Scheitert Europa? - Joschka Fischer - E-Book

Scheitert Europa? E-Book

Joschka Fischer

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Beschreibung

Europa am Scheideweg Scheitert Europa?? Viele Jahrzehnte war diese Frage völlig realitätsfern, die EU war ein Erfolgsprojekt, ein Scheitern schien unmöglich.Das ist heute ganz anders. Seit der großen Finanzkrise, die 2008 begann, nach den spektakulären Wahlerfolgen europafeindlicher Populisten bei der Europawahl und nach den außenpolitischen Erschütterungen in der Ukraine ist nichts mehr, wie es einmal war. Die Gefahr des Scheiterns des europäischen Einigungsprozesses ist sehr konkret geworden, zumal auch die Regierungen in vielen Ländern der EU aus Rücksicht auf skeptische Stimmungen im eigenen Wahlvolk davor zurückschrecken, mutige Schritte in Richtung eines vereinigten, demokratischen Europas zu gehen. Joschka Fischer zeigt in seiner Streitschrift, dass dazu leider auch die deutsche und französische Regierung gehören, trotz ihrer besonderen Verantwortung für ein demokratisch vereintes Europa. Joschka Fischer, der als Außenminister der rot-grünen Koalition von 1998 bis 2005 maßgeblich am europäischen Einigungsprozess beteiligt war, analysiert in seinem Buch die Ursachen der verschiedenen Krisenherde und der politischen Stagnation in Europa, die verheerende Folgen für die Sicherheit, die Demokratie und den Wohlstand in Europa haben kann. Und er entwickelt als überzeugter Europäer überraschende strategische Ideen, um den europäischen Einigungsprozess wiederzubeleben und die EU zu reformieren.

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Joschka Fischer

Scheitert Europa?

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Joschka Fischer

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

VorwortDer große KnallDie EU und die europäische GeschichteDie strategische Krise EuropasDie Lehren aus den Krisen: die Vereinigten Staaten von Europa und die Herausbildung einer europäischen DemokratieEin vorläufiges Schlusswort
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Vorwort

Der Sommer des Jahres 2014 hat es in sich. Ausgerechnet in jenem Jahr, in dem sich der Beginn des Ersten Weltkriegs – der europäischen »Urkatastrophe« – zum hundertsten Male jährt, ballen sich erneut dunkle Wolken über Europa, Krieg und Desintegration bedrohen erneut den Kontinent: Russland ist zu einer neoimperialen Großmachtpolitik zurückgekehrt, überfällt einen kleineren Nachbarn und führt Krieg im Osten der Ukraine. Der Nahe Osten zerfällt, und Irak und Syrien, das zugleich furchtbar unter einem nicht enden wollenden Bürgerkrieg leidet, werden von den barbarischen Horden des »Islamischen Staates« überrannt. Amerika verharrt zögernd an der Seitenlinie, in der EU meldet sich bedrohlich die Wirtschaftskrise zurück, während im Innern der Europäischen Union ein Prozess der Renationalisierung mehr und mehr um sich greift.

Spätestens mit den Ergebnissen der Europawahl wurde doch offensichtlich, dass die von Deutschland durchgedrückte Spar- und Austeritätspolitik mitnichten die Wirtschaftskrise beendet und zu erneutem Wachstum geführt hat, sondern die Krise lediglich in den politischen Raum verlagert wurde. Es wird nur eine Frage von (nicht mehr allzu langer) Zeit sein, bis die Austeritätspolitik in den Krisenländern der EU die europäische Integration direkt gefährden wird.

Beide Krisen – die Finanz- wie die außenpolitische Sicherheitskrise – scheinen die EU von außen getroffen zu haben. Aber es wäre ein großer Irrtum, diese Krisen nur auf externe Ursachen zurückzuführen, ihnen liegen zugleich schwere innere Versäumnisse und Konstruktionsmängel des europäischen Einigungsprojekts zugrunde.

Nach der Währungsunion hat es Europa versäumt, in Richtung politische Union voranzuschreiten, viel zu lange hat sich die EU, vorneweg Deutschland, nach dem Ende des Kalten Krieges in der Illusion einer angeblichen »Friedensdividende« gewiegt und steht nun ratlos vor der Rückkehr von Krieg und Großmachtpolitik im Osten Europas.

Mit den bedrohlichen Krisen und der offensichtlichen Schwäche der EU kehrte auch die uralte Frage nach der politischen Integration Europas zurück, denn die Krisen erzwingen praktische Antworten auf die Frage, wie denn die Europäer ihre wirtschaftliche und politische Schwäche überwinden können. Lässt sich der Status quo stabilisieren? Ist die schlussendliche Antwort das »Europa der Vaterländer«, also eine lose Konföderation? Oder führt doch kein Weg an der vollen politischen Integration, einer echten Föderation mit einer entsprechenden Zentralisierung von Macht in Brüssel, also an den Vereinigten Staaten von Europa, vorbei? Und wenn ja, wie könnten diese Vereinigten Staaten von Europa aussehen, welche Rolle müssten die Nationalstaaten dabei spielen, wie könnte eine europäische Demokratie funktionieren?

Diesen Fragen wird in dem folgenden Essay nachgegangen, Fragen, die nicht theoretischer Natur sind, sondern sich durch die dramatischen Krisen Europas ganz praktisch stellen. Sie werden durch politisches Handeln beantwortet werden müssen, soll nicht das gesamte europäische Projekt scheitern.

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Und doch gibt es all die Zeit hindurch ein Mittel, das, würde es allgemein und spontan von der großen Mehrheit der Menschen in vielen Ländern angewendet, wie durch ein Wunder die ganze Szene veränderte und in wenigen Jahren ganz Europa, oder doch dessen größten Teil, so frei und glücklich machte, wie es die Schweiz heute ist. Welches ist dieses vorzügliche Heilmittel? Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie, oder doch soviel davon, wie möglich ist, indem wir ihr eine Struktur geben, in welcher sie in Frieden, in Sicherheit und in Freiheit bestehen kann. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. …

Die Völker müssen es nur wollen, und alle werden ihren Herzenswunsch erfüllen. Ich sage Ihnen jetzt etwas, das Sie erstaunen wird. Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. Nur so kann Frankreich seine moralische und kulturelle Führerrolle in Europa wiedererlangen. Es gibt kein Wiederaufleben Europas ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes Deutschland. Wenn das Gefüge der Vereinigten Staaten von Europa gut und richtig gebaut wird, so wird die materielle Stärke eines einzelnen Staates weniger wichtig sein. Kleine Nationen werden genauso viel zählen wie große, und sie werden sich ihren Rang durch ihren Beitrag für die gemeinsame Sache sichern. …

Ich will nun die Aufgaben, die vor Ihnen stehen, zusammenfassen. Unser beständiges Ziel muss sein, die Vereinten Nationen aufzubauen und zu festigen. Unter- und innerhalb dieser weltumfassenden Konzeption müssen wir die europäische Völkerfamilie in einer regionalen Organisation neu zusammenfassen, die man vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa nennen könnte. …

Wenn zu Beginn nicht alle Staaten Europas der Union beitreten können oder wollen, so müssen wir trotzdem damit anfangen und diejenigen, die wollen, und diejenigen, die können, sammeln und zusammenführen. Die Errettung der Menschen aller Rassen und aller Länder aus Krieg und Knechtschaft muss auf soliden Grundlagen beruhen und garantiert werden durch die Bereitschaft aller Männer und Frauen, lieber zu sterben, als sich der Tyrannei zu unterwerfen. Bei all diesen dringenden Aufgaben müssen Frankreich und Deutschland zusammen die Führung übernehmen. …

Darum sage ich Ihnen: Lassen Sie Europa entstehen!

 

Winston Churchill, Züricher Rede 1946

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Der große Knall

Scheitert Europa? Diese Frage schien vor dem Jahr 2009 völlig realitätsfern zu sein, denn die EU war bis dahin ein über die Jahrzehnte hinweg fortdauerndes Erfolgsprojekt, das zwar jede Menge Schwierigkeiten und dann und wann auch Rückschläge zu bewältigen hatte – aber scheitern? Unmöglich! Warum? Weil die Europäer die Lektion aus ihrer an Tragödien so reichen Geschichte gelernt hätten, ein für alle Mal. So oder ähnlich lautete die gleichermaßen einfache wie überzeugende Antwort, und diese Feststellung galt bis zum Beginn der Weltfinanzkrise vor allem für uns Deutsche, auch wenn bei unseren Nachbarn, tief im Hinterkopf verborgen, immer ein Rest an Misstrauen gegenüber Deutschland, bedingt durch seine Geschichte, weiter fortbestand.

Seit dem 15. September 2008 aber ist diese scheinbar so unerschütterliche Gewissheit über den Erfolg des Projekts namens Europäische Union einer nagenden Ungewissheit über die Zukunft Europas und, damit untrennbar einhergehend, auch sofort wieder über die Rolle Deutschlands in Europa gewichen. Europa und die Europäer sind sich seitdem ihrer gemeinsamen Zukunft nicht mehr sicher, und die ominöse »deutsche Frage« – was und wo ist Deutschlands Rolle und Platz in Europa? – scheint aus dem Orkus der Geschichte wieder zurückgekehrt zu sein. Nicht nur das globale Finanzsystem stürzte damals in seine schwerste Krise seit 1929 und die Weltwirtschaft drohte in eine neue Weltwirtschaftskrise abzukippen, sondern es sollte gerade Europa sein, das sich plötzlich in einer bis heute anhaltenden tiefen Identitäts- und Existenzkrise wiederfand. Seitdem ist das bis dahin Undenkbare, die Gefahr des Scheiterns des gesamten europäischen Einigungsprojektes, sehr konkret geworden.

Warum? Die Weltfinanzkrise hatte doch alle Staaten – USA, China, Japan etc. – und Volkswirtschaften fast gleichermaßen schwer getroffen. Aber nur in Europa wuchs sich diese Krise zu einer politischen Existenzbedrohung aus. Bis heute hält die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 die EU fest in ihrem Griff, vor allem im Süden der Union, während die USA sich bereits wieder darangemacht haben, diese hinter sich zu lassen. Auf der anderen Seite des Atlantiks sind die Finanzen mitnichten solider, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft nicht wirklich so viel besser und die Volkswirtschaft insgesamt nicht so viel reicher, als dass sich daraus der so unterschiedliche Krisenverlauf zwischen Europa und dem Rest der Welt erklären ließe. Wie tief diese Krise tatsächlich ist – nicht die Krise des Euros, sondern die Krise des gesamten europäischen Projekts, wie es sich in mehr als fünf Jahrzehnten entwickelt hat –, lässt sich anhand der fast diametralen Veränderung der Sicht der Europäer auf ihr wichtigstes politisches und wirtschaftliches Projekt, die europäische Einheit, feststellen.

Diese Sicht hat sich in den vergangenen 20 Jahren grundlegend verändert – aus einer großen Hoffnung wurde ein Problem, ja mehr und mehr sogar eine Bedrohung. Blicken wir zurück: Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, als dann nur ein knappes Jahr später, am 3. Oktober 1990, die deutsche Einheit Wirklichkeit wurde und schließlich erneut ein weiteres Jahr darauf während der Weihnachtstage 1991 die Sowjetunion aufhörte zu existieren und der fünfzigjährige Kalte Krieg zwischen Ost und West endgültig vorbei war, da gab es für die Europäer – vor allem für diejenigen, die in Ost- und Mitteleuropa noch nicht Mitglieder der EU waren – nur ein Ziel, nämlich in Zukunft unauflöslich dem Westen und nie wieder dem östlichen Lager anzugehören. Und das hieß für diese Staaten, so schnell wie möglich sicherheitspolitisch den Beitritt zum Nordatlantikpakt (NATO) mit seiner Sicherheitsgarantie durch die USA anzustreben und wirtschaftlich den Beitritt zur Europäischen Union (EU) mit ihrem Versprechen von Modernisierung, Wohlstand, Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat, wobei das Wohlstands- gemeinsam mit dem Sicherheitsversprechen eindeutig an erster Stelle standen. Europa und seine Einheit waren damals für die übergroße Mehrheit der neuen und alten Europäer positive Begriffe, Ziele, für die es sich zu kämpfen lohnte, eine große Hoffnung, ein endlich Wirklichkeit werdender Tagtraum.

20 Jahre später scheint sich dieses Europa in sein genaues Gegenteil verkehrt zu haben, der Traum scheint ausgeträumt zu sein. Seit 2009 wächst die Zahl der Europäer dramatisch an, die an Europa zweifeln, ja verzweifeln. Das Wohlstandsversprechen ist Enteignungsängsten im Norden und der wirtschaftlichen Dauermisere im Süden gewichen. Wo früher auf die schrittweise Vereinigung des Kontinents gehofft und von europäischer Solidarität gesprochen und entsprechend gehandelt wurde, ist heute eine neue Spaltung in Nord und Süd, Arm und Reich und eine wachsende Desolidarisierung getreten. Europa erscheint zunehmend als die Ursache der Übel, während die Nationalstaaten Vertrauen und Sicherheit bieten. Eine erneute Renationalisierung der Köpfe löst die Europäisierung unseres Kontinents mehr und mehr ab. Gerade unter den reicheren Nordeuropäern, denen es wirtschaftlich sehr viel besser geht als dem Süden, nimmt die Euroskepsis beständig zu – der Norden fürchtet die Enteignung durch den Süden, während sich der Süden im Stich gelassen und von den reichen Nordeuropäern verraten fühlt.

Begleitet wird dieser Prozess von einem Aufstieg radikaler antieuropäischer und fremdenfeindlicher Parteien in demokratischen Wahlen, während zugleich in Großbritannien eine Debatte um Bleiben oder Austreten des Landes aus der EU tobt. Europa und seine Einheit erscheint heute, im Jahr 2014, nicht mehr als ein großes, historisch einmaliges Versprechen, sondern als die Mutter aller Ursachen für eine nicht zu Ende gehende Misere, für eine Wirtschaftskrise mit über 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit an der europäischen Peripherie von Griechenland bis Irland. Was war geschehen? Vereinfacht und doch zutreffend lässt sich feststellen, dass die EU ganz offensichtlich nur für wirtschaftlich und politisch schönes Wetter gebaut war, nicht aber für historische Stürme oder sogar monströse Orkane. Und genau ein solcher hat Europa im Jahr 2009 mit seiner vollen Wucht getroffen.

Und wie immer bei solchen Orkanen begann es mit zuerst harmlos aussehenden Wölkchen und Wolken weit weg am transatlantischen Horizont, im fernen Amerika, die vordergründig mit Europa wenig bis nichts zu tun zu haben schienen. In den USA hatte seit 2007 eine gigantische Immobilienblase zu platzen begonnen, die tatsächlich nichts anderes war als ein riesiges Schneeballsystem, auf dem fast das gesamte Finanzsystem der USA (und, verknüpft mit diesem weltweit führenden Finanzmarkt, weiter Teile der Weltwirtschaft) beruhte, die Kreditwürdigkeit des Bundesstaates USA selbst war damit auf das Engste verbunden. Nahezu alle Großbanken standen Mitte September 2008, gewissermaßen über Nacht, vor dem Kollaps, und dies galt auch für das größte Versicherungsunternehmen des Landes und die beiden staatlichen Hypothekenabsicherer Fannie Mae und Freddie Mac, die für die weltweite Kreditwürdigkeit der USA unverzichtbar waren.

Der De-facto-Kollaps des US-Finanzsystems hatte, wie sich im weiteren Fortgang herausstellen sollte, direkt oder indirekt weitreichende Folgen, denn die USA waren nicht nur die einzige verbliebene Supermacht, sondern eben auch die größte und wichtigste Volkswirtschaft der Welt, die zudem eng verflochten war mit den großen europäischen Volkswirtschaften, vorneweg Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Der Handel mit verbrieften Hypotheken und deren Versicherungen, denen faktisch kaum oder gar keine Sicherheiten gegenüberstanden, erwies sich jetzt in der Tat als jene »Massenvernichtungswaffe« für das gesamte Finanzsystem, als die sie der amerikanische Großinvestor Warren Buffett schon seit Längerem bezeichnet hatte.

Der große Knall ereignete sich dann am 14. September 2008, einem Sonntag. Im fernen New York und in Washington, D.C., ließen die Verantwortlichen der Regierung Bush und der amerikanischen Zentralbank die zahlungsunfähige Investmentbank Lehman Brothers pleitegehen. Ob die Akteure dieselbe Entscheidung nur wenige Tage später nochmals so getroffen hätten, darf mit guten Gründen bezweifelt werden, aber sie hatten sich an jenem Sonntag so entschieden und damit – unwissentlich und ungewollt – die Existenz der EU und vor allem der Europäischen Währungsunion infrage gestellt. Es war eben nicht nur eine amerikanische Krise, hinter ihr zeichnete sich bereits ihre europäische Schwester ab in Gestalt einer existenzbedrohenden Krise der Währungsunion und damit des gesamten Projekts Europa.

Freilich ahnte man an jenem schicksalsschweren Sonntag in den europäischen Hauptstädten noch kaum, welch ein Orkan da binnen weniger Tage über den Nordatlantik heranziehen sollte. Man hielt in den europäischen Regierungs- und Finanzzentralen zwar den Atem an, als am 15. September die Investmentbank Lehman Brothers Gläubigerschutz beantragen musste und in dessen Folge mit gewaltigen Verlusten in die Abwicklung ging. Aber erst als im Zuge der Lehman-Pleite das gesamte amerikanische Finanz- und Bankensystem zu kollabieren drohte und mit Hunderten von Milliarden Dollar an Steuergeldern und temporären weitreichenden Verstaatlichungen gerettet werden musste, dämmerte manchen Verantwortlichen der Ernst und das Ausmaß dieser Krise. Es ging 2008 um nicht weniger als um ein zweites 1929, das Europa erneut mit in den Abgrund zu reißen drohte!

Es sollte aber noch geraume Zeit dauern, bevor die europäischen Regierungen begriffen, dass sie es mit wesentlich mehr zu tun hatten als mit den Auswirkungen einer von Amerika verursachten globalen Finanzkrise, die ein in Amerika zu lösendes Problem blieb. Diese Krise sei zuerst und vor allem ein amerikanisches Problem, so lautete damals die vorherrschende Meinung auf dieser Seite des Atlantiks und ganz besonders in Berlin, ein Problem, vor dem es sich zwar zu schützen gälte, das ansonsten aber durch die USA mittels fundamentaler Reformen ihres Finanzsystems gelöst werden müsste. Dass das Platzen der amerikanischen Subprime(minderwertige Hypotheken)-Blase aber ganz unmittelbar in eine die Existenz der Europäischen Union und damit des gesamten europäischen Einigungsprojekts bedrohende lang anhaltende Krise führen würde, war den wenigsten klar. Der damalige britische Premierminister und langjährige Finanzminister Gordon Brown berichtete Jahre später, dass während eines außerordentlichen Treffens der wichtigsten Staats- und Regierungschefs der Eurogruppe (d.h. der EU-Mitglieder mit Eurowährung) in Paris im frühen Oktober 2008 dort die Meinung vorgeherrscht habe, dass es vor allem an den Amerikanern liege, diese Krise zu lösen. Offensichtlich waren sich die Kontinentaleuropäer der europäischen Dimension dieser Krise damals nicht bewusst. Der britische Premierminister konnte seine Kollegen nicht davon überzeugen, dass die Hälfte der Subprime-Papiere, die eben dabei waren, in die Luft zu fliegen, in Europa gelandet waren und dass die europäischen Banken stärker in diesen Papieren exponiert waren als die amerikanischen!

Selbst am 25. September 2009 – also ein Jahr nach Lehman! – war dies immer noch die Botschaft, die der damalige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag für die damals regierende Große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel den Parlamentariern und der Öffentlichkeit verkündete: Unser System ist gesund, das amerikanische aber ist bis in den Kern hinein krank – welch ein Irrtum! Denn während der Minister noch im deutschen Parlament sprach, konnte man bereits seine Frackschöße brennen sehen. Am 4. Oktober 2009 fanden in Griechenland Parlamentswahlen statt, die von der sozialistischen Opposition gewonnen wurden, und am 20. Oktober erklärte dann der neue Finanzminister der Regierung Papandreou, dass, anders als von der konservativen Vorgängerregierung behauptet, das Defizit für das Jahr 2009 nicht bei sechs Prozent, sondern irgendwo zwischen 12 und 13 Prozent liegen würde. Damit waren die EU-Konvergenzkriterien mehrfach überschritten worden.

Die Finanzmärkte, auf denen sich die Staaten mit ihren Schulden refinanzierten, wachten nun auf und realisierten, dass die Bonität der einzelnen Mitglieder im Euroraum mitnichten annähernd gleich war, wie man über viele Jahre hinweg angenommen hatte. In der Folge explodierten die Zinsen für Griechenland, sodass im Frühjahr 2010 dem Land die Zahlungsunfähigkeit und damit der Staatsbankrott drohte. Die Auswirkungen einer griechischen Zahlungsunfähigkeit auf deutsche, französische und britische Banken und damit auf die gesamte Eurogruppe wären allerdings unabsehbar gewesen, und insofern musste Griechenland durch seine Gläubiger aus dem europäischen Norden »gerettet« werden – in Wirklichkeit aber ging es um die Rettung der nordeuropäischen Banken und damit um das gesamte europäische Banken- und Finanzsystem. Der Bedarf an Steuergeldern war daher in der Eurogruppe ähnlich hoch wie in den USA, man müsste ehrlicherweise die europäische Bankenrettung, die sich hinter dem Etikett »Griechenland« verbirgt, als »Bankenrettung Teil II« bezeichnen, wenn man die US-amerikanische Bankenrettung als Teil I deklariert. Mit den griechischen Offenbarungen hatte die Krise nunmehr Europa voll erreicht und ihre ganz spezifische europäische Gestalt angenommen, die sie bis zum heutigen Tag beibehalten hat.

Zuvor drohte bereits Irland wegen des Platzens seiner Immobilienblase und der damit einhergehenden Krise seiner Banken im Strudel der Krise verschlungen zu werden, ebenso etwas später aus denselben Gründen Spanien. Beide Länder hatten allerdings, anders als Griechenland, ihr Staatsdefizit über Jahre hinweg unter dem EU-Durchschnitt gehalten und wurden nicht der mangelnden Korrektheit bezichtigt. Auch Portugal musste sein Defizit für das Jahr 2009 nach oben auf acht Prozent korrigieren. Entsprechend steil stiegen die Zinsen für seine Schuldenrefinanzierung an, auch in diesem Fall drohte der Staatsbankrott.

Und schließlich traf die Krise Italien, die drittgrößte Volkswirtschaft in der Eurogruppe, deren Staatsverschuldung nach Griechenland die zweithöchste im Euroraum war. Auch im Falle Italien reagierten die Finanzmärkte mit drastisch steigenden Zinsen, selbst wenn das Land mit Griechenland überhaupt nicht vergleichbar war, denn es war sehr reich an Vermögenswerten, verfügte über eine wesentlich stärkere Volkswirtschaft und teilweise über sehr gut funktionierende staatliche Institutionen (das Amt des Staatspräsidenten, die Banca d’ Italia, der Auswärtige Dienst, die Sicherheitsbehörden etc.). Zudem wurde der größte Teil der Staatsschuld vor allem durch Italiener selbst gehalten. Aber das Land hatte ein massives politisches »Managementproblem«, das sich zwar am Namen des damaligen Regierungschefs Silvio Berlusconi festmachte, gleichwohl erheblich darüber hinausreichte und weite Teile der politischen Klasse unter Einschluss der Opposition umfasste. In einem allgemeinen Klima des Misstrauens an den Finanzmärkten erwiesen sich diese seit Langem bestehenden politischen Defizite und die traditionellerweise hohe Staatsverschuldung des Landes als ein Mühlstein am Hals der italienischen Kreditwürdigkeit. Italien war aber schlicht zu groß für Rettungsmaßnahmen von außen, es musste sein Managementproblem selbst lösen. Damit wurde die europäische Finanzkrise definitiv zu einer politischen, es waren die Finanzmärkte, die Berlusconi stürzten.

Die globale Finanzkrise legte zudem nicht nur die monetären und wirtschaftlichen, sondern sehr viel mehr noch die politischen Unterschiede innerhalb der EU und vor allem in der Eurogruppe offen und spitzte diese in der Folge weiter erheblich zu. Bereits seit der ersten Erweiterung der EU, der sogenannten »Norderweiterung« um Dänemark, Großbritannien und Irland im Jahr 1973, hatte sich die damalige Europäische Gemeinschaft (EG) von einem »Europa der einen Geschwindigkeit« in der ursprünglichen Sechsergruppe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu einem »Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten« entwickelt, und dieser Trend zu unterschiedlichen Geschwindigkeiten sollte sich mit jeder Erweiterungsrunde und jedem weiteren Integrationsschritt verstärken.

Der Höhepunkt dieser Entwicklung wurde mit dem Vertrag von Maastricht und der Bildung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion 1992 erreicht, der am 1. November 1993 in Kraft trat. Damit hatte sich eine Mehrheit der damaligen EU-Mitgliedstaaten für einen echten und damit weitreichenden Schritt der Souveränitätsübertragung entschieden, nämlich die Übertragung der Währungshoheit auf eine europäische Institution in Gestalt der neu geschaffenen Europäischen Zentralbank (EZB), aber es waren eben nicht alle, sondern nur die Mehrheit der Mitgliedstaaten. Großbritannien, Dänemark und Schweden machten nicht mit. Und mit diesem Schritt des Zusammenfügens der bisher nationalen Währungssouveränitäten mit einer gemeinsamen Währung namens Euro machte diese Gruppe im Rahmen der EU einen qualitativen Sprung nach vorn in der europäischen Integration, der alle anderen Mitgliedstaaten außerhalb der Eurogruppe weit hinter sich ließ.

Fortan würden diejenigen Mitgliedstaaten, die der Eurogruppe innerhalb der EU angehörten, sehr viel mehr voneinander abhängen, als dies für deren Nichtmitglieder galt, ja das Schicksal der gesamten