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Der Autor gestaltet hier sein lebenslanges, sportliches Hobby des Freizeit-Segelns mit Rückblicken auf die großen Seegebiete um Europa: Nordsee - Ostsee - Atlantik. Die familiären Bezüge sind hier allerdings literarisch verbrämt mit fiktiven Protagonisten. Und darum wird auch nicht in der Ich-Form erzählt, denn die dichterische Novellenform gestattet tiefere Ausblicke als eine reine Biographie.
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Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Der Orgelspieler im Wattenmeer
Regine aus Rostock
Bomben und Bojen auf dem Haff
Blau – Wasser – Segeln
Für meinen Sohn Martin („Skipper“)
und für meine Tochter Ilka („Vorschoterin“)
In Gedenken
an Mama („Muuske“):
Hailke Brüchert (1942 - 1998)
Ubbo war froh, dass der Kutter schon heimwärts in Richtung Greetsiel fuhr. Er stand in seinem nassen Ölzeug an Deck und sortierte den Fang. Tim räumte das Deck auf und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Die Dämmerung senkte sich an diesem Spätsommertag bereits über der Leybucht herab und ließ das Wattenmeer in breiiger Eintönigkeit verschwimmen. Die „Möwe“ tuckerte langsam am Prickenweg entlang, an dessen weicher Kante der Schlick bei auflaufendem Wasser allmählich versank.
Käpt`n Gerd stand im Steuerhaus am Rad. Plötzlich riss er die Tür auf und schrie zu Ubbo hinüber: „Was machst du denn da! Die Seezunge doch nicht zu den Schollen in einen Pott! Hast du das immer noch nicht gelernt!“
„Aber ich dachte...“, Ubbo schaute nicht auf. „Du sollst richtig arbeiten, du halbe Portion!“, schrie Gerd und knallte die Tür zu. Tim steckte sich eine neue Zigarette an und grinste. „Na, heute wieder etwas tüdelig?“
Ubbo arbeitete schweigend weiter. Er wusste, dass er heute abend noch für die Beerdigung in der nächsten Woche üben müsste, in der Kirche. Das war wichtiger als alles andere. Dann fiel ihm ein, dass er ja noch mit Tim zu reden hatte, wegen dieser Beerdigung, denn ohne Tim würde er wohl keinen Ersatz auf dem Kutter finden. Aber er musste einfach am nächsten Mittwoch an Land bleiben! Eine solche Chance würde er doch nicht noch einmal bekommen!
„Was verdienst du eigentlich mit deinem Orgelspielen so nebenbei, Ubbo“, fragte Tim.
„Für das bisschen Geld mach` ich das gar nicht“, antwortete Ubbo.
„Warum dann? Anna sagte vor ´n paar Tagen zu mir, du hättest auch schon längst einen eigenen Kutter haben können, wenn du nicht so viel Zeit beim Orgelspielen totschlagen würdest.“, meinte Tim.
Ubbo fuhr auf:
„Das ist kein Zeit-Totschlagen!“
„Was dann?“
„Das ist... das ist... mein Hobby und...“
„Und...?“
„... und die schönste Zeit in meinem Leben.“
Tim konnte sich vor Lachen gar nicht wieder einkriegen – die schönste Zeit im Leben? In der Kirche? Beim Orgelspielen? So was hätte er noch nie von einem Fischersmann gehört! Das solle er bloß nicht Käpt`n Gerd hören lassen – und Anna auch nicht! Er kicherte vor sich hin... die schönste Zeit im Leben, in der Kirche, an der Orgel... da hätte er aber ganz andere Vorstellungen... und Erfahrungen!
„Tim, ich brauch` deine Hilfe...“, flüsterte Ubbo. „Aha! Wieder mal? Für ´ne Trauerfeier, Hochzeit oder Kindstaufe?“, Tim grinste.
„Für `ne Beerdigung... nächste Woche am Mittwoch... `ne große Leiche: der dickste Bauer von Leybuchtpolder... und da kommen wichtige Leute... aus Hannover...“, Ubbo verhaspelte sich.
„Und du brauchst wieder mal Ersatz für dich, hier auf dem Kutter, was?“
„Ja, und du kannst doch einen Ersatzmann für mich besorgen, du kennst doch so viele Leute im Hafen.“, sagte Ubbo.
„Gut, aber am Mittwoch haben wir morgens und abends Hochwasser, also bleibt Gerd die doppelte Zeit draußen – das kostet was.“, meinte Tim.
„Natürlich, das muss ich bezahlen.“
Ubbo wandte sich wieder dem Sortieren der Fische zu, während Tim seufzte, dass er es wahrhaftig nicht leicht habe, mit so einem Arbeitskollegen!
Der Kutter hatte die Schleuse passiert und lief durch das Greetsieler Binnentief. Ubbo reinigte die letzten Fischkästen. Vater: Kuttermann, Großvater: Kuttermann, Urgroßvater: Kuttermann in Greetsiel... also war es ja wohl logisch gewesen, dass auch er..., obwohl er sich immer dagegen gewehrt hatte, aber sein Vater wollte es nun mal nicht wahrhaben, dass die Fischerei in der Nordsee zurückgehen würde... bei all dem Industriedreck und Plastik im Wasser und dann auch noch bei den immer größer werdenden Fangschiffen der Holländer und Dänen. Und Kantor Meyer hatte mehrmals zu Vater gesagt, wenn er, Meyer, in Rente gehen würde, dann sollte doch Ubbo an seine Stelle treten! Als Kantor an der Kirche in Greetsiel! Aber ohne Abitur und Studium? Nur so als Hobby-Orgelspieler? Als er mal zu Hause sowas andeutete, da lagen sie alle platt auf dem Tisch vor Lachen...! Dörte, seine Schwester, auch... dabei wäre sie selber doch gerne Grundschul-Lehrerin geworden... Naja, nun hat sie ihren Sparkassen-Helmut mit ´nem dicken Mercedes und zwei Mal All-inclusive-Urlaub im Jahr... das soll ja beruhigen, sowas... erstaunlich nur, dass Vadder ihm damals die ersten Orgelstunden sogar bezahlt hatte... das war ihm sogar ziemlich wichtig, das halbe Dorf wusste davon: einmal in der Woche fährt Ubbo mit dem Rad in die Stadt zum Orgelunterricht! Er ist Lieblingsschüler von Kantor Helms in Norden! Das können wir uns sogar leisten... aber wir müssen das nicht... is nur so ´n Hobby von Ubbo... natürlich will er am liebsten auch Fischer werden... aber dann hörte Vadder schon nach einem halben Jahr mit dem Bezahlen der Orgelstunden auf... „kiek di doch mol Kantor Meyer an, de hett nich mol ´n eegen Huus“... aber zu der Zeit konnte Ubbo ja schon recht gut spielen und vertrat immer öfter Kantor Meyer in der Kirche, wenn dieser wieder mal krank war... und mit dem Vertretungsgeld hatte er problemlos seine Orgelstunden in Norden bezahlen können... natürlich kam auch der Wunsch auf, die Musikhochschule in Hannover zu besuchen... aber... nicht dran zu denken! Vadder bestand darauf, dass er mehrmals in der Woche auf dem Kutter mitfuhr... die Zeit wurde immer knapper... sogar aus der Fußballmannschaft in Greetsiel flog er raus, weil er zu selten zum Training kam... immerhin hatte er Zeit gehabt, Anna kennenzulernen und zu heiraten... anfangs hatte sie ihn sogar bewundert, als einen „Fischermann der besonderen Art“, aber in letzter Zeit nörgelte sie viel an ihm herum...
„Ubbo, denkst du daran, dass Dörte und Helmut uns am Sonntag besuchen wollen?“, sagte Anna nach dem Abendessen, als Ubbo zur Zeitung greifen wollte.
„Ach ja...“
„Sie haben sich sogar schon am Vormittag angesagt.“
„Bis um kurz nach Elf habe ich aber noch Kirche!“
„Natürlich! Du hast Kirche… hast du dir also wieder was andrehn lassen!“
„Das ging diesen Sonntag nicht anders.“
„Aber dass ich wieder mal alleine immerzu zwischen Stube und Küche hin- und herlaufen muss: das geht, was?!“
„Kann Elke dir nich helfen?“
„Dann ruf du sie an, und frag!“
„Ja, mach ich...“
„Aber den Garten musst du vorher noch in Ordnung bringen! Der Rasen ist schon mehr als drei Wochen nicht gemäht worden... was sollen denn die Nachbarn denken...“
„Ja klar, mach´ ich gleich... hat jemand angerufen für mich?“
„Ach ja, gestern, als du noch auf See warst... irgendjemand aus Hannover.“
„Aus Hannover? Wer war das?“
„Weiß nich... so ein... Kirchendirektor... oder so was.“
„Kirchenmusikdirektor Kirstner!“
„Ja, richtig... der wollte dir absagen... das Programm ist schon voll, hat er gesagt... was will er denn absagen, Ubbo?“
„Also.. Absagen...“
„Wieso muss er dir absagen, wenn du dir in Hannover mal wieder ein Kirchenkonzert anhören willst?“
„Ich will mir nichts anhören, ich will mitspielen.“
„Du? In Hannover? Wer hat dir denn den Vogel in den Kopf gesetzt?!“
„Ich... mir selber...“
„Du hast sie ja nicht alle... was ist das über haupt für ein Direktor?“
„Kirchenmusikdirektor Kirstner... aus Hannover... ich hab ihn bei der Trauerfeier für Bauer Jensen kennengelernt. Er hat mein Orgelspiel sehr gelobt.“
„Jaja, wenn ein Mensch mal ´n bisschen höflich zu dir ist, dann meinst du gleich, du wärst der Größte!“
„Überhaupt nich... aber er versteht nun mal was von sakraler Musik.“
„Sag mal, und du hast diesen... Kirstner bei der Beerdigung einfach so von der Seite angeschnackt, vonwegen dem Konzert in Hannover?“
„Das war doch meine Chance!“
„Ubbo, du bist fünfzig geworden! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du mit deinen Kutter pranken noch die Orgel spielen kannst wie so ´n richtiger Musiker mit Samthänden! Denk doch mal darüber nach!“
„Jaja, aber ich bin ja auch eigentlich nur ´n halber Kuttermann...“
„Ein halber Kuttermann? Ein Drittel-Mann, wenn du es genau wissen willst!“
Anna biss sich auf die Zunge und schwieg.
„Wieso... Drittel...?“
„Ach, lass..., Ubbo!“
„Wieso... Drittel...!“
„Das hab ich doch nur so gesagt...“
„Nein, das hast du nicht nur so gesagt... was soll das heißen?“
„Na ja...“
„Wieso bin ich nur ein Drittel-Kuttermann?!“
„Na gut... einmal musst ich es dir ja doch sagen.“
„Was?“
„Dein Vadder hat damals kurz vor seinem Tod... also... er hat Käptn Gerd für den Kutter `Möwe´ ein Drittel bezahlt.“
„Warum das denn...?“
„Ein Drittel für die `Möwe´, unter der Bedingung, dass Gerd dich auf jeden Fall immer an Bord behalten muss.“
„Wie? Ja... und warum weiß ich nichts davon?“
„Diese dreiunddreißig Prozent vom Kutter sollten sozusagen dein Erbteil sein... hat dein Vadder mir persönlich gesagt...“
„Warum weiß ich nichts davon, hab ich gefragt!“
„Dein Vadder hat das damals alles mit mir und Gerd abgesprochen, und natürlich haben wir das auch schriftlich.“
„So... auch schriftlich... ich hab aber nichts unterschrieben!“
„Nee, das ist eben ein Vertrag zwischen deinem Vadder und Käptn Gerd.“
„Und mit dir...!“
„Ja...“
„Über mein Erbteil...“
„Dein Vadder sagte, dass Geld stünde mir ja auch zu. Und deshalb sollte ich man unter schreiben. Hab ich dann auch gemacht... du weißt doch, dein Vadder mochte mich gern.“
„Ohne mich zu fragen... „
„Dein Vadder wollte das so. Und ich war froh, dass er dich nicht enterbt hat. Dein Vadder war bange, dass du dich mit dem Geld, wenn er es dir auszahlen würde, gleich an Land festsetzen und nur noch Orgel spielen würdest.“
„Aha! Und das siehst du also auch so, Anna?“
„Ubbo! Dein Beruf ist nun mal Kuttermann.“
„Ja, was denn nun... ´n halber, ´n drittel oder ´n ganzer?!“
„Ach, dummes Gerede...“
Natürlich war Ubbo am nächsten Sonntag nicht pünktlich um Elf-Uhr-fünfzehn zu Hause. Man kann eben eine Orgel nicht einfach abstellen wie eine Mundharmonika! Und weil er wusste, dass er zu spät kommen würde, ließ er sich sogar auf dem Nachhauseweg mit dem Fahrrad noch etwas Zeit. Sollten Schwester Dörte und Schwager Helmut doch ruhig ein bisschen auf ihn warten! Anna würde ja sowieso wieder herumnörgeln.
Der alte Traum! Klar, Vadder hatte das richtig vorausgeahnt: Klar doch! Wenn Ubbo damals dieses Drittel-Erbe am Kutter bar auf die Hand erhalten hätte, dann wäre er an Land geblieben und vielleicht doch noch auf eine Musikhochschule gegangen. Über den zweiten Bildungsweg... haben doch viele gemacht, die dümmer waren als er... damals, als er noch keine dreißig war... bei jeder Gelegenheit abends nach Norden hin, immer dann, wenn es dort in der Ludgeri-Kirche ein Konzert gab, auf dieser wunderbaren Arp-Schnitger-Orgel... einer der größten und besten in Norddeutschland. Da kamen dann Organisten aus Hamburg, aus Berlin oder Stuttgart. Und die spielten nicht nur „So nimm denn meine Hände“ oder „Oh Haupt voll Blut und Wunden“... nein, die spielten: Bach, Buxtehude, Telemann, Vivaldi, Haßler, Bruhns... sogar Eigenkompositionen waren dabei... dabei war dann kein Zuhörer eingeschlafen, wie sonst oft in der Kirche... und am Schluss saßen alle eine halbe Minute ganz still da, und dann, als der Jubel der Bachfugen im weiten Schiff der Ludgeri-Kirche verklungen war, dann haben alle in die Hände geklatscht... in der Kirche geklatscht, dass es nur so dröhnte... die Pastoren in Norden sahen das gar nicht so gern, diesen Applaus in der Kirche, Luther sei dagegen gewesen... das wäre katholisch... sagten sie. Aber die Leute klatschten doch bei den Orgelkonzerten, und Ubbo fand das gut und angemessen. Und wenn er dann wieder in seiner Dorfkirche an der Orgel saß und die letzten kraftvollen, jubelnden Töne der mächtigen Orgelpfeifen im Kirchenraum verhallten, dann saß Ubbo da und träumte von einem solchen Applaus in seiner Kirche.
Doch in Greetsiel war sowas nicht üblich.
„Tja, so ist das nun mal mit deinem Bruder, liebe Dörte: Essen steht pünktlich auf dem Tisch, aber der Herr Orgelspieler hat noch was Besseres zu tun!“, Annas Stimme schallte Ubbo schon im Hausflur entgegen. Er öffnete schnell die Tür zur Stube und trat ein: „Da bin ich schon! Moin zusammen!“
Anna trug weiter verbissen das Essen auf, Schwester Dörte ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich fraulich mit ihrer Schwägerin Anna verbündet hatte. Schwager Helmut versuchte ein bisschen zu vermitteln, mit banalen Döntjes, was aber meistens von Dörte und Anna humorlos durchkreuzt wurde. Dörte erinnerte daran, dass Ubbo schon seit seinen Kindertagen so gewesen sei; er würde sich wohl auch nicht mehr ändern! Helmut wunderte sich sehr, dass Ubbo immer noch dazu Lust hätte, jeden Sonntag in der Kirche auf der Orgel zu spielen. „Nein, nicht jeden Sonntag...“ Aber eben doch fast... wie Anna feststellte. Sie habe ja gedacht, dass Ubbo früher oder später genug vom Orgelspielen haben würde. Aber nix davon! Mit den Jahren sei die Sache immer schlimmer geworden. Wenn Ubbo vom Kutter an Land komme und seinen schwarzen Anzug angezogen habe, um zu einer Beerdigung zu gehen, dann sollten sie mal sehen, wie seine Augen leuchteten!
Helmut wollte genauer wissen, was Ubbo eigentlich für eine Stunde Orgelspielen an Honorar erhalte. „Honorar?“, staunte Ubbo, er bekomme kein „Honorar“, sondern „feste Sätze“ für die verschiedenen kirchlichen Veranstaltungen, für die man sich ja auch unterschiedlich intensiv vorbereiten müsse. Na, meinte Helmut, da müsse man doch dran drehen können, er sollte seine Ansprüche ruhig einmal höher schrauben. Er sei doch auch kein Anfänger mehr! Aber davon wollte Ubbo gar nichts wissen: er spiele sowieso nicht für Geld auf der Orgel.
„Jetzt weißt du auch, Helmut, warum alle anderen Fischer in Ubbos Alter schon ihren eigenen Kutter haben – nur wir nicht!“, warf Anna ein. Och, meinte Helmut, so ein Kutter koste auch ´ne Menge Geld, und die meisten Fischer säßen doch nur auf einem großen Haufen von Schulden bei ihrer, Helmuts, Bank. Aber darum gehe es doch überhaupt nicht, wies Dörte ihren Mann zurecht, sondern vielmehr um Annas Kummer, dass Ubbo nicht genug aus seinem Leben gemacht habe. Naja... Helmut spielte mit seinem Autoschlüssel mit Stern, jeder sei nun einmal selber seines Glückes Schmied... Und überhaupt, was die Frauen denn eigentlich immer an Ubbo auszusetzen hätten: Ubbo sei doch sehr gut angesehen im Dorf.
„Vonwegen... einen halben Kuttermann, so nennen sie ihn!“, empörte sich Anna. Naja... Helmut nahm seinen Geldfaden wieder auf: Man müsse sich auch mal beschränken können. Hauptsache, man sei mit dem, was man habe, einigermaßen zufrieden. „Und genau das ist Ubbo nicht!“, rief Anna. „Sagst du...“, sagte Ubbo leise. Dörte warf ein, dass sie auch unter dieser ständigen Unruhe und geistigen Abwesenheit ihres Bruders leide, da könne sie Anna sehr gut verstehen, als Frau... aber auch als Schwägerin. Das sei aber häufig so bei Menschen, die mehr aus ihrem Leben machen wollen als andere und dafür auch mehr und länger arbeiten müssten, meinte Helmut. „Und die darüber dann ihre Familie vergessen...“, sagte Dörte.
Helmut befand, dass jeder Mann auch einmal Zeit für sich selber haben müsse – eine Aussage, die seine Frau Dörte nur mit einem empörten: „Helmut!“ kommentierte. Helmut erläuterte seinen Standpunkt damit, dass er darauf verwies, jeder Mann brauche zum Beispiel ein Hobby. Er, zum Beispiel, er sammle Briefmarken, dabei könne er alles um sich herum vergessen, obwohl – das müsse auch Dörte zugeben – er wenigstens in der Familie anwesend und sozusagen in Bereitschaft bleibe.
Auch Anna wollte grundsätzlich nichts gegen ein Hobby ihres Mannes einwenden, aber – musste denn das gleich „Orgelspielen“ sein? Sie kenne keine unter ihren Freundinnen und Bekannten, deren Männer Orgelspieler seien. Jetzt wurde Helmut richtig begeistert: Das sei doch gerade was Besonderes! Noch vorige Woche habe er im Schalterraum seiner Bank jemanden gehört, der gesagt habe: „Bei der Trauerfeier für unsere Oma, da muss aber auf jeden Fall Ubbo Heinsen die Orgel spielen!“ Er, Helmut, sei da jedenfalls richtig stolz gewesen - auf seinen Schwager Ubbo.
„Wenn er wenigstens anständig Geld damit verdienen würde...“, brummte Anna. Da musste Helmut durchaus zustimmen und bedrängte Ubbo noch einmal, sein „Honorar“ zu erhöhen. Sein Ruf lasse das doch offensichtlich zu: Angebot und Nachfrage bestimme nun einmal den Preis in der Marktwirtschaft. Aber Ubbo wollte nichts davon hören. Es gebe nun einmal die „festen Sätze“ und daran wolle er auch nicht rütteln, und – wie gesagt – auf das Geld komme es ihm ja gar nicht an.
„Versteht ihr so einen Mann?“, entrüstete sich Anna. Dörte erinnerte sich, dass schon Vadder sich an Ubbo die Zähne ausgebissen habe. Aber vielleicht könne Bruder Ubbo es ja doch einmal mit irgendeinem anderen Hobby versuchen, das nicht so viel Zeit verschlinge wie das Orgelspielen. Es müsse ja nicht gerade das öde Briefmarkensammeln von Helmut sein...
„Ein Hobby?“, fragte Ubbo, „dafür hab´ ich über haupt keine Zeit!“