und Technologiekrisen. In dieser Situation wird die Transformation Europas in eine souveräne weltpolitische Macht zu einer entscheidenden Zukunftsfrage, die ohne einen selbstbewussten Beitrag und die volkswirtschaftlichen Ressourcen Deutschlands und Frankreichs nicht gelöst werden kann. Erkennt die deutsche Politik die Zeichen der Zeit?

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Joschka Fischer

Willkommen im 21. Jahrhundert

Europas Aufbruch und die deutsche Verantwortung

Kurzübersicht

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> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Joschka Fischer

> Über dieses Buch

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung – Trump und die FolgenEuropas erzwungene gaullistische WendeDie deutsche Frage – zwischen Furor teutonicus und PazifismusDie Bedrohung der Freiheit – digitale Revolution und GeopolitikDie Scheinalternative EurasienDie kommende Systemkonfrontation – China als Systemalternative zum Westen und die Zukunft der DemokratieEuropäische Souveränität und ein erneuerter Transatlantismus
zurück

Einleitung – Trump und die Folgen

Fast zwei Jahrzehnte ist das 21. Jahrhundert jetzt alt, und die konkreten Konturen seiner neuen Weltordnung werden in unseren Tagen ganz praktisch erlebbar und bestimmen unsere Zukunft: der Aufstieg Chinas, die Verlagerung der weltpolitischen Zentralachse weg vom Nordatlantik hin zum Pazifik und zu Ostasien, eine zunehmend konfuse Weltmacht USA, welche die Lasten der globalen Führung nicht mehr tragen will und schon gar nicht die einer globalen Ordnungsmacht, andererseits aber an seiner globalen Führungsrolle unter nationalistischen Vorzeichen festhält, zahlreiche Konflikte entlang der eurasischen Hauptachse zwischen Pazifik und Europa, eine frustrierte und ökonomisch ineffiziente nukleare Weltmacht Russland und ein stagnierendes Europa, Nationalismus gegen internationale Zusammenarbeit.

Dreißig Jahre nach dem magischen Jahr 1989 sollten wir Europäer nicht noch einmal denselben Fehler machen: die Radikalität und die dramatischen Auswirkungen einer historischen Zäsur zu unterschätzen. Nur dass es diesmal den Westen und nicht den Osten betrifft. Ein Megabeben namens Trump zertrümmert das westliche Bündnis in Verbindung mit zwei anderen Megabeben, dem Aufstieg Chinas zur globalen Nummer eins und der digitalen Revolution, die ebenfalls kaum einen Stein auf dem anderen lassen wird. Es sind drei Revolutionen auf einmal, vor denen die Welt und damit auch Europa heute stehen und die der Alte Kontinent allein bewältigen muss, ohne Schutz und Deckung durch den großen Bruder USA. Ganz im Gegenteil ist dessen Rückzug aus der globalen Verantwortung die größte Herausforderung für die Europäer.

Die Welt heute macht einen verunsicherten und verunsichernden Eindruck. Stabilität und Berechenbarkeit werden zur Mangelware, bewährte Allianzen und Garantien werden infrage gestellt oder gar umgekehrt und zwischen den Mächten und Staaten hat ein chaotischer Wettbewerb um die jeweils eigene Positionierung in einer zunehmend undurchschaubarer werdenden Weltordnung begonnen, in der vieles, ja vielleicht alles im Umbruch ist. Schlimmer noch, diese verunsichernde Unruhe geht zuerst und vor allem von den beiden ganz großen Mächten der Gegenwart aus, deren Aufgabe es eigentlich sein sollte, kraft ihrer Größe und Macht für globale Stabilität zu sorgen – von China und den USA –, und das ist eine sehr schlechte Nachricht. Vor allem der offensichtliche Widerspruch in der Politik der USA, einerseits die Rolle der Ordnungsmacht loszuwerden und andererseits an der Nummer eins unter nationalistischen Vorzeichen festhalten zu wollen, birgt ein erhebliches Chaospotenzial, welches das gesamte globale System in Mitleidenschaft ziehen wird, ganz besonders aber Europa, das in einem hohen Maße von den USA abhängig ist – sicherheitspolitisch, wirtschaftlich und digital.

Wenn diejenigen, die kraft ihrer Stärke und Größe eigentlich Stabilitätsgaranten der globalen Ordnung sein sollten, das genaue Gegenteil dessen sind und an erster Stelle zum globalen Chaos beitragen, dann verheißt das für die neue Ordnung der Welt eine längere Phase der Unordnung und erhöhten Risikos. Einer der Hauptverursacher für diese globale Instabilität werden dabei für eine längere Übergangsphase die USA sein, solange sich die alte Nummer eins nicht entschieden hat, in welche Richtung sie geopolitisch im 21. Jahrhundert gehen will, und darüber einen neuen innenpolitischen Konsens erzielt hat – und das wird dauern. Eines aber, das ist heute schon absehbar, wird nicht funktionieren: die Nummer eins bleiben zu wollen, ohne die Rolle einer globalen Ordnungsmacht zu übernehmen, denn das ist ein Widerspruch in sich. Die Frage, die sich heute nicht beantworten lässt, ist dabei, ob es sich um einen Widerspruch nur unter Trump handelt oder ob dieser auch in die Zeit nach ihm hinüberreichen wird, denn die Wählerschaft von Trump wird mit diesem nicht abtreten, und der Widerspruch zwischen Isolationismus und der internationalen Rolle der USA wird bleiben. Ob sich dieser innere Konflikt in den USA zwischen einer isolationistischen Wählerschaft und den mehr imperial denkenden und kalkulierenden Eliten in einem neuen globalen Engagement der USA unter einem anderen Präsidenten auflösen lässt, ist aus heutiger Sicht nicht zu entscheiden. Wenn man die gegenwärtige Innenpolitik der USA verfolgt, so spricht nicht sehr viel für diese internationalistische Variante. Wie auch immer, die USA unter Trump werden sich stark verändern und die alte Zeit eines gemütlichen Transatlantismus wird nicht zurückkehren, das lässt sich schon heute prognostizieren.

Chinas Aufstieg an sich ist ein die globale politische und wirtschaftliche Ordnung erschütterndes Faktum des frühen 21. Jahrhunderts. Je mehr sich das Land seiner wachsenden Stärke bewusst werden wird, desto hegemonialer werden sein Auftreten und seine Ansprüche. Vor allem in Ost- und Südostasien droht China mit wichtigen regionalen Nachbarn, vor allem aber mit der alten Führungsmacht USA, in Konflikt zu geraten. Die Zeiten von Deng Xiaoping sind vorbei, in denen China nach der Devise »Den Kopf unten halten und weiterarbeiten« seine Modernisierung vorantrieb. Zunehmend treten in Peking Fragen des nationalen Prestiges zulasten einer pragmatischen Haltung in den Vordergrund, und Prestige hat sich im Umgang mit aufsteigenden Mächten immer als das große Risikopotenzial erwiesen – siehe das Deutsche Reich unter dem zweiten Wilhelm.

Die USA unter Trump wiederum wollen sich, wie weiland Gulliver im Land der Liliputaner, brachial aus den vermeintlichen Fesseln des von ihnen in der Vergangenheit selbst geschaffenen Systems einer auf Regeln basierenden globalen Ordnung befreien, die über Jahrzehnte hinweg ihre Vorherrschaft erfolgreich abgesichert und das Land zu einer unvergleichlichen Supermacht gemacht hat. Dies führt zur faktischen Aufkündigung tradierter Bündnissysteme und Regeln der Zusammenarbeit und zu einer tiefen Verunsicherung traditioneller Bündnispartner, ja mehr noch, zur Erschütterung regionaler Ordnungen, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren und jahrzehntelang Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstand gesichert hatten.

Diese brachiale Zertrümmerung der tradierten Pax Americana durch Trump wird allerdings ihren Preis für die Supermacht und die mit ihr verbundenen Alliierten haben, der nicht gering ausfallen wird. Trumps Außenpolitik entbehrt jeglicher kalkulierender Vernunft, wie die gescheiterten Atomgespräche mit Nordkorea, aber auch die Lage im Nahen Osten zeigen. Donald Trump, der 45. Präsident der USA, ist tatsächlich eine Revolution! Es fällt schwer, sich diese Tatsache einzugestehen, aber dieser Mann stellt die Welt, vor allem die westliche, gerade auf den Kopf, ohne dabei zu wissen oder gar auch nur ansatzweise zu überschauen, was er tut. Aber er tut es! Und das allein zählt. Man kann ihm vieles vorwerfen, aber nicht, dass er seine Wahlversprechen nicht einlösen würde.

Trump im Nahen Osten: Der Iran erweist sich dort, trotz seiner massiven wirtschaftlichen Probleme, als der Gewinner der chaotischen amerikanischen Außenpolitik. Trumps offener Verrat an den Kurden der YPG in Nordsyrien, den wichtigsten Waffenbrüdern der USA im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS), wird das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Vereinigten Staaten weltweit nachhaltig erschüttern und die Situation im Nahen Osten weiter verschärfen. Wladimir Putin und Russland streichen die Prestigegewinne ein, der Iran aber konsolidiert seinen Einfluss am Boden. Unter George W. Bush und durch seinen unseligen Krieg im Irak händigten die USA dieses für die Region so überaus wichtige arabische Land, das traditionell das Gegengewicht zum Iran gebildet hatte, an den Iran aus, wofür amerikanische Soldaten starben und amerikanische Steuerzahler Unsummen bezahlten. (Der Irak bildet die entscheidende Landbrücke zwischen dem Iran und Syrien/Libanon bis hin zu deren Mittelmeerküsten – der sogenannte schiitische Halbmond.) Unter Donald Trump schienen die USA nun nicht mehr zu wissen, was sie wollen: die regionale Hegemonie an Teheran zu überantworten oder volle Konzentration auf den Iran. Dieses geopolitische Dilettieren des amerikanischen Präsidenten ist hochgefährlich.

Dies wird gegenwärtig unverhüllt im Norden Syriens sichtbar. Angesichts der türkischen Invasion und des amerikanischen Verrats bleibt den Kurden nichts anderes übrig, als sich Assad zuzuwenden, der dank Trump und des Nichteingreifens seines Vorgängers Barak Obama, auch dank der fast völligen Abwesenheit Europas, und mit der Unterstützung Irans und Russlands als der Sieger im syrischen Bürgerkrieg feststeht. Ein weiterer Gewinner dürfte der IS sein.

Der Vorschlag der deutschen Verteidigungsministerin zur Einrichtung einer humanitären Schutzzone unter UN-Mandat kam viel zu spät. Putin und Erdogan waren sich bereits einig, sodass dieser Vorschlag lediglich gut gemeint, aber nicht durchdacht war. Warum sollte Europa, jenseits der Frage nach seinen militärischen Fähigkeiten, zu so später Stunde denn noch in den syrischen Krieg eingreifen? Mit welchem Ziel? Welcher Strategie? Was sollte politisch erreicht werden? Fragen, die nicht beantwortet wurden. Und so bleibt der Eindruck zurück, dass die Initiative der deutschen Verteidigungsministerin eher als Beispiel dafür taugt, wie Europa es nicht machen sollte, wenn es ernsthaft darüber nachdenkt, seine militärische Interventionsfähigkeit in seiner Nachbarschaft aus guten Gründen auszubauen. Innenpolitisch motivierte Schnellschüsse helfen dabei nicht weiter, im Gegenteil.

Ein überstürzter, nicht zu Ende gedachter Rückzug der USA fand schon einmal statt, nach dem Ende der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Winter 1989, als die USA jegliches Interesse an dem Land verloren hatten und dieses den islamistischen Terrorgruppen, ihren früheren Bündnispartnern im Kampf gegen die sowjetischen Eindringlinge, überließen. Die USA hatten für diesen strategischen Fehler, für ihre mangelnde Weitsicht und Ignoranz am 11. September 2001 bitter zu bezahlen und mussten in seiner Folge militärisch bis heute nach Afghanistan zurückkehren.

Trump möchte die »endlosen Kriege« der USA beenden, indem er Soldaten zurückzieht, aber beendet er sie dadurch tatsächlich? Oder läutet er damit lediglich, aus kurzfristigen innenpolitischen Gründen, eine nächste Runde in einem lang anhaltenden Krieg ein, aber nicht dessen politische Lösung? Diese Kriege finden zudem auf einer anderen Zeitachse statt als frühere Kriege zwischen industrialisierten Staaten. Sie werden nicht geführt und in überschaubaren Zeiträumen durch Sieg oder Niederlage oder einen Kompromiss beendet. Diese Erfahrung eines »endlosen« Krieges macht gegenwärtig auch Saudi-Arabien im Jemen.

Mit einem voreiligen Abzug ohne eine politische Lösung wird Trump absehbar das Gegenteil erreichen, diese »endlosen« Kriege noch verlängern, im Gefolge seiner nicht zu Ende gedachten Entscheidungen Amerikas Bündnisse und sein Ansehen hoffnungslos ruinieren und dennoch kämpfen müssen. Es gibt keinen Pensionsplan zwischen der Weltgeschichte und einer Supermacht, der Ruhestand ist für eine Supermacht nicht vorgesehen. Wohl aber der globale und auch regionale Niedergang.

Trotz alledem, der weltpolitische Hauptakteur heißt gegenwärtig Donald Trump, ob es gefällt oder nicht! Es wird in einer breiteren Öffentlichkeit in Europa allzu leicht vergessen, dass Donald Trump nicht zuerst und vor allem eine bizarre Figur mit sehr begrenzten Fähigkeiten ist, sondern dass er der gewählte Präsident der USA ist. Über mehr Macht verfügt kein anderer Mensch auf diesem Globus, und das allein ist es, was politisch zählt. Ob er einem als Mensch und Präsident zusagt, ist dabei erst einmal ohne Belang. Seine Macht und die Konsequenzen dessen, was er tut oder unterlässt, die Reichweite seines Handelns oder auch Nichthandelns sind allein wegen seines Amtes gewaltig.

Auch wenn es schwerfällt, sich dies einzugestehen, Donald Trump schreibt Geschichte – frei nach Hegel – als Weltgeist in Blond. Er gestaltet den Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert, von der Pax Americana in das pazifisch-chinesische Zeitalter. Und sein Hauptprinzip scheint dabei »Chaos« zu lauten. Zudem ist er kein Freund Europas und der EU. Er ist ganz offensichtlich auch kein Meister des Rückzugs.

Das trumpsche Prinzip »Chaos« und seine Konsequenzen lassen sich gegenwärtig im schon seit Langem chaotischen Nahen Osten, neben Syrien auch am Persischen Golf, trefflich studieren. Trump hat sich einseitig aus der Nuklearvereinbarung mit dem Iran, die sein Vorgänger Barak Obama und fünf weitere Mächte mit dem Iran abgeschlossen hatten, zurückgezogen, ohne offensichtlich auch nur einen Gedanken auf die weiteren Folgen zu verschwenden. Stattdessen wurde mittels neuer Sanktionen, die den Ölexport des Irans fast verunmöglichen, eine neue Runde der Konfrontation eingeleitet. Dem Iran droht ein wirtschaftlicher Kollaps, aber dieser wird nicht zum Kollaps des Regimes führen, sondern zu dessen Radikalisierung im Innern und nach außen. Der repressive Sicherheitsapparat zeigt bis heute keinerlei Risse – und nach außen ist das Regime stärker denn je.

Der alte Nahe Osten focht im Wesentlichen einen langen Konflikt in mehreren Kriegen aus: den Kriegen zwischen Israel und den Arabern. Zudem ging es aus westlicher Sicht um die Sicherung der Tankstelle der Weltwirtschaft, um die Sicherung des Öls am Persischen Golf und auf der Arabischen Halbinsel.

Im neuen Nahen Osten hingegen kämpfen regionale Mächte um die Vorherrschaft, seitdem mit Barack Obama der Rückzug der USA aus der Region begonnen hat und unter Donald Trump fortgesetzt wurde. Die USA haben durch ihren – und sei es auch nur vermeintlichen, von den regionalen Akteuren unterstellten – Rückzug, durch das militärische Nichteingreifen in Syrien unter Obama nach dem Einsatz von Giftgas durch Assad, obwohl Obama genau hier öffentlich eine »rote Linie« gezogen hatte, ein machtpolitisches Vakuum geschaffen.

In der Machtpolitik zählt die Wahrnehmung oft genauso viel wie die Realität, und so ist es auch in diesem Fall gewesen. Die Verhandlungen mit dem Iran und der Abschluss der Nuklearvereinbarung wurden auf arabischer wie auch israelischer Seite als ein Schritt des Rückzuges der USA, ja schlimmer noch, als ein potenzieller machtpolitischer Koalitionswechsel zugunsten des Iran interpretiert (was nicht der Fall war), und fortan wurde von den regionalen Mächten alles getan, damit dieses Vakuum nicht zu ihren Lasten ausgefüllt würde. Syrien und Jemen, beides Länder mit andauernden Bürgerkriegen, waren die ersten Opfer dieser neuen Konstellation im Nahen Osten und sind es bis heute geblieben.

Wie gesagt, dies alles geschah schon unter Trumps Vorgänger im Weißen Haus. Aber Barak Obama verfügte wenigstens noch über eine politische Ordnungsvision für den Nahen Osten: Er wollte erstens das Atomabkommen mit dem Iran dazu nutzen, einen nuklearen Rüstungswettlauf, das größte Risiko in der Region mit massiven negativen Auswirkungen bis hin nach Europa, zu verhindern. Und zweitens sollte innerhalb von zehn Jahren, der Laufzeit der Vereinbarung, und durch die Aufhebung der meisten Sanktionen der Iran mittels wirtschaftlichen Wachstums in die Staatengemeinschaft reintegriert werden, um so zu einer weiter reichenden Vereinbarung und zu einer dauerhaften Entspannung mit dem Iran zu kommen. Der Iran ist nach Israel wohl die am meisten ernst zu nehmende Militärmacht in der Region, zunehmend gilt dies auch technologisch trotz (oder vielleicht auch wegen?) der anhaltenden wirtschaftlichen und technologischen Isolierung des Landes, ob dies gefällt oder nicht. Allein das Faktum zählt.

Wäre Hillary Clinton zur amerikanischen Präsidentin gewählt worden, so wäre es mehr oder weniger auch so gekommen. Es wurde aber Donald Trump gewählt, der sein Wahlversprechen – weg mit dem schlechtesten Deal aller Zeiten! – zur Außenpolitik der USA machte und dabei auch durch die Ablehnung der Politik seines Vorgängers angetrieben wurde. So verirrte er sich fast blindlings im Minenfeld des Nahen Ostens. Mit dem Abgang des letzten »Erwachsenen« in Trumps Umfeld, von Verteidigungsminister Matthis, war dessen Hineinstolpern in das nahöstliche Minenfeld endgültig vollzogen.

Trump wollte erklärtermaßen keinen Krieg mit dem Iran, eskalierte aber mittels scharfer, den Ölexport fast erdrosselnder Sanktionen gegen den Iran und der einseitigen Aufkündigung des Atomabkommens, als ob er genau diesen wollte! Er wollte auch keinen erzwungenen Regimewechsel in Teheran, tat aber alles, um das Regime wirtschaftlich in den Abgrund zu stürzen. Das Mullahregime sah dem nicht tatenlos zu, weder in Syrien noch am Golf, sondern begann sich zu wehren. Es hatte, nach der Erfahrung seiner fast kompletten Isolierung in dem mörderischen, acht Jahre dauernden Krieg mit Saddam Hussein (nur noch Israel lieferte damals dem bedrängten Iran Waffen) unter dem Einsatz von viel Geld, Ausbildern und Waffen ein die gesamte Region überziehendes Netzwerk von meistens schiitischen Unterstützungsgruppen aufgebaut, die es zu aktivieren begann. Das Ergebnis ist bekannt: der durch die erneuerten amerikanischen Sanktionen drohende wirtschaftliche Kollaps des Iran, der von der Supermacht hingenommene Tankerkrieg am Golf und in Gibraltar und der nächtliche Drohnenangriff auf das Herz der saudischen Ölindustrie, der militärisch ebenfalls seitens der USA und Saudi-Arabiens folgenlos blieb – ein in der gesamten Region widerhallendes Signal der Schwäche. Trump versuchte durch eine militant klingende Rhetorik und massive Waffenexporte nach Saudi-Arabien die Tatsache des unter ihm tatsächlich beabsichtigten Rückzugs notdürftig zu verbergen.

Saudi-Arabien, mit seinem Ölreichtum und als sunnitische Führungsmacht, hat Ambitionen auf die regionale Hegemonie, zumindest am Persischen Golf und der Arabischen Halbinsel, und sieht dabei in der schiitischen Führungsmacht Iran seinen großen Rivalen. Im Südwesten der Arabischen Halbinsel, im Jemen, führen die beiden Aspiranten auf die Hegemonie bereits einen unseligen Stellvertreterkrieg mit großen Opfern unter der Zivilbevölkerung.

Im Spätsommer 2019 kam es völlig überraschend zu dem erwähnten nächtlichen Drohnenangriff auf die saudische Ölindustrie, der in der Weltwirtschaft einen Schock auslöste. Ungehindert konnten mehrere Drohnen und Cruise Missiles erst längere Zeit den saudischen Luftraum durchqueren und dann präzise koordinierte Angriffe mit der Folge großer Zerstörungen starten. Die saudische Luftabwehr, so es sie denn gegeben hat, schien sich im Tiefschlaf befunden zu haben, zudem müssen die Angreifer auch intime Kenntnisse der Lage vor Ort gehabt haben, was ebenfalls nicht für die saudische Spionageabwehr spricht.

Der Schlag kam aus dunkler Nacht, ohne Vorankündigung. Was auffällt, ist die zeitliche Nähe zum G7-Gipfel in Biarritz und zur Vorbereitung eines Gesprächs zwischen den beiden Präsidenten Trump und Rohani. Der Gipfel fand Ende August statt, der Angriff Mitte September, zeitlich auch passend zur Generalversammlung der UN in New York. Sie begann ebenfalls Mitte September, auf der beide Präsidenten anwesend waren und ein mögliches Treffen hätte stattfinden können.

Spielte bei dem nächtlichen Angriff auf das Herz der saudischen Ölindustrie auch der Machtkampf zwischen Radikalen und Gemäßigten innerhalb des iranischen Regimes eine Rolle, das unter den amerikanischen Ölsanktionen ächzt? Und ist Amerikas Position im Nahen Osten unter Trump, trotz dessen militant-aggressiver Rhetorik, mittlerweile wegen der Rückzugsversprechen von Trump an seine Wählerschaft so schwach, dass die Radikalen in Teheran einen solchen Angriff aus innenpolitischen Gründen wagen konnten? Die Fakten legen eine bejahende Antwort nahe.

Zudem spielt nicht nur in den USA die Innenpolitik eine entscheidende Rolle, sondern auch in Teheran. Es gibt Hinweise, dass die Radikalisierung der Revolutionswächter auch im Zusammenhang mit den kommenden Wahlen von Parlament und Präsident zu sehen ist und der Nachfolgefrage für den obersten Revolutionsführer Ali Khamenei. Wollen die Revolutionswächter eine Konzentration der gesamten institutionellen Macht in ihren, d.h. in radikalen Händen, um für die Nachfolgefrage gerüstet zu sein? Die Entwicklungen innerhalb der Machtelite des Regimes dürften in diesem Prozess auf jeden Fall eine große Rolle spielen.

Mit dem möglichen Ausscheiden Saudi-Arabiens aus dem hegemonialen Machtkampf im neuen Nahen Osten wegen erwiesener Schwäche ist dieser Kampf jetzt offen und unverhüllt bei den beiden militärisch stärksten Regionalmächten, bei Israel und dem Iran, angekommen oder bei der direkten Konfrontation zwischen USA und Iran und treibt so in eine Richtung, die sich als sehr gefährlich erweisen wird, nicht nur für die Region, sondern für die Welt. Das Gleiche gilt für Syrien, denn dort besteht die Gefahr, dass sich der Iran, wie bereits im Libanon, dauerhaft an der israelischen Nordgrenze festsetzt und Israel aus kurzer Distanz direkt bedrohen kann. In der westlichen Presse erscheint vor allem Wladimir Putin als der große Gewinner, aber dabei geht es vor allem um Prestige. »Alle Wege führen nach Moskau« heißt es da im Zusammenhang mit der Entwicklung an der Nordgrenze des Landes, man spricht auch von einer Aufteilung Syriens zwischen Erdogan und Putin. Der Iran sucht sein Prestige in der Rolle der regionalen Hegemonialmacht, gegen die nichts geht. Ihm wird es recht sein, dass er wenig sichtbar im Hintergrund bleibt und Russland die diplomatische Bühne überlässt, solange er seine Position in Syrien konsolidieren kann.

Hinzu kommt, dass der Iran mit diesem Angriff gezeigt hat, wer die dominierende Kraft am Persischen Golf ist, gegen die kaum noch etwas geht, und wie unentschlossen die USA mittlerweile sind. Das wirft die Frage auf, ob angesichts der erwiesenen Schwäche Saudi Arabiens Trump mit seiner Zurückhaltung gegenüber dem Iran und seinen militärischen Abzugsplänen ungehindert weitermachen wird können. Die Tötung von Qassem Suleimani gibt uns darauf eine negative Antwort und wirft zugleich die weiteren Fragen auf, ob Trump zu einem noch sehr viel größeren und teureren Krieg im Nahen Osten gegen Iran bereit sein wird, als es der Irakkrieg gewesen war. Und was wird in diesem völlig neuen Umfeld der erhöhten Kriegsgefahr aus dem iranischen Atomprogramm werden? Es fehlt den USA unter Trump jegliche Strategie für den Nahen Osten, darin liegt das eigentliche, das strategische Risiko. Für Trump hat seine Wiederwahl und sein Wahlversprechen, die Truppen abzuziehen, Priorität, nicht aber die Stabilität oder gar der Schutz seiner Bündnispartner im Nahen Osten. Schon sein Amtsvorgänger Barak Obama musste in Syrien lernen, dass eine unterbliebene, gleichwohl zuvor öffentlich angekündigte militärische Reaktion schlimme Folgen haben kann, nämlich einen umfassenden Vertrauensverlust. So auch in diesem Fall. Alle Staaten im Nahen Osten werden daher ihre Interessen und Loyalitäten neu überdenken und die entsprechenden Schlüsse daraus ziehen.

Israel ist durch die iranische Fähigkeit zu präzisen Angriffen mittels Drohnen und Raketen oder Cruise Missiles über lange Distanzen hinweg aufs Höchste alarmiert und sieht darin eine direkte Bedrohung seiner nationalen Sicherheit, vor allem dann, wenn die libanesische Hisbollah mit solchen Fähigkeiten durch den Iran ausgestattet würde. Oder der Iran von Syrien aus angreifen könnte. Die Hisbollah verfügt über ein riesiges Arsenal von nicht steuerbaren Raketen. Sollte der Iran die libanesischen Gotteskrieger mit den neuen iranischen Präzisionslenkwaffen ausrüsten, so würde sich die Bedrohungslage für Israel fundamental ändern.

Ein ähnlich präziser Angriff wie in Saudi-Arabien auf Israel würde den neuen Nahen Osten in einen Krieg stürzen, der alles bisher Gekannte in dieser Region um Größenordnungen übersteigen würde. Es darf dabei auch nicht vergessen werden, dass Israel Atommacht ist und im Falle der Bedrohung seiner nationalen Existenz mit jedem Mittel zurückschlagen würde. Trumps außenpolitischer Dilettantismus, seine offensichtlich für die Stabilität des Nahen Ostens gefährliche Mischung aus Wortradikalismus und dem Fehlen jeglicher Strategie hat ganz entscheidend zu dieser Situation beigetragen und den Iran und dessen Partner in Syrien, nämlich Assad und Russland, entscheidend gestärkt. Die einseitige Aufkündigung des Nuklearabkommens mit dem Iran ohne auch nur den Schatten einer konstruktiven Idee über das, was danach erfolgen sollte, erwies sich als ein törichter Fehler, wie auch der ruchlose Verrat an den einstmals verbündeten Kurden.

Der Verrat an den Kurden im Norden Syriens ist nicht nur von besonderer moralischer Perfidie gewesen, sondern war darüber hinaus, jenseits aller moralischen Erwägungen, auch völlig unnötig und wird sich durch den damit einhergehenden Glaubwürdigkeitsverlust Washingtons in Zukunft noch als sehr teuer für die USA erweisen. Es steht zu befürchten, dass der bereits militärisch geschlagene Islamische Staat, trotz der Tötung seines Anführers al-Bagdhadi, ein zweites Leben erhalten hat. Und das alles geschah unter der Überschrift »Einen der endlosen Kriege der USA beenden!«.

Auch die Tötung Suleimanis gibt keine Antwort auf die Frage nach der Strategie der USA. Werden sie am weiteren Rückzug aus der Region festhalten oder als militärische Ordnungsmacht im Nahen Osten mit all deren Kosten und Risiken verbleiben? Es hat sich also lediglich die Kriegsgefahr zwischen den USA und Iran gefährlich erhöht.