Winterapfelgarten - Brigitte Janson - E-Book

Winterapfelgarten E-Book

Brigitte Janson

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Beschreibung

Claudia Konrad ist außer sich. Mit 51 soll sie plötzlich zu alt sein für ihren Job in einer Parfümerie? Nicht besser geht es ihrer Tochter Jule, die nach einem schrecklichen Unfall kaum noch das Haus verlässt. Ihre Freundin Sara ist dagegen müde – von ihrer langweiligen Ehe. Schluss damit, jetzt wird alles anders, denken sich die Freundinnen und ziehen auf einen Apfelhof im Alten Land. Tolle Idee, aber Gebäude können morsch, Äpfel wurmstichig und attraktive Nachbarn eigenbrötlerisch sein. Die Katastrophe naht. Der Rettungsengel auch. Rentnerin Elisabeth, auf der Flucht vor Altersheim und wohlwollender Verwandtschaft, strandet auf dem Hof und bringt mit viel Charme Ordnung in das Chaos.

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Das Buch

Raus aus dem alten Leben und mit einem Kopfsprung hinein in ein neues. Ist das mutig? Oder verrückt? Von beidem ein bisschen! Aber wenn vier Frauen aus drei verschiedenen Generationen sich dafür zusammentun, wird es definitiv abenteuerlich:

Claudia ist mit einundfünfzig Jahren angeblich zu alt für ihren Job in einer Hamburger Parfümerie. Ihre Tochter Jule vergräbt sich nur noch zu Hause, nachdem ihr Bein bei einem Reitunfall schwer verletzt wurde, und Claudias beste Freundin Sara will endlich ihrem langweiligen Exmann entkommen. Zusammen ziehen die drei auf einen Apfelhof im Alten Land und bringen das Leben der Einheimischen ganz schön durcheinander: Claudias selbsthergestellte Naturkosmetik stößt auf Skepsis und Saras Flirtversuche auf Gegenwehr. Nur Jule kann mit ihrer großen Tierliebe beim spröden Nachbarn Johann punkten, der Claudia mit seiner ruppigen Art in den Wahnsinn treibt. Erst als Rentnerin Elisabeth auf dem Hof strandet, beruhigen sich die Gemüter. Sie ist es auch, die erkennt, dass Claudia und Johann viel mehr verbindet als ein gepflegter Nachbarschaftsstreit …

Die Autorin

Brigitte Janson heißt eigentlich Brigitte Kanitz und wurde 1957 in Lübeck geboren. Viele Jahre war Hamburg ihre Wahlheimat, wo sie als Journalistin arbeitete. Heute lebt sie in den italienischen Marken.

Von Brigitte Janson sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Tortenbäckerin Der verbotene Duft

BRIGITTE JANSON

WINTERAPFELGARTEN

ROMAN

List Taschenbuch

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ISBN 978-3-8437-0937-8

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic®, München

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Einen Roman über Freundinnen kann ich natürlich nur meinen Freundinnen widmen:

Gaby und Lola, die zu früh gegangen sind.

Bettina, Claudia, Inge, Marianne, Martina, Micaela, Renate, Sabine, Simona, Sissi L., Sissi S., Tiziana, Ursula und Wally.

Gianni, Massimo und Rainer. Ihr seid zwar Männer, aber das ist schon okay.

Einige von euch kennen sich nicht untereinander, und ähnlich wie im Buch, gehört ihr verschiedenen Generationen an. Aber das hat uns nie gestört, nicht wahr? Ich danke euch für eure Freundschaft.

1. Kapitel

Claudia wusste, was er sagen würde. Langsam näherte sie sich seinem Schreibtisch und blickte auf ihn hinab. Auf seiner runden Stirn glänzten Schweißtropfen, an seiner rechten Schläfe pochte eine dicke Ader. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Seine Hand mit den kurzen dicken Fingern bedeutete ihr, sich zu setzen. Ihre watteweichen Knie gaben so schnell nach, dass sie hart auf dem Stuhl aufkam. Erschrocken zuckte er zusammen und starrte sie an. Er schwieg immer noch, obwohl sich seine Lippen bewegten. Oder? Ein Rauschen ging durch ihren Kopf. Claudia rubbelte heftig an ihren Ohren.

Schweigen. Es sei denn, sie war in den letzten paar Minuten taub geworden. Jetzt begann sie, sich gegen den Kopf zu klopfen. Es half nichts. Keine Silbe erreichte sie.

»Geht es Ihnen gut, Frau Konrad?«

Na endlich!

Sein irritierter Blick lag auf ihren Fingerknöcheln, die immer noch gegen ihren Schädel pochten, und sein Oberkörper neigte sich in ihre Richtung, bis die Schreibtischkante sich in seine Schlüsselbeine bohrte.

Prima, dachte Claudia, jetzt werde ich meinem Chef schon unheimlich. Nicht bloß zu alt und faltig für den Job.

Beinahe hätte sie gelacht. Sollte der kleine dicke Bernhard Beeks ruhig ein bisschen Angst vor ihr haben. Sie war schließlich auch einer Panik nahe. Das Rauschen schien noch zuzunehmen, aber drei Worte gingen ihr klar und deutlich durch den Kopf: Verjüngung, Konkurrenz und neue Perspektiven. Die hatten in der kurzen E-Mail gestanden, die Beeks ihr am frühen Morgen geschrieben hatte, zusammen mit der Bitte, im Laufe des Vormittags in seinem Büro zu erscheinen.

»Verjüngung! Ha!«, rief Claudia mit schriller Stimme.

Ihr Chef zuckte zurück.

»Konkurrenz! So ein Blödsinn! Neue Perspektiven! Dass ich nicht lache!«

»Frau Konrad …«

Wut war besser als Verzweiflung. Neue Energie durchströmte sie, verdrängte endlich das unheimliche Rauschen und ließ sie aufspringen. Nun stand sie weit über ihm. Immerhin.

»Sie können mich doch nicht für dumm verkaufen! Ich soll ins Büro abgeschoben werden, oder gleich ins Warenlager. Als Beraterin für die Kunden bin ich Ihnen zu alt und schrumpelig!«

Schrumpelig? Hatte sie wirklich schrumpelig gesagt? Claudia spürte, wie sie dunkelrot anlief.

»Ich muss doch bitten.«

Der kurze Moment der Scham verging, und sie blickte ihn fest von oben herab an. »Seien Sie doch wenigstens ehrlich zu mir. Ich finde, nach dreißig Jahren habe ich mir das verdient.«

Beeks fiel in sich zusammen, woraufhin er kaum noch über die Schreibtischplatte schauen konnte, und nickte.

»Ich bedauere es wirklich sehr, Frau Konrad, doch der Befehl kommt von oberster Stelle. Direkt aus der Konzerndirektion. Ich kann da nichts machen.«

Claudias Wut verpuffte ebenso schnell, wie sie aufgekommen war. Beeks war genau wie sie selbst nur ein kleines Rädchen im Getriebe der Parfümerie Schwan. Ganz oben saßen Menschen, die sie noch nie persönlich kennengelernt hatte. Zu dem Konzern gehörten nicht nur rund fünfzig Filialen in Deutschland und ganz Europa, sondern auch Kosmetikstudios und Fabriken, in denen eigene Pflegeprodukte hergestellt wurden. Begonnen hatte die Firmengeschichte vor einem halben Jahrhundert mit der ersten Parfümerie in bester Lage unter den Hamburger Alsterarkaden. Das Logo war schnell gefunden. Ein goldumrandeter Schwan zierte nicht nur den Eingang, sondern bald auch Feuchtigkeitscremes, Lippenstifte, Körperpuder, Parfums und zahlreiche Artikel mehr, die allesamt der Verschönerung dienten. Die berühmten Alsterschwäne erwiesen sich bald als glückbringende Namensgeber.

Claudia kannte die Erfolgsgeschichte auswendig, und als junge Kosmetikerin war sie stolz gewesen, eine Anstellung in der Parfümerie Schwan zu bekommen. Noch dazu im Hauptgeschäft.

Jetzt war sie nur noch tief verletzt.

»Im letzten Quartal hab ich wieder am besten verkauft«, sagte sie. »Und Sie wissen das. Unsere Stammkundinnen verlassen sich auf meinen Rat.«

Das stimmte, aber Claudia war auch klar, dass sie nicht unersetzlich war. Es gab Kolleginnen, die genauso viel Sachkenntnis wie sie selbst besaßen – und die zehn Jahre jünger waren. Oder fünfzehn.

Bernhard Beeks setzte eine unglückliche Miene auf. »Sehr wohl, liebe Frau Konrad. Und genau diesen Einwand habe ich der Direktion gegenüber auch mit Vehemenz vorgebracht.«

Claudia unterdrückte ein Stöhnen. Wenn der Chef so gedrechselt daherredete, war alles verloren. Sie kannte ihn lange genug. Hinter solch komplizierten Sätzen verbarg er seine eigene Hilflosigkeit. Er war genauso machtlos wie sie selbst.

»Verflucht«, sagte sie laut. Dann musste sie grinsen. Claudia Konrad, gepflegt, elegant und ein vornehmes Beispiel für alle anderen Verkäuferinnen, wurde gewöhnlich. Wie befreiend doch ein einziges Schimpfwort wirken konnte!

Vielleicht sollte sie sich das Vokabular eines Bierkutschers zulegen, genau wie Jule. Endlich verstand sie, warum ihre Tochter neuerdings so gern Zoten riss. Kerzengerade stand sie da, kampfbereit.

»Frau Konrad! Ich muss doch bitten!«, wiederholte Beeks.

»Verflucht!«, rief sie.

Eine Sekunde lang sah er aus, als wollte er laut herauslachen. Aber er tat es nicht. Schade, dachte Claudia. Bernhard Beeks hätte sie nach den vielen gemeinsamen Arbeitsjahren wenigstens ein Mal überraschen können.

»Nehmen Sie es bitte nicht so schwer. Schauen Sie, ich arbeite doch auch nur hinter den Kulissen und bin sehr zufrieden.«

Aber ich bin weder klein noch fett, noch glatzköpfig, dachte sie böse.

Ihr Chef öffnete eine dünne Akte.

»Ich habe den neuen Vertrag bereits aufsetzen lassen. So verlieren wir keine Zeit, nicht wahr? Heute ist Montag, der elfte August. Zum ersten September können Sie Ihre neue Stellung antreten. Sie werden verstehen, dass Ihr Gehalt ein wenig reduziert werden muss. Es handelt sich ja um keine gleichwertige Arbeit. Im Warenlager …«

Kein Wort mehr! Das Rauschen in ihrem Kopf setzte wieder ein, und sie war dankbar dafür.

Sie würde nicht auf den Stuhl zurücksinken. Sie würde ihn nicht um Gnade anflehen. Sie würde einfach gehen. Genau!

»Ich pfeife auf Ihr Warenlager!«, schleuderte sie ihm entgegen. »Ich kündige!«

Gut so. Nun noch umdrehen und mit drei Schritten die Tür erreichen. Den Kopf dabei hoch erhoben halten, den Rücken durchdrücken, keine Träne vergießen!

Dreißig Jahre lang eine der besten Fachverkäuferinnen der Parfümerie Schwan? Geschenkt!

Zig Prämien und Auszeichnungen bekommen? Egal!

Ihr zweites Zuhause inmitten edler Düfte und Wundercremes? Abgehakt!

Beeks rief ihr etwas nach, sie verstand nichts, lief durch den Flur, erreichte die Hintertür des Verkaufsraumes, betrat die Parfümerie und lächelte eine Kundin an, die ratlos vor einem Regal mit Anti-Falten-Cremes stand.

»Darf ich Ihnen helfen?«

Die Kundin, eine elegante Erscheinung um die sechzig, musterte Claudia von oben bis unten und nickte dann gnädig.

»Ich denke schon. Ich habe etwas über dieses neue Serum von La Pastie gelesen. Mit Hyaluronsäure und Coenzym Q10. Es soll wahre Wunder wirken.«

»Oh, gewiss.«

Ihre Mundwinkel schmerzten, ihr Lächeln fühlte sich an wie einbetoniert. Die letzten paar Minuten ihres Lebens hatte es nie gegeben. Alles war wie immer. Sie musste nur fest daran glauben. Rasch griff Claudia nach dem gewünschten Produkt, einem schmalen dunkelblauen Probefläschchen mit silbernem Verschluss. Sie schraubte ihn auf und ließ eine winzige Menge auf den Handrücken der Kundin tröpfeln.

»Bitte schön, fühlen Sie nur die samtige und zugleich kraftvolle Konsistenz. Ein paar wenige Tropfen am Tag rund um die Augen reichen schon. Das Serum wirkt tatsächlich Wunder, besonders in den Bilanzen des Herstellers.«

Sie bemerkte, wie ihre junge Kollegin Nadine näher kam, in den Augen ein Ausdruck der Verwunderung. Claudia achtete nicht weiter auf sie, sondern konzentrierte sich ganz auf die Kundin.

»Was sagen Sie da?« Die Dame hob zwei perfekt gezupfte Brauen. Ihre Stirn blieb dabei unnatürlich glatt.

»Schmieren Sie sich das Zeug aber lieber nicht da oben hin. Wenn die Substanz auf das viele Botox unter der Haut trifft, können sich kleine Knubbel bilden. Ungefähr erbsengroß, verstehen Sie? Und Erbsen auf der Stirn sehen nicht so hübsch aus.«

Claudia grinste jetzt, und ihre Mundwinkel entspannten sich.

Die Kundin machte vorsichtig zwei Schritte rückwärts. Dann krallte sie sich an Nadines goldfarbenem Kittel fest und stieß einen hellen spitzen Schrei aus, bei dem sämtliche Anwesende im Geschäft herumfuhren.

»Die da!«, rief sie und zeigte mit dem Finger auf Claudia. »Die ist verrückt! Rufen Sie die Polizei!«

Nadine schaute verwirrt von einer zur anderen. Sie hatte gerade erst ihre Ausbildung zur Parfümeriefachverkäuferin abgeschlossen und sah in Claudia Konrad ihr großes Vorbild.

»Was ist denn los?«

»Die hat gesagt, mir wachsen so verdammte Erbsen auf der Stirn.«

Claudias Grinsen wurde noch breiter. Ganz so vornehm, wie ihre Erscheinung suggerierte, war die Dame wohl doch nicht.

»Erbsen?« Nadine befreite sich aus dem Klammergriff. »Wo denn? Sieht doch alles superglatt aus.«

Weitere Kundinnen und Verkäuferinnen kamen näher und bildeten einen Halbkreis aus goldenen Kitteln und sommerlichen Outfits von Escada, Dior oder Jil Sander.

»Ist was passiert?«, fragte eine Frau leise.

Niemand wusste eine Antwort.

Claudia schloss kurz die Augen. Alles war wie immer. Sie hatte keine Kundin beleidigt, die letzten Minuten mussten gelöscht sein. Doch als sie wieder aufschaute, war sie noch immer eingekreist. Die Luft roch künstlich und schwer, das Atmen wurde plötzlich schwierig. Nichts war wie immer.

Sie öffnete den obersten Knopf an ihrem Kittel. Dann den nächsten und den übernächsten. Schließlich zog sie ihn aus, faltete ihn ordentlich zusammen und reichte ihn Nadine.

»Ich denke, den brauche ich nicht mehr. Bitte geben Sie ihn nachher dem Chef.«

»Frau Konrad, sind Sie krank?«

»Ganz im Gegenteil, ich fühle mich wunderbar.« Sie ließ ihren Blick durch die Parfümerie schweifen. All dieser Luxus, all diese Schönheit. Vorbei. Sie gehörte nicht mehr in die Welt der Düfte, Cremes und Tinkturen. Und während sie nun die Gesichter um sie herum betrachtete, einige bekannte und viele unbekannte, da begriff sie, dass es stimmte, was sie zu Nadine gesagt hatte. Sie fühlte sich tatsächlich wunderbar. Befreit.

Claudia Konrad, einundfünfzig Jahre alt, durfte noch einmal ganz neu anfangen.

»Ich gehe jetzt.«

Niemand hielt sie auf.

In ihrem Rücken begann das Getuschel. Erst als sie schon an der automatischen Tür war, rief jemand ihr nach. »Warte, Claudia! Wir informieren deine Tochter. Die soll dich lieber abholen.«

Sie erstarrte. Wer hatte das gesagt? Vielleicht Christine, ihre liebste Kollegin? Unwichtig.

»Das ist nicht nötig!«, schrie sie. Viel zu laut, viel zu hoch. »Ich brauche wirklich nur ein bisschen frische Luft!« Ihre Stimme überschlug sich. Nicht Jule, nicht hier. In dieser perfekten kleinen Welt gab es keinen Platz für jemanden wie Jule.

Mit einem leisen Surren öffnete sich die Tür. Claudia rannte hinaus, stieß gegen einen Stand mit Eiscreme und kalten Getränken, wäre fast gefallen. Sie entschuldigte sich bei dem Verkäufer, atmete tief durch und lief dann weiter, zwang sich, langsamer zu gehen, lenkte ihre Schritte unter den Arkaden entlang zur Schleusenbrücke, überquerte die Kleine Alster, erreichte den Rathausmarkt – und wusste nicht weiter.

Es war ein sonniger, aber kühler Augusttag, und ein starker Wind fegte von Nordwesten her in die Stadt. Claudia fröstelte in ihrer dünnen Bluse. Sogar ihre Beine zitterten jetzt. Sie schaffte es bis zu einer Bank vor dem mächtigen Rathaus und sank dort in sich zusammen.

Auf einmal fühlte sie sich verloren in einem Leben, das nicht mehr ihres war. Mit beiden Händen rieb sich Claudia über die Schläfen. Verloren? Vor zehn Minuten hatte sie sich noch befreit gefühlt.

»Ich bin arbeitslos«, murmelte sie vor sich hin. Ihr war nach Schreien und Weinen zumute, aber es kam nur ein unterdrücktes Schluchzen aus ihrem Mund.

Wunderbar, dachte Claudia. Eine läppische Kündigung, und ich verliere die Kontrolle. Ob es auffallen würde, wenn sie sich auf der Bank ausstreckte und ein wenig schlief? Sie war so unendlich müde. Um sie herum liefen die Menschen eilig von einem Ort zum anderen. Ein Ballett der Betriebsamkeit und Effizienz beherrschte den Rathausmarkt. Nur diese Bank hier war eine ruhige Insel, ein Ort für Leute, die nicht dazugehörten. Langsam hob Claudia die Füße. Niemand nahm Notiz von ihr. Sie rutschte ein wenig tiefer, streckte die Beine aus und stieß mit dem linken Fuß an ein Hindernis. Da lag eine kleine Plastiktüte, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Claudia wollte die Tüte einfach von der Bank kicken. Schlafen, nur schlafen. Nichts mehr wissen, nichts sehen, nichts fühlen. Schon flatterten ihre Lider. Trotzdem griff sie nach der Tüte und sah hinein. Ein Apfel lag darin.

Claudia schloss kurz die Augen und öffnete sie dann wieder. Tatsächlich, ein Apfel. Sie holte ihn heraus. Er war weder rund noch tiefrot wie die Äpfel, die sie normalerweise kaufte. Vielmehr wies er die Form einer Glocke auf und hatte eine grünlich-gelbe Farbe. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie zum Frühstück nur einen schnellen Espresso getrunken hatte. Claudia frühstückte nie, aß mittags einen Salat mit Putenbrust oder Thunfisch und begnügte sich abends mit gedünstetem Gemüse und Fisch. Dazu trank sie täglich drei Liter stilles Wasser. Wer fast einen Meter achtzig groß war und aus einer kräftigen friesischen Familie stammte, der musste streng auf seine Linie achten, wenn Bauch, Po und Hüften nach dem vierzigsten Geburtstag nicht ihren Umfang verdoppeln sollten. Und wer einen italienischen Feinschmecker zum Freund hatte, der alles essen konnte, ohne je ein Gramm zuzunehmen, der musste dreifach aufpassen. Ganz kurz dachte Claudia an Gianluca. Ach, wenn er jetzt hier bei ihr wäre! Oder nein, bloß nicht. Er liebte das Leben und hasste Probleme. Und sie war die Freundin, die stets ein Lächeln auf den Lippen trug.

Wieder betrachtete sie den Apfel. Es schien ihr plötzlich, als hätte sie diese Sorte schon einmal gesehen. Vielleicht damals bei ihrer Oma in Friesland? Hertha Konrad hatte einen wunderschönen Obstgarten besessen, mit Apfel-, Birn- und Pflaumenbäumen. Aber so sehr Claudia auch ihre Erinnerung bemühte, sie kam nicht darauf. Eines jedoch wusste sie genau: Der Apfel hatte nur fünfzig Kalorien. Das war in Ordnung. Claudia zog die Füße an und biss kräftig in die Frucht. Sie kaute langsam und genoss das säuerliche, erfrischende Aroma. Ihre Müdigkeit verschwand mit einem Schlag, und während sie weitere große Stücke aß, dankte sie im Geiste dem Menschen, der diese bescheidene Mahlzeit hier vergessen hatte. Es musste ein guter Mensch gewesen sein.

»Ja, klar«, sagte sie laut. »Vielleicht war es aber auch Schneewittchens böse Stiefmutter, und der Apfel hier ist vergiftet!«

Sie musste lachen, verschluckte sich an dem Bissen in ihrem Mund und hustete heftig. Sekundenlang befürchtete sie, es könne sie Schneewittchens Schicksal ereilen – ohne die wundersame Rettung am Ende des Märchens.

Jemand schlug ihr zwischen die Schulterblätter.

»Danke«, krächzte Claudia, als sie wieder Luft bekam.

»Gern geschehen«, erwiderte Christine und reichte ihr die Handtasche, die sie in der Parfümerie gelassen hatte. Dann ließ sie sich neben Claudia auf die Bank sinken.

»Ein Glück, dass ich dich noch gefunden habe. Bist du jetzt völlig durchgedreht? Sitzt hier mitten auf dem Rathausmarkt und lachst vor dich hin.«

»Ich habe mir gerade vorgestellt, ich sei Schneewittchen«, erwiderte Claudia wahrheitsgemäß.

»Und ich hatte befürchtet, du bist Leda mit dem Schwan, und wir müssen dich aus der Kleinen Alster fischen.«

Sie klopfte ihr mit dem Fingerknöchel leicht gegen die Stirn. »Hallo? Ist da drin irgendwo meine geschätzte Kollegin verborgen? Die zuverlässige Frau Konrad, Meisterin der Selbstbeherrschung, Vorbild für mehrere Generationen von Kolleginnen und beste Verkäuferin?«

»Klopfen bringt nichts.« Claudia wischte die Hand beiseite. »Habe ich vorhin selbst schon versucht. Werde aber nicht klarer davon. Alles ist irgendwie – durcheinander.«

»Verstehe«, sagte Christine, obwohl ihr anzusehen war, dass sie nicht mehr mitkam.

»Weißt du, was das für ein Apfel ist?«, fragte Claudia. Es erschien ihr auf einmal unglaublich wichtig, die Sorte zu kennen.

»Witzbold.«

»Ich meine es ernst, Christine.«

»Ich auch. Und ich kann leider nicht hellsehen. Wie soll ich eine Apfelsorte am Gehäuse erkennen?«

»Oh. Entschuldigung.«

Claudia ließ die Hand wieder sinken. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Es war das Wichtigste auf der Welt, den Namen des Apfels zu kennen.

2. Kapitel

Als Sara den dritten Stock erreichte, musste sie stehen bleiben und tief Luft holen.

Mist!, dachte sie, ich bin nicht mehr in Form. Zu viel faules Leben, zu wenig Bewegung. Kein Pfund Übergewicht, aber auch null trainierte Muskeln. Daran musste sie dringend etwas ändern. In Zukunft würde sie noch mehr Zeit für sich selbst haben. Sie konnte jeden Tag einmal um die Außenalster laufen und anschließend ein paar Stunden im Fitnessstudio verbringen. Mit ihrem bequemen Leben als Anwaltsgattin war es ein für alle Mal vorbei. Niemand würde sie vermissen, wenn sie sich ganz dem Sport verschrieb.

Sara ballte die Hände zu Fäusten. Kein guter Gedanke, wenn sie gleich ihre gesamte positive Energie einsetzen wollte.

Noch einmal atmete sie tief durch und klingelte dann an der Wohnungstür. Eine Weile blieb alles still, und sie glaubte schon, es sei niemand zu Hause. Was ein gutes Zeichen gewesen wäre. Doch dann hörte sie schwere unregelmäßige Schritte im Flur. Unwillkürlich fragte sich Sara, wie Jule es nur schaffte, mehrmals täglich diese schmalen, hohen und ausgetretenen Treppen zu steigen. Dritter Stock Altbau in Hamburg-Eppendorf, eine Traumwohnung für junge sportliche Leute, ein Alptraum für jemanden wie Jule.

Die Tür wurde geöffnet. Blass und mit tiefen Ringen unter den Augen stand Jule vor ihr.

»Sara.«

»Hallo, mein Schatz.«

Jule lehnte sich schwer gegen die Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du hättest anrufen sollen, ich muss gleich weg.«

»Wenn ich anrufe, spreche ich seit einiger Zeit nur noch mit deiner Mailbox«, erklärte Sara. Genauer gesagt seit dem zehnten Juni, fügte sie in Gedanken hinzu. Seit Jule aus der Reha entlassen worden war.

»Ich bin eben sehr beschäftigt.«

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