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Neil Winter will nur für ein paar Wochen der Krise seines Lebens entfliehen, weg von Scheidung und Jobproblemen. Er hofft, in Mexiko auf neue Gedanken zu kommen. Aber in der ersten Nacht seiner Reise wird er ausgeraubt, und verliert alles: Gestern noch war er ein Ingenieur aus Colorado, stolzer Bürger der mächtigsten Nation der Welt. Heute ist er ein Mann ohne Geld, ohne Reisepass, ein dokumentenloses Nichts. Verzweifelt sucht er Hilfe, und findet das Mitgefühl von Fremden, Liebe und Hoffnung. Doch was auch immer er unternimmt, um nach Colorado heimzukehren – vor ihm erhebt sich ein Hindernis, mit dem er am wenigsten gerechnet hat: sein eigenes Land. Mit "Illegal" präsentiert uns der Autor eine moderne Parabel. Was wie die Odyssee eines einzelnen Mannes scheint, der nur zurück in sein altes, gut situiertes Leben will, ist in Wirklichkeit die Geschichte von Millionen, die sich auf den Weg machen und eine neue, bessere Zukunft suchen. Mehr: berndhendricks.com
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Seitenzahl: 229
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Disclaimer
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Dank
Weitere Roman-Veröffentlichungen
Handlung und Personen dieses Romans sind frei erfunden.
Übereinstimmungen mit toten oder lebenden Personen, mit Orten, Institutionen und Ereignissen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
This is a work of fiction. All of the characters, places, organizations, and events portrayed in this novel are either products of the authors imagination or are used fictiously.
Texte Copyright © Bernd Hendricks 2013, Berlin, Deutschland
Verlag: www.berndhendricks.com
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN
Erstellt mit Vellum
Hunger haben ist etwas Menschliches. Papiere haben ist etwas Unmenschliches, etwas Unnatürliches.
(B. Traven, aus: Das Totenschiff)
Als er aufwacht, hat er keine Heimat mehr und keine Erinnerung.
Vor seinen Augen erstreckt sich eine braunrote Insel, und nur der Waschmittelgeruch erinnert ihn daran, dass er auf einem Kopfkissen liegt. Er langt nach der Insel und spürt einen Schmerz in der Schulter und dann einen Stich in seiner Augenbraue, und seine Hand erfühlt, was er sich schon denkt: Das ist sein Blut, das da in der Nacht getrocknet ist.
Der Weg zum Badezimmer gleicht einer Passage durch ein Kriegsgebiet. Seine Jeans liegt im Spagat vor dem Bett, und wie es scheint, haftet auch an ihr getrocknetes Blut; ein Schuh daneben, ein anderer Schuh an der Tür. Der Kleiderschrank ist aufgerissen, und die Hemden, die er zu Hause mit so viel Mühe gefaltet und hier aus dem Koffer gehoben hat, als wären sie Babys, liegen zerfleddert auf dem Boden und strecken die Ärmel aus. Er bemerkt, dass sein Rucksack fehlt.
Im Spiegel des Badezimmers erkennt er sich nur am Kastanienbraun seiner Augen und an der Angst und dem Wehen darin. Über dem linken Auge klafft eine Wunde. Das Blut hat die Braue rot gefärbt. Die rechte Wange ist geschwollen, die linke überquert ein Kratzer. Er öffnet den Mund, will seinen Schrecken ausschreien, aber heraus fällt nur ein Raspeln, ein trockenes Nichts. Seine Unterlippe zittert. Er tritt vom Spiegel weg und hört schließlich einen Schrei. Die Reinemachefrau steht im Zimmer, inmitten der Trümmer der letzten Nacht. Sie rennt weg, als er aus dem Badezimmer tritt.
Der Hotelwirt kommt, ein Mann mit großen Händen und kleinen Füßen. Er gibt ihm Tequila und sagt was von dolor de cabeza und drückt ihm Pillen in die Hand. Der Hals schmerzt beim Schlucken, aber der Tequila rinnt sein Inneres hinab und tröstet und nach ein paar weiteren Schlucken umfängt der Tequila sein Äußeres. Nach einer Weile wiegen ihn die Pillen und erwärmen sein Hirn und er weiß nicht, ob er auf dem Bette liegt oder auf dem Bette sitzt. Bevor er einschläft, fragt er sich, warum die Polizei nicht kommt, warum der Wirt sie nicht gerufen hat.
Aber das hier ist doch Tijuana. Das ist die Stadt, vor der man jeden Reisenden warnt, nichts für Touristen, oder nur für solche, die zu den Stränden, den Playas de Tijuana, wollen, sonst eine Fabrikstadt, die über ihre Hügel und Hänge eine Decke aus Smog und Angst und weißen, grauen, braunen Betonbauten gelegt hat. Slums ziehen einen Ring um die Stadt, mit jedem Tag fester, ohne Bäume und Gesetzlichkeit. Eine Million Menschen leben hier, und tausend von ihnen sterben jedes Jahr. Man hört die Schüsse schon am Nachmittag, und nachts lässt man die Toten auf den Straßen liegen. Die Lebenden sollen sich am Morgen der Allmacht der Kartelle erinnern.
Das hat er gewusst. Deshalb wollte er nur einen Tag in Tijuana bleiben. Tijuana sollte der Beginn seiner Reise durch Mexiko werden, und dennoch wähnte er diese Stadt weit genug von Colorado, um hier seinen ersten Halt zu machen, weit genug von der Scheidung, von Rosa und ihrem Anwalt.
Die Scheidung war laut und hässlich. In den letzten Wochen ihrer Ehe hat mehr Drama gesteckt, mehr Leben, wie er fand, als in den zwölf Jahren davor. Sie hatten sich auseinander geschwiegen. Mit jedem ungesagten Wort waren sie weiter voneinander abgerückt. Mit jedem Missverständnis war die Wut gewachsen, und mit jedem Bissen Wut, den sie herunterschluckten, der Drang, etwas zu tun, irgendetwas, was befreit. Er betrog sie schließlich mit Heather, ihrer Kollegin, und zum ersten Mal sah er Rosa toben. Sie warf seine Sachen aus dem Fenster, die Koffer hinterher. Sie wechselte die Schlösser ihres Hauses aus und redete mit ihm fortan nur noch über ihren Anwalt. Da stand er, die Eltern tot, ohne Verwandte. Die paar Freunde, die er hatte, waren Rosas Freunde. Die löschten seine E-Mails und ignorierten seine Telefonnachrichten.
Er besann sich auf seine alte Nachbarschaft in Aurora, der Stadt in Denvers Schatten, in der er aufgewachsen war, und fand Mister Chung, den alten Gemüsehändler, der ihn seit seiner Kindheit kannte, der ihn mit Schokolade bezahlt hatte, wenn er nach der Schule Obst und Gemüse sortierte. Ein Zimmerchen grenzte an den Ladenraum, Tisch, Stühle, eine Liege, Kisten mit Kimchi und Konserven. Mister Chung lud ihn ein zu bleiben, solange er keine andere Bleibe fände, ideal, den Umständen entsprechend, denn seine Arbeit war drei Meilen entfernt.
Er ist Ingenieur. Er entwirft, verbessert und repariert Maschinen. Das Unternehmen, Brown Packing Machines & Tools, ist klein, hat hundert Angestellte, aber die Verpackungsmaschinen, die es produziert, liefert es nach Kanada, entlang der Westküste, nach Japan. Mister Brown, der Gründer, Besitzer, Geschäftsführer, hat einen Blick für die großen Bewegungen im Weltmarkt und für die kleinsten Abweichungen im Benehmen seiner Angestellten. Ihm ist nicht seine Blässe, seine Fahrigkeit entgangen. Er hat ihn ins Büro gerufen, sich die Geschichte von Rosa und der Scheidung erzählen lassen und ihm freigegeben, zwei Wochen unbezahlt, auch drei, wenn er wollte. Eine Reise möge er machen, sagte Brown, vielleicht ins Ausland, in die Sonne, an den Strand, den Kopf befreien. Mister Brown hat ein Herz und ein Gespür für günstige Gelegenheiten. Das Geschäft läuft schlecht im Moment. Je mehr Ingenieure eine Auszeit nehmen, desto besser.
Ihm schwebte eine Autotour durch Mexiko vor, ein alter Traum: die Sierra Madre, die Strände von Acapulco, die Ruinen der Mayas. So ist er nach San Diego geflogen, hat sich ein Auto gemietet und entgegen der Klausel im Automietvertrag, es nur in den USA zu benutzen, ist er über die Grenze gefahren. Er sieht es vor sich, als er ein paar Stunden später wach wird: ein weißer Sedan, den er zwei Seitenstraßen vom Hotel entfernt geparkt hat, unter einer Straßenlampe, gegenüber einer Überwachungskamera. Seine Gedanken sind klar, wenngleich er nur vier Stunden geschlafen hat. Sein Gesicht schmerzt noch, aber unter der Dusche kehren Energie und Frische in seinen Körper zurück. Er versucht, den Ablauf des gestrigen Abends zu rekonstruieren: Er überquert die Grenze, findet den Parkplatz, meldet sich im Hotel an, bezieht sein Zimmer, spaziert dann durch die Nachbarschaft, bis er ein kleines Restaurant findet. Er isst Fisch und trinkt ein Glas Wein. Er fühlt die Sonne auf seinem Gesicht, als er das Restaurant verlässt. Die Schatten liegen lang und verdunkeln schon die Straßenecken. Irgendwo zwischen Restaurant und Hotel muss man ihn überfallen haben. Wie er in sein Zimmer gekommen ist, weiß er nicht.
Sein Rucksack ist weg, und damit auch Geldbörse, Kreditkarten, Mobiltelefon, Fahrerlaubnis und Reisepass. In der Geldbörse haben etwas mehr als 3.000 Pesos gesteckt. Das sind 250 Dollar, seine Barschaft für die Reise. Nur die Autoschlüssel sind ihm geblieben. Sie stecken in seinen Jeans.
Unten an der Rezeption lässt der Hotelwirt ihn telefonieren. Er ist froh, dass sein Gedächtnis für Telefonnummern ihn nicht trügt. Er ruft seine Bank in Colorado an und bittet, seine Kreditkarte zu sperren. Er fragt, wo es in Tijuana eine Partnerbank gibt, in der er Zugang zu seinem Konto haben kann. Es gibt eine Partnerbank, ist die Antwort, aber sie werde ihm nicht helfen können, solange er keinen Reisepass vorzeigen könne.
Der Wirt lässt ihn an den Hotelcomputer. Er ermittelt die Adresse des US-Konsulats in Tijuana: Paseo de las Culturas. Der Wirt spricht Kauderwelsch, eine Mischung aus spanischen Wörtern und Wörtern, die nach Englisch klingen, und obwohl er diese Worte kaum verstehen kann, begreift er sein Anliegen: Der Mann sorgt sich um sein Geld fürs Zimmer. Er klopft dem Wirt auf die Schulter. Keine Sorge, versichert er. Alles wird gut. Er werde zum Konsulat gehen, zum Konsulat der Vereinigten Staaten von Amerika, wie er betont, als wäre die Erwähnung seines Landes bereits eine Zahlungsgarantie, eine Sicherheit für Kreditoren, eine Kapitalanlage an sich. Dort, fährt er fort, werde man ihm provisorische Ausweispapiere geben, und mit denen werde er bei der Bank Geld bekommen und dann die Hotelrechnung begleichen können.
Er ist sich der Wohlfahrt durch sein Land so sicher, dass er dem Wirt den Autoschlüssel als Pfand anbietet, und da der Wirt den Schlüssel anstarrt, da er erkennt, dass der Wirt sein Misstrauen nicht aufgeben will, zeichnet er auf eine Serviette, wo er das Auto finden kann. Der Wirt nimmt schließlich den Schlüssel an. Sein Handgelenk umwindet eine Tätowierung, eine Schlange, die ihren Kopf zum Handrücken dreht.
Das Konsulat ist umgeben von Pollern und Palmen, ein schlichtes Gebäude in warmem Braun, vor dem bereits viele Menschen warten. Ihre Gesichter sind ernst und braun wie das Haus, und er weiß sofort, dass sie Mexikaner sind, dass diese Menschenreihe nicht seine ist, ihr Eingang nicht sein Eingang. Sein Eingang ist leer und offen. Darüber hängt ein Schild: “Services für Bürger der USA”.
Auf diesen Eingang läuft er zu, die Wartenden entlang und stellt sich die neidischen Blicke vor, mit denen sie ihm folgen. Mit jedem Schritt wächst sein Selbstbewusstsein, und zum ersten Mal nach dem grauenhaften Erwachen an diesem Morgen fühlt er sich wieder sicher. Er ist stolz, ein amerikanischer Staatsbürger zu sein, ein Bürger des größten und großartigsten Landes der Welt, das jeden seiner Bürger schützt, wenn er im Ausland in Nöten ist, ganz gleich ob arm oder reich, schwarz oder weiß, Mann oder Frau, wichtig oder gewöhnlich.
Die Konsularangestellte ist jung und hört sich seine Geschichte an. Ihr Blick streift seine geschwollene Wange und die Wunde über der Braue. Sie füllt einen Zettel aus und bittet ihn zu einem Schalter. Dahinter sitzt eine Frau, blond, älter, erfahren. Sie fällt Entscheidungen, denkt er. Sie studiert Formulare, telefoniert, geht noch einmal weg und kehrt mit einem Becher Kaffee zurück, die andere Hand in der Tasche ihres Hosenanzugs, mit einer Behaglichkeit, als bewegte sie sich einer Couch zu, als wäre dieses Gebäude ihr Heim, ihre Heimat selbst. Sie gleitet in ihren Bürostuhl und winkt ihn heran. Sie lächelt.
“Sie haben Ihren Reisepass verloren?”, fragt sie.
“Man hat ihn mir geraubt.”
“Wann?”
“Gestern Abend.”
“Haben Sie ein Polizeiprotokoll?”
“Nein. Glauben Sie, es ist sinnvoll hier zur Polizei zu gehen?”, fragt er.
“Jetzt nicht mehr, beinahe 24 Stunden nach dem Überfall. Wir erkennen nur Polizeiberichte an, die unmittelbar nach der Straftat angefertigt wurden. Wie heißen Sie?”
“Neil Winter.”
Sie schreibt an ihrem Computer.
“Mittelname?”
“Norman.”
“Wann und wo geboren?”
“Am elften Dezember 1976 in Aurora, Colorado.”
“Wohnort?”
“Aurora, Colorado.”
“Ihre aktuelle Adresse?”
“Neil Winter, zu Händen Mister Chung, Eins Zwei Fünf West Jefferson Drive, Aurora, Colorado.
“Mister Winter, von wann ist ihr Reisepass?”
“Keine Ahnung. 2000, 2001. Keine Ahnung.”
“Hatte es einen Chip? War es ein biometrischer Reisepass?”
“Nein.”
“Sie haben meiner Kollegin gesagt, dass Sie keine persönlichen Dokumente vorweisen können.”
“Alles weg.”
“Fahrerlaubnis, Kreditkarte.”
“Ich war so dumm, all meine Sachen im Rucksack zu lassen.”
“Sozialversicherungskarte, irgendeinen Klubausweis, irgendetwas, das Ihre Identität beweisen kann?”
“Nein.”
“Was ist Ihr Beruf?”
“Ingenieur.”
“Firmenausweis vielleicht?”
“Nein.”
“Sie wohnen hier in einem Hotel?”
“Ja.”
“Die Rezeption muss bei Ihrer Anmeldung Ihren Namen und Ihre Passnummer festgehalten haben.”
“Es ist ein billiges Hotel. Es läuft ohne Anmeldung.”
“Sir.” Sie beugt sich vor und schaut ihm in die Augen. “Wir brauchen ein Dokument, das beweist, dass Sie Bürger der Vereinigten Staaten sind. Sonst kann ich Ihnen nicht helfen. Besorgen sie es in Aurora.” Sie nimmt einen Schluck aus dem Becher. “Ich hoffe, das Hotel hat wenigstens ein Telefon.” Ihm entgeht nicht der Sarkasmus in ihrer Stimme.
Er sagt nichts. Er tut, was er immer tut, wenn er nicht mehr weiter weiß, vor einer Maschine, die zu laufen aufgehört hat, oder vor einem Menschen, dessen Argumente er nicht versteht: Er wartet auf einen Einfall. Und als sie sich verabschieden und sich wieder den Formularen zuwenden will, kommt ihm der Einfall.
“Ich habe ein Mietauto aus San Diego.”
“Ja?”
“Wenn ich Ihnen die Autonummer sage und wenn Sie die Verleihfirma anrufen, könnten die meine Angaben bestätigen.”
Sie denkt, wägt ab.
“Ich glaube, das ist eine gute Idee,” sagt sie schließlich.
“Ich muss gestehen, ich durfte das Auto nicht über die Grenze nehmen.”
“Das müssen Sie mit der Verleihfirma ausmachen. Nennen Sie mir die Autonummer.”
“Ich habe sie nicht im Kopf. Ich müsste zum Auto laufen und sie aufschreiben. Kann ich Sie anrufen?”
“Nein. Sie müssen persönlich kommen.”
Sie schaut auf die Armbanduhr. “Wir schließen in fünfzig Minuten.”
Seine Füße tragen ihn so geschwind, dass er auf dem Gesicht den Luftzug vom Laufen spürt. Das tut ihm gut und lindert das Schrinnen im Gesicht. Er biegt in die Seitenstraße, und da er das Auto nicht sieht, glaubt er im ersten Moment, am falschen Ort zu sein. Er geht zurück, aber er hat sich nicht getäuscht. Da ist das Schild des Hotels, gegenüber hängt die Überwachungskamera, hier die Straßenlampe, und darunter, an dieser freien Stelle am Bordstein, sollte das Auto stehen. Er rennt zum Hotel, brüllt den Wirt an. Sein Blick hetzt über den Tresen, nichts als Kaffeeflecken und Illustrierte. Er verlangt den Autoschlüssel. Der Wirt holt den Schlüssel aus der Schublade, hält ihn zwischen Zeigefinger und Daumen und stellt auf Spanisch eine Frage. Winter will den Schlüssel ergreifen, aber der Wirt zieht seine Hand zurück; der Schlangenkopf lauert auf der Haut. Der Wirt speit ihm ein paar Worte entgegen. Winter versteht die Worte nicht, doch er spürt den Hass, mit dem sie geladen sind. Der Wirt greift unter die Ladentheke und holt einen Baseballschläger hervor, und bevor sein Körper um die Theke schaukeln kann, seine Masse verdoppelt von Rage, springt Winter auf die Straße.
Er rennt los in Panik, um des puren Überlebens willen, aber soweit funktioniert sein Verstand noch, dass er zwischen parkende Autos auf die Fahrbahn läuft. Was der dicke Wirt umrunden oder als Unfallgefahr fürchten muss, würde Winter zum Vorteil gereichen, ihm ein paar weitere Schritte Vorsprung geben. Hupend rast ein Wagen vorbei. Winter rammt beinahe ein Moped. Er hört Rufe, vom Mopedfahrer vielleicht oder gar vom Wirt. Drüben mündet eine Seitenstraße, und wie von Sinnen, entgegen alle Vorsicht, gegen seine innerste Natur überquert er die Straße, ohne sich umzusehen. Er erwartet einen Aufprall, einen Knall, Splittern von Glas, den Flugwind, bis er auf die Straße aufschlägt, aber nichts von dem tritt ein. Er lässt ein entgegenkommendes Auto vorbei, stürzt in die Seitenstraße, und für einen winzigen Moment sieht er sich selbst vor sich, die abstehenden Haare, die hochgezogenen Schultern, die Arme, die er gerade hochreißt, sein Ebenbild, mattiert von einer Windschutzscheibe. Er fühlt metallische Wärme an seinen Handflächen, er hebt ab, hängt in der Luft, dann berühren seine Füße wieder den Boden. Winter steht, vor ihm die Motorhaube eines Autos, das gerade zurückfedert. In dem Augenblick, als er aus der Hauptstraße gesprungen ist, muss es vorgerollt und im Begriff gewesen sein, anzuhalten; perfektes Timing.
Auf der Motorhaube prangt ein goldener Stern, der ihn an das Pentagon-Gebäude in Washington erinnert, allerdings mit einem Zacken zuviel. Darüber steht geschrieben: Policia.
Der Polizist von der Beifahrerseite ist bereits ausgestiegen.
“Identificatión”, fordert er. Ausweis.
“Kein Ausweis”, sagt Winter. “Gestohlen. Mein Auto. Gestohlen.”
“Estadounidense?” US-Bürger?
“Ja”, sagt Winter.
Der Polizist von der Fahrerseite steht zwischen Karosse und geöffneter Tür.
“Pase”, sagt er.
“Kein Pass. Gestohlen. Alles gestohlen. Mein Auto ist weg.”
Die Polizisten sehen sich an.
“Einsteigen”, sagt der Fahrer.
Winter zeigt nach hinten.
“Mein Auto. Der Mann vom Hotel. Er kommt.”
“Einsteigen. Bitte.” Der Polizist von der Beifahrerseite steht neben ihm. Er ist so groß wie Winter, aber Winter scheint, als überragte er ihn mit seinem kurzen Nacken, seinen breiten Schultern, diesem Torso wie ein Eichenbaum, pure Macht und Muskelkraft unter weißem Diensthemd.
“Einsteigen”, wiederholt er.
Winter fühlt sich erst sicher, als er in dem Wagen sitzt. Er stellt sich den Gesichtsausdruck des Wirtes vor, wie er von Wut in Schrecken umschlägt, da ihn nicht Winter, sondern Winter samt Staatsmacht konfroniert. Aber als die Polizisten miteinander zu reden beginnen statt anzufahren, kehrt die Panik zurück. Was ist, wenn der Wirt jetzt auftaucht und Winter anklagt, ihn geprellt zu haben? Wessen Wort hat Gewicht? Das des lauteren Geschäftsmanns, der hier sein kleines Hotel betreibt, oder das des Ausländers ohne Papiere, dessen blaugeschlagenes Gesicht eine Person zeigt, die in Ärger verwickelt ist?
Der Wagen setzt zurück, wendet und fährt dorthin, woher er gekommen ist, weg von der Straßenecke. Winter wüsste gern, was die Polizisten mit ihm vorhaben. Er denkt ans Konsulat und an die Schließungszeit, die immer näher rückt. Aber er unterlässt es zu fragen. Er muss sich beruhigen, sich sammeln. Sein Hemd ist nass vor Schweiß, die Rückenlehne kühl. Er rückt ab, sein Hemd klebt auf der Haut. Die Polizisten haben die Klimaanlage im Auto hochgedreht.
Die Fahrt währt nicht lange, sie endet vor der Polizeistation. Vielleicht, denkt Winter, hat jemand seinen Reisepass dort abgegeben und die Polizisten wollen das Passfoto mit seinem Gesicht vergleichen. Trotz seines ramponierten Zustands dürfte er zu erkennen sein. Und da sie ihm die Tür offenhalten, da der Beifahrer ihm dabei lächelnd zunickt, gibt es für Winter keinen Grund, an der Redlichkeit der mexikanischen Polizei zu zweifeln. Sie geleiten ihn vorbei an leeren Schreibtischen, an Leuten, die über einen Tresen gebeugt mit Beamten reden, an Büroräumen, in ein leeres Zimmer. Ein Fenster ist geöffnet. Verkehrsrauschen schwappt hinein. Kein Stuhl, kein Tisch, die Wände sind weißgetüncht.
Die Polizisten bleiben an der Türe stehen.
“Woher kommen Sie? De donde?”, fragt der Bullige.
“Aurora, Colorado.”
“Seit wann sind Sie in Mexiko?”
“Seit gestern. Man hat mich gestern Abend ausgeraubt.”
“Sie sind erst einen Tag in Mexiko?”, fragt der andere.
“Ja, und am ersten Abend meiner Reise schlägt man mich und stiehlt meine Dokumente.”
“Sie sind erst einen Tag in Mexiko und haben schon drei Mal gegen die Gesetze des mexikanischen Staates verstoßen?”
“Ich habe was?”
“Sie sind über eine Hauptstraße gelaufen. Das ist gegen die Verkehrsregeln. Numero dos: Sie sind vor ein Polizeiauto gesprungen. Sie haben die Polizeiarbeit von Tijuana behindert.”
“Puh”, sagt der Bullige und schüttelt den Kopf, als könnte er es nicht glauben. “Y numero tres”, sagt der, “Sie sind in der Stadt Tijuana ohne identificatión.”
“Das ist nicht Estados Unidos, hier”, sagt der Fahrer, “hier muss man eine identificatión haben.”
“Aber”, sagt der Bullige, “aber es ist Ihr erster Tag in Mexiko. Und da wollen wir unsere Gastfreundschaft zeigen. La hospidalidad. Wir wollen Sie nur mit una multa pequeña verwarnen.”
“Multa?”, fragt Winter und ahnt, was kommt. Der Raum hat keine Uhr. Er will nur zurück ins Konsulat, für ihn in diesem Moment der sicherste Platz in dieser Welt.
“Una multa. Wie sagt man auf Englisch?”, fragt der Fahrer. “Geld. Eine Strafe. Geld als Strafe.”
“Ich habe kein Geld. No dinero. No identificatión. Gestohlen. Geraubt. Gangster. Letzte Nacht.”
Winter reißt die Arme auseinander, steht da, als wollte er gekreuzigt werden.
“Ausziehen”, sagt der Bullige.
Winters Arme sind noch immer gespreizt. Er merkt, er verzerrt sein Gesicht, und die Lippen schmerzen, weil sie spröde sind, aber er muss seine Zähne zeigen, muss etwas machen, was wie ein Lächeln aussieht, das Lächeln des Gekreuzigten.
“Ausziehen”, sagen beide.
Er fühlt eine Hand an seinem Hemd, an den Knöpfen, sie zieht an den Manschetten. Das Hemd fällt schwer, es ist doch noch vollgeschwitzt; zwei Hände an seinem Gürtel, am Hosenknopf, die Hose fällt, und kühle Luft weht um seine Beine.
Winter begreift, dass es seine Hände sind, die all dies tun und das mutet ihn so komisch an, dass er lachen muss und so lacht er, trockene Stöße, die in kurzen Abständen aus seiner Kehle fliegen.
“Die Schuhe”, sagen die Polizisten.
“Die Schuhe?”, sagt Winter und lacht. Er muss lachen, er darf nicht aufhören zu lachen, denn sonst würde die Scham ihn übermannen, ihn niederwerfen, zerdrücken. Nie zuvor hat er eine solche Erniedrigung erleiden müssen, und dennoch fühlt er ein bisschen Stolz. Er hat ein Gegengift gefunden, sofort, intuitiv, das giftige Lachen, das die Scham betäubt.
Er hört erst auf zu lachen, als die Polizisten sich vom Fleck bewegen. Sie laufen um ihn herum, er starrt sie an. Sie stochern mit ihren Stiefeln in seine Kleider, stupsen seine Schuhe an, wenden sie. Der Bullige schaut auf Winters Unterhose, das einzige, was er noch trägt, und er würde verlangen, auch sie auf dem Boden zu sehen, nähme der andere nicht die Hose zur Hand. Er besieht sich den Gürtel, die Koppel.
“Plata? Silber?”
Winter nickt. “Sicher.”
Er lügt, es ist Stahl, aber er muss ihnen etwas geben und sie müssen etwas nehmen.
Der Bullige befühlt die Koppel. Er weiß, es ist Stahl.
“Si”, sagt er. “Silber.”
Und jetzt, halbnackt, wie er ist, streckt Winter seine Brust heraus, hebt seinen Kopf.
“Ich will mit einem Repräsentanten der Vereinigten Staaten von Amerika sprechen. Sie haben kein Recht, einen Bürger der USA so zu behandeln.”
“Wir verstehen Ihre Bedenken”, sagt der Fahrer.
“Ich will telefonieren, sofort.”
“Leider sind die Telefone besetzt”, sagt der Bullige. “Wir sind im Krieg gegen die Kriminalität, los narcotráficos, Räuber überall. Wir brauchen jedes Telefon, denn die braven Bürger Tijuanas geben uns viele Tipps. Permanent.”
“Wissen Sie was?”, sagt der Fahrer. “Wir fahren Sie zum Konsulat.”
Sie verlassen den Raum, als Winter sich anzieht. Sie bieten ihm Kaffee an. Draußen öffnen sie ihm die Autotür. Den Gürtel sieht Winter nie wieder.
Die Konsularbeamtin hat ihren Schalter bereits aufgeräumt und ihre Jacke angezogen. Sie runzelt die Stirn, als er ihr die Geschichte erzählt. Als er über die Polizisten zu klagen beginnt, unterbricht sie ihn. Sie wiederholt, was sie bei seinem ersten Besuch gesagt hat. Er möge einen Beweis für seine Staatsbürgerschaft vorlegen, seine Geburtsurkunde, eine Steuererklärung, was auch immer. Wenn er solche Dokumente schon nicht in Tijuana auftreiben könne, so doch in Aurora, Colorado, von Verwandten, Kollegen, Freunden. Winter lässt sich nicht beirren. Er sei Opfer der Polizei in Tijuana. Das Konsulat möge bei den mexikanichen Behörden Protest erheben und eine Untersuchung verlangen. Nochmals, erklärt die Beamtin, sie könne nur etwas unternehmen, wenn er seine Staatsbürgerschaft belege.
“Dann geben sie mir das Telefon”, sagt Winter.
Sie schaut auf die Uhr und schiebt ihm das Telefon hin.
“O.K.”, seufzt sie. “Ein Anruf. Fünf Minuten.”
Jetzt, da das Telefon vor ihm steht, weiß er nicht, wen er anrufen soll.
Er denkt an Mister Brown. Er könnte das Büro bereits verlassen haben und sich mit Zulieferern oder Kunden treffen, die gerade in der Gegend sind. Laura, seine Sekretärin, ist nett und freundlich, aber sie unternimmt normalerweise nichts, was Mister Brown stören könnte.
Er denkt an Heather. Sie hat die Beziehung abgebrochen, als die Affäre herausgekommen war, und sofort ihren Job gekündigt, ohne Rosa noch einmal zu begegnen. Seine Anrufe hat sie ignoriert, seine Textnachrichten nie beantwortet. Vielleicht hat er Glück, vielleicht geschieht jetzt ein kleines Wunder. Er wählt ihre Nummer und hört eine Ansage: Die gewählte Rufnummer ist nicht mehr in Betrieb.
Er drückt die Gabel. Die Beamtin schaut ihn an.
“Verwählt”, lügt er. “Ich bin nervös.”
Er denkt an Rosa. Trotz der Scheidung, der Wunden, der Verachtung, ist da immer noch diese Bindung, die nach zwölf Jahren Ehe die andere Person zu einer besonderen macht, die man nie rauskriegt aus der eigenen Seele. Selbst, wenn er Jahre nichts von ihr gehört hätte, würde sie ihm helfen in der Not, mürrisch zwar, aber ohne Zögern, einfach nur, um ihn wieder loszuwerden. Rosa könnte die Heirats- und Scheidungsdokumente kopieren und ins Konsulat faxen. Er muss es wagen. Er wählt, und beim zweiten Ruf hört er ein Schnaufen, nicht Rosas Schnaufen, das weiß Winter sofort.
“Ja?” Hart, aggressiv, ein Mann.
Winter verschlägt die Stimme.
“Hallo?”, fragt der Mann.
“Ist Rosa da?”, bringt Winter hervor.
“Mit wem spreche ich?”
“Winter, Neil Winter, ihr Ex-Mann. Es geht um einen Notfall.”
“Es ist Neil”, ruft der Mann nach hinten. Er spricht seinen Vornamen aus, als ob er ihn schon lange kennen würde. Winter muss Gegenstand von Gesprächen sein, von Rosas Verwünschungen, tränenreich in die Nacht gestoßen, während sie in den Armen dieses Fremden liegt.
Im Hintergrund hört er Rosa etwas sagen.
“Sie will nicht mit dir sprechen,” sagt der Mann. “Es ist besser, du rufst hier nicht mehr an.”
“Ein Notfall”, antwortet Winter. “Ich stecke in Tijuana fest.” Aber seine Worte fallen bereits ins Leere. Der Mann hat eingehängt.
Winter blickt den Hörer an, bis die Hand der Frau danach fasst, ihn zurücklegt aufs Telefon.
“Versuchen Sie es morgen nochmal. Wir schließen jetzt.”
Winter schüttelt den Kopf. “Wo soll ich bleiben? Ich habe kein Geld. Kann das Konsulat mir Geld leihen?”
“Es tut mir Leid.”
“Einen kleinen Kredit. Ich zahle ihn sofort zurück, wenn alles geklärt ist.”
“Einen Notkredit geben wir nur an Staatsbürger der Vereinigten Staaten.”
“Ich bin Staatsbürger.”
“Zeigen Sie mir ein Dokument, das Sie als Staatsbürger ausweist. Sie bekommen dann sofort einen Kredit.”
Zwei Männer in Uniform nähern sich, der Wachdienst.
“Sie müssen jetzt gehen”, sagt sie und dreht sich um.
Der Vorplatz des Konsulats ist leer, die Schlange verschwunden. Winter läuft zurück, biegt irgendwo ab, stößt auf die Mauer, die Tijuana vom großen Nachbarn im Norden abschneidet und die angrenzenden Häuser überragt. Er wandert sie entlang. Die Abendsonne verfängt sich im Stacheldraht, und die Mauer wirkt, als stünde sie in Flammen.
Dahinter, daran kann Winter sich erinnern, zieht sich eine Straße für Grenzpatrouillen, stehen Türme mit bewaffneten Posten und Gestelle mit Scheinwerfern. Das ist die mächtigste Grenzbefestigung der Welt. Auf der Hinfahrt hat Winter sie bewundernd angeschaut. Amerika gibt Obdach den Verfolgten und Geschundenen, und ist doch Festung zugleich, hat er sich gesagt, Festung der Freiheit.
Winter wandert und wartet auf eine Idee, die ihm etwas über sein Schicksal an diesem Abend sagt. So viel weiß er bereits, dass er morgen wieder im Konsulat vorsprechen und das Gebäude nicht eher verlassen wird, bis man ihn als Staatsbürger anerkennt und ihm Reisepapiere für die Rückkehr nach Colorado gibt.
Winter ist hungrig. Er hat den ganzen Tag nichts gegessen. Und in dieser Nacht, in nur ein paar Minuten lernt er, dass Hunger allen in seinem Leben mühsam erworbenen Anstand und alle Würde löscht.
Winter kehrt zur Innenstadt zurück, lungert vor Restaurants herum, beobachtet die Tische auf den Gehsteigen. Zwei Mal, nachdem die Gäste gegangen sind, noch bevor der Kellner auftaucht, nimmt er sich Essensreste von den Tellern, ein paar kalte Pommes Frites, einen halben Burrito, abgekaute Hähnchenflügel, einfach so, geht zur Häuserecke und vertilgt, was er in den Händen trägt. Das Geld, das auf den Tischen liegt, von den Gästen als Trinkgeld hinterlassen, rührt er nicht an. Geld zu nehmen ist Diebstahl, denkt er, Knochen zu nehmen ein Service.
Dunkelheit bricht ein. Wolken verhängen den Mond. Auf den Straßen erstirbt das Leben. Winter ist müde. Er findet einen Platz, halb Plaza, halb Park, mit Brunnen und Büsten von Generälen und Palmen und Beeten duftender Blumen. Er setzt sich auf eine Bank, nickt ein und einmal, im Halbschlaf, bemerkt er, dass er sich bereits darauf ausgestreckt hat. Seine Füße ruhen auf dem Abfallkorb neben der Bank.