Wintermorgen - Geschichten und Geschichtliches - Christoph Werner - E-Book

Wintermorgen - Geschichten und Geschichtliches E-Book

Christoph Werner

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Beschreibung

"Wintermorgen" ist der Titel der ersten Geschichte dieses Buches. Ein Wintermorgen erscheint kalt und feindlich. Er ist aber auch Hoffnung auf den Frühling, der noch jedes Jahr gekommen ist. Der leibeigene Bauer Christian allerdings lebt mit geringer Hoffnung. In zwei Prologen geht es um die jüngere Geschichte Deutschlands, in der wir noch alle leben. Die meisten uns uns begleitet die Erinnerung bis zum Ende. In Kurzbiographien bzw. biographischen Essays über Vauban, Thomas Mann, Struensee, Großherzogin Sopie, Schinkel, Plievier, Paul Schneider, Nexö, Mendelssohn, Luther, Kotzebue, Wassermann, Jagemann, Fürnberg, Friedrich II., C. F. Friedrich, Böcklin, Andersen und andere blickt der Autor auf die Geschichte und die sie charakterisierenden Gestalten als Vertreter der Leser, die Neues, und sei es nur in Nuancen, erfahren wollen. Man erlebt, dass sich Fiktion und Wirklichkeit nicht voneinander trennen lassen. Sobald Geschichte aufgeschrieben wird, verändert sie sich. Und die Fiktion wird Teil der Geschichte. So durchdringen sie einander und lassen am Ende die Unterschiede unwesentlich werden.

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Christoph Werner

Impressum

Wintermorgen – Geschichten und Geschichtliches Christoph Werner published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Copyright: © 2013 Christoph Werner Umschlaggestaltung: Eckehard Werner

Vorwort

„Wintermorgen“ ist der Titel der ersten Geschichte dieses Buches. Ein Wintermorgen erscheint kalt und feindlich. Er ist aber auch Hoffnung auf den Frühling, der noch jedes Jahr gekommen ist.

Diese Sammlung von Geschichten und Geschichtlichem enthält beides, Kälte und Hoffnung, die sich nicht voneinander trennen lassen. Beide zeugen von den nicht endenden und auch rührenden Anstrengungen der Menschen, ihrem Leben einen Inhalt zu geben, der sie am Ende getrost sein lässt.

Unter der Vielzahl unterschiedlicher Themen und Formen des Erzählten finden sich Erfundenes, und Gefundenes in der Gestalt von Kurzgeschichten, Legenden und Essays. Die Leser können daraus Vergnügen schöpfen und vielleicht sogar Neues entdecken.

Wintermorgen

Christian trat auf den Hof hinaus, in den Schnee, und sah in den klaren Sternenhimmel, der das Nachtdunkel silbrig dämmern ließ. Es war bitterkalt. Er steckte die Hände unter seinen Rock, den er über das leinene Hemd und eine wollene Hose gezogen hatte, und ging zum Stall. Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen aus Lindenholz. Zwischen den dick bereiften Bäumen auf der Wiese hinter dem Stall hing ein eisiger, schwerer Dunst. Christian sog die Luft ein und hatte das Gefühl, als fröre sie in der Nase zu Eis.

Die Beuster, die hinter dem Zaun entlang floss und einen kleinen Wasserfall bildete, dessen Rauschen und Murmeln in stillen Nächten bis ins Haus zu hören war, lag unter einer dicken Eisdecke, die am Wasserfall wunderliche Formen, Zapfen und Kobolde bildete. Der Bauer dachte, dass er in diesem Winter reichlich Eis brechen und in der Grube an der Mitternachtsseite des Hauses lagern würde. Der bischöfliche Haushalt in der Stadt gab für das noch im Brachmonat gelieferte Eis ansehnlich, vor allem aber durfte Michael, sein zweitältester Sohn, dafür und für andere Spann- und Handdienste seit nunmehr drei Jahren die Klosterschule in Marienthal besuchen und dort die zaubrischsten Gottes- und Weltdinge lernen.

Der Bauer trat in den Stall und sah nach seinem Ochsen. Der Zugriemen hatte die Haut an einer Stelle am Hals wundgescheuert. Die Wunde wollte nicht heilen, obwohl die Kräuterfrau mehrmals einen Sud aus Kräutern angewendet und dazu Sprüchlein gemurmelt hatte. Ein Huhn musste er ihr dafür geben. Jetzt, nachdem Christian für das Kloster, seine Grundherrschaft, die Holzstämme aus dem Wald geholt hatte, gab es vielleicht ein paar Tage Ruhe, und die Wunde konnte heilen. Der Ochse stampfte unruhig und muhte laut. Das hatte den Bauern aus dem Schlaf geweckt. Er legte sich auf das Stroh in der Bucht neben dem Ochsen und versuchte, noch etwas zu schlafen. Denn auch im Haus war es unruhig gewesen. Seine Frau Frigge sollte in ein paar Wochen ihr achtes Kind gebären und konnte vor Rückenschmerzen nicht schlafen. Hoffentlich blieb sie bei der Geburt am Leben. Sie war bereits seine zweite Frau. Die erste war im Kindbett gestorben. Doch man musste es nehmen, wie es kam. Wulf, sein Nachbar, der nicht viel älter war als er, hatte schon die vierte Frau. Es ging nicht ohne Frau, man konnte allein die Arbeit nicht schaffen.

Christian lag und sann und fürchtete sich. Michael sprach so seltsam, seit er in die Klosterschule ging. Er gebrauchte Wörter, die Christian nicht verstand. Vor allem fürchtete er sich vor dem Wort „sintemal“. Es klang so unheimlich und machte die Rede so unverständlich.

Und einmal hatte der Junge seiner Mutter gegenüber ein Wort gebraucht, so bekannt und fremdartig zugleich, dass sie sich verjagte und Christian ihm verbot, dergleichen vertraute Wörter zu verzaubern und in Fremd- und Geheimnisworte zu verwandeln. Er versuchte sich zu erinnern, was Michael gesagt hatte. Sie sprachen darüber, wie man in den Himmel kommt, und dass der Ritter Bruno wider Gottes Gebot am Sonntag jagte und nicht in den Himmel kommen werde. Da hatte Michael gesagt, er hoffe, der Herr gelange noch zur Einkehr.

Dennoch war er froh, dass Michael aus dem Haus und in guten Händen war. Vor Weihnachten waren sie zusammen durch den Wald nach Hildesheim gewandert, und Michael hatte ihm in der gewaltigen Kirche die Tür gezeigt mit den Geschichten. Michael sagte, die Tür sei aus Bronze, und befohlen habe ihre Gießung der mächtige Bischof Bernward, Erzieher und Freund des wunderbaren Kaisers Otto III. Was er dort sehe, seien die Geschichten vom Sündig- und Erlöstwerden des Menschen, wie sie der Priester in der Kirche im Nachbardorf aus der Bibel vorlas. Vorlesen. Christian grübelte und ängstigte sich. Auch Michael konnte lesen. Er schaute in ein Buch, das er aufgeklappt hatte und sprach dann. Und wenn er nach einiger Zeit wieder in das Buch schaute, sagte er genau wieder dasselbe wie beim letzten Mal. Das nannten sie Lesen. Zauberei war das. Wie sollten denn die Geschichten in das Buch gekommen sein, wenn nicht durch Zauberei? Michael sagte aber, man schreibe sie zuerst hinein. Mönche säßen im Kloster und schrieben. Und er, Michael, habe auch angefangen zu schreiben. Und vor seinen Vater, in den Schnee, hatte er ein wunderliches Zeichen gefurcht, wie einen Ring, der an einer Seite offen war. So beginnt dein Name, Vater, wenn ich ihn aufschreibe. Christian hatte schnell seinen Fuß auf das Zeichen gesetzt, damit es verschwinde. Wer weiß, was ihm geschehen könnte, wenn er so in den Schnee geschrieben wurde.

Der Bauer stand auf. Er konnte bei diesen Gedanken nicht schlafen. Außerdem war die Nacht fast vorüber. Er fuhr dem Ochsen mit der Hand über den Rücken. Das Tier hatte sich beruhigt und kaute mit mahlenden Kiefern.

Christian verließ den Stall und blickte wieder zum Himmel. Die Sterne waren verblasst, und gegen Morgen, über dem Tosmer, wurde es hell. Er verließ den Hof und ging am Palisadenzaun entlang bis zu der Stelle, die er gestern ausgebessert hatte. Im Schnee zeichneten sich Wolfsspuren ab, die vom Wald kamen und um den Hof liefen. Jetzt, im Winter, versuchten die hungrigen Wölfe häufiger, auf der Suche nach Beute in die Höfe einzudringen.

Er ging weiter bis zu dem Holderbusch, der kahl und mächtig an der nach Mittag gehenden Ecke des Zaunes aufragte. Trotz der Kälte, die durch die Holzschuhe in seine Füße drang, blieb er stehen. Seine Großmutter hatte ihm Geschichten von den Gnomen, Schraten, Zwergen und Kobolden erzählt, die im Holderbusch wohnten und sich manchmal den Menschen zeigten. Der Priester im Nachbardorf wetterte und zeterte gegen derlei heidnischen Glauben, und dennoch. Christian musste immer daran denken, dass der Schlüssel zum Feenschloss zur Elfenkönigsburg oder gar zu einem Schatz unter den Wurzeln liegen könnte. Doch er wusste nicht, ob er so einfach danach graben durfte. Dann verschwand der Schlüssel vielleicht, und er würde den Schatz nie finden.

Christian ging weiter und gelangte wieder zum Hoftor und in den Hof. Er sah zum Himmel auf, der jetzt schon hell war. Er dachte an den Stern, der vor einigen Wintern über den Himmel gezogen war. Danach hatte es im Juni noch geschneit, und im September gab es schon den ersten Frost. Feuermänner waren am Himmel erschienen, und viele Menschen waren vom Schwarzen Tod dahingerafft worden. Gott bewahre uns vor diesem Stern, dachte der Bauer.

Er ging ins Haus, wo seine Frau schon das Feuer geschürt und die erste Mahlzeit zubereitet hatte. Alle setzten sich an den Tisch, eine große, von Schragen gehaltene Platte aus rohem Holz. Jeder hatte vor sich einen Holznapf, den Frigge aus dem Kochkessel mit Brot füllte. Das Brot war ein Brei aus Mehl, mit Wasser, manchmal mit Milch aufgekocht und mit Honig gesüßt. Sie tranken aus hölzernen Bechern Molke dazu.

Kauend und schluckend sah Christian, wie Frigge versuchte, ihre Schmerzen zu verbergen. Hoffentlich kommt sie durch. Und wenn nicht, könnte er es nicht ändern. Man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Gott allein richtet alles, sagt der Priester.

When Jenny comes

Schön ist es in Bath in England, ganz wunderbar ist es in Aquae Sulis, wie die Römer ihre Siedlung nach der keltischen Gottheit Sul nannten. Als wir mit dem Auto in die Stadt einfahren und nach einigen Umwegen schließlich zu unserem B&B oberhalb von Beechen Cliff im Wellsway gelangen, sind wir voller Erwartung.

Vorher hatten wir die Vergangenheit der Stadt studiert und kannten geschichtsbestimmende Einzelheiten, wie zum Beispiel, dass König Lears Vater, der sagenhafte Keltenfürst Bladud, im warmen Schlamm Heilung von seinem Aussatz gefunden hatte. Wir waren im Bilde darüber, dass die Römer kultivierter badeten und wunderbare Thermen mit raffinierten Fußbodenheizungen errichtet hatten und schließlich, dass Edgar, der erste König ganz Englands, hier im Jahre 973 gekrönt wurde. Er galt als tüchtiger Gebieter, achtete die örtlichen Traditionen und übte eine im Großen und Ganzen friedliche Herrschaft aus.

Noch freudiger stimmt uns die Aussicht, unseren Freund John Roberts und seine Familie in ihrem Haus besuchen zu können. John, dessen körperliche Ausmaße nur von seinem wunderbaren Geigenspiel und der begnadeten Fähigkeit, Leuten die englische Sprache beizubringen, übertroffen werden, übt seine segensreiche Tätigkeit auch in Englischkursen in Deutschland aus, wo wir ihn kennengelernt hatten.

Nun aber erst einmal Jenny - denken wir. „Eaglet House“ steht auf einem Schild im Vorgarten, in dem es zwischen Steinen und Platten grünt und blüht. Die eiserne Gartentür quietscht in den trockenen Angeln. Das Quietschen alarmiert Lucy, die herauskommt und uns begrüßt. Sie sei eine Freundin von Jenny, die zum Urlaub in Frankreich weile, und betreibe inzwischen das B&B für Jenny, und wir seien willkommen. Jenny komme bald zurück, fügt sie atemlos hinzu. Meine Frau geht mit Lucy ins Haus und begutachtet das Zimmer, und ich gehe durch die quietschende Gartentür zum Auto, das Gepäck zu holen. Da kommt mir ein unglücklicher, ein fataler, ein zwieträchtig-geistesarmer Gedanke. Ich nehme die Flasche Motorenöl, die ich im Auto mitführe, tränke ein Tempotaschentuch und öle die rostigen Türangeln. Ein wunderbares, fast erotisches Gefühl steigt in mir hoch, als sich die Tür nun lautlos und leicht hin und her bewegen lässt. Gerade bin ich dabei, auch noch das Schließblech und die Zunge zu ölen, damit letztere geräuschlos und glatt in ersteres hineingleiten kann, als sich die Haustür öffnet und Lucy herausschießt. ”What are you doing there? Are you looking for something?” kräht sie.

Mein Englisch reicht aus, dank John, um zu verstehen, dass sie wissen will, was ich dort mache. Öl heißt oil auf Englisch, ebenso ölen. “I am oiling the quietsching gate,” sage ich. „Good Lord“, schreit Lucy.„You shouldn’t have done that. Jenny wanted the squeak so that she knew somebody had come into the garden.” Ich stehe entgeistert. Da hatte ich also Jennys Alarmsignal weggeölt. Um meinen Schrecken noch zu vergrößern, kreischt Lucy: „When Jenny comes, you’ll see. Just you wait.” Und dann noch: “Oh, those Germans.“

Nun hab ich’s gründlich. Nicht lange, und ganz Bath oder wenigstens der halbe Wellsway wird wissen, was diese Deutschen, diese Knaupler und Besserwisser, diese Ordnungsfanatiker und Rechthaber, denen alles mögliche zuzutrauen ist, solange es nur ordentlich und der Reihe nach geschieht, nun auch in Bath angerichtet haben. Fremde Türen ölen, fürwahr. Als nächstes werden sie mit Hilfe der EU noch versuchen, das English Breakfast zu verderben, indem sie Brüssel dazu veranlassen, die zum Frühstück gehörenden Würstchen wegen ihres angeblichen Sägemehlgeschmacks und den Bacon und die mit Fett vollgesogenen Pilze wegen des ihrer Meinung nach zu hohen Kaloriengehaltes durch entsprechende Vorschriften zu verbieten.

Bedrückt packen wir unsere Sachen aus und richten uns ein. Unten hören wir Lucy herumwirtschaften und vor sich hin grummeln. Als wir hinuntergehen und uns für einen Gang in die Stadt verabschieden, hat sie sich etwas beruhigt. Aber es ist wie die Ruhe vor dem Sturm. Gleich nach uns, sagt sie hintergründig, müsse auch sie das Haus verlassen, da sie sich „gewissen Dingen nicht mutterseelenallein und ohne Beistand aussetzen könne“. Wir sehen uns an, und ich erblasse, wie mir meine Frau danach sagt.

Ich muss jetzt etwas einflechten - was meine Tat, oder sollte sich besser sagen Untat der Türölung allerdings nicht besser macht: Ich entspreche nämlich in beklagenswerter Weise so recht dem Bild des Deutschen, das man in englischen Zeitungskarikaturen und auch Filmen, besonders solchen über den 2. Weltkrieg, findet. Ich habe blassblaue Augen, kurzgeschnittenes Haar, eine dicke Brille mit Drahtgestell, ziemlich kurze und dazu auch noch dünne Beine und einen erheblichen Bauchansatz. Wenn der Leser den Film „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“ gesehen hat, erinnert er sich bestimmt an Gert Fröbe, der einen preußischen Offizier spielt. Ich fürchte, ich sehe ihm ähnlich.

Zu diesen äußerlichen Merkmalen kommt ein recht ausgeprägter Ordnungssinn, der, wie ich mir selbst eingestehe, nach Ordnung um ihrer selbst willen trachtet und erst in zweiter Linie nach deren Zweck fragt. Und ich beurteile Gruppen und Völker danach, ob sie in diesem Sinne ordentlich sind oder nicht. Der Leser merkt, dass ich mir über diese Dinge im Klaren bin. Aber sie kommen aus dem Gefühl, und ich kann sie nur selten und mit einem gewissen geistigen Kraftaufwand abstellen.

Außerdem unterliege ich dem Zwang, mich und die entsprechenden fremdvölkischen Gastgeber stets zu fragen, was sie von den Deutschen halten. Das kann doch nur einem tiefsitzenden Minderwertigkeitsgefühl entspringen. Den Engländern zum Beispiel ist es egal, was andere von ihnen halten, denn es kann ihnen ohnehin keiner das Wasser reichen. So sitzt man denn im Pub, übrigens eine beneidenswerte Institution, kommt mit einem Eingeborenen ins radebrechende Gespräch und fragt nach dem dritten Bier, was dieser von den Deutschen hält. Die Antwort ist in der Regel zufriedenstellend, da Engländer, eigentlich alle Briten, in derartigen Situationen sehr höfliche Leute sind. Außerdem verstehen sie den Grund für solche Fragen nicht. Nicht weiter eingehen will ich auf meine Eigenschaft, nach ein paar Gläsern Bier sentimental zu werden und meinen Gesprächspartner, zu Tränen gerührt (ich, nicht der Gesprächspartner) meiner Liebe und andauernden Freundschaft zu versichern sowie meiner Trauer über die bevorstehende Trennung bei „Time, Ladies and Gentlemen, please!“

Wir besichtigen die Ergebnisse des städtebaulichen Konzeptes von John Wood und seinem Sohn. Das sind klassizistische Straßenzüge nach römischem Vorbild im Geiste des Palladio. Man gruppierte die meist dreigeschossigen Wohnhäuser zu einem weit geschwungenen Bogen, crescent, oder einem Kreis, circus. Die Fassaden wurden mit Bath stone, dem gelb-grauen Kalkstein der Umgebung, verkleidet. Wir besuchen das Museum im Eckhaus Nr. 1 Royal Crescent, in dem sich die liebevoll hergerichteten Räume einer Wohnung vom Ende des 18. Jahrhunderts befinden. Mich fasziniert eine Vorrichtung in der Küche, bei der ein in einer Trommel laufender Hund über einen Treibriemen den Bratspieß drehte. Die Trommel befand sich schräg über dem Braten, und ich dachte, wie wohl, und ob überhaupt, verhindert wurde, dass der Geifer des Hundes, der da mit hängender Zunge in der Trommel lief, und seine Haare und sonstigen Absonderungen an den Braten gelangten.

Gegen Abend, auf dem Nachhauseweg, schon im Wellsway, benutze ich die Gelegenheit, bei einem Fleischer nach dem berühmten Bath chap zu fragen, das der preußische Baumeister Karl Friedrich Schinkel während seines Besuches in Bath im Jahre 1826 gegessen hat. Er erwähnt das Gericht lobend in seinem Tagebuch, wohingegen er sich mit Lob für die städtebaulichen Leistungen der Woods sehr zurückhält. Der Fleischer gibt mir Auskunft, die meine Frau treulich für mich übersetzt. Gerade als wir den Laden zufrieden verlassen wollen, ruft er: „Wait a minute. Aren’t you the Germans who go around oiling garden gates? It really makes you wonder …” Meine Frau zieht mich schnell aus dem Laden. „Was hat er gesagt?“ frage ich. „Was wir uns dabei denken, hier in Bath herumzulaufen und ungefragt Gartentüren zu ölen. Komm schnell weg.“ 

Wir kommen zu unserem B&B und sehen an unserem Auto ein älteres Ehepaar stehen. Sie zeigen auf das deutsche Nummernschild und schauen auf, als wir uns nähern. Sie blicken freundlich, doch schweigen sie zunächst. Ich bin auf alles gefasst. Dann sagt der Mann in der Übersetzung meiner Frau: „Sind Sie derjenige, der Jennys Tür geölt hat?“ Ich nicke zögernd. „Na Gott sei Dank“, fährt der Mann fort, „da fehlt schon längst ein Mann im Haus. Ich kann gar nicht zählen, wie oft mich das Quietschen der Tür aus dem Mittagsschlaf geweckt hat. Wir wohnen nämlich hier gegenüber. Was allerdings Jenny sagen wird, wage ich mir nicht so recht vorzustellen.“

Leicht getröstet und dann doch auch wieder niedergedrückt gehen wir ins Haus. Lucy ist noch nicht da. Es wird ein trauriger Abend. Wir trösten uns damit, dass wir uns für den nächsten Tag zu einer Führung durch die schöne und interessante Stadt angemeldet haben.

Beim Frühstück am nächsten Morgen ist Lucy ganz freundlich. Sie wieselt zwischen Küche und unserem Frühstückszimmer hin und her, fragt, ob wir noch mehr Toast haben wollen und sagt dann mit konspirativer Stimme: „I phoned Jenny. She says she will be home the day after tomorrow. You will still be here, won’t you?” Meine Frau übersetzt, dass Lucy mit Jenny telefoniert habe und letztere übermorgen zurückkomme. Und dann seien wir doch noch da, nicht wahr? Meiner Frau gelingt es so gut, die klammheimliche Freude, den unheilverheißenden Beiklang, die kassandrische Weheklag, die Lucy in den kleinen Nachsatz „won’t you“ zu legen vermocht hat, in ihrem „nicht wahr“ wiederzugeben, dass es mir kalt den Rücken herunterläuft.

Wir gehen hinunter in die Stadt. Alle Führungen beginnen an den Roman Baths. Das Wasser, das dort aus dem Boden sprudelt, eine Million Liter pro Tag, hat eine Temperatur von 46 °C. Wir trinken einen Becher. Es schmeckt wie abgestandenes, lauwarmes Wasser.

Dann beginnt die eigentliche Führung. Unser Guide sagt, er mache das ehrenamtlich. Und ehe wir losgehen, sagt er, möchte er uns, die wir doch in der Mehrzahl Ausländer seien, solange wir hier so schön beieinander stünden, einen Hinweis geben. Engländer, auch die in Bath, liebten ihre privacy, ihre Privatsphäre. Und nichts Schlimmeres könnte ihnen passieren, als wenn ungefragt an dieser Privatsphäre herumgedoktert würde. Er sage das aus einem bestimmten Anlass. Gestern Abend habe ihm ein Bekannter im Pub erzählt, dass gerade ein deutsches Ehepaar mit einer Ölkanne in der Hand Bath heimsuche und überall, wo es ein trockenes Scharnier oder eine quietschende Türangel gäbe, zur Ölung schreite.

Der Leser sei versichert, dass es ein solch verlegenes und intensives Vor-sich-auf-den-Boden-Starren wie das von meiner Frau und mir noch nicht gegeben hat. Die Führung durch die Stadt ist trotz dieser Ermahnung unseres Guides schön, auch wenn ich, wann immer ein Metallteil an einem Haus oder einem Zaun auftaucht, den Blick ängstlich in eine andere Richtung lenke. Dennoch fürchten wir die ganze Zeit, identifiziert zu werden.

Für den folgenden Abend hat uns John in sein Haus eingeladen. Als ich die Gartentür öffne, quietscht sie. Johns Frau Liz fragt lächelnd, ob ich mein Öl dabei habe. Dann erzählt sie, dass heute in der Schule, in der sie arbeitet, ein Zeitungsausschnitt aus dem „Bath Courier“ im Lehrerzimmer herumgezeigt wurde, der unter der Überschrift „Oil Shock“ folgende Meldung enthielt. Liz gibt meiner Frau eine Kopie des Ausschnittes, und sie übersetzt für mich:

"Es ist unseren Lesern sicher nicht entgangen, dass wir uns auch dieses Jahr, was interessante Nachrichten aus aller Welt und aus unserem Land betrifft, in einem Sommerloch befinden. Umso mehr beeilen wir uns, Ihnen folgende Meldung zur Kenntnis zu bringen, von der wir nicht genau wissen, ob wir sie unter „Kurioses“ oder „Interkulturelles“ einordnen sollen. Eine ganze Anzahl Leser hat uns besorgt angerufen und von einem Paar aus Deutschland berichtet, das in unserer guten Stadt Bath Urlaub macht und dabei ein seltsames und fremdländisches Verhalten an den Tag legt. Überall, wo der Mann eine Türangel oder eine ähnliche drehbare Vorrichtung sieht, die seiner Meinung nach nicht genügend geschmiert ist, nimmt er eine Flasche Öl aus seiner eigens dafür mitgeführten Tasche und ölt ungefragt die Angel oder die Vorrichtung.

Da er damit noch keinen größeren Schaden angerichtet hat, bitten wir unsere Leser herzlich, ihrem Unverständnis nicht zu sehr Raum zu geben. Das Paar, das übrigens auch noch einen Volkswagen fährt, ist offensichtlich leicht gestört, aber harmlos. Denken Sie bitte daran, wie sehr wir die Deutschen vor einiger Zeit in München im Fußball gedemütigt haben und reagieren Sie aus dieser Überlegenheit heraus großmütig. Zudem wird diese Heimsuchung von begrenzter Dauer sein, da das Paar auf Grund der hohen Lebenshaltungskosten in unserem Land nicht lange wird aushalten können.

Dieses Deutschland übrigens, aus dem die Leute kommen, befindet sich auf dem Kontinent ungefähr zwischen Frankreich, Polen und Oktoberfest, ist etwas größer als das Vereinigte Königreich und seine Hauptstadt heißt Berlin. Die Einwohner befassen sich in ihrer Freizeit hauptsächlich mit Aufräumen, Saubermachen und Sauerkraut essen. Unser großer Komponist George Frideric Handel wurde erstaunlicherweise in diesem Deutschland geboren, in einer Stadt namens Halle an der Saale, zog es aber vor, sich bereits in jungen Jahren in London niederzulassen."

Liz und John sehen uns tröstend an. Sie gehören zu den Menschen, die andere nicht leiden sehen können. John führt uns zuerst im Erdgeschoss des Hauses herum. Uns fällt auf, dass alle Räume und alle darin befindlichen Gegenstände einem Ordnungsprinzip folgen, das sich schlichten deutschen Gemütern entzieht. Es ist sozusagen exotisch und von kosmischer Gelassenheit und insofern das nach außen gekehrte Innere unserer Freunde.

Wir setzen uns im dining room an den Tisch, und zu meiner Freude serviert uns John als erstes das erwähnte Bath chap, das aus dem unteren Teil einer Schweinebacke besteht, der um die Schweinezunge gewickelt ist und gewöhnlich kalt gegessen wird. Wir genießen es und trinken, Schinkels gedenkend (der übrigens ein sehr maßvoller Mensch gewesen sein soll), Korn aus der von mir als Geschenk mitgebrachten Flasche.