Wir aus Jedwabne - Anna Bikont - E-Book

Wir aus Jedwabne E-Book

Anna Bikont

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Beschreibung

Am 10. Juli 1941 fiel die jüdische Bevölkerung der polnischen Kleinstadt Jedwabne einem Pogrom zum Opfer. Hunderte Männer, Frauen und Kinder wurden in einer Scheune verbrannt. Nur wenige überlebten. Es war ein Verbrechen von unermesslicher Grausamkeit. Aber nur wenige Menschen wurden dafür zur Verantwortung gezogen. Was an diesem Tag tatsächlich geschah – und durch wessen Hand –, sollte mehr als sechzig Jahre lang im Dunkeln bleiben.

Erst das Buch Nachbarn (2000) des Historikers Jan T. Gross legte dar, dass es Polen waren, die in Jedwabne, geschützt von den deutschen Besatzern, ihre wehrlosen jüdischen Nachbarn umgebracht hatten – ein Schock für die polnische Gesellschaft und Auslöser einer erbitterten Debatte um das Tabu eigener Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung des Landes.

Die Journalistin Anna Bikont macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Sie reist immer wieder nach Jedwabne. Sie spricht mit Überlebenden und mit Tätern, mit Dorfbewohnern, Historikern und Politikern. Sie durchforstet Prozessakten und Zeitungsarchive. So unerbittlich wie behutsam rekonstruiert sie nicht nur die Gewalttat und die Umstände, die sie ermöglicht haben – sie zeichnet zugleich das Porträt einer Stadt, die sich der Erinnerung bis heute verweigert.

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Seitenzahl: 1036

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Anna Bikont

Wir aus Jedwabne

Polen und Juden während der Shoah

Aus dem Polnischen von Sven Sellmer

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Aufzeichnungen

1 »Mache Polen von den Juden rein« oder Vom polnisch-jüdischen Verhältnis in Jedwabne und Umgebung in den dreißiger Jahren

Aufzeichnungen

2 Ich wollte ihr Leben retten, die Liebe kam später oder Die Geschichte von Rachela Finkelsztejn und Stanisław Ramotowski

Aufzeichnungen

3 Wir haben unter den Deutschen, unter den Sowjets und in der Volksrepublik gelitten oder Die Geschichte von den drei Laudański-Brüdern

Aufzeichnungen

4 Bei den Juden war von dieser Traurigkeit nichts zu sehen oder Die polnische und die jüdische Erinnerung an die sowjetische Besatzung

Aufzeichnungen

5 Ich werde euch sagen, wer das getan hat: mein Vater oder Die privaten Ermittlungen des Jan Skrodzki

Aufzeichnungen

6 Wäre ich damals in Jedwabne gewesen oder Die Geschichte von Meir Ronen, der nach Kasachstan deportiert wurde

Aufzeichnungen

7 Es kommt eine Zeit, da werden selbst die Steine reden oder Die Monologe des Leszek Dziedzic

Aufzeichnungen

8 Die einzige Chance bestand darin, einen Goj zu spielen oder Die Geschichte von der Rettung des Awigdor Kochaw

Aufzeichnungen

9 Die verzweifelte Suche nach dem Positiven oder Die Monologe des Krzysztof Godlewski, ehemaliger Bürgermeister von Jedwabne

Aufzeichnungen

10 Nur ich wusste, dass es sieben waren oder Die Geschichte der Antonina Wyrzykowska

11 Ich, Szmul Wasersztejn, spreche eine Warnung aus oder Auf dem Weg von Jedwabne nach Costa Rica

Aufzeichnungen

12 Sie hatten Wodka, Waffen und Hass oder Der 7. Juli 1941 in Radziłów

Aufzeichnungen

13 Die Träume der Chaja Finkelsztejn oder Die Geschichte von der Rettung der Familie des Müllers von Radziłów

Aufzeichnungen

14 Burschen aus gutem Hause und Schläger oder Von den Mördern aus Jedwabne, Radziłów, Wąsosz und Umgebung

Aufzeichnungen

15 Die Täter

sensu stricto

waren Polen oder Ein Gespräch mit Staatsanwalt Radosław Ignatiew

ANHANG

Nachwort zur deutschen Ausgabe

Bildnachweis

Zur Aussprache der polnischen Namen

Register

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Marktplatz von Jedwabne, dreißiger Jahre. Die Kleinstadt liegt etwa 150 Kilometer nordöstlich von Warschau und gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zur Wojewodschaft Białystok.

Aufzeichnungen

28. August 2000

»Es ist eine Lüge, dass es Polen waren, die in Jedwabne die Juden umgebracht haben«, erklärt Tadeusz Ś. aus Warschau, Arzt im Ruhestand, Augenzeuge der Ereignisse vom 10. Juli 1941.

Er sitzt im Büro meines Vorgesetzten Adam Michnik, Chefredakteur der Gazeta Wyborcza. Eine befreundete Person hatte ihn empfohlen. Als Adam mir berichtete, laut Tadeusz Ś. könne das Verbrechen in Jedwabne nicht den Polen angelastet werden, hörte ich an seiner Stimme, wie erregt und zugleich erleichtert er war. Ich wusste, dass er die Fakten, die Jan Tomasz Gross in seinem Buch Nachbarn ans Licht gebracht hatte, nicht akzeptieren konnte. Wir hatten oft darüber gesprochen. Noch bevor das Buch im Mai erschienen war, hatte ich mich auf einer Redaktionssitzung dafür ausgesprochen, eine Reportage über die Stadt zu bringen. Jedwabne würde sich dem Verbrechen stellen müssen, das damals begangen worden war.

Bei der Rekonstruktion stützt sich Gross auf drei Quellen: die Zeugenaussage von Szmul Wasersztejn, der das Pogrom in Jedwabne überlebte und 1947 im Gerichtsprozess in Białystok auftrat; die Prozessakten aus Białystok, wo nach dem Krieg einige Tatbeteiligte wegen Kollaboration mit der Besatzungsmacht verurteilt wurden; und schließlich auf den in New York erschienenen Band Yedwabne. History and Memorial Book (im Folgenden: Jedwabner Gedenkbuch), Erinnerungen von ehemaligen jüdischen Bürgern Jedwabnes. Zu dem Buch haben Emigranten aus verschiedenen Teilen der Welt beigetragen. Gross' Schlussfolgerungen sind radikal, seine Hypothesen noch radikaler. In Jedwabne hätten Polen in einer Scheune alle Juden der Kleinstadt, insgesamt 1600 Personen, verbrannt. »Es war ein Massenmord im doppelten Sinne«, schreibt Gross, »im Hinblick auf die Zahl der Opfer und die Zahl der Täter.«

Meinen Vorschlag, nach Jedwabne zu fahren, lehnte Adam ab. Er wollte auch keinen Vorabdruck aus Gross' Buch. Jetzt möchte er, dass ich mir anhöre, wie es gewesen ist. Er hatte darauf bestanden, dass ich bei dem Gespräch anwesend bin, obwohl Tadeusz Ś. darauf drängte, sich mit ihm alleine zu treffen. Unser Gesprächspartner lässt keine Tonaufnahme zu und möchte nicht, dass sein Name genannt wird. Widerstrebend erklärt er sich damit einverstanden, dass ich Notizen mache.

1941 war er fünfzehn Jahre alt. Am 10. Juli hielt er sich zufällig in Jedwabne auf. Wegen eines Zahnartzbesuchs, sagt er.

»Am Morgen fuhren zwei Motorräder auf den Marktplatz, mit Deutschen in schwarzen Gestapouniformen. Ich sah vom Balkon aus, wie sie den Juden befahlen, sich zu versammeln. Über den Rabbiner machten sie sich lustig, indem sie seinen schwarzen Hut auf einen Stock setzten. Ich ging den Juden hinterher bis zur Scheune.«

Adam Michnik: »Wie viele Deutsche haben Sie bei der Scheune gesehen?«

»Drei. Die Deutschen sind ordnungsliebend, also ließen sie den Eigentümer herbringen, damit er aufschloss, obwohl sie die Tür hätten aufbrechen können.«

»Und das alles haben drei Deutsche gemacht?«

»Bestimmt waren noch mehr dabei, in Zivil. Aber drei waren uniformiert und hatten Pistolen. Ich sah, wie die Juden von selbst in die Scheune gingen, wie hypnotisiert.«

»Und sie haben nicht versucht zu fliehen, als die Scheune brannte?«

»Nein. Es war schrecklich.«

»Haben sich irgendwelche Polen an dem Verbrechen beteiligt?«

»Nein, kein einziger.«

»Kriminelle gibt es in jeder Gesellschaft. Sie brauchen nur eine beliebige Zeitung aufzuschlagen, um dort jede Menge Berichte über Mord und Totschlag zu finden. Während der Besatzungszeit gab es Szmalcowniks, Leute, die Juden für Geld verrieten.«

»Nur in den Großstädten. Sie kennen die Provinz nicht. Dort leben die ursprünglichen Polen, der verarmte Landadel. Sich dafür zu rächen, dass die Juden unter sowjetischer Herrschaft Polen denunzierten, das war ihnen fremd. Vor der Scheune riefen sie den Juden zu, sie sollten fliehen. Da standen nur drei Deutsche mit abgesägten Flinten, das waren nicht einmal Karabiner. Die alten Leute, die dabeistanden, waren voller Vorwürfe. Davon sprachen sie am nächsten Sonntag vor der Kirche.«

»Wem machten sie Vorwürfe – sich selbst?«

»Nein, den Juden. Keiner von ihnen hatte es fertiggebracht, sich auf die Deutschen zu stürzen.«

»Sie haben den Ermordeten Vorwürfe gemacht?«

»Weil sie sich nicht selbst verteidigt haben.«

»Aber wenn man vor meinen Augen jemanden ermordet, dann muss ich doch helfen. Tue ich das nicht – sei es aus Angst, im Schock oder weil die Situation mich überfordert –, dann bin doch ich es, der sich Vorwürfe machen muss.«

»Die Polen hätten ihnen geholfen, wenn sie sich auf die Deutschen gestürzt hätten. Als sie unter der Sowjetherrschaft mit Gewehren durchs Dorf fuhren, da waren sie tapfere Burschen, aber als die Deutschen sie in die Scheune führten, da sah das ganz anders aus. Die Bevölkerung ist beleidigt, dass man sie in so etwas hineinzieht – die Juden hätten sich selbst verteidigen sollen. Man hält sie für Feiglinge, weil sie erwarteten, dass die Polen sie verteidigen würden, und selbst nichts unternahmen. Aber dass dort 1600 Personen gewesen sein sollen, das ist eine freche Lüge.«

»Wie viele waren es denn Ihrer Meinung nach«, schalte ich mich ein.

»Tausend, mehr nicht«, antwortet Tadeusz Ś. Ich schaue zu Adam hinüber und sehe, dass er erbleicht.

Zum Abschluss betont Ś. noch einmal: »Bitte nennen Sie nicht meinen Namen. Ich möchte nicht, dass mir jüdische Radikale vor meinem Haus auflauern.«

1. September 2000

Das Institut für Nationales Gedenken (IPN) hat die Aufnahme von Ermittlungen zum Verbrechen in Jedwabne angekündigt.

Ich treffe Adam Michnik auf dem Flur in der Redaktion – das Gespräch mit Tadeusz Ś. lasse ihm keine Ruhe. Er schlägt vor, ich solle auf seiner Grundlage eine Erzählung schreiben, die während des Krieges im Städtchen J. spielt. Aber ich kann keine Erzählungen schreiben.

Ich beschließe, ein Jahr unbezahlten Urlaub zu beantragen und auf eigene Faust nach Jedwabne zu fahren, wenn ich es nicht für die Gazeta Wyborcza tun kann. In der Stadt muss es noch eine Erinnerung an das Verbrechen geben, Zeugen, die noch leben. Ich werde versuchen, die Tatsachen zu rekonstruieren, aber ich will auch nachvollziehen, was im Verlauf von sechzig Jahren mit der Erinnerung an jene Ereignisse geschehen ist.

5. September 2000

Im Jüdischen Historischen Institut (ŻIH) in Warschau. Fünf Seiten eines locker beschriebenen, mit vielen Durchstreichungen versehenen Manuskripts: der Bericht von Szmul Wasersztejn, übersetzt aus dem Jiddischen. »Säuglinge wurden an der Brust ihrer Mütter erschlagen, Erwachsene wurden halbtot geprügelt und zum Singen und Tanzen gezwungen. Blutend und verletzt, wie sie waren, stieß man sie alle in die Scheune. Dann wurde die Scheune mit Benzin übergossen und angezündet. Danach gingen die Banditen in die jüdischen Wohnungen und suchten nach zurückgelassenen Kranken und Kindern. Die Kranken, die sie fanden, schafften sie selbst zur Scheune, und die Kinder banden sie zu mehreren an den Füßen zusammen, luden sie sich auf den Rücken und warfen sie mit Heugabeln auf die Glut …«

6. September 2000

Das Jedwabner Gedenkbuch, herausgegeben von den Rabbinerbrüdern Julius und Jacob Baker, die vor dem Krieg aus Jedwabne nach Amerika emigriert waren, existierte zwanzig Jahre lang in einhundert Exemplaren. Heute steht es im Internet. Ich finde dort Berichte über den 15. Tamus des Jahres 5701, d. ‌h. den 10. Juli 1941, aufgeschrieben von Rivka Fogel (»Die Gojim schnitten den Kopf von Gitele, der Tochter Judka Nadolniks, ab und spielten mit ihm wie mit einem Ball«), Itzchok Newmark (»Die Polen übergossen die Scheune, in der die Juden zusammengepfercht waren, mit Benzin und sangen dabei«), Awigdor Kochaw (»Eine Gruppe von Burschen prügelte mich erbarmungslos und zerrte mich auf den Marktplatz; sie trieben die gequälten, hungrigen und durstigen Menschen an, indem sie bestialisch auf sie einschlugen, während diese ohnmächtig wurden, nachdem sie den ganzen Tag in der sengenden Sonne gestanden hatten«) und Herschel, dem dritten Bruder der Bakers aus Goniądz, einem Städtchen etwa vierzig Kilometer von Jedwabne entfernt (»Mutter traf völlig erschöpft am 14. Juli [aus Jedwabne] in Goniądz ein; auf der Flucht vor dem Massaker war sie aus Jedwabne durch Felder und Wälder hierhergelaufen. […] Sie konnte sich nicht beruhigen, nachdem sie gesehen hatte, wie die Polen alle Juden vernichtet hatten«).

28. September 2000

Unterwegs in Wilna mit einer Gruppe von Freunden, Irena Grudzińska-Gross ist auch dabei. Sie erzählt, dass Jan Gross Wasersztejns Zeugnis bereits in seinem vorigen Essayband unterbringen wollte. Sie hatte es seinerzeit gelesen und ihm abgeraten. Wie kann man denn, habe sie argumentiert, anhand eines einzigen Zeugnisses an etwas so Grauenhaftes glauben?

17. November 2000

Interview mit dem Historiker Tomasz Szarota in der Gazeta Wyborcza. Er wirft Gross vor, er habe sich nicht bemüht zu erklären, warum »1500 gesunde Personen im Vollbesitz ihrer Kräfte nicht versucht haben, sich gegen weniger als hundert nur mit Knüppeln bewaffnete Verbrecher zur Wehr zu setzen oder auch nur zu fliehen«.

Es ist schwer verständlich, wie Szarota, dem Autor eines hervorragenden Buches über Pogrome in dem von den Deutschen besetzten Europa, ein solcher Satz über die Lippen kommen konnte. In der Menschenmenge waren doch Greise, Frauen mit Säuglingen an der Brust, Kleinkinder, die sich am Rock ihrer Mutter festklammerten (jüdische Familien waren meist kinderreich), aber kaum junge Männer – man hatte sie, wie aus Wasersztejns Zeugnis hervorgeht, bereits am selben Tag ermordet. Wie viele Fälle sind Szarota bekannt, in denen eine Menschenmenge, die man in den Tod führte, sich aufgelehnt und die Mörder angegriffen hat?

Szarota beruft sich auf die Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre durchgeführten Ermittlungen. Staatsanwalt Waldemar Monkiewicz von der Hauptkommission zur Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen in Polen versuchte damals nachzuweisen, dass am Tag des Verbrechens eine Abteilung von 232 Deutschen unter Führung von Wolfgang Birkner nach Jedwabne gekommen sei. Szarota wirft Gross vor, den Anteil der Deutschen an dem Verbrechen nicht untersucht zu haben: »Ich bezweifle, dass der Staatsanwalt sich diese 232 Deutschen, ihre Lastwagen und auch die Gestalt Wolfgang Birkners aus den Fingern gesaugt hat. Aber wie dem auch sei – es ist nicht in Ordnung, dass in Gross' Buch der Name Birkner nicht vorkommt.«

Ich persönlich würde mit Ermittlungen, die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, zur Zeit der vom Staat orchestrierten antisemitischen Hetzjagd, durchgeführt wurden, äußerst vorsichtig umgehen. Monkiewiczs Auftraggeber war Mieczysław Moczar, der Chef des Sicherheitsamtes (UB), der mit nationalistischer und antisemitscher Propaganda die Unterstützung eines großen Teils des Parteiapparates gewonnen hatte. Ein wichtiger Teil dieser Propaganda bestand darin, den schnöden Undank der Juden gegenüber den Polen herauszustellen, die ihnen während des Krieges das Leben gerettet hatten. Die Wiederaufnahme der Nachforschungen zu Jedwabne im Jahre 1967 sollte vermutlich dazu dienen, die polnischen Beteiligten an dem Verbrechen reinzuwaschen.

Gross hatte Zugang zu den Zeugenaussagen im Prozess von 1949. Wie kann es sein, dass niemand die Lastwagenkolonne bemerkt hat? Ich weiß nicht, wie viele Deutsche vor der Scheune in Jedwabne waren, aber Tadeusz Ś., der Adam Michnik überzeugen wollte, dass die Polen unschuldig sind, hat drei gesehen.

21. November 2000

Jemand hat bei der Gazeta Wyborcza angerufen, der bereit ist, über Radziłów zu sprechen. Ich rufe zurück. Jan Skrodzki wohnt in Danzig, stammt aber aus Radziłów, einem Ort achtzehn Kilometer von Jedwabne entfernt. Dort kam drei Tage vor Jedwabne die gesamte jüdische Gemeinschaft im Feuer um.

Als kleiner Junge am Fenster, hinter Vorhängen verborgen, beobachtete er am 7. Juli 1941, wie die Juden zu ihrer Verbrennung getrieben wurden. Er hat keinen einzigen Deutschen gesehen. Er erklärt mir: »Ich fühle mich verantwortlich für Jedwabne, für Radziłów, für alles, was noch ans Tageslicht kommt.« Wir vereinbaren, dass ich zu ihm nach Danzig fahre.

23. November 2000

Im ŻHI lese ich den Bericht Menachem Finkelsztejns von der Verbrennung der jüdischen Gemeinschaft in Radziłów. Nach seiner Aussage wurde auch dieses Verbrechen von Polen begangen. Ich quäle mich durch grauenhafte Szenen – Vergewaltigungen, Schläge, Kinder werden lebendig in die brennende Scheune geworfen, einem jüdischen Mädchen wird mit einer Säge der Kopf abgetrennt – und würde gerne glauben können, dass die Geretteten aus ihrem tiefen Schock heraus übertreiben und zuspitzen.

Finkelsztejn versucht diesen Ausbruch der Barbarei folgendermaßen zu verstehen: »Der Samen des Hasses fiel auf eine reichlich gedüngte Erde, die über lange Jahre hinweg von der Geistlichkeit gut vorbereitet worden war. Und die Lust auf jüdische Profite und jüdische Reichtümer machte den Appetit noch größer.«

24. November 2000

Ein Historikertreffen zu dem Buch von Gross. Schon beim Eintreten spürt man eine emotionale Aufgeladenheit, wie man ihr in Polen auf wissenschaftlichen Tagungen nur selten begegnet.

Tomasz Szarota referiert den Wissensstand zu Jedwabne, wobei er immer weitere Publikationen anführt, die bezeugen, dass in Jedwabne das Kommando »Bialystok« unter Führung Wolfgang Birkners, den man vom Warschauer Ghetto abkommandiert habe, tätig gewesen sei. Es gibt dafür aber bloß eine einzige Quelle: Staatsanwalt Monkiewicz, der dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholte, so zum Beispiel beim 250-jährigen Jubiläum der Verleihung der Stadtrechte an Jedwabne.

Gross schlägt einen anderen Ton an. Er spricht scharf, direkt, ironisch, erinnert Szarota an eine Zusammenkunft vor einigen Monaten, bei der Monkiewicz erklärt habe, im Sommer 1941 hätten Polen im Gebiet von Białystok weder Juden ermordet noch bei deren Ermordung geholfen. Es habe nur einen einzigen Fall dieser Art gegeben, als Polen von den Deutschen gezwungen worden seien, eine Menschenkette zu bilden, um die Juden an der Flucht zu hindern.

»Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass man auf den Herrn Staatsanwalt gerne verzichten kann«, sagt Gross. »Es ist fatal, dass Tomasz Szarota seine wissenschaftliche Autorität dafür hergibt, einer irreführenden Version der Tragödie von Jedwabne Glaubwürdigkeit zu verleihen, indem er Monkiewiczs Thesen in hohen Auflagen in Umlauf bringt. Wir haben darüber gesprochen, lieber Tomasz«, wendet er sich direkt an Szarota, »und ich habe dir gesagt, dass die Anwesenheit Birkners in Jedwabne eine Erfindung ist und dass du Monkiewicz vergessen solltest.«

Nachdem immer mehr Tagungsteilnehmer auf handwerkliche Mängel in Gross' Buch hinweisen, tritt Marek Edelman, der letzte noch lebende Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, ans Mikrofon: »Hier möchte jeder etwas finden, um zu beweisen, dass Gross ein schlechter Historiker ist, denn er habe sich geirrt: diesen Herrn haben sie früher umgebracht und jene Dame später. Aber das ist nicht der Punkt. Jedwabne war weder das erste Ereignis dieser Art noch ein Einzelfall. Es gab damals in Polen eine Atmosphäre, die dem Ermorden von Juden günstig war. Und dabei ging es nicht um Raub. Im Menschen gibt es etwas, das ihn gerne morden lässt.«

Jerzy Jedlicki, der Leiter der Tagung, ergreift das Wort: »Hass auf Juden, sie zu verachten und zu verlachen – das gehört zur mitteleuropäischen Kultur des 20. Jahrhunderts, auch zur polnischen. Ich will damit nicht sagen, jeder wäre zu einem Verbrechen fähig gewesen. Aber die Vernichtung der Juden wurde von einem beträchtlichen Teil ihrer polnischen Umgebung mit Freude begleitet. Diese Freude, dieses Lachen angesichts der Shoah – daran erinnere ich mich, denn ich war damals auf der anderen, der ›arischen‹ Seite der Mauer. Bis heute haben wir uns diesem Thema nicht gestellt, auch ich ganz persönlich nicht, aus Feigheit, aus Angst vor dem Dunklen, das in unserer kollektiven Geschichte lauert. Mit seinen Büchern weckt uns Gross aus dieser Abgestumpftheit. Und das ist das Entscheidende.«

Die Versammlung dauert beinahe fünf Stunden, zeitweise gleicht sie einem Psychodrama. Alina Skibińska, eine junge Historikerin aus Polen, die für das Holocaust-Museum in Washington arbeitet, bricht in Tränen aus, als sie von dem Meer aus Judenhass berichtet, dem sie sich bei der Lektüre von Archivmaterialien gegenübersieht.

25. November 2000

»In Jedwabne wären nicht so viele Menschen zum Töten bereit gewesen, wenn sie sich von anderen Gleichgesinnten und von Autoritätspersonen nicht unterstützt gefühlt hätten«, schreibt eine Psychologieprofessorin in der Gazeta Wyborcza; sie beruft sich auf Studien, wonach die Polen ihr nationales Leiden als eine Art speziellen Beitrag oder Investition begreifen, für die ihnen die Welt mehr schuldet als anderen. »Wir halten uns für außergewöhnlich und schreiben uns moralische Verdienste sowie einen besonderen Beitrag zum Schicksal der Welt zu. Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die so denken, eher bereit sind, das Töten Unschuldiger zu akzeptieren.«

Bei Jacek Kuroń. Ich berichte ihm vom Historikertreffen. Jacek hat die gleichen Erinnerungen wie Edelman: Das gesellschaftliche Klima habe Schikanen gegen Juden zugelassen. In Lemberg habe er mit eigenen Augen gesehen, wie Jugendliche Steine ins Ghetto warfen, worüber sich niemand empörte. Überall dasselbe Lied: »Hitler macht gute Arbeit für uns.«

»Daran hat selbst der Holocaust nichts geändert«, sagt Jacek. Und er erzählt eine Episode aus dem Sommer 1945, als er mit seinen Eltern, seinen Großeltern und seinem jüngeren Bruder Felek in Krakau wohnte. Während eines Spaziergangs habe sein Großvater seinen kleinen Bruder am Arm gezogen, und Felek sei in Tränen ausgebrochen. Sogleich habe sich eine Menschenmenge gebildet, der alte Herr wurde herumgezerrt und beschimpft. Man hielt ihn für einen Juden, der ein polnisches Kind ermorden wollte, um daraus Matzen zu machen. Einfach nur, weil Felek blond war und der Großvater eine Kappe trug. Wenig später sei es in Krakau zu einem Pogrom gekommen.

»Der Hass«, fährt Jacek fort, »entsteht aus uneingestandenen Schuldgefühlen. Irgendwo in ihrem Innern wissen die Menschen, dass hier ein Volk ermordet worden ist und dass sie davon profitiert haben, ihnen gehört ein ehemaliges jüdisches Haus oder zumindest ein Kopfkissen. Damit wollen sie sich nicht auseinandersetzen, und so wächst in ihnen der Hass.«

Ich zitiere ihm einen Abschnitt aus der Gazeta Wyborcza, wo Jacek Żakowski, ein bekannter politischer Kommentator, schreibt: »Jan Gross ist für sich verantwortlich, und ich bin es für mich. Keiner von uns hat das Recht, dem anderen seine Landsleute oder seine Vorfahren vorzuwerfen.« Jacek meint dazu: »Aus der Weigerung, sich zur eigenen Verantwortung zu bekennen, ist auf der Welt noch nie etwas Gutes entstanden.«

5. Dezember 2000

Ein Brief von Kazimierz Laudański an Adam Michnik. Er ist der ältere Bruder von Jerzy und Zygmunt Laudański, die für ihre Teilnahme an der Ermordung der Juden von Jedwabne zu 15 bzw. zwölf Jahren Haft verurteilt wurden. In dem Brief schildert er seine Version der Ereignisse. Die Deutschen sind die Hauptakteure; die jüdischen Kommunisten »hatten zusammen mit dem NKWD Listen von Familien angefertigt, die nach Sibirien deportiert werden sollten«.

Das wirft die Frage auf: Angenommen, das Verbrechen ist ein Werk der Deutschen, was tut es dann zur Sache, dass Polen von Juden an den NKWD verraten wurden?

Kazimierz Laudański protestiert dagegen, dass man seine Brüder verleumdet, und preist den Patriotismus der Familie.

Jan Gross stieß in den Gerichtsakten auf einen Brief von Zygmunt Laudański an die kommunistischen Machthaber, in dem dieser erklärt, dass er während der sowjetischen Besatzung Informant des NKWD war und nach dem Krieg in die Polnische Arbeiterpartei eingetreten ist. »Auf Schultern wie meine«, schrieb er, »kann sich unsere sozialistische Ordnung stützen.« Gross war frappiert: »Bei der ersten Lektüre dieser Ausführungen fällt der ungebrochene Konformismus dieses Mannes ins Auge. Offenbar versuchte er vorwegzunehmen, was sich die einander ablösenden mörderischen Regime jener Zeit von den ihnen Unterworfenen vor allem erwünschten, und jedes Mal verschrieb er sich ihnen mit Haut und Haar; erst war er geheimer Mitarbeiter des NKWD, dann erledigte er die Drecksarbeit für die Nazis und tötete die Juden, und schließlich trat er der PPR, der Kommunistischen Partei, bei« (Nachbarn, S. 86).

Laudański schließt mit den Worten: »Stets waren wir und sind wir bereit, der Heimat pro publico bono zu dienen.«

Das ist dann wohl doch zu viel für Adam. Er beendet das Embargo. Ich rufe im Namen der Gazeta Wyborcza bei Laudański an, um mich mit ihm zum Gespräch zu verabreden.

9. Dezember 2000

Pisz, hundert Kilometer nördlich von Jedwabne. Kazimierz Laudański erwartet mich vorn am Weg, der zu seinem Haus führt. Noch bevor wir angekommen sind, hat er es geschafft, bei mir in Erfahrung zu bringen, aus welcher Gegend meine Eltern stammen und wie der Familienname meiner Mutter lautete. Sie hatte einen ganz und gar anständigen Mädchennamen, und auch der Vorname war in Ordnung. Zumindest seit ein in sie verliebter Pole ihr »arische« Papiere einschließlich Taufbescheinigung besorgt hatte, um sie zu heiraten. Auf diese Weise ist in Lemberg im Jahre 1942 Lea Horowicz verschwunden. Sie verschwand so gründlich, dass ich von meiner Herkunft erst als Erwachsene erfuhr, und auch nur durch puren Zufall.

Meine Mutter hielt keinen Kontakt mit ihrer Familie, nie tauchte ein Onkel oder eine Cousine bei uns zu Hause auf. Ich fand es ganz natürlich, dass für meine Mutter, eine unabhängige und rebellische Person, Familie und Verwandtentreffen eine langweilige, spießige Verpflichtung waren, der sie sich nicht zu unterwerfen gedachte. Erst nach dem Studium lernte ich in unserem Kleingarten in der Nähe von Warschau einen etwa fünfzigjährigen Herrn kennen, den mir meine Mutter als den Sohn ihrer geliebten Schwester vorstellte, die man in der Sowjetunion im Zuge der Großen Säuberung von 1937 ermordet hatte. Ich war damals mit Freunden unterwegs, sagte nur kurz Hallo und lief weiter ans Wasser. Einige Jahre vergingen, ehe ich ihn ein zweites Mal traf. Ich begann unser Gespräch damit, dass er der einzige mir bekannte Verwandte mütterlicherseits sei, und fragte ihn, ob er vielleicht irgendetwas über unsere gemeinsame Familie wisse. »Unser Großvater Hirsz Horowicz …«, begann mein Cousin Oleś Wołyński.

Ich rief der Reihe nach meine Freunde und Verwandten an, telefonierte mein Adressbuch durch, von A bis Z. »Ich bin Jüdin«, verkündete ich. Aus irgendeinem Grunde machte diese Tatsache auf niemanden besonderen Eindruck – außer auf mich selbst. Nur einer meiner Bekannten, ein Berater der »Solidarność«, traf sich mit mir und legte mir nahe, in der Redaktion des Tygodnik Mazowsze, einer von mir mitgestalteten Zeitung der Untergrund-»Solidarność« (es war 1984), keine Personen dieser Herkunft mehr einzustellen. »Ihr seid ohnehin in der Überzahl, und wenn sie euch einbuchten, kann das der Sache schaden«, sagte er in bester Absicht, aus Sorge, es war nicht gegen mich gerichtet. Der größte Schock war die Erkenntnis, dass fast alle meine Bekannten »Bescheid wussten«. Zum Beispiel hatte die Mutter des einen vor dem Krieg ein angesehenes jüdisches Gymnasium besucht und war mit meiner Mutter in dieselbe Klasse gegangen. »Warum hat mir das niemand gesagt?«, fragte ich sie. Einer war überzeugt, dass ich Bescheid wusste, dass ich aber beschlossen hatte, die hundertprozentige Polin zu spielen (ich hatte ihn oft ausgefragt, wie es sich anfühle, ein Jude zu sein). Ein anderer war der Ansicht gewesen, die Entscheidung, meine Herkunft zu enthüllen, liege bei meiner Mutter (er ging von der für ihn offensichtlichen Annahme aus, dass das Judesein einen Grund darstelle, sich zu schämen, etwas, das man »enthüllen« könne). Ein Dritter war zu dem Schluss gekommen, dass es besser für mich sei, nicht Bescheid zu wissen.

Kazimierz Laudański hatte mich zu sich nach Hause eingeladen. Eine elegante Villa im Stadtzentrum, der Tisch mit einem eleganten Service gedeckt. Er hat für mich einen Stadtplan von 1941 vorbereitet, gezeichnet auf kariertem Papier. Die Straßennamen, die Kirche, der Friedhof mit blauem Kugelschreiber, die Synagoge und die Scheune mit rotem.

Zum Verbrechen von Jedwabne sagt er, es habe einen deutschen Befehl gegeben. Als ich ihn frage, wie viele Deutsche da gewesen seien, erfahre ich, dass an jeder Ecke der Stadt ein Deutscher in Uniform gestanden habe. Ich bitte ihn, mir auf dem selbstgezeichneten Stadtplan zu zeigen, wo sie gestanden haben. Er zeichnet vier Kreuze ein. Vier Deutsche!

»Die Juden von Jedwabne, ob man sie damals verbrannt hätte oder nicht – ihr Los war ohnehin vorherbestimmt«, erklärt Kazimierz Laudański. »Früher oder später hätten die Deutschen sie alle umgebracht. So eine Bagatelle, aber man zieht die Polen hinein, und ausgerechnet auch noch meine Brüder. Wir haben die Gestapo verziehen, den NKWD, und jetzt dieser kleine Streit zwischen Juden und Polen, und da will niemand verzeihen?«

»Es geht mir nicht darum, meine Brüder zu verteidigen«, erklärt Laudański weiter. »Zu Recht oder zu Unrecht, man hat über sie gerichtet, und ein zweites Mal können sie nicht für dieselbe Sache verurteilt werden. Ich treffe mich deswegen mit Ihnen, damit Sie Herrn Michnik übermitteln, dass man Wunden nicht unnötig aufkratzen soll. Unser Volk zu Verbrechern zu machen hat keinen Sinn. Es ist niederträchtig, den Polen solche Dinge vorzuwerfen. Und für eine Kampagne zur Belehrung der Polen ist es jetzt, da das jüdische Finanzkapital Polen angreift, nicht die richtige Zeit.«

Ich überzeuge Kazimierz Laudański davon, dass ich mich auch mit seinen Brüdern treffen muss, um meinen Text für die Gazeta Wyborcza zu schreiben. Wir vereinbaren, dass ich noch einmal vorbeikomme.

10. Dezember 2000

Ein Leserbrief von Kazimierz Mocarski an die Gazeta Wyborcza. Mocarski stammt aus einem Dorf unweit von Jedwabne, er war Schuldirektor in einer Kleinstadt an der Ostsee, wo er heute als Rentner lebt. Ich besuche ihn.

In dem Brief beschreibt er das Jedwabne der Vorkriegszeit: »Die Zeiten waren schwer, man drehte jeden Groschen um. Die reicheren jüdischen Geschäfte konnten sich niedrigere Preise erlauben. Die Polen reagierten darauf, indem sie Marktstände umwarfen und Scheiben einschlugen. Das antijüdische Gift, die Legende, dass die Juden Christus ermordet hätten, wirkte und raubte einer Gruppe von Leuten vor Hass den Verstand.«

Er erinnert sich, dass zwei Tage vor dem Verbrechen eine Gruppe Juden am Haus seiner Familie vorbeigegangen war. »Meine Mutter war am Brotbacken und gab ihnen zwei Laibe. ›Flieht, so weit ihr könnt‹, warnte sie, denn es war bekannt geworden, dass am Vortag in Radziłów Juden verbrannt worden waren.« Er weiß von seiner Mutter, dass einige Bauern aus ihrem Dorf die Pferde angeschirrt hatten und nach Jedwabne gefahren waren, in der Hoffnung, dort jüdische Geschäfte und Werkstätten plündern zu können, und dass wiederum einige Personen, die am Pogrom nicht teilnehmen wollten, aus Jedwabne zu ihren Familien auf dem Lande geflohen waren. Einige Tage nach der Verbrennung der Juden in der Scheune habe ihn ein Freund eingeladen, um sich zu brüsten, dass seine Familie eine Wohnung übernommen habe. Er habe gehört, wie die Juden geschlagen und herumgestoßen worden seien, wie man ihnen befohlen habe, ein Vaterunser zu beten.

»Ich fahre ab und zu nach Jedwabne«, erzählt er weiter. »Ein unglücklicher Ort, zurückgeblieben, ohne Infrastruktur. Es gibt dort keine Arbeit, die Menschen sind bedrückt, sie fühlen sich selbst als Opfer. Einer der Slogans der nationalistischen Partei vor dem Krieg lautete, die Juden seien schuld an der Armut. Heute gibt es keine Juden mehr, aber die Not ist nach wie vor da.«

Ich nehme einen Umweg und fahre über Jedwabne nach Warschau zurück. Ich will Leon Dziedzic besuchen, einen Bauern aus der Umgebung, der einige Interviews gegeben hat – in Jedwabne eine Seltenheit, die Bewohner lehnen es ab, mit Journalisten zu sprechen. Aus dem, was Dziedzic sagt, geht hervor, dass Polen den Mord nicht nur ausgeführt, sondern auch initiiert haben: »Man erzählte sich, dass der Kommandeur der Polizeistation am Tag darauf den polnischen Anführern des Pogroms heftige Vorwürfe machte: ›Mit den Juden aufräumen, das wolltet ihr unbedingt, aber zum Aufräumen seid ihr nicht imstande.‹ Es ging ihm darum«, erklärte Dziedzic, »dass sie die Überreste nicht begraben hatten, und er hatte Angst, dass eine Seuche ausbrechen könnte, denn es war heiß, und die Hunde hatten schon angefangen, an die Leichen zu gehen.«

Aber Leon Dziedzic lebt nicht mehr in Polen. Seit die Reportage – für die er sich auch noch fotografieren ließ – erschienen war, wurden ihm jedes Mal, wenn er mit seinem Rad zum Einkaufen fuhr, die Reifen zerstochen. Er ist in die USA ausgewandert, wo seine Frau und vier seiner Söhne seit vielen Jahren wohnen.

Statt seiner treffe ich Leszek Dziedzic an, den fünften Sohn, er ist auf dem Bauernhof geblieben. Diesen Herbst hatte er die Familie in den Staaten besucht, während seine Frau mit ihren beiden Kindern, dem zehnjährigen Tomek und dem vierzehnjährigen Piotrek, zu Hause in Polen geblieben war. »Ich bin früher aus Amerika zurückgekommen – nach dem, was Papa erzählt hat, hatte ich Angst um meine Frau und die Kinder. Kaum war ich angekommen, bekam ich auch tatsächlich zu hören: ›Mach bloß keine Schwierigkeiten, die haben es auf dich abgesehen.‹ Wir haben Angst um die Kinder, deshalb bringen wir sie zur Schule und holen sie ab.«

Ich fahre zu Janina Biedrzycka, der Tochter des Besitzers der Scheune, in der die Juden verbrannt wurden. Wie ungeladene Gäste vor mir empfangen wurden, ist mir bekannt. Eine Filmregisseurin wollte sie beim ersten Mal nicht hereinlassen und erklärte beim nächsten Versuch: »Ich dachte, Sie wären eine Drecksjüdin, aber der Pfarrer hat mir gesagt, dass Sie evangelisch sind. Unter den Deutschen, da gab es anständige Leute.« Den Reporter einer Lokalzeitung begrüßte sie mit den Worten: »Haben Sie irgendeinen Ausweis? Das ist kein polnischer Name. Aber ist mir sowieso egal, alle hören auf die Juden, die Wahrheit will keiner wissen.«

»Es gibt in Jedwabne Häuser, die Juden gehört haben, ich wohne in meinem eigenen«, beginnt sie das Gespräch mit mir. »Ich hatte nichts davon. Ich weiß, wie rachsüchtig der Jud ist.«

Wenn sie das Wort »Jude« ausspricht, schreit sie fast. Aber von dem Verbrechen behauptet sie, die Deutschen hätten es begangen.

15. Dezember 2000

Ich besuche meinen Cousin Oleś Wołyński, von dem ich erfahren habe, dass ich Jüdin bin. Oleś hat das Buch von Gross nicht überrascht. Dass Juden von ihren Nachbarn ermordet wurden – seien es Litauer, Ukrainer oder Polen –, habe einfach zu den möglichen Szenarien gehört.

Die Eltern von Oleś waren vor dem Krieg Funktionäre der Kommunistischen Internationale, seine ersten Lebensjahre hat er in Moskau verbracht. Als beide der Großen Säuberung zum Opfer fielen – sie wurden 1937 erschossen –, kam er in ein Kinderheim, von dort ins Gefängnis in der Lubjanka, schließlich in ein Lager.

»In Sibirien war ich nicht mit Antisemitismus in Berührung gekommen«, erzählt er. »Das erste Mal hörte ich antisemitische Sprüche im Jahr 1954, da war ich noch in der Sowjetunion, in Minsk. In dem Krankenhaus, in dem ich gelandet war, redeten die Krankenschwestern an meinem Bett über eine Kollegin, die einen Juden heiraten wollte. ›Ich würde kotzen, wenn ich mit einem Juden ins Bett gehen müsste‹, hörte ich da. Nach der Rückführung nach Polen fuhr ich 1958 wegen meiner Tuberkulose nach Zakopane in ein Ferienheim für Milizionäre. Dort begegnete ich demselben elementaren, leidenschaftlichen, geradezu körperlichen Antisemitismus. Dummes Geschwätz ging von Mund zu Mund: wie der Chef des Polnischen Radio-Orchesters, der emigriert war, versucht hätte, seine Wertsachen ins Ausland zu schmuggeln, sich daher eine Pfanne aus Gold gießen ließ, aber die hätte zu sehr geglänzt, deshalb hätte er darin Rührei gebraten und sie dreckig eingepackt. Und das wäre dem Zollbeamten verdächtig vorgekommen. In dieser Geschichte war alles drin: die Juden haben Gold, sind gerissen und schmutzig.«

Oleś, der gern Lektüren ins Gespräch einflicht, zieht aus seiner umfangreichen Bibliothek einen Band heraus: Dziennik z lat okupacji [Tagebuch aus den Besatzungsjahren] von Zygmunt Klukowski. Der Autor, ein sozial engagierter Arzt, Direktor des Krankenhauses von Szczebrzeszyn, machte sich während des Krieges täglich Notizen. Das Verhalten der Polen während der Aktion zur Judenvernichtung am 22. Oktober 1942 beschrieb er so: »Sie halfen eifrig mit, suchten versteckte Juden, trieben sie zum Rathaus oder zur Polizeiwache, schlugen und traten sie. Die Bauern liefen hinter kleinen jüdischen Kindern her, die von den Polizisten vor aller Augen ermordet wurden. Mir stehen immer noch einzelne Juden vor Augen, die Gruppen, die in den Tod geführt wurden, und die Leichen, die achtlos auf Fuhrwerke geworfen worden waren, voll blauer Flecken und Blut. Zahlreiche Bewohner der Stadt raubten schamlos, so viel sie nur konnten.«

16. Dezember 2000

Ich fahre nach Pisz, um mich diesmal mit allen drei Laudański-Brüdern zu treffen. Ich nehme den etwas weiteren Weg über Łomża, um durch Jedwabne zu fahren, zum ersten Mal tagsüber. Kilometerweit offene Ebene, hier und da schüttere Baumgruppen – die flache masowische Landschaft bringt mir zu Bewusstsein, wie verschwindend klein die Hoffnung gewesen sein muss, sich vor den Schergen verstecken zu können. Allerdings ist jetzt Winter, damals war Juli, die Kornfelder waren noch nicht gemäht.

Wenn man, aus Łomża kommend, in den Ort hineinfährt, sieht man erhaltene Reste des Schtetl. In einem Winkel unweit des Marktplatzes, wo die Häuser eng beieinanderstehen, das Kopfsteinpflaster abgetreten ist, spürt man die Atmosphäre am besten. Kleine Holzhäuser, an die Erde gekauert, niedrige Fenster, alles winzig, groß sind hier nur die Pfützen aus geschmolzenem Schnee. Man müsste nur zum Schutz vor bösen Mächten eine Mesusa, mit Auszügen aus dem Deuteronomium, an den Türen anbringen, und schon ließe sich ein Film über die Ereignisse vor sechzig Jahren drehen.

Ich schlendere über den Marktplatz, der heute nach Johannes Paul II. benannt ist; hier wurden an jenem Julitag die Juden zusammengetrieben. Mit dem Plan, den ich von Kazimierz Laudański erhalten habe, fahre ich zum Ort des Verbrechens. Das Gelände ist eingezäunt, auf einem Stein steht zu lesen: »Ort des Massakers an der jüdischen Bevölkerung. Die Gestapo und die Nazi-Gendarmerie verbrannte hier am 10. Juli 1941 1600 Menschen bei lebendigem Leibe.« Auf der anderen Seite wächst dichtes Gebüsch, doch auf der Karte ist hier der jüdische Friedhof eingezeichnet. Ich gehe hinein und sehe zerbrochene Grabsteine aus dem Schnee ragen.

In Pisz warten die Laudański-Brüder bereits auf mich. Wir sitzen uns gegenüber, trinken Tee, essen selbstgebackenen Lebkuchen. Kazimierz Laudański und seine Brüder sind weithin bekannte Imker, sogar aus Deutschland kommen Kunden, um Honig zu kaufen. Die Brüder, stattlich, ruhig, machen einen guten Eindruck und sprechen, als hätten sie auswendig gelernt, was sie sagen wollen.

Unser Gespräch dauert schon fast vier Stunden, und ich habe schon mindestens drei Stücke Lebkuchen gegessen, als wir zum Juli 1941 kommen. Jerzy, der jüngste der Brüder, ist auch der wortkargste. Er lächelt nur mit den Mundwinkeln.

»Ich war vor der Scheune«, sagt er schließlich, »aber dreißig Meter entfernt. Vor mir standen viele andere.«

Ich überlege, wie viele Menschen wohl um die Scheune herumgestanden haben mögen. Und wie viele von ihnen sich nur aufs Zusehen beschränkt haben.

Aus Szmul Wasersztejns Bericht: »Den Befehl zur Vernichtung aller Juden hatten die Deutschen erteilt, aber polnische Schläger nahmen ihn an und führten ihn auf schrecklichste Weise aus. Während der ersten Pogrome und während des Blutbads zeichneten sich die folgenden Lumpen durch ihre Grausamkeit aus: …« Unter dem guten Dutzend Namen, die hier angeführt sind, findet sich auch der von Jerzy Laudański.

Schließlich erzählt Jerzy Laudański doch eine längere Geschichte. Wie Karol Bardoń (einer der Angeklagten im Nachkriegsprozess zur Ermordung der Juden in Jedwabne) sich an die Gefängnisbehörden gewandt habe, er wolle aussagen, wer an der Verbrennung der Juden beteiligt gewesen sei. »Ich weiß das vom Gefängnissanitäter. Bardoń hat gedroht, er würde hundert Leute hinter Gitter bringen, aber als sie ihm Papier gaben und er eine Liste machen sollte, versagten ihm die Hände und die Stimme, und so ist er im Gefängnis gestorben. ›Ein Wunder ist geschehen‹, meinte der Sanitäter.« Heißt das, überlege ich, dass Bardoń hundert Täter hätte namentlich angeben können? Aber ich stelle keine provokanten Fragen.

»Wir werfen den Juden nichts vor, aber hören Sie auf, diese Wunden aufzukratzen«, warnt mich Kazimierz Laudański zum Abschied. »Und was haben die Juden nach dem Krieg im Sicherheitsdienst gemacht? Was gibt's da groß zu reden, es ist eine Schande, wozu also sich gegenseitig beschuldigen?«

Ich höre ihnen zu und werde den Eindruck nicht los, dass sich unter ihren Augenlidern von neuem jene Szenen abspielen. Ich habe in Pisz ein Hotelzimmer reserviert, beschließe aber, in der Nacht nach Hause zurückzufahren. Ich fahre auf einer völlig leeren vereisten Straße, nur weg von den Laudańskis, so weit wie möglich.

17. Dezember 2000

Danzig. Jan Skrodzki holt mich am Bahnhof ab und bringt mich zu einem Wohnblock in Hanglage am Waldrand. In der gepflegten Wohnung begrüßt mich ein großer zotteliger Hund namens Czacza und hausgemachter Fruchtlikör.

»Es waren nicht die Deutschen, sondern unsere Leute«, beginnt er.

Ich gebe ihm das Zeugnis von Menachem Finkelsztejn, das ich im ŻIH kopiert habe. Die dort beschriebenen Szenen sind so grauenhaft, man kann sich kaum vorstellen, dass so die polnische Erinnerung aussehen soll, dass all diese entsetzlichen Geschichten im kollektiven Gedächtnis überdauert haben könnten. Skrodzki aber ist keineswegs verwundert, im Gegenteil: er präzisiert und ergänzt. Ich lese ihm vor, wie Polen von Anfang an bei der Aktion der Deutschen mitgemacht und Juden gequält haben. Vor Fuhrwerke gespannte Menschen wurden um die Stadt herum an einen sumpfigen Fluss getrieben. »Die Deutschen prügeln, die Polen prügeln. Bei den Juden Tränen und Angst, bei ihnen aber, bei den Deutschen und Polen, Freude.«

»Es geht um den Matlak, einen schmalen, flachen Bach«, erklärt er. »Am Matlak gab es eine Wiese, wo die Bauern ihre Gänse und Enten hintrieben, und zwischen dem Bach und der Bebauung an der Ulica Nadstawna war torfiges Gelände und Kanäle, wo der Torf gestochen worden war. Dorthin trieb man die Juden.«

Er ist bereit, unter seinem Namen in der Gazeta Wyborcza von dem Verbrechen zu erzählen. Wir sprechen neun Stunden lang, aber ich wage es nicht, ihm die Frage zu stellen, die sich aufdrängt: Wo war Ihr Vater am 7. Juli 1941?

19. Dezember 2000

Pisz. Im örtlichen Museum bin ich mit Mieczysław K. verabredet, dem pensionierten Direktor. Ich bin über Zwischenstationen zu ihm gelangt, indem mich eine Person an eine andere weiterverwies. Er soll mir etwas über die Laudańskis erzählen – angeblich könne er so einiges berichten, da er selbst aus Jedwabne stammt –, aber als wir uns treffen, ist er so eingeschüchtert, dass ich kaum etwas aus ihm herausbekomme. Das wundert mich kaum. Denn im Museum wartet auf uns – scheinbar zufällig – auch die Nichte eines Laudański-Bruders. Wie und von wem hat sie von unserem Treffen erfahren? Offenbar gab es eine Zwischenstation, welche die Laudańskis informiert hat. Er erklärt, warum er nicht mit mir sprechen möchte: »Vielleicht habe ich die Furcht von dort mitgenommen, aber heute haben Freunde mich gewarnt, mit Ihnen zu sprechen: ›Misch dich da lieber nicht ein!‹«

Er erwähnt nur, dass er im Sommer 1941 mit anderen Jungen die jüdischen Häuser abgesucht habe. »Die waren alle schon besetzt und ausgeraubt, aber ich suchte nur diese Blechbüchsen an den Türrahmen. Ich wickelte das, was drin war, so gern aus – da waren hebräische Wörter, auf Leder, wohl auf Schafsleder geschrieben. Als nach dem Krieg das Museum in Pisz eröffnet wurde, gab ich die Mesusen dorthin.«

20. Dezember 2000

Pisz. Ich klopfe unangemeldet an die Tür des kleinen Hauses, in dem Mieczysław K. wohnt. Vielleicht schaffe ich es ja doch, etwas von ihm in Erfahrung zu bringen.

Nach dem dritten Tee beginnt er schließlich zu erzählen, es macht ihm sichtlich Mühe:

»1941 war ich zwölf Jahre alt. Einige Mütter ließen an jenem 10. Juli ihre Kinder nicht aus dem Haus, aber ich gehörte zu denen, die überall ihre Nase reinstecken müssen. Als die Polen von Haus zu Haus gingen und die Juden auf dem Markt zusammentrieben, war das Geschrei und Weinen überall zu hören, sie nahmen sowohl Kinder als auch Greise mit. Mit Stöcken stellten sie die Juden in Reihen auf, und die leisteten keinerlei Widerstand. 1600 waren es nicht, höchstens tausend. Ich war bei der Scheune. Eine große Menschenmenge gab es dort nicht, nur Männer, vielleicht an die fünfzig. Meine Freunde und ich standen etwas abseits. Wir hatten Angst, man könnte uns für jüdische Kinder halten und ins Feuer werfen. Es war ein sonniger Sommer, ein wenig Lampenöl und Streichhölzer, das reichte aus. Als sie die Scheune anzündeten, dauerte das Schreien, bis das Dach einstürzte. Józef Kobrzyniecki warf Kinder in die brennende Scheune. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Und ich habe gehört, dass Kobrzyniecki der Anführer der Menge war, er hat am heftigsten geschlagen und dann noch die Häuser abgesucht, und die Juden, die sich auf den Dachböden versteckten, hat er mit dem Bajonett abgestochen. Es war auch von anderen Verbrechern die Rede: Karolak, die Laudańskis, Zejer. Sobald ich erwachsen war, bin ich dort weggefahren und will seitdem nichts mehr mit diesem Ort zu tun haben.«

Er macht nur einen Vorbehalt: »Nennen Sie bitte nicht meinen Namen. Die Laudańskis sind am Leben, ich mache in Pisz meine Einkäufe, einen von ihnen habe ich einmal auf der Straße getroffen, da läuft es einem kalt den Rücken runter, das muss ich mir nicht antun.«

21. Dezember 2000

Mieczysław K. hat mir erzählt, in Zanklewo, unweit von Jedwabne, habe er einen Onkel gehabt, einen reichen Bauern, der eine jüdische Familie aus dem Nachbarort Wizna versteckte. Nach dem Krieg wurde ihm der Hof angezündet. Er hat mir seinen Namen gegeben – der Onkel lebt nicht mehr, aber seine Kinder, die damals alt genug waren, um sich an etwas zu erinnern. Ich fahre los.

Zanklewo, ein abgelegenes Dorf, auf dem Weg von Jedwabne nach Wizna. Dort hat der Onkel von Mieczysław K. Juden versteckt. Ein gepflegter, wohlhabender Hof, ein herzlicher Landwirt. Ja, das sei richtig, seine Eltern hätten einen Schneider aus Wizna names Izrael Lewin mitsamt dessen Frau und zwei Kindern versteckt. Er selbst sei damals schon über zehn Jahre alt gewesen und könne sich noch gut erinnern.

»Sie waren unter dem Fußboden neben dem Ofen versteckt. Niemand wusste davon, erst nach dem Krieg verbreitete sich die Nachricht.«

Er erzählt von der Nachkriegszeit: »1945 nahmen uns Partisanen von den Nationalen Streitkräften (NSZ) Kleidung, Kühe und Schweine ab und brannten die Gebäude nieder. Wir blieben ohne Habe zurück. Das war so eine Zeit: Wenn es einem etwas besser ging, dann nahmen einem die Banden gleich alles ab, wahrscheinlich dachten sie, wir hätten jüdisches Gold. Armut haben wir zur Genüge kennengelernt. Als hier die NSZ das Sagen hatten, herrschte eine Angst wie unter den Russen oder den Deutschen, wenn nicht noch schlimmer.«

Diese Angst gibt es ganz offensichtlich immer noch, denn beim Abschied bittet mich mein Gesprächspartner, nirgendwo seinen Namen zu nennen.

22. Dezember 2000

Ich beschließe, die Arbeit an meinem Buch in Radziłów zu beginnen, ehe das dort begangene Verbrechen die gleiche Aufmerksamkeit erregt wie das von Jedwabne. Dort wird es einfacher für mich sein, mit den Menschen zu sprechen.

Ich fahre nach Kramarzewo in der Nähe von Radziłów und finde dort Marianna Ramotowska, geborene Finkelsztejn, die von Stanisław Ramotowski gerettet worden ist. Ich gelange zu einem einfachen Holzhaus, das sich an den Rand eines Bachs kauert. Ramotowski erklärt mir schon auf der Schwelle, er wolle nicht mit mir reden, aber irgendwie gelingt es mir einzutreten.

Drinnen ist es empfindlich kalt. Dort sitzt seine Frau, sie trägt mehrere Pullover übereinander, eine kleine, zierliche Person mit dicker Brille, noch weniger gesprächsfreudig als ihr Mann. Sie ist schwerhörig und kann nicht gehen. Er brüht mir Tee auf. Wir fangen an, uns zu unterhalten, doch immer wieder macht er Rückzieher.

»Die Juden wurden von Polen zusammengetrieben. Selbst wenn ich wüsste, wer es war, würde ich es nicht sagen. Das darf ich nicht tun. Wir wollen hier leben.«

Oder: »Ich werde Ihnen nicht sagen, wie ich während des Krieges mit dem Pfarrer die Hochzeit geregelt habe, als ich eine Jüdin heiraten wollte. Keine vier Pferde bringen mich dahin, Ihnen das zu erzählen, das ist eine religiöse Angelegenheit.«

»Sag es nicht, lieber Stanisław, um Gottes willen!«, bittet ihn seine Frau, während sie seine Hand hält.

Ich erzähle ihr, dass ich im ŻIH den Bericht von Menachem Finkelsztejn aus Radziłów gelesen habe, und frage, ob dies ein Verwandter von ihr sei. Obwohl der Name derselbe ist, behauptet Frau Ramotowska, nicht zu wissen, um wen es sich handelt. Überzeugend klingt das nicht, ich habe eher den Eindruck, dass sie alles in panische Angst versetzt, was sie an ihre jüdische Herkunft erinnert.

Ramotowski wehrt sich ebenfalls gegen meine Fragen, »denn ich lebe ja hier unter Menschen, und die können eines Tages bei mir vor der Tür stehen«. Doch als ich ankündige, im neuen Jahr wiederzukommen, ist er offensichtlich zufrieden. Er scheint sich einsam zu fühlen. Als ich ihn direkt danach frage, antwortet er, er hätte in Wąsosz eine befreundete Familie gehabt, sie Jüdin, er Pole, die während des Krieges geheiratet haben, aber sie leben nicht mehr. In diesem Zusammenhang bemerkt er, ganz nebenbei, die Polen in Wąsosz hätten dasselbe getan wie in Radziłów und Jedwabne. Sie hätten alle umgebracht.

28. Dezember 2000

In der Bibliothek lese ich die Sprawa Katolicka [Katholische Sache], eine regionale Wochenzeitung der Kirchengemeinde aus den dreißiger Jahren. Das Thema der Juden als der größten Bedrohung für Polen wird dort in obsessiver Weise aufgegriffen. Diese Verachtung und die aus tiefstem Herzen empfundene Freude darüber, dass infolge des wirtschaftlichen Boykotts die Juden in einem bestimmten Dorf am Verhungern sind – das macht einen sprachlos. Mir war bewusst, dass die katholische Kirche vor dem Krieg zum großen Teil antisemitisch war, aber es ist etwas anderes, das zu wissen, und diese hasserfüllten Texte im Kontext des späteren Verbrechens zu lesen.

Eine Vorstellung von Mitgliedern der zionistischen Jugendorganisation Hechaluz, die sich auf ein Leben in Palästina orbereiten. Jedwabne 1922.

Angehörige der zionistischen Jugendorganisation Hechaluz, Jedwabne 1930. Rund fünfzehn von ihnen gelang es, vor dem Krieg nach Palästina zu kommen.   

1 »Mache Polen von den Juden rein« oder Vom polnisch-jüdischen Verhältnis in Jedwabne und Umgebung in den dreißiger Jahren

Es ist der zehnte Tag des Tischri im Jahre 5699, nach dem Gregorianischen Kalender der 5. Oktober 1938. Jom Kippur, der Tag der Sühne, das höchste jüdische Fest. An diesem Tag gehen alle Juden zur Synagoge. Menschenmengen ziehen über den Marktplatz. Am folgenden Tag wird kein jüdisches Kind in Jedwabne oder Radziłów zur Schule gehen, und die jüdischen Geschäfte bleiben bis Einbruch der Dämmerung geschlossen. Die katholischen Mitbürger sind nicht zu sehen, an diesem Abend hört man nur Jiddisch. In Jedwabne steht die Mutter des Bürgermeisters, Frau Grądzka, wie jedes Jahr in der Ulica Szkolna, an die Wand der Synagoge gelehnt; sie hat für Juden nicht viel übrig, doch ihre Gesänge findet sie bewegend. Sie ist gekommen, um ihr Lieblingsgebet anzuhören, Kol Nidre, das eine Form der Sühne darstellt für einen Eid, den man vergessen oder vorschnell oder unter Zwang geleistet hat.

Die älteren Kinder gehen zur Synagoge und nehmen am ganztägigen Fasten teil, doch die Kleinen – in vielen Häusern gibt es sieben, acht Kinder – werden an diesem Tag bei den polnischen Nachbarn in Obhut gegeben. Dort bekommen sie hartgekochte Eier oder Milch direkt von der Kuh, die sie aus ihrem eigenen Becher trinken – die Nachbarn respektieren es, dass die jüdischen Kinder sich koscher ernähren sollen. Die Verständigung mit Letzteren stellt kein Problem dar, Jiddisch ist eine Sprache, mit der sie täglich zu tun haben: im Geschäft, auf der Straße oder wenn sie bei Juden arbeiten. Einige sprechen sie ganz und gar flüssig. In Jedwabne ist Bronisław Śleszyński des Jiddischen kundig – jener Mann, der seine Scheune zur Verbrennung der Juden zur Verfügung stellen wird.

Am 3. Mai 1939 findet zum Nationalfeiertag eine große eucharistische Prozession statt. In der Kirche singt der Chor: »O Herr lass unser Flehen nicht vergeblich sein / Und mache Polen von den Juden rein.« Festlich gekleidet verlassen die Gläubigen die Messe, um an der Feierlichkeit teilzunehmen, die von der Kirche unter Mitarbeit von örtlichen Funktionären der Nationalpartei (SN) organisiert worden ist. Der Gründer dieser Partei der nationaldemokratischen Bewegung, Roman Dmowski, war vom Glauben an eine uralte jüdische Verschwörung gegen Polen besessen. Die Prozession zieht durch die Straßen am Markt: weißgekleidete Mädchen mit Blumengebinden, zwischen ihnen kleine Jungen im Chorhemd mit Glöckchen, gefolgt von Jugendlichen, die zu den Vereinigungen der Katholischen Mannes- und Frauenjugend gehören. Den Abschluss des Umzugs, der die ganze Breite der Straße einnimmt, bilden die Erwachsenen. Begleitet werden sie von einem Orchester und einem Fahrradkorso. Auf dem Markt, vor der Kirche, hält ein geladener Redner aus Łomża eine Rede. Er steht auf der Treppe und spricht vom heutigen Polen, das von einem fremden Element dominiert wird, und vom Polen von morgen, wenn sich das Volk aus der Knechtschaft der internationalen jüdischen Finanz befreit haben wird und der Pole nur noch beim Polen kauft. Schulter an Schulter mit dem Gast steht der Stadtpfarrer, auch ein Funktionär der SN. Die Versammelten entrollen Transparente: »Bauern und Arbeiter in den Handel – Juden nach Palästina und Madagaskar«, »Jeder Groschen an Fremde schadet der Nation«, »Wir reinigen Polen von den Juden«. Rufe ertönen, und alle singen:

Ach, liebes Polen,

hast viele Millionen,

und noch der Juden Schar

füllt alles Land dir gar.

Weißer Adler, steh auf,

schlag die Juden zuhauf,

uns're Herren, oh nein!

sollen niemals sie sein.

Die jüdischen Bewohner des Städtchens gehen an diesem Tag nicht aus dem Haus und lassen auch ihre Kinder nicht auf die Straße. Am nächsten Tag werden sie erfreut darüber reden, dass es nicht so schlimm gewesen ist: Die Bande von der SN, die zunehmend betrunken bis zum späten Abend patriotische Lieder sang und »Schlag den Juden!« skandierte, hat ihnen nur ein paar Scheiben eingeschlagen.

1

Obwohl die jüdischen und christlichen Bewohner von Radziłów oder Jedwabne sich im Alltag äußerlich nicht sehr voneinander unterschieden (Chassiden waren in dieser Region selten, die Juden kleideten sich eher »städtisch«, die älteren trugen Hüte); obwohl ihre Kinder meist dieselben Schulen besuchten (in Jedwabne gab es keine separate jüdische Schule, in Radziłów schon, doch sie war gebührenpflichtig, kaum eine Familie konnte sie sich leisten); und obwohl sie oft Tür an Tür in denselben Gebäuden wohnten und es freundschaftliche Beziehungen zwischen Kindern, Nachbarn oder Geschäftspartnern gab, lebten sie doch getrennte Leben und sprachen verschiedene Sprachen. Die Juden, insbesondere die jüngeren, kamen gut mit dem Polnischen zurecht, zu Hause aber wurde Jiddisch gesprochen. Die Einhaltung der koscheren Speiseregeln seitens der Juden schloss gegenseitige Einladungen nach Hause zum Essen aus. Die jüdischen Kinder lernten nach der Schule oft noch Hebräisch und jüdische Geschichte und halfen darüber hinaus ihren Eltern in der Werkstatt oder im Geschäft. Die polnischen Kinder gingen nach dem Unterricht aufs Feld, um zu helfen (selbst die Bewohner der Kleinstädte besaßen gewöhnlich ein Feld, eine Kuh und Schweine), und beendeten deshalb die Schule oft nach wenigen Klassen.

Das gesellschaftliche und kulturelle Leben lief parallel nebeneinander her, obwohl es direkt nach dem Ersten Weltkrieg noch gemeinsame Unternehmungen gegeben hatte, wie Picknicks oder Feste der Freiwilligen Feuerwehr, des Schützenvereins und des Reservistenverbandes.

Allerdings stießen die Juden bei den Polen immer häufiger auf Ablehnung, und in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wurden sie unumwunden aus den gemeinsamen Organisationen hinausgeworfen. Das Leben der Katholiken konzentrierte sich auf die Gemeinde und die kirchlichen Feste sowie auf Veranstaltungen, die von der SN organisiert wurden, was die Juden natürlich ausschloss.

Mit der steigenden Welle des Nationalismus und Antisemitismus in Europa und Polen verschlechterte sich auch das Verhältnis zwischen Juden und Polen. Von den Juden wird als Schlüsseldatum häufig 1935 genannt, das Jahr, in dem Józef Piłsudski starb (das erste Staatsoberhaupt des unabhängigen Polen, ein herausragender Politiker, der die Minderheiten förderte und dafür von den Nationaldemokraten gehasst wurde).

Jedwabne gehörte vor dem Krieg zum Kreis Łomża, Jedwabne und Radziłów zur Wojewodschaft Białystok. (Alle im Weiteren angeführten Aussagen betreffen diese Gebiete.) Neunzig Prozent der Einwohner in beiden Orten waren arm bis sehr arm. Mosze Rozenbaum aus Radziłów, der im April 1939 nach Australien ging, schreibt in seinen Memoiren über die dreißiger Jahre, in der Nacht sei er vor Hunger aufgewacht, und am Tag habe er sich nicht auf den Schulunterricht konzentrieren können. Im Winter sei er hinausgegangen und habe eine Handvoll Schnee in den Mund genommen, um das saugende Gefühl im Magen zu überlisten.

Doch die Juden waren im Allgemeinen nicht ganz so arm, sie stellten bisweilen Polen ein: Frauen als Haushaltshilfen, Männer in den Werkstätten. Der Sabbat-Tscholent war oft das anständigste Gericht, welches ein Kind polnischer Nachbarn während der ganzen Woche zu essen bekam, wenn es Samstagabend seinem jüdischen Schulkameraden die Hefte vorbeibrachte. Als man den katholischen Nachbarn erklärte, an ihrer Armut seien die Juden schuld, glaubten das viele ohne weiteres.

Morris Atlas, ehemals Mosze Atłasowicz, der vor dem Ersten Weltkrieg aus Radziłów emigriert war, schrieb seinem Vater in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, ob er zurückkehren und ihn im Alter unterstützen solle. Die Antwort des Vaters war knapp: »Bleib lieber da, wo Du bist. Das hier ist kein gutes Land für Juden.«

2

Die Geschichten von den ausgezeichneten Beziehungen zwischen Katholiken und Juden vor dem Krieg, wie man sie von Vertretern beider Gruppen hören kann, lassen sich bei Ersteren mit dem Bedürfnis erklären, sich von Schuld reinzuwaschen, bei Letzteren mit einer nostalgischen Verklärung ihrer Jugend. Als in den dreißiger Jahren eine Welle des Antisemitismus durch Europa schwappte, fielen die Bewohner von Jedwabne und Umgebung nicht hinter europäische Standards zurück. Man kann sie vielmehr als Avantgarde bezeichnen. Die Gegend um Łomża war ein Stammland der Nationaldemokratie. Die stärkste politische Kraft in der Region – das Nationale Lager (ON), das den Kampf gegen die Juden zum Leitmotiv seiner Tätigkeit auserkoren hatte – machte die Kleinstädte dieses Teils von Polen, in dem Armut und Rückständigkeit herrschten, zu Orten eines pulsierenden gesellschaftlichen Aktivismus. Der Schlachtruf »Schlag den Juden!« mobilisierte die Jugend, die in die faschistoide Jugendbewegung des Großpolnischen Lagers (OWP)[1]  eintrat.

»Der Hinterhof des Rabbiners grenzte an den Hinterhof des Schulleiters, mit dessen Töchtern ich befreundet war«, erzählt die aus Radziłów stammende Halina Zalewska. »Von oben, vom Dach aus, beobachteten wir, wann der Rabbiner zum Abort ging, hielten die Tür auf, riefen ihn mit Spottnamen und ließen ihn nicht seine Notdurft verrichten. Er war wie eine Ratte, mit seinen schwarzen Augen, und seine Frau kam zu uns heraus: ›Oj, Fräulein, das ist aber gar nicht schön, ich werde mich dem Papa empfehlen und ihm alles sagen.‹ Es machte uns Spaß, den Rabbiner zu ärgern.«

Jan Cytrynowicz, ein als Kind getaufter Jude, der vor dem Krieg in Wizna lebte, erinnerte sich daran, wie junge Burschen auf den Versammlungen einer kirchennahen Jugendorganisation sich gegenseitig anstachelten, beim Laubhüttenfest Katzen durch das offene Dach hinunterzulassen. Der nach dem Krieg in Jedwabne geborene Stanisław Przechodzki hörte von seine Mutter, während des Sabbats sei eine Gruppe Jugendlicher mit einer Ziehharmonika vor jüdischen Häusern aufgetaucht, um ihr Fest zu stören, sie stahlen den Juden ihre Kippas und verlangten ein oder zwei Zloty für die Rückgabe. Ihr zufolge waren die Anführer die »Laudański-Lümmel«: die Brüder Laudański.

Diese dummen Streiche wären nicht so schlimm gewesen – Kinder und Jugendliche haben immer schon Unfug getrieben –, hätten sie nicht ein Gefühl von Verachtung und Abneigung eingeübt, das im Erziehungsprozess konsequent verstärkt wurde.

»Ich erinnere mich daran, wie Kazimierz Laudański vor einem jüdischen Geschäft stand und erklärte, hier sei Einkaufen verboten«, erzählte mir in Israel der aus Jedwabne stammende Jakow Geva (der damals Jakub Pecynowicz hieß).

»In der polnischen Bäckerei gab es zwei Brezeln aus schlechterem Mehl für fünf Groschen, in der jüdischen dagegen für drei Groschen«, erinnert sich Leon Dziedzic aus Przestrzele, »aber wenn ich sie kaufen wollte, standen da zwei mit einem Knüppel und schickten mich weiter: ›Dort ist das polnische Geschäft.‹«

Chaja Finkelsztejn aus Radziłów beschreibt in ihren Erinnerungen, wie Kunden in den dreißiger Jahren die jüdischen Geschäfte durch die Hintertür betraten, weil sie den Vordereingang fürchteten.

Cytrynowicz erinnert sich, wie ein Bekannter seines Vaters unter viel Gelächter eine Anekdote erzählte, in der ein fahrender jüdischer Händler in sein Heimatdorf kam und die örtlichen Burschen ihm eine Wurst in den Mund stopften, die nicht koscher war, und er sich so heftig dagegen wehrte, dass er zu bluten begann.

Ein auf die Region Białystok spezialisierter Historiker berichtete mir von einer Anekdote, wonach die SN in einem der umliegenden Dörfer einen Preis in Form von Hafer für das wackere Pferd aussetzte, das einen Juden tritt.

Czesław Laudański, der Vater der Mord-Brüder, war ein örtlicher Funktionär der SN und organisierte eine Boykott-Aktion gegen eine jüdische Lehrerin in Jedwabne. Meine Gesprächspartner konnten sich daran erinnern, dass die Kinder die Klasse verließen, wenn Frau Hackerowa eintrat; das ging so lange, bis die Schulbehörde nachgab und die Lehrerin versetzte.

Szmul Wasersztejn erzählt in seinen Memoiren, die er vor seinem Tod in Costa Rica diktierte, wie schwer es für ihn war, in einem Land zu leben, wo »die Hälfte der Bewohner dich als elenden Juden, als Ratte ansieht, wo sie schreien, du sollst nach Palästina verschwinden, dich beleidigen und dir Steine in die Fenster werfen«, in einem Land, wo »Lumpenbanden jüdische Kinder unter irgendeinem beliebigen Vorwand verprügeln, sie zwingen niederzuknien und die Mützen abzunehmen«, und wie sehr ihn die Belehrungen seines Vaters demütigten, als Jude habe er den Bürgersteig freizugeben, wenn ein Priester oder Soldat vorbeigeht.

Jan Sokołowski, der aus Jedwabne stammt, stellte mir auf meine Frage nach den polnisch-jüdischen Beziehungen seine Sichtweise folgendermaßen dar: »Wie sollen sie schon gewesen sein, wenn die Juden alle anstrengenden Berufe, wie Zimmermann oder Maurer, den Polen überließen und selbst nur Mützen machten oder Müller waren oder Handel trieben? Ein Brötchen kostete fünf Groschen beim Polen und zwei Groschen beim Juden, was ist das für eine Konkurrenz? Sonntags ging man mit der Pferdepeitsche zur Kirche, denn die Peitsche wäre gestohlen worden, so schlimm war die Armut. Und bist du pleite, steht der Jude zur Seite. Man konnte anschreiben lassen, der Jude trug es in sein Heft ein und hatte den Polen in der Hand. Manch ein Bauer musste seine Kuh verkaufen, um dem Juden das Geld zurückzuzahlen.«

3

Die Bezeichnung »Revolution« für das Pogrom, das am 23. März 1933 in Radziłów stattfand, habe ich von mehreren Gesprächspartnern gehört; sie war positiv konnotiert – eine Revolution der SN-Anhänger als Auftakt zu ihrer Machtübernahme.

»Man sprach von ›Revolution‹«, erinnert sich Halina Zalewska an das Ereignis, das die ganze Stadt in Aufregung versetzte. »Eine Schießerei, eingeschlagene Fenster, geschlossene Fensterläden, Frauen, die kreischend aus den Häusern fliehen.« – »Ein Cousin meines Vaters, der tönerne Kochtöpfe zum Markt fuhr, wurde während dieser Revolution verwundet«, erzählte ein anderer meiner Gesprächspartner.

Nur Stanisław Ramotowski, ein Pole aus Radziłów, der 1941 eine jüdische Familie rettete, bezeichnete das Vorgefallene klar als Pogrom:

»Ich habe gesehen, wie ein Schlägertrupp den Juden die Fenster einschlug. Und wie Polizisten einen Mann töteten, der einem Juden ein Fass mit Heringen umkippte. Die SN-Leute, das waren keine Burschen, das waren erwachsene Männer, dieselben, die auf dem Markt mit Brecheisen vor den jüdischen Geschäften standen. Einige von ihnen habe ich später noch öfter in Aktion gesehen.«

Es handelte sich um Angehörige des Großpolnischen Lagers (OWP), das über eigene Schlägertrupps verfügte, hervorgegangen aus dem Bündnis zwischen Bauern und Intelligenz. Unter der Leitung von jungen Intelligenzlern aus Łomża fuhren die Burschen vom Dorf mit Fuhrwerken von Stadt zu Stadt und initiierten antijüdische Ausschreitungen. Im März 1933 waren die Aktivitäten des OWP