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Gedichte sind für die New Yorker Postangestellte Xora File Segen und Fluch zugleich. In ihrer entbehrungsreichen Kindheit haben ihr die Verse der Harlem-Poeten Trost geschenkt. Jetzt aber, als sie sich daranmacht, selbst zu dichten, verliert sie deswegen zuerst ihr Telefon, dann ihren Schalterjob. Herabgestuft zu einer Hilfsbriefträgerin im East Village und getriezt von einem tyrannischen Manager müht sie sich durch den Arbeitstag, bis sie an Straßenlaternen Zettel mit Gedichten entdeckt. Der Dichter ist anonym, doch seine Gedichte sprechen Xora auf seltsame Weise an. Sie macht sich auf die Suche nach dem Unbekannten. Dabei erfährt sie den Zauber der Poetenszene, begegnet gutherzigen Kollegen und bösartigen Polizisten und entdeckt vor allem eins: die Erkenntnis, dass wenig im Leben allein zu machen ist. "wir" beschreibt Amerikas kleine Leute, wie sie hoffen und hadern, wie sie sich ducken und wie sie aufstehen vor der grandiosen Kulisse New Yorks, ihrer Stadt, die in ihren schlimmen und in ihren großen Stunden für sie da ist mit ihrer unerschöpflichen Energie.
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Seitenzahl: 357
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Disclaimer
Glossar
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Dank
Weitere Werke
Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.
Alle in diesem Roman dargestellten toten oder lebenden Personen, Orte, Organisationen und Ereignisse entstammen entweder der Phantasie des Autors oder sind fiktiv verwendet.
This is a work of fiction. All of the characters, places, organizations, and events portrayed in this novel are either products of the author’s imagination or are used fictitiously.
Texte: 2023 © Copyright Bernd Hendricks, Berlin, Deutschland
Umschlag: 2023 © Copyright by Polina Tikk
Umschlagbild: 2023 © Copyright by Bernd Hendricks
Verlag: berndhendricks.com
Druck: ePubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Erstellt mit Vellum
Für ein Kind der schnellsten Stadt der Welt war Xora File bemerkenswert langsam. Sie öffnete ihren Schalter meist zehn Minuten später als ihre Kollegen, putzte aber zuerst ihre Brille, bevor sie den Knopf drückte, mit dem sie ihren ersten Kunden aufrief. Ein Gongton erklang, ein rotes Diodenbrett zeigte die Nummer ihres Schalters, und wenn der Kunde vor ihr stand und einen Briefumschlag oder ein Päckchen hinschob, arrangierte sie vor sich noch die Utensilien ihres Postlerinnendaseins: Stempel, Formblätter, die Rolle mit dem blauen Klebestreifen, Bögen von Briefmarken, Kugelschreiber und Bleistifte und Büroklammern. Sie begrüßte jeden Kunden mit einem Blick in die Augen und einem Kompliment für die Adressorte der Briefe, die sie ihr zum Frankieren hinlegten. Bei ausländischen Orten fragte sie nach dem Klima und den traditionellen Speisen, doch die Leute gaben meist kurze Antworten. Ihr entging, dass sie keine Zeit hatten.
Bevor sie die Briefmarken aufklebte, studierte sie deren Farben und Motive. Sie beugte ihren Kopf über den Bogen, ihre Rastalocken baumelten herunter, und wären ihre Wangen nicht voll und die Gläser ihrer Brille nicht groß und rund gewesen, hätten die Haare wie ein Vorhang gewirkt, mit der sich Xora von der Welt abschotten wollte. In Wirklichkeit hatte sie nur den Nutzen für den Kunden im Sinn. Sie hielt es für ihre Pflicht, die Leute ausgiebig zu beraten.
“Wir haben Vogelmotive im Sortiment”, sagte sie einem Kunden. “Sehen Sie? Die Namen stehen am Rand. Dieser hier: Strandläufer. Oder dieser, wenn sie mal schauen würden: der Fregattvogel mit seinem roten Hals.”
Der Kunde sagte: “Ist mir egal. Wie hoch ist das Porto, sagten Sie?”
Sie legte den Brief auf die Waage. “Sie haben Glück. Wir sind noch bei achtzig Cents.”
Sie nahm den Brief wieder in die Hand. “Ich sehe, der geht nach Alabama. Ich hätte da was für Sie. Druckfrisch reingekommen. Eine Briefmarke mit einem Portrait von Rosa Parks.”
“Kleben Sie drauf, was Sie wollen.”
“Man sollte bestimmte Dinge nicht vergessen. In Alabama nicht und auch nicht hier”, sagte Xora.
Der Mann schaute auf seine Armbanduhr.
“Meine Mittagspause endet in fünf Minuten. Wenn ich zu spät ins Büro komme, wird es meine letzte Mittagspause gewesen sein.”
Mit benachbarten Schalterkollegen zu reden war zwar nicht erwünscht, aber unvermeidlich. Solange die Mitarbeiter zugleich ihre Schalterarbeit leisteten, tolerierte das Management die Plauderei. Xora unterhielt sich gerne mit Ramón vom Nachbarschalter, einem Veteranen des Postdienstes. An seinem Hals hing eine Silberkette, daran ein Figürchen des gekreuzigten Jesus, der unwillig beobachten musste, wie unter ihm über die Dienstjahre ein Bäuchlein gewachsen war. Xora war außerstande, zur gleichen Zeit Päckchen abzuwiegen oder Formulare zu kontrollieren oder Einnahmen abzurechnen. Sie plauschte mit ihm über belanglose Dinge, über das Wetter in der Bronx, von dem beide überzeugt waren, dass es sich vom Wetter der anderen Boroughs unterschied; über die Schwarz-Weiß-Fernseher in der Bodega ihrer Nachbarschaft, in denen nur europäischer Fußball lief, oder über die Kunst des Mangoschälens, die niemand besser beherrschte als die Señoras mit ihren Bauchläden in der Subway. Wenn sie über Dinge von Belang redeten, über die Bücher, die sie lasen, über eine unbekannte Autorin, die Ramón entdeckt hatte oder über die Gedichte, mit denen Xora aufgewachsen war, vergaß sie den Knopf zu drücken und den Gongton auszulösen. Es dauerte Minuten, bis sie den nächsten Kunden bediente.
Anfang September erschienen Kontrolleure mit Stoppuhren. In der Woche, die sie blieben, wechselten sie kein Wort mit den Angestellten, grüßten nicht mal, machten auf ihren Klemmbrettern Notizen und gingen kurz vor Dienstschluss.
Als Xora an dem folgenden Montag ihren Schalter betrat, wartete in ihrem Stuhl ihr Manager, Mister Conrad. Er blinzelte Xora an, als versuchte er, sich ihres Namens zu erinnern. Er wackelte mit dem Kopf, der kahl war mit Ausnahme eines dichten, kurzen Haarwuchses hinter den Schläfen. Wann immer Xora ihn sah, konnte sie nicht der Vorstellung widerstehen, dass er eigentlich völlig glatzköpfig sei und sich in Wirklichkeit zwei gleich große Stücke Teppichreste angeklebt habe.
“File”, sagte er. “Von allen Mitarbeitern bedienst du die wenigsten Kunden pro Stunde. Du redest zu viel mit den Leuten. Du musst die Gespräche mit den Kunden auf das Nötigste reduzieren.”
Xora starrte Conrads Schädel an.
“Hast du mich verstanden?”, fragte Conrad.
“Gewiss, Sir. Was ist das Nötigste?”, fragte Xora. “Und was ist unnötig?”
“Pass auf, File”, sagte Conrad, während er sich zum Gehen erhob, “du arbeitest in Cooper Station, nicht bei Tiffany. Du verkaufst Briefmarken, keine Diademe. Du musst nicht jedem hier die Zacken der Briefmarken erklären.”
Conrad verschwand. Gedankenvoll blickte Xora das Schließfach an, in dem ihre Utensilien warteten. Sie führte ihre Hand zur Brusttasche, streckte ihre Finger, als wollte sie zu einer Pistole greifen, und holte ihr Mobiltelefon hervor.
Ihre Daumen zogen Ericas Profilfoto aufs Glas. Ericas Gesicht im Fensterrahmen der Schaffnerkabine, Subway-Linie A; der Mund lächelt so süß, nur Xora kennt den Spott, den er auf die Mitwelt werfen kann; die Augen, die sich immer verabschieden: Treten Sie zurück, die Türen schließen, nächste Station 59th Street.
Xora tippt:
“Kurze Frage: Was sind Diademe?”
Senden.
“Und noch eins, File!” Conrads Stimme donnerte ihr in den Nacken. Das Telefon fiel in ihren Schoß. Vor ihren Augen erschien Conrads Zeigefinger.
“Im Dezember ist die nächste Leistungskontrolle. Wenn du dann noch die letzte bist, musst du die Konsequenzen tragen.”
Als er wegtrat, sagte er noch: “Und lass dein Telefon in der Tasche.”
Die Leistungskontrolle im Dezember sollte Xora nicht mehr erleben. Die Konsequenzen, die Conrad angedroht hatte, hatten sie im November ereilt, und nach Thanksgiving erinnerte sich nur noch Ramón an sie, bis sie in seinem Gedächtnis verblasste zu einer von hundert täglichen Beiläufigkeiten.
Xoras Suspendierung erfolgte aus einem Grund, den sie am wenigsten erwartet hatte. Sicher, sie benutzte ihr Mobiltelefon während des Dienstes. Aber alle taten es für ein paar Augenblicke, wenn der nächste Kunde sich näherte, selbst wenn der Kunde dabei war, sein Anliegen vorzutragen. Man griff zum Telefon wie man zur Nase greift, wenn sie juckt. Die Kontrolleure hatten im September gesehen, wie Xora Nachrichten las und schrieb, aber nichts anders wahrgenommen als ihr eigenes Atmen. Sie hätten sich am Abend nicht daran erinnern können, wie sie selbst vier oder fünf Mal ihr Klemmbrett weggelegt hatten, um auf ihr eigenes Telefon zu schauen. Ab und zu erinnerte Conrad an die Vorschrift, aber ohne Drohung, und was er nicht mit einer Drohung verband, galt als ein höflicher Rat, fast als ein Akt von Freundschaft. Er verstieß doch selbst gegen die Regel. Warum er manchmal in einer Besprechung abrupt aufstand und den Raum verließ, konnte man nur verstehen, wenn man das Surren in seiner Hosentasche gehört hatte. Niemandes Laufbahn in der Schalterhalle hatte je wegen der Benutzung eines Mobiltelefons geendet – außer Xoras und auch nur, weil ein außerordentlicher Umstand an jenem Novembernachmittag den Ausschlag gab.
Der Tag hatte wie üblich begonnen. Xora erreichte ihren Schalter wieder zehn Minuten zu spät. Sie atmete schwer, ein Zeichen dafür, wie schnell sie gelaufen war, wie sehr sie sich bemühte, Conrads Warnung zu beherzigen. Sie arrangierte ihr Arbeitsmaterial und legte ihr Telefon zu ihrer Rechten auf die Schaltertheke, sodass die Kunden es nicht sehen konnten. Sie atmete ein und straffte ihren Rücken. Da das Semester der New York University dem Ende zuging und die Studierenden begonnen hatten, Bewerbungen für Praktika zu verschicken, da die Läden der Nachbarschaft sich früh in diesem Jahr auf das Weihnachtsgeschäft vorbereiteten und Bestellungen aussandten, hatten sich in der Schalterhalle bereits mehr Leute als üblich angestellt.
Xoras erste Kundin war eine Angestellte des Kostümladens gegenüber. Sie legte einen Stapel Briefe auf die Schaltertheke.
“Wieder Werbepost? Halloween ist vorbei”, sagte Xora.
“Wir müssen nachlegen. Thanksgiving.”
“Gibt es denn Leute, die sich zu Thanksgiving kostümieren?”
“Wir wollen den Eindruck erwecken.”
“Ich wünschte, ich könnte Ihnen Briefmarken mit einem Thanksgiving-Thema anbieten.”
“Nicht wichtig.”
“Ist noch zu früh.”
“Hauptsache, die Post geht raus. Die Zeiten sind schwierig.”
“Ihr habt Probleme?”
“Ich muss gehen.”
Cooper Station saß an der Ecke 4th Avenue und 11th Street, ein dreieckiges Gebäude aus der Zeit der Großen Depression mit einer sandsteinfarbenen Fassade und zwei Reihen großer Fenster. Wenn man das Gebäude betrat, kam man in eine Schalterreihe, die sich im rechten Winkel bog. Die Schalter, die man zuerst sah, trugen die Nummern 18, 19, 20. Man musste annehmen, die Schalterreihe begänne mit der Nummer 1 auf der rechten Seite, die noch im Dunklen lag, und würde links gegenüber den Fenstern mit einer unbekannten Nummer enden, einer Nummer jedenfalls, die höher war als 20. Es war also nur natürlich, wenn man die gleiche Zahl von Angestellten hinter den Schaltern erwartete.
Doch wenn sich eine Schlange bildete, konnten sich die Wartenden nur auf Hoffnung stützen. Ein blaues Band lenkte sie in Hüfthöhe in eine Gasse, die sich in Falten wand und damit mehr Leute in die Schalterhalle aufnahm. Die Schlange kroch mal den Schaltern, mal dem Eingang zu, kehrte dann wieder zurück, wobei das rote Diodenbrett mit den Schalternummern nach jeder Schleife ein Stückchen näher rückte. Zu keinem Moment ihres Wartens konnten die Kunden die wahre Situation erkennen: An den Schaltern arbeiteten nicht mehr als fünf Angestellte, Xora unter ihnen. Doch an diesem Tag hatte sich eine Angestellte krank gemeldet, ein anderer hatte wegen eines Todesfalls in der Familie ein paar Tage Urlaub nehmen und nach Puerto Rico reisen müssen.
Der einzige, der um die wahre Zahl der Schalterangestellten zu wissen schien, war Conrad. Gegen Mittag lief er, wie oft, wenn der Andrang groß war, die Schlange ab, Briefmarkenbögen in der Hand, frankierte, solange die Kunden ihm passend Geld gaben, wog Päckchen an der Waage zwischen den Säulen und bestimmte auf einem Zettelchen das Porto, das die Kunden am Schalter zahlen sollten. Die Angestellten brauchten nur noch Briefmarken aufzukleben und die Päckchen in einen Korb hinter sich abzulegen.
Conrad besaß kein Gefühl für Fairness. Ihm wäre nie die Idee gekommen, diejenigen zu bedienen, die schon am längsten warteten, also bereits vorn angelangt waren, kurz vor dem Diodenbrett. Er begann hinten, fing sogar eine Frau ab, die gerade eingetreten war. Sie trug einen Schal, in ihrer Kleidung steckte schon die Luft des nahenden Winters. Sie wollte ein Päckchen per Express nach Europa schicken. Er gab ihr zwei Formulare, eins für die Eilpost, eins für den Zoll und einen Kugelschreiber. Er mochte so das erste Drittel hinter sich gebracht haben – viele mussten den Dienst am Schalter beanspruchen, weil ihm die passenden Stempel oder Formulare fehlten –, als ein Mann ihn von der Seite ansprach:
“Hören Sie. Wir stehen hier schon … wie lange? Fünfzehn Minuten? Und nichts bewegt sich.”
Die Wartenden vor ihm nickten.
“Fünfzehn Minuten”, bestätigte ein anderer. “Und wir haben keinen Gong gehört. Was ist los da vorne?”
Eine Frau sagte: “Die Anzeige ist kaputt. Steht seit einiger Zeit auf Nummer 17.”
Das war Ramóns Schalter.
“Sie entschuldigen mich”, sagte Conrad und machte sich auf nach vorn.
Als Xora auf die kleine Frau schaute, die ihr einen Briefumschlag hingelegt und nach ihrem Gruß geschwiegen hatte, ahnte sie nicht, dass sie ihre letzte Kundin sein sollte. Xora bediente sie vielleicht zu langsam nach Meinung des Managements, aber sie behandelte sie gut. Am Ende, als alles vorbei war, fühlte sie inmitten Verwirrung und Schock auch Stolz, denn der letzte Akt in ihrer Karriere als Schalterangestellte war ein Akt der Menschlichkeit. Möglicherweise war sie die erste Person in Uniform, die der Frau Furcht genommen statt eingeflößt hatte.
Xora warf den Brief auf die Waage, warf ihre Hand auf die Liste, zog den Finger die Zahlen entlang, stutzte und schüttelte lächelnd den Kopf, nahm den Brief wieder in die Hand, schaute nach der Adresse. Der Brief sollte das Land verlassen, sollte nach El Salvador zu einem Ort namens Verapaz und musste natürlich ein anderes Porto tragen als ein Inlandsbrief. Nur ein Wort stand da als Adressatenname – Fernández – und ein Wort für die Straße. Xora wog den Brief auf der Handfläche. Er war schwer, der Umschlag vollgestopft; ein Stoß an eine Kante, ein Kratzer mit einem spitzen Gegenstand und er wäre aufgerissen und sein Inhalt verloren. Xora drehte den Brief um.
“Sie haben keinen Absender drauf. Sie wollen den Brief so abschicken?”
Die Frau beobachtete Xoras Hände.
“Wenn ich fragen darf”, sagte Xora, “ist da Geld drin? Dinero? Plata?”
Die Frau schwieg.
“Sie wollen Geld nach Hause schicken? Zur Familie?”
Nichts im Gesicht der Frau verriet, ob sie verstand, was Xora fragte.
“Der Postdienst der Vereinigten Staaten verbietet Ihnen nicht, Bargeld zu verschicken, egal wohin. Ich fürchte nur, Sie könnten das Geld verlieren. Der Brief könnte verschwinden”, sagte Xora. “Verstehen Sie mich?”
Sie nickte.
“Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag”, sagte Xora, während sie den Umschlag zurückschob. “Sie senden das Geld mit einer Postanweisung. Sie zahlen das Geld hier ein und in …”, sie schielte aufs Kuvert, “… in Verapaz kann Fernández das Geld vom örtlichen Postamt abholen.”
Xora holte einen Schein hervor. Ihr Telefon brummte.
Xora legte ihr einen Kugelschreiber hin.
“Bitte ausfüllen. Den Adressaten hier eintragen.”
Das Display leuchtete auf. WhatsApp. Erica.
“Und Absender hier.”
Das Telefon muckte erneut. Zweite Nachricht. Erica hatte gerade ein paar Minuten Zeit.
“Sie geben mir das Formular und zahlen das Geld ein und ich gebe Ihnen einen Beleg. Lassen Sie sich Zeit.”
Die Frau versenkte sich ins Formular und schließlich schrieb sie.
Xora öffnete ihr Telefon.
Erica: Zeit für ein Gedicht?
Xora: Moment noch. :[
Die Frau hatte den Kugelschreiber zurückgelegt.
“Perfekt”, sagte Xora. “Fehlt noch ihr Absender. Ihre Adresse. Sehen Sie? Hier.”
Die Frau öffnete den Umschlag und zog den Geldbündel heraus und begann die Scheine zu zählen, Zwanziger, Fünfer, ein paar Fünfziger.
“Miss, Sie müssen ihren Absender eintragen.”
Die Frau legte die Banknoten aufeinander, tippte auf die Summe, die sie eingetragen hatte: 500 Dollar.
“Ramón?” Xora lehnte sich zur Seite. “Ramón? Kannst du mir helfen?”
Hinter ihr erschien Ramón.
“Sie versteht nicht, dass sie ihren Absender eintragen muss.”
Ramón sprach die Frau auf Spanisch an. Sie antwortete mit kräftiger Stimme in kurzen Sätzen.
“Sie will nicht”, sagte Ramón. “Aus offensichtlichen Gründen.” Dann zur Frau: “No podemos enviarlo sin la dirección de remitente.” Die Post könne das Geld nicht ohne Absenderadresse senden.
Ihr Blick wanderte zu Xora, ihre Hand zum Geld.
“Okay”, sagte Xora. “Ich schreibe einen Absender.”
“Hab nichts gehört und nichts gesehen.” Das waren die letzten Worte, die sie von Ramón vernommen und verstanden hatte.
Xora trug Fernández ins Absenderfeld ein und dann ihre eigene Straße, West 135th Street, Harlem. Die Frau hob die Hand vom Stapel. Xora zählte das Geld und stempelte das Formular ab. Als sie aufsah, näherte sich die Frau schon dem Ausgang.
Das Telefon.
Xora: Wo bist du?
Erica: Far Rockaway
Xora: Du hast Verbindung?
Erica: Hochbahn bis Ditmars Boulevard. Zeit für 8 Zeilen.
Xora: 10.
Erica: Du beginnst. ;)
Xora: Reim?
Erica: Wir werden sehen. Du beginnst.
Xora: Guten Morgen, Amerika.
Erica: Kratz ans Blau des Himmels
mit den Fingern deiner Hand.
Xora: Schrammen rot
Erica: und fünfzig Sterne funkeln.
Xora: Du bewegst dich, ich sitze
Erica: Ich schwitze, du regst nicht
einen Finger
Xora: In Bewegung kommen die Worte
Erica: nicht, wenn du sitzt.
Allmählich, mit jeder Zeile, die Xora las, mit jedem Wort, das sie als Antwort abwägte, schloss sich über sie die Kuppel der Poesie. Die Welt, in der sie saß, wurde Außenwelt und die Außenwelt ferner Nebel. Das Sirenengebrüll des Feuerwehrautos, das draußen vorbeifuhr, schwand zu einem Summen, die Stimmen in der Schalterhalle erloschen. Nur einmal klang Ramóns Stimme durch, der ihr etwas zu sagen schien, bis der Spätherbst durch die Eingangstür einen neuen Kunden und mit ihm einen Block kühler Luft hineinschob. Ramóns Worte schwankten über Xoras Schulter für einen Moment und im nächsten existierten sie nicht mehr.
Xora: Warum
Erica: sind die Subway-Stationen gerade
Xora: und nur die in Union Square ist krumm?
Erica: Warum bin ich schlau
Xora: und nur mein Boss ist dumm?
Erica: Warum, warum
Xora: darf ich nicht fragen
Erica: darf ich nichts sagen?
Xora: Warum können große Stümper brüllen
Erica: und die kleinen Könner bleiben stumm?
Ein Brüllen schreckte Xora auf: “File!”
“Ramón?”
Conrad.
Sie griff zum Knopf, doch ehe ihn ihre Hand erreichte, fasste Conrad sie ans Gelenk.
“Du bist mit sofortiger Wirkung beurlaubt. Warte zu Hause auf weitere Anordnungen.”
“Was?”
“Gib mir das Telefon.”
“Weil ich das Telefon benutze? Jeder hier benutzt das Telefon.”
“Nicht jeder, nicht diejenige, die als einzige am Schalter sitzt.”
“Wieso? Ramón …”
“Ramón ist in Mittagspause. Die anderen auch. Du bist die einzige, File. Für die letzten fünfzehn Minuten. Für die letzten fünfzehn Minuten warten die Kunden auf eine Schalterangestellte, die mit ihrem Telefon spielt.”
Er nahm ihr Telefon.
“Das können Sie nicht tun. Das ist verboten”, sagte Xora.
“Das ist ein Beweisstück. Auf dich wartet ein Disziplinarverfahren. Passwort?”
“Das kann ich nicht sagen.”
“Wenn du nicht kooperierst, wirst du gefeuert.”
Sie starrte auf seinen Glatzkopf, auf den Haarwuchs an den Seiten.
“FuckyouMan.”
Er glotzte sie an.
“Das ist mein Passwort”, sagte Xora. “Ein Wort. F und M sind groß geschrieben.”
* * *
Erica lehnte gegen den Postkasten und betrachtete die Fassade von Cooper Station. Über dem Eingang breitete ein Bronzeadler seine Flügel aus. An der Wand hafteten Säulen wohl nur der erhabenen Erscheinung willen, ohne wirklich etwas zu stützen. Eine Brüstung fasste das Dach ein, ohne wirklich jemandem eine Aussicht zu bieten. Niemand würde je auf dem Dach spazieren. Die schmucklosen Nachbargebäude waren es eh nicht wert zu besichtigen. Hinten schaukelte Xora heran, mit verkniffenem Gesicht dem Gegenwind trotzend.
“Wie üblich. Subway schlägt Post”, sagte Erica.
“Es ist die Subway, die kriecht”, sagte Xora. “Verspätungen der Subway sind meine Verspätungen im Dienst.”
“Weil Fahrgäste wie du an den Stationen die Türen offenhalten.”
“Ich glaube, ich habe gestern deine Stimme gehört”, sagte Xora. “Wir waren im gleichen Zug. Uptown, A-Zug.”
“War jemand anders. Diese Woche mach’ ich Dienst im N-Zug. Mittagsschicht. Deshalb habe ich nur zwanzig Minuten.”
“Der Angestellteneingang ist um die Ecke.”
“Also, was soll ich nun sagen?”, fragte Erica.
“Die Wahrheit. Wir haben ein kurzes Gedicht geschrieben …”
“… in dem du deinen Boss ‘dumm’ nennst. Ist das der mit den Teppichresten am Kopf?”
“Conrad. Es ist ein Gedicht, Erica. Abstrakt. Es hat nichts mit ihm zu tun.”
“Das soll er glauben?”
“Ich habe dir dann getextet, dass ich Schluss machen muss wegen der Arbeit.”
“Das hast du nicht getextet”, sagte Erica.
“Das habe ich nicht geschrieben, aber du kannst es sagen.”
“Xora, sie können es feststellen. Du hast ihnen dein Telefon gegeben. Und dein Passwort.”
“Dann hab ich’s dir eben am Telefon gesagt. Ich hab dich angerufen.”
“Auch das können sie feststellen.”
“Dann sag, was du willst, ich vertraue dir. Bleib nur bei mir. Conrad ist ein Hund.”
Conrads Bürotür stand offen. Er telefonierte stehend, dem Fenster zugewandt, nicht laut genug, um auszumachen, was er sagte. Xora hüstelte.
“Sir?”
Erica hinter ihr. Sie grinste, als sie ihn sah.
Conrad legte auf und beim Umdrehen schaute er auf die Uhr an der Wand:
“File.”
“Guten Morgen, Mister Conrad.”
“Wer ist das?”
“Das ist meine Freundin. Mit ihr hatte ich getextet.”
“Getextet? Ist sie Postangestellte?”
“Nein.”
“Was macht sie dann hier? Postfremde haben hier nichts zu suchen.”
“Als Zeugin?”
“Carl?”
An der Nachbartür erschien Untermanager Carl.
“Sei so gut und bring die Frau hier aus dem Haus.”
Xora hob die Schultern, als wollte sie sich entschuldigen. Erica nickte ihr zu, als Carl sich zum Gehen wandte. Und wie Carl bereits einen Schritt machte und aus dem Türrahmen verschwand, wartete sie noch, drehte sich dann langsam und machte klar, dass sie weder Carls Tempo noch Conrads Befehlen, dass sie niemandes anderen Willen zu folgen hatte als ihrem eigenen.
“Setz dich. Dann kannst du besser unterschreiben”, sagte Conrad zu Xora.
Er legte ihr ein Schreiben vor.
“Von der Personalstelle. Mit der Unterschrift bestätigst du, dass du aus dem Schalterdienst entlassen bist.”
“Wollten Sie mich nicht befragen?”
“Befragen zu was? Zu deinen Verspätungen? Zu deinen miserablen Arbeitsleistungen? Alles dokumentiert. Da brauche ich nichts zu fragen.”
“Ich verstehe nicht.”
“Wie bitte? Du musst lauter sprechen.”
“Ich verstehe nicht, Mister Conrad. Ich bin entlassen?”
“Aus dem Schalterdienst, File. Nicht aus dem Postdienst.”
Er legte ein zweites Schreiben hin.
“Das ist die Anweisung über deine neue Dienststelle. Briefzustellung. Du beginnst als Hilfszustellerin. Du hast Glück. Im selben Haus. Cooper Station. Dienstantritt morgen früh. Hier unterschreiben. Zur Bestätigung.”
“Wann morgen früh?”
“Um sieben schon. Das Leben ist hart.”
Xora unterschrieb. Conrad legte die Schreiben in die Schublade.
“Du kannst gehen.”
Xoras Blick huschte über den Schreibtisch. Mappen lagen aufgestapelt neben dem Telefon. Die Hörerschnur hing verdrillt über der Schreibtischkante. Staub bedeckte den Lampenschirm. Conrad verschränkte die Arme hinter dem Nacken.
“Kannst gehen.”
“Mein Telefon.”
“Was ist mit deinem Telefon?”
“Bekomme ich es nicht zurück?”
“Bekomme was zurück?”
“Mein Telefon. Sie haben es mir genommen.”
Conrad lachte. “Genommen? Ist das ein Witz?”
“Als Beweis. Haben Sie gesagt.”
“Beweis? Wenn ich dein Telefon genommen hätte, hätte ich dir doch eine Bestätigung gegeben, oder?”
“Sie haben mir keine Bestätigung gegeben.”
“Also habe ich dein Telefon nicht genommen. Unterstellst du mir, dein Telefon gestohlen zu haben?”
“Aber Sie haben mein Telefon. Erinnern Sie sich nicht?”
“Erinnern? File.” Er zog die Schreiben wieder aus der Schublade. “Noch ein Wort und ich zerreiße den Mist hier und du fliegst für immer. Und wenn du wagst, Gerüchte über mich und dein Telefon zu streuen, zerre ich dich wegen Verleumdung vor Gericht. Dann hast du es mit den Anwälten der USPS zu tun. Versager wie dich machen die noch vor dem Frühstück fertig.”
Das Gebäude war alt, die Heizkörper waren schwer und gusseisern. Sie strahlten die immergleiche Hitze aus, die Haut und Augen trocknete und die Mitarbeiter zwang, selbst im Winter die Fenster zu öffnen. Und dennoch kam es Xora vor, als mühte sie sich durch einen Korridor aus Eis dem Ausgang zu. Als sie nach draußen trat, war sie durchgefroren. Der Himmel hatte sich zugezogen. Über East 11th Street hing ein schattenloses Grau. Drüben ratterte der Wind am Rollladen des Kostümgeschäfts. Zwei Handwerker waren dabei, das Ladenschild abzuschrauben.
Erica war schon auf dem Weg zum Dienst zur Erststation nach Astoria, mit dem N-Zug wohl, lehnte wohl an der Zugtür und würde bei jeder Station nach ihrem Telefon schauen und sich fragen, warum Xora ihr nicht vom Resultat des Disziplinargesprächs textete.
* * *
Der Verlust des Telefons ist für sie ein Schock für Leib und Seele. Es ist, als wäre gerade ein Organ aus ihrem Körper gerissen worden, als würde sie noch die Wunde betrachten und darauf warten, dass der Schmerz eintritt. Auf der Heimfahrt in der Subway ergriff sie die eigenartige Empfindung, unvollständig, entblößt, fast nackt zu sein. Draußen fasste sie zwei Mal an ihre Jackentasche, nur um sich dieses Loches zu vergewissern, denn der Verlust des Telefons reißt ein Loch ins Leben, von dem sie nicht weiß, wie sie es füllen soll.
Erica wird versuchen, ihr zu texten. Aber sie wird irgendwann merken, dass etwas nicht stimmt, dass Conrad, dieser Lump, ihr das Telefon verweigert haben muss.
Jamal wird sich fragen, warum sie seine Anrufe nicht mehr annimmt. Seit sie sich von ihm getrennt hat, ruft er sie fast täglich an. Er kam ihr längst nicht mehr wie ihr Freund, sondern eher wie ihr Dozent vor. Er benutzte komplizierte Wörter, die er bei den Vorlesungen in der Universität aufgeschnappt hatte, und lächelte sie traurig an, wenn sie ihn nicht verstand. Er leerte ihren Kühlschrank, bediente sich ihres Geschirrs, ihres Fernsehers, ihrer Dusche, ihres Bettes und ihres Körpers, und gab ihr nichts anderes zurück als Abhandlungen darüber, dass “der Mensch nicht der Herr des Seienden” und “das Bleibende im Denken der Weg” sei. Sie schmiss ihn schließlich raus.
Ein Schuldgefühl trübte die Freude über ihre neue Freiheit, die fixe Idee, dem Jungen mit den treuen Augen und den weichen Händen Unrecht getan zu haben. Sie nahm also seine Anrufe an und ließ die Ausdeutungen seines Weltschmerzes über sich ergehen. Sie konnte es nicht übers Herz bringen, seine Rufnummer zu blockieren.
Sie drückt die Wohnungstür hinter sich zu und schiebt den Riegel vor. Den Brief der Bank, den sie aus ihrem Briefkasten gezogen hat, wirft sie auf den Tisch. Links tropft der Wasserhahn ins Spülbecken. Das Licht des späten Nachmittags müht sich durchs staubbedeckte Fenster. Auf der Feuerleiter sitzt ein Vogel. Er fliegt weg, als sie sich bewegt. Sie tritt vor das Bücherregal, das sie immer begrüßt, wenn sie nach Hause kommt. Sie breitet die Arme aus und ergreift die Seitenwände des Regals wie zu einer Umarmung. Die Bücher sind ihre Rettungsbojen. Mama und sie haben viel verloren in ihrem Leben. Untergegangen sind sie nie, weil sie sich an diesen Büchern festgehalten haben.
Simone File hatte Xora in einer blumigen Nacht empfangen, nach einem dieser Zauberabende, wenn der Harlem-Himmel türkis schimmert und die Luft so klar ist, dass sie das Lachen der Straßenhändler von der 125th Street durch das Viertel trug. Um die Köpfe der Flanierenden kräuselte der süße Duft der Churro-Krapfen. Die Händlerinnen trugen das Gebäck in Körben vor ihren Bäuchen, auf ihren Rücken schliefen die Babys in rot-blau-rosa Tüchern. Da trat er zwischen ihnen hervor. Er war groß und schlank und trug einen Panama-Hut. Er stellte sich als Hugo aus Puerto Rico vor. Musik spielte an der Ecke. Sie tanzten auf der Straße. Er berührte sie sanft, versprach nichts und sprach nicht viel, und wenn, dann verschluckte er die Endungen der Worte. Nach drei Monaten verschluckte er sich selbst. Er verschwand von einem Tag zum anderen. Simone rannte durch die Straßen, rief vergeblich seinen Namen, bis sie schließlich erschöpft und heiser vor dem Haus ihrer eigenen Mutter endete. Sie war längst tot, aber die Erinnerungen an die alten Zeiten lebten in Simone fort, die Erinnerungen an ihren Nachbarn: Hier hatte einst Langston Hughes gelebt, der berühmte Dichter und Chronist der Harlem Renaissance. In derselben Nacht zog sie seine Verse über ihre Seele wie eine Decke, Verse von den großen Flüssen, die so alt sind wie die Welt und älter als das Strömen des Blutes in den Venen der Menschen; von den Krumen, die manchmal von den Tischen der Freude fallen. Sie schlief ein mit dem Buch in der Hand. Sie ließ Hugo los und grämte sich nicht.
Simone File hat Xora im Mount Sinai Hospital geboren, hat sie aufgezogen mit Liebe, Milch und Poesie. Wenn sie kein Geld hatte, besaß sie immerhin ihre silbrige Stimme. Sie flüsterte dem Kind Langston Hughes’ Gedichte zu, die ihnen Geborgenheit gaben in der Nacht, nachdem der Vermieter sie zwangsgeräumt hatte und sie bei einer Nachbarin unter dem Küchentisch übernachten mussten. Die kleine Xora lag in ihren Armen und beobachtete Simones Lippen. Sie verstand die Worte nicht, denen sie lauschte, doch sie liebte die Töne der Verse. Und wenn sie die Töne liebte, mussten die Verse selbst schön und wichtig sein.
Während Simone vormittags die Gänge der Columbia Universität putzte, ging Xora zur Schule. Sie freundete sich mit Erica an, die ihr manchmal ein Sandwich mitbrachte und ihr beim Geschichtsunterricht Hip-Hop-Reime zuflüsterte. Ihre Hausaufgaben machte Xora in der Morningside-Heights-Bibliothek. Simone reinigte unterdessen im Barnard College die Büros der Professorinnen. Xora wartete draußen auf sie, nachdem die Bibliothek geschlossen hatte, und folgte ihr zu zwei Postämtern in der Upper West Side. Simone putzte die Schalterhallen. Xora saß in der Ecke auf einem Stuhl, ließ die Beine baumeln und wählte die Schalter, hinter denen sie eines Tages in einer feinen Uniform sitzen und den Menschen die Segnungen der Kommunikation eröffnen wollte.
Ein paar Wochen lebten sie im Obdachlosenhaus, schliefen mit ein paar Dutzend Leuten in einem Saal. Xora, grad elf Jahre alt, erlebte hier die erste Räuberei. Sie hatte ihre Schuhe unter die Bettenfüße gestellt, wie es alle hier taten, damit sie niemand stehlen konnte. Aber ihren Pullover, den einzigen, den sie besaß, hatte sie in der Nacht ausgezogen. Als sie aufwachte, war er verschwunden.
Ihre Jugendjahre sind Xora ein dunkles Loch. Die Mietskasernen Brownsvilles in Brooklyn haben ihr kein Licht gelassen. Die Wohnung, die Simone von der Stadt zugeteilt bekam, war billig, aber hoch war der Preis für Menschenwürde. Wenn man nicht zwischen die Querschläger sich beschießender Drogengangs geriet, dann unter die Schlagstöcke patrouillierender Polizisten, welche die hochgeschossigen Wohnhäuser rauf- und runterliefen. “Vertikale Streife” nannten sie das. Nur in den frühen Morgenstunden, wenn die Drogen die Gangs betäubt hatten und die Siedlungen in Stumpfheit dalagen, durfte die Zukunft zwischen den Blocks ein paar Runden drehen – Freigang im Gefängnishof.
Simone und Xora brachen aus. Xora fing bei der Post an, traf sich nach Feierabend mit Erica in Cafés in der Bronx und bewunderte ihre neusten Hip-Hop-Reime und fand schließlich jene kleine Wohnung in West 135th Street. Dass sie nur halb so groß und doppelt so teuer wie die Wohnung in Brownsville ist, bemerkt sie nicht mehr. Selten denkt sie an Brownsville zurück. Nie wieder wird sie dort einen Fuß hinsetzen.
Simone ist nach Fort Pierce in Florida gezogen, zu ihrer Schwester, Tante Martha. Sie erwartet Xoras Anruf, damit sie vom warmen Wetter und den Palmen und vom Gebrauchtwagen schwärmen kann, den Xora ihr bezahlt hat; der alte war kaputt gegangen. Der Kühlschrank brummt. Er ist neu. Sein Vorgänger funktionierte nicht mehr, doch der Vermieter hat sich geweigert, ihn zu ersetzen. Also musste sie ihn selbst bezahlen.
Sie reißt den Briefumschlag auf. Die Bank schreibt, ihr Kredit sei ausgeschöpft, weswegen sie die Kreditkarte nicht mehr benutzen könne. Die Bank müsse ihr jeden weiteren Kredit verwehren, solange sie nicht die Mindestrate zahle.
Wie will sie sich ein neues Telefon kaufen, wenn sie kein Geld mehr hat? Ein Telefon ist ihr Arm zu Erica in der Bronx, zu Mama nach Florida, ihr Arm, der in die Welt greift und herausholt, was immer sie sich wünscht: Ericas Reime, Mamas silbrige Stimme, Pizza von Domino’s, Bücher von Amazon, Nachrichten, Filme, Wahrheiten, Lügen und alle anderen Segnungen der Kommunikation.
Ruhelos und ohne Ende greifen Millionen Hände in die Erde und entreißen ihr dein Smartphone.
Kolwezi, Kongo
Kobalt
Philippe u.a.
Die Erde ist grau wie der Himmel in der Morgendämmerung. Philippe stolpert über Steine nicht aus Müdigkeit, sondern weil er das Terrain nicht kennt. Gestern ist ein Tunnel eingebrochen. Die Felsbrocken haben Emiles Bein zertrümmert, weshalb Philippe jetzt ran muss. Emile überlässt ihm Hammer und Schaufel – was will er noch damit?
Zwischen den Hügeln flackern Lichter auf. Hier sind die anderen, hier muss das Loch sein, der Einstieg ins Erdenreich. Philippe prüft das Band um seine Stirn, auch er schaltet die Lampe ein. Das Licht wird ihm das Metall schon offenbaren. Blaugrau wird es aus den Gesteinen schimmern. Er wird es schlagen, klauben, nach oben schleppen in den Säcken, die jetzt unter seinem Gürtel stecken. Nun ist er Creuseur, ein Gräber wie die anderen hunderttausend Gräber in diesem kargen Land.
“Wie geht’s Emile?”, fragen die anderen.
“Er lebt”, antwortet Philippe.
Sie steigen ein. Schräg bohrt sich der Schacht in die Erde. Nach ein paar Schritten verengt er sich. Nichts stützt die Decke, nichts verschalt die Wände. Die Creuseurs bücken sich und schließlich müssen sie in die Knie gehen. Diejenigen, die Philippe vorankriechen, verschwinden einer nach dem anderen in den Nebenschächten, bis Philippe die Spitze bildet. Er tastet sich vor in den Schlund; links dann eine Öffnung. Philippe wartet.
“Kriech rein”, hört er hinter sich.
Den Nebenschacht teilt er sich mit zwei anderen. Sein Licht wandert über die schwarze steinerne Kruste. Aber sie verschließt sich der Suche nach dem flimmernden Blau.
“Schlag, schlag. Sonst findest du nichts”, sagt die Stimme hinter ihm.
Das Gestein spritzt, wenn er schlägt. Mit jedem Schlag entlässt die Erde einen Seufzer von Staub, der nach einem Dutzend Schlägen die Lunge und nach einem weiteren Dutzend die Höhle füllt. Das Licht müht sich durch die trübe Luft. Dann glitzert es grau und blau vor Philippes Augen. Endlich ist er auf Kobalt gestoßen.
Nicht, dass Philippe nicht wüsste, wofür die Welt nach Kobalt giert. Er hat von dem Smartphone gehört und von den Wunderdingen, die es vollführen kann. Nur zehn Gramm Kobalt enthält es, doch ohne diese kleine Menge würde das Telefon schweigen. Denn Kobalt ist ein Teil der Batterie, der die positive Spannung hält. Die negative hält Grafit, gefördert und verarbeitet am anderen Ende der Welt, im Nordosten Chinas, wo Felder und Flüsse und Menschen unter seiner grauen Gifthaut existieren müssen. Zwischen Plus und Minus steckt ein Metall, das die Elektronen auf engstem Raum unterbringt wie kein anderes: Lithium.
Atacama, Chile, Argentinien
Lithium
Leticia u.a.
Niemand muss schwitzen. Niemand bricht vor Erschöpfung zusammen. Niemand stirbt an verstaubter Lunge. Lithium erscheint langsam und sanft.
Leticia sitzt auf dem Radlader wie auf einem Thron. Weit liegt die Atacama-Wüste aus. Der Wind hat die Andenberge in der Ferne weichgeschliffen. Farben verschwimmen an ihren Hängen wie Wasserfarbe auf porösem Papier. Blau und Grau und Braun schwingen sich hoch zu den weißen Gipfeln. Türkisfarben liegen die Salzseen zu ihren Füßen und das Land dazwischen erstreckt sich braun und orange, glatt und zerklüftet, zerkrustet und versanded, baumlos.
Der Motor rumpelt. Für einen Moment flattert die Auspuffwolke um Leticias Kopf. Sie zieht und drückt die Hebel. Der Radlader schiebt und hebt die Schaufel voll mit weißem Granulat.
Leticia umgeben Streben, Pfeiler, Rohre, Bottiche, Tanks. Sie arbeitet im Zentrum einer Krake, von der dicke, schwarze Schläuche in alle Richtungen in die Landschaft greifen. Aus der Erde saugen sie Wasser und leiten es in hundert gigantische Becken, ein Raster aus Rechtecken, das wie mit dem Lineal in die Natur gezogen ist.
Dann beginnt die lange Arbeit der Sonne. Lithium ist das leichteste Metall, das Wasser enthält nur ein paar Prozent davon. Mehr als ein Jahr braucht die Sonne, es zu verdunsten und eine weiße Masse zu hinterlassen. Leticias Radlader schaufelt die Masse in einen Tank. Eine Maschine rumort darin. Die Masse dreht sich. Ein unablässiger Strom von Wasser wäscht sie, bis das Lithium sich von Salz und Schmutz getrennt hat und so weit ist für den Transport in die Batteriefabriken in Nordamerika, Europa und Südkorea. Leticia verdient 850 Dollar pro Monat. Sie ist eine Atacameña. Noch nie hat ein Mensch ihres Volkes so viel verdient.
Niemand bricht vor Erschöpfung zusammen. Niemand stirbt an verstaubter Lunge. Niemand leidet unter einer Vorarbeiterknute. Die Geschäftsmänner erscheinen aus Kanada. Lächelnd öffnen sie ihre Scheckbücher. Leticias Kinder haben in der Schule gefroren. Jetzt wärmt sie eine Heizung. Leticias Gemeinschaft hat das Geld für eine Kanalisation gefehlt. Jetzt verschwindet das Abwasser in frischverlegte Rohre. Eilig unterschrieben die Stammesführer den Vertrag. Warum sollten sie ihre Gemeinschaft konsultieren? Die Kanadier zahlen 60.000 Dollar im Jahr.
Niemand hungert. Niemand schuftet sich zu Tode. Niemand braucht ein Smartphone. Man berät sich seit Urzeiten in Stammesmeetings. Niemand kann sich ein Smartphone leisten. Die Batterien sind teuer. Man muss sie importieren.
Langsam erscheint ein Riss durch das Volk der Atacameños. Die einen preisen die Ankunft des neuen Wohlstands in ihrem Dorf, den Wohlstand des Geldes. Die anderen beklagen den Verlust des alten Wohlstands, den Wohlstand der Natur, die sie in der Kargheit versorgt, so lange sie in Harmonie mit ihr leben. Ihre Lamas, welche Milch und Wolle geben, finden kaum noch Gras, seit die Krake das Wasser aus dem Grund der Atacama-Wüste saugt. Auf den Stammesmeetings haben die Versammelten begonnen, sich anzuschreien.
Leticia möchte nicht in den Meetings sprechen. Sie redet gern mit ihren Vorarbeitern. Wenn sie von “wir” spricht, redet sie nicht mehr von den Atacameños. Sie redet von der Firma aus Kanada.
Auf den Vorstandsmeetings in Vancouver tauscht man Worte voller Erregung aus. Die Hände, welche die Berichte halten, zittern: Umsatz 250 Millionen Dollar. Markt jagt fieberhaft nach Lithium. Vertragspreis 12.000 Dollar pro Tonne im März, 20.000 Dollar wird er im November sein. Preissteigerung um weitere 250 Prozent in den nächsten fünf Jahren. Am Abend beschließt man, die Kapazität auf 34.000 Jahrestonnen zu verdoppeln. Die Atacama-Wüste ist groß.
Cape Flattery, Australien
Silizium
Gabriel u.a.
Gabriel im Bagger, Bagger im Loch, Loch in Cape Flattery, Cape Flattery in der Hitze des Südpazifik, die sich im Loch staut, den Bagger füllt und Gabriel quält. Nur wenn der Bagger sich für die nächste Schaufelfüllung dreht, fährt ein Lüftchen durchs Führerhaus.
Das Loch ist weit wie eine Kleinstadt und so tief, dass darin ein Großstadthaus verschwinden könnte. Gabriel schaufelt den Quartzsand auf ein Förderband, zwei Millionen Tonnen in einem Jahr, vielleicht noch mehr, solange kein Zyklon vom Korallenmeer herüberkommt und auf die Quartzsandmine prügelt.
Lluka läuft das Förderband ab und dirigiert Kranführer und Hilfsarbeiter, Elektriker und Maschinisten, die es verlängern, senken, heben, reparieren. Das Förderband verläuft zwischen den Hügeln hin zur Küste, steigt hinter dem Kai auf und wirft die Ladung in den Schiffsrumpf.
Kapitän Genkei erwidert am Mikrofon den Gruß vom Festland. Matrose Daisuke macht das Schiff vom Kai los. Das Schiff legt ab. Auf nach Saga. Kapitän Genkei tippt die Abfahrtszeit in den Bordcomputer. Signal im Handelshaus in Tokio. Hier, in ihrem Büro im 51. Stock, bereitet Ichika die Transaktion nach Queensland vor. Australischer Dollar steht gut um 11:34 Uhr. Ichika wartet noch. Yen steht besser um 11:36. Dann klickt Ichika die Computermaus.
Saga, Japan
Transport
Daisuke u.a.
Daisuke macht das Schiff am Kai des Saga-Hafens fest. Hafenmänner schlagen den Sand in Trucks um. Wenn die Truckfahrer ihre Ladung in der nahen Fabrik in Wassertanks kippen, verlässt der tote, billige, nutzlose Erdenschmutz diese Welt und in einem grandiosen Stoffwechsel steht er auf als Substanz der tausend Möglichkeiten, der unersättlichen Menschheit für immer unersetzlich.
Tausende Hände setzen dem Sand Warenwert zu: Sie flämmen ihn, waschen ihn in Wasser und Chlor, schaufeln ihn in die Öfen, schmelzen, destillieren, reichern ihn an, destillieren und reinigen ihn immer wieder, bis sie unter dem Mikroskop nicht mehr als drei Partikel Schmutz unter einer Million finden. Jetzt ist es Silikon. Sie schmelzen es wieder, diesmal in einem runden Keramikofen. Kage, der Schmelzer, öffnet das Kontrollfenster. Gelbgrelles Licht springt seinen Gesichtsschutz an. 1.425 Grad Celsius. Bedächtig dreht sich der Keramikofen im Uhrzeigersinn. Kage drückt den Hebel. Linkswärts drehend senkt sich ein Stab in die Silikonsuppe. Langsam wächst eine Säule. Langsam wächst in der Säule ein Kristall von solcher Ordnung, dass die Atome wie Soldaten in Paradeformation zusammenstehen. Die kleinste Unvollkommenheit wird jene winzigen Schaltkreise verfälschen, die auf das Silikon warten, digital noch in den Computern der Hightech-Ingenieure in Kalifornien, Südkorea und Taiwan.
Dreihundert Kilo wiegt jede der grauen Säulen. Dreißig Zentimeter misst ihr Durchmesser. Kazz und sein Team schneiden die Säulen zu dünnen Scheiben, den Wafern, und polieren sie immer dünner, tage- und nächtelang: 10 Mikrometer, sieben, fünf! Sie überziehen sie mit einer Schicht lichtempfindlicher Substanz, schieben sie in einen Ofen. Thermale Oxydation bei 1.000 Grad Celsius. Wenn sie erkaltet sind, verschließen Mijo und Akari sie in luftentleerte Hüllen. Sie schieben die Wafer in Plastikkisten. Der Fahrdienst bringt sie zum Flughafen. Der Flugdienst bringt sie nach Taiwan. Landung 12:40 Uhr, Taoyuan International Airport. Der Fahrdienst bringt sie nach Hsinchu, zur großen Mikrochipfabrik.
Kolwezi, Kongo
Kobalt
Philippe u.a.
Braun kraucht der Fluss an den Hütten vorbei. Sein Geruch liegt dort für Tage, wenn der Wind in ihre Richtung geweht hat. Die Frauen warten, waschen indes die Wäsche. Efe legt, nachdem sie die nassen Kleider rausgezogen hat, ein Netz aus. Die Creuseurs bringen die Säcke. Philippe trägt einen über jede Schulter, schüttet den Inhalt vor Efes Füße. Die Frauen waschen das Gestein.
