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Wind-Lopers sind an der Straße in der Westermarsch zwischen Norden und Utlandshörn schräg gewachsene, alte Bäume, die sich durch den ewigen Nordwestwind dauerhaft nach Südost geneigt haben und so mutig weiterwachsen. Vier wichtige, regionalgeschichtliche Ereignisse im Nordwesten aus drei Jahrhunderten werden in diesem Buch novellenartig lebendig.
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Seitenzahl: 386
Veröffentlichungsjahr: 2020
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„Wind-Lopers“...
...sind an der Straße in der Westermarsch zwischen Norden und Utlandshörn schräg gewachsene, alte Bäume, die sich durch den ewigen Nordwestwind dauerhaft nach Südost geneigt haben und so…
…mutig weiterwachsen.
„Utlandshörn“
ist am Deich der nordwestlichste Eckpunkt von Deutschland.
1. Smacht – „Hunger im Moor“
Die Moorkolonisierung im Fehntjerland Anfang des 18. Jahrhunderts.
2. Auswandern – „Fort von Zuhause“
Die große Armut im Emsland und die Auswanderungswelle im 19. Jahrhundert.
3. Heimat 1945 – „Riewe kommt zu Haddinga“
Die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Osten in Ostfriesland nach 1945.
4. Franz Fritsch - „ …war das nicht ein Jude?“
Das Ringen des Judenretters aus Bockhorn in Oldenburg nach 1945.
Erhard Brüchert - bekannter, niederdeutscher Autor von historischen Freilichtstücken in Ostfriesland und Oldenburg erzählt hier vier seiner Werke auf Hochdeutsch nach. Der zweisprachige Autor und frühere Geschichtslehrer lässt dabei wichtige, regionalgeschichtliche Ereignisse im Nordwesten aus drei Jahrhunderten in dramatischer und literarischer Sprache, novellenartig lebendig werden.
Moorkate, Foto: M.Schildmann
- Hunger im Moor -
Witwe Hille Heeren hockte schweigend in der Dämmerung, ihre sechs Kinder im Halbkreis um sich. Sie saßen, wie so oft in diesem Sommer, vor dem offenen Feuer vor ihrer Moorkate. In der Mitte der Familie – der Vater war vor zwei Jahren an Schwindsucht gestorben – glimmte das schwache Torffeuer. Bald würde es dafür aber hier draußen zu kalt werden, das war der dreizehnjähren, ältesten Tochter Swantje bewusst. Und sie hatte mit ihrer Mutter in der letzten Woche schon oft besprochen, ob noch genügend von den trockenen Torfsoden in der Moorkate für den Winter gestapelt wären und ob das Herdfeuer innerhalb der Kate bei hartem Frost genügend Wärme, vor allem in der Nacht, geben würde. Mutter Heeren schickte schon seit Tagen alle Kinder ins Moor, damit sie trockene Soden und Resthölzer sammelten, bevor der große Regen und später der Frost kommen würden. Diese Materialien waren notwendig, um die schrägen Wände der Kate, die bis auf den Boden reichten, abzudichten.
Swantje hörte ihre kleinen Geschwister klagen: „Mama, ich hab Hunger… Mama, können wir noch was trinken… Mama, ich bin so müde… Mama, ich hab Bauchgrimmen…“ Sie stand nach einem bittenden Blick der Mutter auf, um schnell nachzusehen, ob in der Hütte noch Essbares übrig war. Als sie zurückkam, mit leeren Händen, klagte ihre Mutter: „Kinder, wartet doch noch eine kleine Weile. Die Kartoffelsuppe von Onkel Hinrichs ist bald warm genug. Dann kriegt jeder ein Schüsselchen.“
Die kleinen Geschwister von Swantje maulten: Jeden Tag immer nur Suppe! Ihre Mutter murmelte: „Ich habe doch nichts mehr für euch…“ Swantje fasste die Hand ihre Mutter und sagte, sie könne ja die vielen Beeren und Früchte, welche sie und die Kinder im Sommer im Moor gesammelt hätten, in Leer in der Stadt verkaufen, auf dem Markt. Doch Hille Heeren hielt nicht viel davon. Swantje, ihre Älteste, sei noch viel zu jung für Marktgeschäfte in der Stadt. Sie wäre eben ein Mädchen und solle lieber für die Schule lernen. Und sie würde ja auch hier für die fünf jüngeren Geschwister gebraucht. Der Vater war tot, nun müsse das älteste Kind der Mutter helfen. Und die getrockneten Beeren brauche man doch selber, um im Sommer und im Winter zu überleben. Swantje erwiderte: „Was nützt es, wenn ich in der Schule bei Lehrer Harmens gut bin, aber wir… wir hier langsam verhungern!“ Mutter war empört: „Ein junger Mensch sagt so etwas nicht – das ist Gotteslästerung! Wir müssen Geduld haben und Gott den Herrn um Brot, Milch und Korn für unser Brot bitten… vielleicht auch um Fleisch.“
„Aber, Mama – wo gibt es das hier im Hochmoor?“
***
Vor der Gastwirtschaft „De Voss“ trafen sich im Freien wieder einmal die Moorbauern und Fehnschiffer von Hatshausen und Ayenwolde am Rande des riesigen Hochmoores zwischen den ostfriesischen Städten Aurich und Leer. Die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, aus welcher Ostfriesland einigermaßen glimpflich davongekommen war, lag jetzt schon über ein halbes Jahrhundert zurück, aber irgendwie war die Zeit hier stehengeblieben. Man saß, im Sommer, immer noch im Freien vor der kleinen Schänke, an groben Holztischen mit Bänken ohne Lehne.
Der Gastwirt Hein Mammen und sein Schankknecht Ihno Ysker trugen eifrig das herbe Oldersumer Bier auf, das mit dem leicht moorigen, aber sauberen Wasser des Fehntjer Tiefs gebraut wurde. Die Leute schwadronierten wieder einmal über die zwei abwesenden, wichtigsten Leute des Dorfes: den Pastor Hinrich Bolenius und den jungen Dorflehrer, Mester Anton Harmens. Der Bauer Heiko Bollen, seine Frau Hermine und der Bauer Gerd Hinrichs und seine Frau Trientje führten das große Wort. Aber erst mal kriegte der ungeschickte Knecht Ihno Ysker sein Fett ab. Er stolperte, verschüttete Bier und wurde von Wirt Mammen und den Bauern ausgescholten. Ihno jammerte: „Ich muss hier ja auch zwanzig Stunden am Tag arbeiten und ihr wollt immer mehr Bier.“ „Was sagt du da, Ihno…?“, brauste Hinrichs auf, „Wir Moorbauern müssen auch schwer arbeiten. Sogar im Schlaf träume ich von meinen Tieren und der harten Arbeit.“ Knecht Ihno frech: „Siehste, unsere Moorbauern schlafen gut mit ihren Träumen!“
Mammen und Bollen schimpften über solche dummen Witze in dieser Notzeit, wo die Moorbauern sich überhaupt nicht mit den großmäuligen Marsch- und Geestbauern vergleichen könnten. Hermine Bollen klagte, dass ihre Kinder auch nicht mehr jeden Tag satt würden. Und Trientje Hinrichs überlegte, ob sie ihre Kinder nicht bald zum Betteln in die Marschdörfer der Krummhörn oder die Geestdörfer um Aurich schicken müsste. Das wollte ihr Mann aber auf keinen Fall dulden.
„Aber das Moor ernährt uns nicht mehr!“, rief Trientje, dem Weinen nahe. „Das Moor, das Moor! Ihr redet immer nur von dem Moor. Ich bin aber Bauer und will Ackerland und kein Moor haben!“, schimpfte Gerd Hinrichs.
Da brachte Gastwirt Hein Mammen wieder den Pastor Bolenius ins Spiel, der doch nicht nur auf der Kanzel redete, sondern sich auch sonst gerne ins Dorfgeschehen einmischte. Und der sage doch immer: „Das Moor muss weg!“ Und nun habe er doch auch noch zwei Holländer aus der Gegend von Groningen kommen lassen, Vater und Sohn. Und die Beiden sollten nun das Abbrennen des Hochmoores vorantreiben, wie man es in den benachbarten Niederlanden westlich der Ems schon seit Jahren durchführe. Angeblich hätten die Beiden, ihr Name sei „Kruse“, darin besondere Kenntnisse und Fähigkeiten. Jeden Tag habe er, Hein Mannen, die zwei Holländer in Begleitung vom Pastor und oft auch vom Mester Harmens hier vorbeilaufen sehen – auf dem Weg ins Hochmoor, wo sie dann kleine Feuer ansteckten.
„Nanu“, wunderte sich Hermine Bollen, „unser Pastor gehört doch auf seine Kanzel und nicht ins Moor!“ Und ihr Mann Harro hatte auch schon davon läuten gehört, dass der Pastor die Bauern hier alle zu Moorbrennern anleiten wolle - angeblich, um ihnen damit neues Land zu schenken. Wie das funktionieren solle, sei ihm schleierhaft. „Komisch, so einen Pastor hatten wir hier noch nie – in unserer braven, lutherischen Gegend.“
An den Nachbartisch setzten sich der Fehnschiffer Heiko Janssen mit seiner Frau Antje und dem Matrosen Fredo Smit hin. Sie waren in Begleitung des Händlerpaares Dirk und Insa Ennenga gekommen. Ihre Gespräche drehten sich zunächst nur um den Transport von Gütern und Waren mit den Mudden und Tjalken, die auf dem Fehntjer Tief verkehrten und die wirtschaftliche Verbindung mit den umliegenden ostfriesischen Landstrichen gewährleisteten. Heiko Janssen redete am meisten und betonte seine besondere Stellung als Fluss- und Fehnkapitän. Er wollte den Lohn für seine Transportfahrten beim Kaufmann Dirk hinauftreiben. Dieser aber zierte sich und beklagte, dass das Bezahlen im Fehntjerland so eine Sache wäre: „Was meinst du wohl, Heiko, wie lange das immer dauert, bis die Moorbauern bei mir endlich alles bezahlt haben, was sie bei mir bestellt haben und was ich ihnen mit deiner Hilfe liefere.“
Fredo Smit, den Matrosen, langweilten diese alten Reibereien zwischen Heiko und Dirk. Er hatte die Gespräche am Nachbartisch mitgehört und wechselte das Thema: „Habt ihr das eben hier gehört? Es geht mal wieder um die blöde Moorbrennerei.“ Das war für Heiko ein Reizwort: „Moorbrennerei? Wer fängt denn damit wieder an? Wir haben doch schon genug Brand und Qualm in der Luft!“ Seine Frau Antje: „Na, Heiko, wir kennen doch den Namen Bollermann.“ „Was…?“ schrie Heiko, „…ist Bollermann wieder aktiv geworten?“
Wirt Hein Mammen stellte Heiko Janssen sofort zur Rede und verbot ihm, Pastor Bolenius als „Bollermann“ zu bezeichnen. Wirt und Fehnschiffer standen sich drohend gegenüber. Nur Gerd Hinrichs konnte noch knapp verhindern, dass es zu einer Rangelei kam. Sie standen noch eine Weile nahe voreinander und tauschten ihre Argumente aus: „Ich darf doch hier wohl mein Bier trinken, Wirt Mammen! Ich bezahl immer sofort!“ „Trink! Und halt dein Maul über unsern Pastor Bolenius!“ „Bei der blöden Moorbrennerei zieht der schlechte Qualm tagelang über das Fehntjer Tief. Ich kann meine Hand nicht vor den Augen sehen!“ Dirk Ennenga mischte sich ein: „Wie soll ich denn dann noch meine Sachen zu den Kunden bringen?“ Gerd Hinrichs wollte beschwichtigen: „Nun mal langsam – wir haben doch nur über die neuen Pläne von Pastor Bolenius gesprochen.“ Trientje unterstützte ihren Mann: „Und die sind gut für uns Moorbauern.“ „Aber nicht für uns Skippers! Das ist ein Skandal!“ schrie Heiko Janssen.
Moorbauer Bollen wollte die Lage beruhigen, stand auf, klopfte den Kontrahenten auf die Schultern und schob sie sanft auseinander. Er sagte, dass alles im Leben nun mal zwei Seiten habe, also auch die Moorbrennerei. Aber ob man denn schon wisse, dass Pastor Bolenius inzwischen ja wohl ganz andere Sorgen habe, nämlich den drohenden Besuch von zwei Vögten des hohen evangelischen Konsistoriums in Aurich. Sie hätten sich in Ayenwolde angekündigt. Aber ja, rief Knecht Ihno Ysker, das wisse er schon längst von seinem Freund, dem Kutscher Habbo in Aurich, der die „schwarzen Kerls“ aus Aurich hierher kutschieren solle. Harro Bollen ahnte noch mehr: „Ich habe gehört… von Leuten aus Aurich… das Hohe Konsistorium will unseren Pastor auf der Kanzel und unserem Lehrer in der Schule mal auf den Zahn fühlen. Angeblich soll unsere Schule für unser kleines Moordorf zu groß sein – und Mester Harmens dafür zu jung.“
Nun meldeten sich auch die beiden Mütter Hermine Bollen und Trientje Hinrichs zu Wort und berichteten, dass ihre Kinder sehr gerne zu Mester Harmens in die kleine Schule gingen, aber dass der Unterricht auch oft ein bisschen, na sagen wir mal, komisch wäre. Und die Kinder in Strackholt, zum Beispiel, würden ja auch viel mehr aus der Bibel lernen – wie Trientje von Tante Thea gehört hatte.
Heiko Janssen leerte sein Bier, knallte den Kelch auf den Tisch und triumphierte: „Jaja! Hier in eurem Hochmoordorf ist der Pastor zu lasch und der Lehrer zu frech!“ „Moderne Zeiten!“, tönte Freund Ennenga. Heiko setzte noch einen drauf: „Was habt ihr hier bloß für Sorgen, ihr Moorhahntjes! Erstmal muss euer Pastor weg, wegen seiner Moorbrennerei. Und auch der junge Mester an eurer lüttjen Schule ist überflüssig. Ich muss wohl mal selber mit den hohen Herrn vom Hohen Konsistorium in Aurich sprechen!“
Hermine flüsterte ihrer Freundin Trientje ins Ohr: „Mester Harmens ist gar nicht frech… und die Kinder lernen viel bei ihm…“
In der Nähe der Moorhütte von Witwe Hille Heeren schlenderten vier Männer vorbei, zwei junge und zwei schon etwas ältere. Ihnen folgten in einigem Abstand zwei Frauen mit drei Kindern, den Jungfern Dina und Hendrikje und dem Jüngling Remmert.
Die vier Männer waren Pastor Bolenius, Mester Harms sowie die beiden Holländer Jan Kruse und dessen erwachsener Sohn Henk. Bolenius wies auf die Moorkate vor ihnen und sagte: „Seit vielen Jahren leben die Menschen hier so einfach. Soll das ein Leben nach Gottes Wille sein? Oder wartet Gott immer noch darauf, dass ernstfhaft denkende Menschen diesen Armen helfen?“ Lehrer Harmens erwiderte: „Ich kann die Eltern im Moor verstehen, dass sie ihre Kinder oft nicht regelmäßig zur Schule schicken. Man braucht hier jede Kinderhand fürs Überleben im Hochmoor.“ „Und doch werden die Leute hier meistens nicht richtig satt.“, sagte der Pastor. „Ich sag es euch ja: die einzige Möglichkeit ist, das Hochmoor abzubrennen und dann Buchweizen zu sähen. So machen wir es schon seit Jahren in den Niederlanden“, meldete sich Vater Jan Kruse zu Wort.
Der Pastor und der Lehrer schilderten den beiden Gästen aus Holland nun eifrig und sich gegenseitig ins Wort fallend, dass man dieses doch hier auch schon versucht habe, dass das Ergebnis aber enttäuschend gewesen wäre, weil der Buchweizen hier im Hochmoor nur klein und ohne gutes Korn gewachsen sei und dass man deshalb Vater und Sohn Kruse aus Holland eingeladen habe, um ihr Wissen – von dem man sich in Ostfriesland schon viel erzählt habe – auch in den großen Moorgebieten im südlichen Ostfriesland nutzbar zu machen. Die eigenen Versuche mit der Moorbrennerei und dem Anbau von Buchweizen seien bisher misslungen.
„Ist ja nicht schlimm, Pastor! Wir müssen jetzt erst mal allles hier besichtigen. Und dann fangen wir gleich an“, sagte Jan Kruse schlicht und schaute in die Weite des eher öden, baumlosen und wüst aussehenden Moores mit seinem wechselndem Strauchbewuchs, den Moos- und Bickbeeren-Teppichen und den vielen nassen Stellen, vor denen Harmens schon mehrfach gewarnt hatte. Sohn Henk erkannte: „Vadder, das Moor ist hier anders als bei uns zu Hause – viel tiefer und nasser.“ Vater Kruse stimmte zu und entwickelte schon Pläne. Man müsse sich noch was einfallen lassen, vielleicht auch eine neue Sorte von Buchweizen entwickeln, eine Art nasse Sorte. Er könne sich das schon vorstellen…
Die Frauen Geske Bolenius und Hendrikje Kruse folgten mit den beiden Pastorenkindern nur langsam:
Dina Bolenius: (nörgelig): Mama, müssen wir noch weiter in das dreckige Moor?
Remmert Bolenius: Ich will auch lieber in meinen Büchern studieren.
Geske Bolenius: (beschwichtigend): Dina! Remmert! Eurer Vater ist nicht nur Pastor. Er kümmert sich auch um die Leute hier im Moor. Und nun sind die beiden Holländer aus Gronigen hier – und denen muss er einiges erklären. Der junge da, das ist der Sohn Henk. Sprecht doch mal mit ihm.
Dina Bolenius: (gelangweilt): Henk? (sieht auf Henk und ist beeindruckt): Oh! Das ist also der junge Holländer? Ein schmucker Kerl… (Sie nähert sich Henk). Moin, Henk! Du bist also aus Groningen?
Henk Kruse: (etwas distanziert): Moin…, ja…
Remmert Bolenius: (ironisch): Hallo Henk! Das hier ist meine hochgelehrte Schwester Dina Bolenius aus Ayenwolde! Und ich bin ihr dösiger Bruder Remmert Bolenius, auch aus Ayenwolde. Wir sind also beide Pastors Kinder. Jawoll!
Henk Kruse: Oh –
Jan Kruse hatte sich nun der Moorhütte genähert und fragte den Pastor, ob hier noch jemand wohne. Dieser erzählte von Witwe Heeren mit ihren fünf Kindern. Wahrscheinlich sei die ganze Familie wohl gerade im Moor zum Beeren- und Früchtesammeln. Nur so könnten sie überleben. Im selben Moment kamen die Bewohner zurück, beladen mit kleinen Körben. Hille Heeren war erschrocken: „Oh, Herr Pastor, Herr Mester! Haben meine Kinder etwas angestellt?“ Bolenius lachte:
Pastor Bolenius: Nein, keine Bange, Frau Heeren! Wir schauen uns nur das Hochmoor an und stehen gerade vor eurem Haus.
Witwe Hille Heeren: Mein Haus, ja mein Haus ist nur klein – aber, Herr Pastor, Ihr wisst ja, mein Mann ist vor drei Jahren gestorben. Und nun muss ich die Kinder alleine durchbringen.
Lehrer Harmens: Ja, Frau Heeren, das ist nicht so einfach. Habt Ihr genug Bickbeeren im Moor gefunden?
Witwe Hille Heeren: Doch, ja… aber wir können ja nicht den ganzen, langen Winter von Bickbeeren leben.
Pastor Bolenius: Frau Heeren, wenn das Moor erst mal zurückgebrannt ist, dann geht es Euch auch besser.
Witwe Hille Heeren: (unruhig): Was? Das Moor wird abgebrannt? Und mein Haus? Wo sollen wir dann leben?
Pastor Bolenius: Nein, Nein, Frau Heeren, Eure Moorkate bleibt stehen. Hier, Herr Kruse aus Holland, der kennt sich damit aus.
Jan Kruse: Bei mir ist noch kein Haus am Moor abgebrannt.
Witwe Hille Heeren: (ängstlich) Und wann soll das Moor denn bei mir brennen?
Pastor Bolenius: Keine Angst, Frau Heeren, das dauert noch. Erst mal müssen wir alles gut besprechen und vorbereiten. Wir laden Euch und alle Leute in Hatshausen und Ayenwolde zu einer großen Versammlung in der Wirtschaft „De Voss“ ein. Nächste Woche, Donnerstagabend, sieben Uhr!
***
Von der Seite kamen plötzlich Schankknecht Ihno und sein Freund der Kutscher Habbo aus Aurich angelaufen, beziehungsweise übers Moor angestolpert. Ihno winkte und rief schon von weitem: „Herr Pastor, Herr Pastor! Da seid Ihr ja endlich!“ Habbo aus Aurich kam nur mühsam hinterher, äffte Ihno nach und sah nur auf seine Füße: „… da seid ihr ja endlich! Solche blöde Rennerei! Da holst du dir ja den Tod, dabei!“ Er versackte mit einem Fuß in einem weichen Moorloch: „Verdammiverdorri! Jetzt muss ich hier auch noch sterben! Im Hochmoor! Gibt´s hier denn keine anständigen Straßen, wie bei uns in Aurich!“ Ihno rächte sich postwendend: „So wie bei uns in Aurich… du Angeber! Halt endlich deinen dreckigen Mund, Kutscher Habbo! Und sage meinem Pastor, was du sagen musst!“
Habbo erblickte jetzt erst Bolenius und die anderen Leute. Er kriegte seinen Mund nicht mehr zu: „Was? Das ist dein Pastor? Hier… im dreckigen Moor?“
Schankknecht Ihno Ysker: Ja, Du hast doch selber Augen im Kopf!
Knecht Habbo: Oh jemineh! Wo bin ich bloß reingeraten… Hilf mir aus dem Loch, Ihno Ysker!
Schankknecht Ihno Ysker: Ich zieh ja schon. (Er zieht Habbo aus dem Moorloch.)
Knecht Habbo: Herr Pastor! Guten Tag! Ihr müsst meinen schmutzigen Anzug entschuldigen! Aber ich soll Euch schöne Grüße von dem Hohen Konsistorium in Aurich bestellen. Habbo, hat der Konsistorialrat Cornelius zu mir gesagt, Habbo! Spann die Pferde an! Wir fahren nach Ayenwolde, ans Ende der Welt… ins Moor! Hat er gesagt.
Schankknecht Ihno Ysker: Quatsch doch nicht, Habbo… Ende der Welt… wir sind hier im schönen Ayenwolde und Hatshausen!
Knecht Habbo: Meine entzündeten Augen sehen hier aber nur Hochmoor, grässlich!
Schankknecht Ihno Ysker: Schau doch mal richtig hin: da steht unser Pastor Bolenius – und hier unser Mester Harmens! Na? Hast du immer noch Bohnen auf den Augen?
Knecht Habbo: (schiebt Ihno weg): … Moin, Herr Pastor… (aufgeregt): ich bin doch der Kutscher vom Konsistorialrat in Aurich… die Pferde hab ich gerade abgespannt… die saufen schon ihr Wasser… und die hohen Herren aus Aurich sau… trinken ihr Bier… in der Kneipe „Voss“… oder wie das Ding hier heißt… und nun soll ich…
Schankknecht Ihno Ysker: (er drängt Habbo zurück): Herr Pastor und Herr Mester! Mein Freund Habbo hat den Auftrag, Euch zu sagen, dass die beiden Kirchenvögte Rat Cornelius und Rat Peters im „Voss“ schon auf Euch warten. So… das ist es! Jetzt habe ich es gesagt!
Knecht Habbo: Jawoll! Ihno hat Recht. Das soll ich Euch persönlich und direkt ins Gesicht sagen!
Pastor Bolenius: Was? Die Räte?! Sie sind schon da?!
Lehrer Harmens: Warum denn so schnell?
Pastor Bolenius: Ist das Empfangs-Komitee denn auch schon im „Voss“?
Schankknecht Ihno Ysker: Das… was?
Pastor Bolenius: Ist der Jagdhorn-Chor schon da?
Schankknecht Ihno Ysker: Och so, dat meint Ihr, Pastor, ja… mein Wirt, Hein Mammen, hat alles vorbereitet. Der Jagdhorn-Chor kommt gleich.
Pastor Bolenius: (Er wendet sich eilig zum Gehen): Das mir das wieder passiert. Ich hab meine Taschenuhr nicht dabei… gerade jetzt… bei den Aurichern… ich hab die Zeit vergessen, im Moor. Jetzt wird´s Zeit!
(Ab. Lehrer Harmens, Jan un Henk Kruse folgen).
Lehrer Harmens: Bloß schnell – sonst kriegen wir Ärger!
„Die schwarzen Kerls aus Aurich“ – wie Ihno sie bezeichnete - waren also tatsächlich und auch unerwartet pünktlich in Ayenwolde eingetroffen. Und das zu einem Zeitpunkt, wo Bolenius und Harmens den Termin schon etwas verdrängt und vergessen hatten, weil ihnen die Ankunft der Familie Kruse aus Holland viel wichtiger erschien. Die beiden Konsistorialräte Peters und Cornelius mussten also eine stramme Stunde im „Voss“ warten und wurden von Wirt Hein Mammen notdürftig bei Laune gehalten. Sie saßen in ihrem vollen, schwarzen Ornat, mit gepuderten Perücken und einigen wertvollen Ringen an den Fingern an den derben Holztischen, trommelten unruhig auf der Platte herum und schlugen die Beine abwechselnd übereinander. Sogar der Jagdbläser-Chor mit zehn Personen war aus Neermoor bereits eingetroffen und hatte sich aufgestellt. Alles wartete auf den Empfang durch den Dorfpastor Bolenius, der aber nicht präsent war. Wirt Mammen ließ beiläufig fallen, dass der Pastor wohl noch mit dem Besuch aus Holland beschäftigt sei, und zwar „im Moor“. Das verstanden die Auricher überhaupt nicht und der Wirt musste erklären, dass zwei bekannte Fachleute aus dem Nachbarland gekommen seien, um den Fehntjern die fachgerechte Moorbrennerei zu zeigen. „Das sind ja tolle Sachen“, wunderte sich Cornelius, „haben wir dazu überhaupt eine Erlaubnis gegeben?“
„Es ist allerdings sehr seltsam, dass gleich zwei wichtige Männer im Dorf, Pastor und Lehrer, nicht dort zu finden sind, wo man sie eigentlich erwartet – in der Kirche und in der Schule“, räsonierte Rat Peters.
Schließlich stand Rat Cornelius auf, stapfte auf und ab und befahl seinem Kutscher Habbo, den Pastor und den Mester „sofort aus dem Moor herbeizuschaffen.“ Man warte nur noch zwanzig Minuten, dann würde man weiterfahren. Ihno ließ sich die Führerschaft bei dieser wichtigen Suchaktion aber nicht nehmen und – tatsächlich schon nach zehn Minuten kamen Ihno und Habbo lauthals miteinander streitend zurück und in ihrem Gefolge der atemlose Pastor Bolenius und der schwitzende Mester Harmens.
Pastor Bolenius: (heftig atmend): Herr Konsistorialrat Cornelius! Herr Consistorialrat Peters! Willkommen - meine Ehrerbietung!
Kirchenvogt Peters: (ignoriert die Hand). Wir warten hier schon ziemlich lange!
Lehrer Harmens: Wir haben die hohen Herren nicht so früh erwartet.
Pastor Bolenius: Wir hatten noch im Moor zu tun.
Kirchenvogt Cornelius: Soso, im Moor! Wo denn sonst wohl…
Kirchenvogt Peters: Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen auch noch andere Dörfer besuchen.
Pastor Bolenius: Meine Herren! Bitte… hören Sie doch erst mal unsere Jagdhornbläser an.
Pastor Bolenius: (zum Chor): Leewe Lü… bidde!
Der Jagdbläser-Chor spielt.
Kirchenvogt Cornelius: (seine Miene hat sich aufgehellt): Sehr schön! Sehr schön! Ich glaube, ich muss auch mal wieder ins Horn blasen. Wenn ich doch nur Zeit dafür hätte! Liebe Jägersmänner! Ich danke euch für diesen feinen Empfang!
Kirchenvogt Peters: Ich danke Euch auch, liebe Freunde!
Der Jagdbläser-Chor zieht sich zurück.
Pastor Bolenius: Hohe Herren! (Er weist auf die freien Tische): Wollen sie bitte hier Platz nehmen, damit wir ein Wort miteinander… in Ruhe…
Kirchenvogt Cornelius: (amtlich, drohend): Nicht bloß „ein Wort“, Pastor Bolenius!
Kirchenvogt Peters: (amtlich, drohend): … und Mester Harmens! (Sie nehmen umständlich Platz.)
Inzwischen hatten sich Habbo und Ihno in eine Ecke verzogen und erholten sich von den Aufregungen der letzten Stunde. Während die hohen Herren noch am Stühlerücken waren und die Schwarzen aus Aurich ihre Aktentaschen auspackten und sortierten, erzählte Kutscher Habbo dem Knecht Ihno flüsternd den neuesten Witz aus Aurich:
„Pass auf, mein Witz geht so: da war mal ein reicher, ostfriesischer Marschenbauer, aber er war ein bisschen dösig. Und der Bauer findet eines Tages seine Frau mit einem fremden Kerl im Bett – verstehst du, Ihno?“ „Ja klar, ich bin doch nicht blöd…“ „Und der Marschenbauer macht groß Tamtam und Radau, weil sein Weib ihm Hörner aufgesetzt hat… kommst du mit, Ihno?“ „Wieso? Für wie dumm hälst du mich denn?“ „…und da holt der betrogene Bauer aus seiner Tasche…“
Der Ruf von Rat Cornelius unterbrach ausgerechnet an dieser Stelle den Witz des Kutschers: „Habbo! Hole meine zweite Tasche mit den Unterlagen für Ayenwolde aus der Kutsche! Sofort!“ Der Kutscher gehorchte und eilte davon: „Ich muss zur Arbeit! Mein Witz kommt später!“, flüsterte er dem verblüfften Schankknecht zu. Der trollte sich auch davon, wurde aber zum Bierausschenken eingeteilt.
Cornelius, Peters, Bolenius und Harmens hatten an einem geräumigen Tisch Platz genommen und starrten sich gegenseitig mehr oder weniger misstrauisch an. Schließlich ergriff Rat Peters das Wort und sagte, man habe die beschwerliche Fahrt von Aurich nach Ayenwolde auf sich genommen, um hier auch endlich einmal die Kirche und die Schule gemeinsam zu inspizieren, was ja auch ihre geistliche Pflicht im lutherischen Ostfriesland sei. Pastor Bolenius biss sich auf die Lippen, aber sagte nichts. Das war auch nicht nötig, weil Habbo bereits mit der Aktentasche erschien und prompt am Eingang mit Ihno zusammenstieß, der mehrere Krüge mit Oldersumer Bier verschüttete. Die Tasche von Habbo, beziehungsweise von Rat Cornelius, flog auf den Boden und öffnete sich. „Pass doch auf, du schmieriger Eisläufer vom Fehntjer Tief!“, schrie Habbo, „Da liegt jetzt meine Tasche… wenn jetzt die Unterlagen durcheinander sind, dann ist das deine Schuld, Ihno!“
Habbo hob die Tasche auf und überreichte sie Cornelius: „Hier, Herr Konsistorialrat, hier ist die Tasche mit den wichtigen Papieren – da war vorhin noch alles drin, ich hab schon nachgeschaut – aber jetzt kann ich für nichts mehr garantieren. Dieser Ihno…“ Cornelius nahm die Tasche mit einem Stirnrunzeln, schaute flüchtig hinein und schickte seinen Kutscher weg zur Tränke der Pferde.
Jetzt endlich glaubte Bolenius, sich äußern zu dürfen und sagte vorsichtig und so ehrerbietig wie möglich, dass die Kirche ja wohl schon im vergangenen Jahr visitiert worden sei… von den hohen Herren vom Konsitorium in Aurich. Das sei wohl richtig, antwortete Rat Peters, aber in einem Jahr könne sich ja schon wieder manches verändern, worauf man ein Auge werfen müsse, zum Beispiel auf die Schule mit einem noch ziemlich jungen und unerfahrenen Mester. Nun war es an Harmens, der sich auf die Lippe biss. Rat Cornelius setzte die Rede von Peters fort:
Kirchenvogt Cornelius: … und in der letzten Zeit ist uns zu Ohren gekommen…
Lehrer Harmens: … in Aurich?
Kirchenvogt Cornelius: (blättert in seinen Unterlagen): …ja, in Aurich… zu Ohren gekommern, dass hier Einiges schief läuft.
Lehrer Harmens: Schief…?
Kirchenvogt Peters: (amtlich): Grundsätzlich wollen wir mal feststellen, dass Eure Schule hier in Ayenwolde/Hatshausen ja gar nicht so wichtig ist, aber…
Lehrer Harmens: … gar nicht so wichtig?!
Kirchenvogt Peters: ... gar nicht so wichtig ist, jawohl – Können Sie mich wohl mal ausprechen lassen, Lehrer Harmens!? Die Schule hier im Dorf ist ja sozusagen eine Not-Zwerg-Schule für zwei Dörfer, mit relativ wenigen Kindern. Wir müssen also die Notwendigkeit von einer Schule für zwei Dörfer überprüfen und dann festellen, ob das noch die Kosten rechtfertigt. Dafür sind wir in Aurich zuständig.
Kirchenvogt Cornelius:. Wir tun hier also nur unsere Pflicht und Schuldigkeit und schauen nach…
Kirchenvogt Peters: … schauen nach, ob alle Schulen in unserem Bezirk gut sind.
Kirchenvogt Cornelius: ... und vor allem Gottes Wort richtig verkündigen, so dass die Kinder viele Kirchenlieder, unseren lutherischen Katechismus und wichtige Teile der Bibel auswendig aufsagen können.
Kirchenvogt Peters: (bissig): Wir, vom Konsistorial-Amt in Aurich haben die geistliche und amtliche Oberhoheit über alle Schulen in unserem Gebiet und müssen - wenn mal ein Pastor nicht genügend in seinem Dorf aufpasst – dann müssen wir erscheinen und nachbessern.
Pastor Bolenius: Nachbessern?
Kirchenvogt Cornelius: Ja, Herr Pastor! Wir müssen hin und wieder nachschauen, ob die Schule in Eurem Dorf auch so läuft, wie wir es erwarten.
Kirchenvogt Peters: Und genau darum, Mester Harmens, wollen wir gleich mal zu Eurer Kleinschule rübergehen und nachschauen. Wir erwarten von Euch, Mester, na sagen wir mal… in zwanzig Minuten, mit Euren Schülern je eine Stunde im Fach Religion und in der Heimatkunde.
Lehrer Harmens: Aber… die Kinder sind doch heute schon nach Hause gegangen. Wir haben Nachmittag! Und viele unserer Kinder müssen zu Hause nachmittags mithelfen.
Kirchenvogt Cornelius: Das ist heute egal! Habbo und Ihno können die Kinder schnell wieder in die Schule treiben. Wir sind großzügig: sagen wir mal… erst in vierzig Minuten!
Kirchenvogt Peters: Gut, Kollegius Cornelius – dann können wir vorher noch ´n Happen essen.
Kirchenvogt Cornelius: So soll es sein, Kollegius Peters! Habbo… Ihno! Herkommen!
Die beiden Gerufenen, beziehungsweise Befohlenen, erschienen augenblicklich, sich gegenseitig in die Seite stoßend. Sie erhielten vom hohen Konsistorium den Befehl, sofort alle Schulkinder von Ayenwolde und Hatshausen wieder zurück in die Schule zu befördern – auch diejenigen, die ihren Eltern auf den Äckern und im Moor schon fleißig zur Hand gingen. Es sei dringend! Lehrer Harmens möchte den hohen Herren aus Aurich zwei besondere Vorführstunden bieten…
Ihno und Habbo machten sich also zum zweiten Mal auf den Weg. Dieses Mal mussten sie im Laufschritt das ganze Dorf durcheilen, damit sie alle Eltern und ihre Kinder erreichten. Die Reaktionen waren durchwachsen: Einerseits ärgerten sich die Eltern, vor allem die Väter, dass kostenlose Arbeitskräfte wegfielen – andererseits freuten sich nicht wenige der Kinder über eine außerplanmäßige Schulstunde bei Mester Harmens. Besonders freuten sich darüber Swantje Heeren und auch manche andere Kinder, die lieber beim Mester lernen mochten, als eintönige Arbeiten auf dem Feld oder im Moor verrichten zu müssen.
Es klappte tatsächlich. Nach einer halben Stunde hatten Habbo und Ihno, der auf Grund seiner Ortskenntnis die Führung des Großeinsatzes übernommen hatte, alle Schülerinnen und Schüler in der Schule zusammengetrommelt. Über dreißig Schüler/innen saßen nun in dem einklassigen Raum beisammen und freuten sich aufgeregt auf die Dinge, die da kommen sollten. Man wusste schon im Voraus: bei Mester Harmens würde es nie langweilig werden. Während Kutscher Habbo zum „Voss“ eilte und dort vollständigen Vollzug des Befehls meldete, saß Ihno still, schwitzend und neugierig im Hintergrund des einzigen Klassenzimmers, in dem die Schüler vormittags schichtweise nach Alter eingeteilt unterrichtet wurden.
Mester Harmens war noch nervöser als die Kinder, zwang sich zur Ruhe und eröffnete die Schulstunde: „Liebe Kinder, ich danke euch, dass ihr so schnell wieder in unsere Schule gekommen seid – zu dieser besonderen Schulstunde am späten Nachmittag. Ihr müsst nämlich wissen, dass heute zwei wichtige Leute von der Obrigkeit in Aurich gekommen sind. Und die wollen gleich, in wenigen Minuten sind sie da, hier herkommen und unsere Schule besuchen. Und wisst ihr auch, was das bedeutet?“ „Ja klar, Mester!“, rief Swantje und sprang auf, „Die wichtigen Leute aus Aurich wollen nachgucken, ob wir Kinder die Nasen geputzt haben und die Fingernägel sauber haben und ob wir unsere Moorklumpen gesäubert haben. Wir dürfen ja nicht mit dreckigen Klumpen in die Schule kommen oder hier barfuß herumlaufen.“
Das sei wohl richtig, nickte Harmens, aber er mahnte auch an, dass die Obrigkeit sicherlich genau prüfen wolle, ob alle Mädchen und Jungen im Unterricht gut zuhören und sich eifrig beteiligen würden. Und am Schluss wolle man einen schönen Kanon singen. Darum bitte er besonders. „Machen wir! Klar, doch, Mester! Machen wir wie immer!“, tönte Hero Hinrichs aus der hintersten Reihe und die ganze Horde stimmte fröhlich ein: „Machen wir!“ Einer fragte frech: „Und was kriegen wir dafür, wenn wir gut mitmachen und mitsingen, Mester?“ Harmens versprach, sich noch was Besonderes für morgen auszudenken. Swantje war das zu wenig, sie forderte, dass am nächsten Tag die erste Stunde frei sein müsse. Das wäre doch gerecht. Der Mester zog die Augenbrauen hoch und sagte: „Na gut, Kinder, Aber ihr dürft der Obrigkeit aus Aurich nichts davon erzählen!“
In diesem Moment rannte Hero zum Fenster und schrie: „Alaaarm! Die Obrigkeit kommt schon! Ich sehe drei komische, schwarze Kerls! Nee, bloß zwei… der Dritte ist unser Pastor Bolenius! Alarm…!“
Harmens konnte gerade noch rufen: „Hero! Schrei nicht so! Komm vom Fenster weg! Setz dich! Ach nein… Kinder… alle sofort aufstehen…!“ Und da betraten die beiden Kirchenräte, in respektvoller Begleitung von Pastor Bolenius, auch schon den Schulraum.
Kirchenvogt Cornelius: (nach hinten schreitend): Moin moin, liebe Kinder, lasst euch von uns nicht stören! Wir sind sozusagen nichts als Luft für euch.
Pastor Bolenius: Genauso ist das!
Hero Hinrichs: (kichernd, beiseite): … nichts als Luft…! Was für‘ne Luft?
Swantje Heeren: Pst! Hero!
Lehrer Harmens: (stockend): Liebe Kinder! Wir begrüßen heute in unserem Unterricht zwei hohe Herren aus Aurich und unseren lieben Pastor Bolenius. Wir halten nun eine Stunde Heimatkunde.
Swantje Heeren: Heimatkunde ist mein Lieblingsfach bei Euch, Mester Harmens. Ihr könnt uns so schön erklären, was für wunderbare Pflanzen und Blumen wir bei uns haben, besonders am Fehntjer Tief.
Lehrer Harmens: Gut, und nun nennt mal die Namen der wichtigsten Pflanzen, Na, Hero, weißt du das noch?
Hero Hinrichs: Also ich weiß noch: Nöt, Quakenbarn, Spreeken, wilde Sereejen und Sülk. Und da, wo es besonders nass ist, da wachsen auch Rüschen und Porst-Strük. Und dann gibt es noch… Gagel, Schweinshaargras und Kattsteerten.
Lehrer Harmens: Na, prima, Hero – und wer weiß noch andere Pflanzen?
Swantje Heeren: Ich, Mester… Zittergras, Tabaksblumen, Enzian, Gotteshand und Düwelsklau. Und von den Blüten der Tabaksblumen machen die Apotheker „Arnicatinktur“. Das ist Lateinisch und der Saft riecht und schmeckt sehr gut.
Lehrer Harmens: Wunnerbor, Swantje. Jo, Hero, was willst du noch sagen?
Hero Hinrichs: Mester Harmens, die Jungs hier sagen aber meist „Arnicastinktur“ und nicht „Arnicatinktur“. Was ist denn nun richtig?
Lehrer Harmens: (etwas peinlich berührt): Hero, „Arnicatinktur“ ist natürlich richtig. Du solltest mehr auf Swantje hören!
Noch eine Weile ging der muntere Gedankenaustausch zwischen Lehrer und Schülern über die Natur, Pflanzen und Flora am Fehntjer Tief und im Moor hin und her. Bolenius lächelte zufrieden und selbst Ihno und Habbo, die an der Tür warteten, staunten über die Kenntnisse der Kinder und stießen sich gegenseitig an. Sowas hatten sie in ihrer Schulzeit nicht erfahren.
Nur die beiden Herren vom Konsitorium verzogen keine Miene, bis Cornelius sich plötzlich im Hintergrund räusperte, sich erhob und sagte, dass man nun ja sehr schön gehört habe,was die Schülerinnen und Schüler in Hatshausen und Ayenwolde denn alles so im Nebenfach Heimatkunde gelernt hätten. Das sei schon erstaunlich und bemerkenswert. Nun aber möchte man doch noch etwas im Hauptfach Religion hören, in dem christlichen, lutherischen Glauben. Lehrer Harmens wandte schwach ein, er sei in Heimatkunde aber noch längst nicht fertig. Doch Rat Peters bestätigte: „Mester Harmens, Ihr habt doch gehört: jetzt das Hauptfach Religion!“
Lehrer Harmens: (etwas unzufrieden): Kinder! Nehmt die Bibeln zur Hand… (Unruhe: Alle Kinder räumen herum und holen Bibeln heraus.)
Lehrer Harmens: Ruhe bitte! Wer hat unsere Bibel von dem Hebräischen und dem Griechischen in das Deutsche übersetzt? Swantje?
Swantje Heeren: Das war unser großer Reformator Martin Luther aus Wittenberg. Und der hat auch den Teufel mit schwarzer Tinte vertrieben. Und…
Hero Hinrichs: … und Martin Luther hat auch die Katholschen und den Raff-Papst aus Rom auf ´nen Pott gesetzt!
Lehrer Harmens: Nana, Hero, so hab´ ich euch das aber nicht beigebracht!
Hero Hinrichs: Doch, doch, Mester! Das habt Ihr einmal so gesagt! So hab´ ich mir gut gemerkt, warum wir in Ostfriesland fast nur die lutherische Kirche haben.
Kirchenvogt Cornelius: Hm...! Anderes Thema… können die Schüler auch Kirchenlieder auswendig?
Swantje Heeren: Ja, Herr… Obrigkeit!
Kirchenvogt Peters: Na, dann mal los!
Swantje Heeren:
Ein feste Burg ist unser Gott
Ein gute Wehr und Waffe,
er hilft uns frei aus aller Not,
die uns jetzt hat betroffen.
Der alt böse Feind
mit Ernst ers jetzt meint,
groß Macht und viel List
sein grausam Rüstung ist,
auf Erd ist nicht seins Gleichen.
Kirchenvogt Cornelius: Kannst du denn auch noch andere Strophen?
Swantje Heeren: Nein, Herr… Obrigkeit – wir lernen immer die erste Strophe. Das ist meist die schönste – sagt unser Mester.
Kirchenvogt Peters: Aha! Bloß die erste Strophe! Kannst du denn auch die erste Strophe von dem schönen Lied: „Großer Gott, wir loben dich“?
Swantje Heeren: Nee, soweit sind wir noch nicht.
Kirchenvogt Cornelius: Kannst du denn viellicht die erste Strophe von „O Haupt voll Blut und Wunden“ aufsagen?
Swantje Heeren: „… voll Blut und….!“ Nee, sowas Gräsiges lernen wir doch nicht bei Mester Harmens.
Kirchenvogt Cornelius: Das kann ich mir vorstellen! Das Lied hat ja auch zehn Strophen…
Pastor Bolenius: Meine Herren! Solche schwierigen Lieder lernen wir hier in Ayenwolde und Hatshusen auch erst zur Konfirmation. Wenn die Kinder das alles schon in der Schule lernen sollen, dann bleibt ja nichts mehr übrig.
Rat Cornelius stand ruckartig auf, ging durch die Reihen der erstaunten Kinder nach vorne und bedeutete Rat Peters, ihm zu folgen. Er sprach zu Lehrer Harmens: „Unsere Visitation ist heute hier bei Euch beendet. Wir müssen noch andere Dörfer besuchen. Liebe Kinder, ich danke euch! Nächste Woche kommen Kollege Peters und ich noch einmal zurück – und halten eine wichtige Dorfversammlung mit allen Bewohnern ab. Ich hoffe, Mester Harmens, ihr seid dort auch pünktlich dabei – und nicht wieder da hinten im Moor!“
Die Kinder saßen schweigend und unbeweglich auf ihren Stühlen. Doch Hero Hinrichs sprang auf und stellte sich vor die Klassentür: „Liebe Obrigkeit! Nicht weglaufen! Wir wollen doch noch ein schönes Sommerlied für Euch singen!“ Ein anderes Kind rief von hinten: „Ja, Herr… Obrigkeit… das tun wir immer am Ende des Unterrichts… im Kanon!“ Rat Peters hatte das nicht mehr erwartet: „Einen Kanon? Na, Kollege…das können wir ja noch mal anhören.“
Cornelius, Peters und Bolenius blieben an der Tür stehen und lauschten auf das schöne Sommerlied von Paul Gerhardt, welches nun von den Kindern gesungen wurde – allerdings dirigiert von einem ständig zu Boden blickenden Mester, im Gegensatz zu den fröhlich singenden Schülerinnen und Schülern. Und die Kinder in ganz verschiedenem Alter sangen den beliebten Kanon wunderbar und wie von selbst:
Geh aus, mein Herz und suche Freud
in dieser lieben Sommerzeit
an deines Gottes Gaben,
schau an der schönen Gärten Zier
und siehe, wie sie mir und dir
sich ausgeschmücket haben.
Sich ausgeschmücket haben.
Kirchenvogt Peters: Ein schönes Sommerlied – sogar ein geistliches Lied…aber nur teilweise… Danke, liebe Kinder!
Kirchenvogt Cornelius: Nein, das ist kein rein geistliches Kirchenlied. Das ist eigentlich ein weltliches Sommerlied – für Leute, die nur an ihr eigenes Vergnügen denken, an Sonnenschein und Hallotria in der Sommerzeit. So ist die Welt heute, Peters.
Kirchenvogt Peters: (im Abgehen): Da müssen wir wohl noch drüber sprechen.
Pastor Bolenius: (geht voran): Meine Herren! Ich habe die Kutsche schon bestellt.
Die zweispännige Pferdekutsche mit Kutscher Habbo und mit Ihno an seiner Seite wartete schon vor dem kleinen, steinernen Schulhaus. Die Kinder stürmten an die Fenster und schauten zu, wie die „schwarzen Kerls“, beziehungsweise die „Obrigkeit aus Aurich“ einstiegen, während Harmens erschöpft am Lehrerpult stehenblieb. Durch die geöffneten Fenster hörte man noch, wie Habbo und Ihno sich darüber stritten, ob der Sandweg nach Neermoor schon wieder unter Wasser stehe oder noch nicht. Wenn ja, schimpfte Habbo, dann müssten die hohen Räte wohl ihre Beine hochlegen, wegen Spritzwasser – seine beiden Pferde würden da durchpreschen, denen mache das weniger aus als den Menschen.
Rat Cornelius lehnte sich tief Luft holend zurück: „Na, denn mal los, Habbo, nach Neermoor hin… unter Christenmenschen. In diesem Heidendorf Ayenwolde haben wir schon viel Zeit verloren...“
Das hörten auch manche der Kinder an den Fenstern aber Mester Harmens nicht. Sie – außer Harmens – winkten fröhlich der abfahrenden Kutsche hinterher.
Pastor Bolenius kehrte in den Schulraum zurück und legte seine Hand sanft auf Harmens Schulter: „Mester, es ist noch nichts verloren! Kopf hoch! Bei meiner Visitation der Kirche im letzten Jahr waren sie auch zuerst so grantig.“ Bevor der Lehrer antworten konnte, krähte Hero dazwischen: „Mester, Pastor, was ist denn ein Heidendorf?“ Der Pastor lachte und tätschelte dem Schüler die Wange, das Schimpfwort könne vielleicht am besten der Mester in der nächsten Religionsstunde erklären. Die Schülerin Frauke wollte wissen, wie es denn nun mit der Belohnung einer Freistunde aussähe. Harmens blieb zerstreut und müde: „Ja, ja, machen wir, wie versprochen… also morgen früh erst zur zweiten Stunde!“ Alle Kinder stürmten fröhlich aus der Schule. Hero und einige andere Jungs skandierten dabei im Takt: „Der Mester ist toll! Der Mester ist toll!“
Im Umkreis der kleinen Moorkate von Witwe Heeren und ihren Kindern arbeiteten an diesem Spätnachmittag im Herbst die Familien Bollen und Hinrichs, zusammen mit ihren älteren Kindern. Mit Hacken, Spaten, Forken und verschiedenen Handharken versuchten sie, den Moorboden zu ebnen und von den ärgsten Strauch- und Buschresten zu befreien.
Wiebke, die älteste Tochter von Hinrichs – schon achtzehn Jahre alt und aus der Schule heraus – ging ihren Geschwistern zur Hand. Als ihre Mutter, Trientje Hinrichs, die kleineren Kinder nach Hause schickte, damit sie dort noch Schulaufgaben erledigten, erklärte Wiebke sich bereit, noch bis zum Sonnenuntergang zu bleiben. Vater Gerd hörte das wohlgefällig und auch die Bollens lobten Wiebkes Arbeitseifer.
Witwe Hille Heeren säuberte vor ihrer Hütte einen kleinen Topf: „Wie soll ich die Kinder heute wieder satt kriegen?“ Bäuerin Trientje hörte das und rief ihr zu: „Moin Hille, mein Gerd hat gestern ein Wildschwein geschossen. Aber erzähl das keinem, du weißt ja, das ist streng verboten. Du kannst was von uns abhaben. Schicke mal Swantje zu mir!“
Der Pastor, der Mester und die beiden Kruses aus Groningen kamen plötzlich um die Ecke und begrüßten die arbeitenden Dorfbewohner. Bolenius verkündete gleich die Nachricht, die es ja schon als Gerücht gab, dass alle Leute am nächsten Donnerstag um Klock sieben, abends, in die Wirtschaft „De Voss“ kommen sollten. Hier würden die Gäste aus Holland, Jan und Henk Kruse, die neuen Pläne für den Buchweizen-Anbau im Moor vorstellen. Mester Harmens wäre auch dabei.
Hille Heeren und die Hinrichs-Familie sagten ihr Kommen gleich zu, ebenso Hermine Bollen. Ihr Mann Harro zögerte, worauf Hermine ihn scharf zurechtwies, er dürfe nicht schon wieder zu den Halunken gehen! Harmens tuschelte dem Pastor ins Ohr: „Die meinen wohl wieder diese verdammte Schnaps-Brennerei!“ Die Miene des Pastors verdüsterte sich, und er schnauzte den verdutzten Moorbauern an: „Harro Bollen! Du kommst am Donnerstag pünktlich mit deiner Frau in den „Voss“. Und das ohne Schnaps und Brantewein! Vielleicht kriegst du da ein gutes Oldersumer Bier, aber hauptsächlich einen guten Ratschlag, wie du dein Leben und Arbeiten im Moor für dich und deine Familie ändern musst! Herrijehnochmal…“
Darauf sagte Harro kleinlaut: „Ja, Herr Pastor…“. Und als Bolenius, sichtlich verärgert, in die Runde blickte, wiederholten alle Umstehenden: „Ja, Herr Pastor! Wir kommen.“
Pastor, Lehrer und Jan Kruse, der Vater, gingen weiter. Die Arbeiten auf dem Feld wurden fortgesetzt. Der junge Holländer Henk Kruse blieb neben der jungen Wiebke stehen und sah ihr aus gewisser Distanz, aber durchaus interessiert, dabei zu, wie sie den Moorboden auflockerte. Wiebke schaute auf und wunderte sich.
Henk Kruse: Was machst du da?
Wiebke Hinrichs: (sieht erstaunt auf): Wie?
Henk Kruse: Ich… ich interessiere mich für deine Arbeit.
Wiebke Hinrichs: Ich? Ich hacke den Moorboden auf.
Henk Kruse: Diese Arbeit ist aber doch viel zu schwer für dich.
Wiebke Hinrichs: Was?
Henk Kruse: (nimmt ihr die Hacke aus der Hand): Lass mich das mal machen.
Wiebke Hinrichs: (erstaunt): Und ich?
Henk Kruse: (hackt kräftig auf den Boden ein): Du kannst dich meinetwegen verpusten.
Wiebke Hinrichs: (sieht Henk mit wachsendem Erstaunen zu): Du machst das gut. Wo hast du das gelernt?
Henk Kruse: Ich bin doch ´n Holländer, und wir können das. Mein Vater und ich sollen das Moor hier bei euch kultivieren.
Wiebke Hinrichs: (stemmt die Hände in die Hüften): Aha! Bleibt ihr für immer hier… ich meine…
Henk Kruse: Weiß ich noch nicht. Das entscheidet mein Vadder. Und wie heißt du eigentlich?
Wiebke Hinrichs: (verlegen): Ich… ich… ich heiße Wiebke.
Henk Kruse: Wiebke! Dat ist ja ein feiner Name… haben wir in Holland auch.
Wiebke Hinrichs: Und du…?
Henk Kruse: (er hackt weiter): Henk! Henk Kruse! Aus Holland. Und ich verspreche dir, liebe Wiebke – wenn wir erst Buchweizen hier angesät haben, dann brauchst du hier nicht mehr so hart zu hacken.
Wiebke Hinrichs: Buchweizen? Du meinst…
Henk Kruse: Ja, komm mal mit, am Donnerstag, zu unserer Versammlung im „Voss“. Da erklären Vadder und ich alles.
Wiebke Hinrichs: Mein Vadder und meine Mudder wollen da auch hin gehen. Soll ich auch…?
Henk Kruse: Klar, Wiebke! Das ist doch wichtig für deine Zukunft.
Wiebke Hinrichs: Du, Henk, mein Vadder winkt mir…
Henk Kruse: Kannst ruhig zu ihm gehen – ich mache hier deine Arbeit für dich fertig.
Wiebke Hinrichs: (geht langsam, halb rückwärts immer mit den Augen auf Henk, zu ihrem Vater hinüber): Besten Dank auch, Henk…
Er arbeitet schweigend weiter - als plötzlich Dina Bolenius auftaucht:
Dina Bolenius: (mit Sonnenschirm, in langem, luftigem Sommerkleid): Sieh mal an! Der Holländer Henk… der Torfkopp! Du arbeitest wohl dauernd im Moor, was?
Henk Kruse: Das ist meine Profession.
Dina Bolenius: Dein Beruf? Ich dachte, du wärst nur der Sohn von diesem… Moor-Professor aus Groningen.
Henk Kruse: Nein, das Hochmoor ist auch mein Beruf. Hab ich von Vadder gelernt.
Dina Bolenius: (hochmütig): Das ist aber schade – und ich hab gedacht, aus dir könnte noch was werden! Du bist gut gewachsen, hast lange Arme und Beine und…
Henk Kruse: (lacht): … und einen runden, dicken Moppelkopp! Meinst du das? Wie die meisten Holländer?
Dina Bolenius: (verwirrt): Naja, dein Kopp sieht aber gar nicht so schlecht aus. Und erst deine Augen…
Henk Kruse: (amüsiert): Freut mich! Das haben die Wichters in Holland auch schon zu mir gesagt.
Dina Bolenius: (distanziert): So! Wichters aus Holland! Na – besser viele „Wichters“ als ein Wicht!
Henk Kruse: (stellt sich dumm): Wieso ist das besser?
Dina Bolenius: Weil ich dann auch noch eine Chance bei dir kriege, Torfkopp!
Henk Kruse: Du kriegst aber keine Chance, solange du „Torfkopp“ zu mir sagst!
Dina Bolenius: (leichthin): Naja – mal abwarten…
Wiebke kommt zurück.
Wiebke Hinrichs: Oh, Dina… worauf musst du… abwarten?
Dina Bolenius: Och, ich will nur darauf warten, ob… ob die Sonne hier im Moor untergeht. Das mag ich so gerne ansehen.
Wiebke Hinrichs: Das Untergehen der Sonne? Das sehen wir hier meist gar nicht…
Henk Kruse: Nein, wer im Moor schwer arbeiten muss, der sieht sowas gar nicht…
Wiebke Hinrichs: Du Henk, Vadder sagt, du musst mir nicht mehr helfen – morgen kommt unser Nachbar Harro Bollen. Der wird einen Tag lang helfen.
Henk Kruse: Gut, Wiebke - Hauptsache, du musst hier nicht arbeiten.
Dina Bolenius: Soso, Holländer… du hast Wiebke Hinrichs geholfen? Gehört das auch zu deiner holländischen Profession?
Henk Kruse: (stellt sich eng neben Wiebke und blickt Dina provozierend an): Ich bin glücklich, wenn ich allen schönen Mädchen helfen kann, die hart im Moor arbeiten müssen.
Dina Bolenius: Soso… alle schönen Mädchen… auch die in Holland?
Henk Kruse: Die in Holland habe ich schon alle vergessen.
Dina Bolenius: Wiebke! Pass auf, dass er dich nicht auch vergisst! (Sie geht wütend ab).
Der Donnerstag im „Voss“ war da. Von mehreren Seiten näherten sich kleine Gruppen der Wirtschaft von Hein Mammen. Anscheinend nahmen alle Dorfbewohner die dringende Einladung vom Pastor zu der Veranstaltung mit den holländischen Fachleuten in Sachen Moorbrennerei und Buchweizenanbau sehr ernst. Sogar die widerspenstige Gruppe um Heiko Janssen, seiner Frau Antje, dem Matrosen Fredo Smit und dem Kaufmanns-Ehepaar Dirk und Insa Ennenga machten sich auf den Weg und trafen dort prompt wieder auf den Moorbauern Harro Bollen und seine Familie. „Na, Heiko, du kommst auch?“ fragte dieser. „Das haste wohl nicht gedacht, was?“ antwortete der Fehnschiffer mit einer rhetorischen Gegenfrage. „Dich hat der Pastor doch bestimmt nicht eingeladen“, stichelte Harro noch ein bisschen. „Nein, ich brauche keine Einladung“, war Heikos Antwort. Und Dirk Ennenga rief: „Ich sowieso nicht!“
Hermine Bollen wollte vermitteln und sagte, dass doch auch die Fehnschiffer und Kaufleute zur Moorversammlung kommen dürften, die gehörten doch eigentlich auch dazu. Heiko konnte das Provozieren aber nicht lassen und rief selbstbewusst, dass die Moorbauern sich wohl alleine langweilen würden, wie?
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