Wir Eltern sind auch nur Menschen! - Jörg Mangold - E-Book

Wir Eltern sind auch nur Menschen! E-Book

Jörg Mangold

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  • Herausgeber: Arbor
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Ein Selbsthilfebuch: Von der Neurowissenschaft zur konkreten Anwendung im Familienalltag Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Fritz Mattejat Stimmen zum Buch: "Dieses bahnbrechende Buch ist ein wunderbarer Begleiter für alle, die durch die Höhen und Tiefen des Elternseins gehen. In einem leichten, einladenden Stil geschrieben, bietet Jörg Mangolds Buch einen frischen Denkansatz, der Achtsamkeit und Selbstmitgefühl verbindet, um die unvermeidlichen Herausforderungen der Elternschaft zu bewältigen. Er zeigt Ihnen Schritt für Schritt, wie Sie die Eltern werden, die Sie schon immer sein wollten. Und wenn Sie es nicht sind, wie Sie sich selbst die liebevolle Güte schenken, die Sie verdienen. Sehr empfehlenswert!" Christopher Germer, Klinischer Psychologe und Dozent an der Harvard Medical School in Boston, Autor des Buches Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl und Mitentwickler des Kurses Achtsames Selbstmitgefühl (Mindful Self-Compassion) "Es ist nicht immer einfach, Vater oder Mutter zu sein. In diesem mit leichter Feder geschriebenen Buch verknüpft Jörg Mangold alte Weisheit und die sanfte Kraft des Selbstmitgefühls mit neuen Erkenntnissen aus der Neurowissenschaft und seinen eigenen Erfahrungen als Kinder- und Jugendpsychiater sowie als Vater. Das vorliegende Buch ist bestens geeignet, Eltern zu helfen, ihr Leben mit allen Herausforderungen zu meistern und sich selbst und ihren Kindern - die es auch nicht immer leicht haben mit ihren gestressten Eltern - mit mehr Achtsamkeit und liebevoller Güte zu begegnen." Frits Koster, Meditationslehrer und Mitentwickler des 8-wöchigen achtsamkeitsbasierten Kurses in Mitgefühlspraxis (MBCL Mindfulness-Based Compassionate Living) "Dieses großartige und hilfreiche Buch ist wissenschaftlich fundiert und mit dem Herzen geschrieben. Jörg Mangold überführt die Theorie in den Alltag. Jede Seite lebt von seiner einfühlsamen Art, tiefen Einsichten und lebenspraktischen Anregungen. Hätte es dieses Buch doch schon gegeben, als wir unsere Kinder großgezogen haben." Rick Hanson, Neuropsychologe, Autor von Das Gehirn eines Buddha

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Seitenzahl: 380

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Jörg Mangold

WirEltern sind auchnur Menschen!

Jörg Mangold

WirEltern sind auchnur Menschen!

Selbstmitgefühl zwischenSäbelzahntiger und Smartphone

Ein Selbsthilfebuch

Von der Neurowissenschaft zur konkreten Anwendung im Familienalltag

Mit einem Vorwortvon Prof. Dr. Fritz Mattejat

© 2018 Jörg Mangold

Arbor Verlag GmbH Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2018

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Drucklegung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen und verlagsüblich zu nen-nen. Sollte uns dies im Einzelfall einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-233-7

Allen Familien gewidmet,und aus tiefstem HerzenAndrea, Johannes, Julia, Lea, Leonie

Inhalt

Zum Geleit

Vorwort

Einleitung

KAPITEL 1 Unser trickreiches Elternhirn

1.1 Warum wir als Eltern so ticken, wie wir ticken – vor allem wenn’s schnell gehen muss oder stressig ist

1.2 Das Gehirn hat eine Geschichte

1.3 Der Chef sitzt oben, der Dino geht unten rum –Der obere und der untere Reaktionsweg des Gehirns

1.4 Bin ich im roten, blauen oder grünen Bereich?

KAPITEL 2 Mit dem Dino-Gehirn unterwegs in unserer modernen Welt voller Optimierungsfallen

2.1 Der Angstmacher

2.2 Welche Farbe treibt uns an in der Lebenswelt 3.0?

2.3 Die dreifache Optimierungsfalle

2.4 Wir nehmen uns zu wichtig als Eltern und leiden darunter

KAPITEL 3 Der Wert des Selbstmitgefühls und der Achtsamkeit für uns Eltern und unsere Kinder

3.1 Was ist Selbstmitgefühl?

3.2 Alte Weisheit in neuen Büchern

3.3 Das Mitgefühl

3.4 Was ist eigentlich Achtsamkeit?

3.5 Hin zum Angenehmen – weg vom Unangenehmen

3.6 Die innere mitfühlende Stimme entwickeln

3.7 Der Innere Rat der Beschützer

3.8 Bedenken gegen Selbstmitgefühl

3.9 Verurteilende Selbstkritik oder Selbstkorrektur mit mitfühlender Stimme?

3.10 Welchen Wolf füttere ich?

3.11 Wenn Selbstmitgefühl Schmerzen macht –Über Wirkungen und Nebenwirkungen

KAPITEL 4 Alte Muster auflösen und neue Wege gehen

4.1 Hilfe, ich hör mich an wie meine Mutter oder mein Vater!

4.2 Kurzanleitung zur Zähmung der Schema-Modi

4.3 Den Erzieherhut mal an den Nagel hängen

4.4 Bin ich zu streng oder zu lax?Fordere ich zu viel Leistung oder zu wenig?

4.5 Mehr Fürsorge oder mehr Freiraum?

4.6 Auch ich kann mich entschuldigen

4.7 Mit Liebe Grenzen setzen

4.8 Gelassenheit in der Pubertät?!

4.9 Scham und Schuld

4.10 Ist Selbstfürsorge für uns als Mann,Frau und Paar egoistisch gedacht?

KAPITEL 5 Im Garten des Lebens

5.1 Das Gute wirklich in unser Gehirn aufnehmen

5.2 Aus Erfahrungen werden Eigenschaften, Stärken, Ressourcen

5.3 Bin ich am Heißlaufen oder in Balance?

5.4 Beruhige den Dino, füttere die Maus, umarme den Menschen

5.5 SELBSTWERT-Schätzung oder Selbst-WERTSCHÄTZUNG? – Das ist hier die Frage!

5.6 Die Säulen des Wohlbefindens

5.7 Dankbarkeit

5.8 Heute schon gefreut? – Ein Plädoyer für die Freude

5.9 Weisheit und Selbstvertrauen als Eltern

KAPITEL 6 8-Wochenkurs Mindful Compassionate Parenting MCPar: Elternschaft mit Achtsamkeit und Selbstmitgefühl

KAPITEL 7 Kleine Achtsamkeitsübungen mit der Familie

Achtsam Atmen mit Kindern

Kleine Atempause mit Kindern

Fünf Atemzüge Glück tanken

Achtsam Hören

Achtsames Sehen

Achtsames Zuhören

Selbstmitgefühlspause für Kids

KAPITEL 8 Mitfühlende Briefe

NACHWORT Achtsamkeit, Weisheit und Mitgefühl als Kompass für die Welt

Danksagung

ANHANG 1

Ein Überblick über die verschiedenen angesprochenen achtsamkeitsbasierten Verfahren

ANHANG 2

Die wissenschaftliche Sicht auf Achtsamkeit und Selbstmitgefühl in der Elternschaft

ANHANG 3

Kleine, nicht repräsentative Umfrage unter jungen und nicht mehr ganz jungen Eltern im privaten Umfeld

ANHANG 4

Verzeichnis der Übungen

Bibliografie

Über denAutor

Zum Geleit

Eltern sein ist in der heutigen Zeit vermutlich eine der größten Herausforderungen, denen wir uns gegenüber sehen. Alle Eltern lieben ihre Kinder und wollen das Beste für sie und doch scheinen wir täglich zu scheitern in unseren Bemühungen, den Bedürfnissen unserer Kinder gerecht zu werden. Den meisten Familien und insbesondere Müttern fehlt es an Unterstützung. Es gibt ständig etwas zu tun und gleichzeitig wecken Kinder Emotionen in uns, die wir in dieser Art und in diesem Ausmaß vorher gar nicht kannten. Und wenn wir in Stress geraten, übernehmen Anteile in uns das Ruder, die wir im Leben mit unseren Kindern eigentlich nicht am Ruder haben wollen.

Auf der anderen Seite verfügen alle Eltern über Qualitäten und eine innere Weisheit, die uns dabei helfen können auf Kurs zu bleiben. Unabhängig davon, wie unsere eigene Kindheit verlief, gibt es in unserem Herzen den tiefen Wunsch, unsere Kinder auf einfühlsame Weise ins Leben zu begleiten und die Praxis der Achtsamkeit und Selbstfreundlichkeit sind von unschätzbarem Wert, Qualitäten in unserem Geist und Herzen zu kultivieren, die sowohl unseren Kindern als auch uns selbst ermöglichen aufzublühen und innerlich zu wachsen.

In diesem Zusammenhang ist es mir eine große Freude das Geleit zu diesem überaus wertvollen Buch zu schreiben. Ich kenne Jörg Mangold jetzt schon einige Jahre, wir haben gemeinsam einen Familienretreat mitgestaltet und seine Menschlichkeit und Herzenswärme gepaart mit seinem tiefen Verständnis und Einsichten in das Funktionieren unseres Geistes und Gehirns haben mich immer wieder berührt und bereichert.

Mit diesem Buch ist es ihm auf wunderbare Weise gelungen, die Praxis der Achtsamkeit und der Selbstfreundlichkeit für Eltern zugänglich zu machen. Er macht deutlich, dass unsere Schwierigkeiten weder unser Fehler sind, noch dass unsere Kinder das Problem sind, sondern dass es in der Natur unseres Gehirns liegt, dass wir im Leben mit Kindern immer wieder an unsere Grenzen und darüber hinaus geraten. Und er zeigt praktische Möglichkeiten auf, wie wir gelassener werden und eine Familienatmosphäre schaffen können, die harmonischere Beziehungen und mehr Wohlbefinden mit sich bringen.

So möchte ich dieses Buch allen Eltern und Menschen, die mit Kindern zu tun haben, wärmstens ans Herz legen! Es hat ohne Zweifel das Potenzial, Ihr Leben zu verändern.

LIENHARD VALENTIN

Vorwort

Einmal wird vielleicht aus dieserZivilisation eine Kultur entspringen.

LUDWIG WITTGENSTEIN

Wir leben in Deutschland in einer historisch glücklichen Situation mit einem großen materiellen Reichtum, geschützten und geordneten Rahmenbedingungen und mit einer beneidenswerten medizinischen Versorgung. Trotzdem sind wir so unzufrieden wie eh und je und unsere Ängste und Verunsicherungen sind sicherlich nicht weniger geworden. Dies hat mit Veränderungen auf zwei Ebenen zu tun:

Die von uns selbst geschaffenen objektiven Lebensbedingungen sind trotz der vielen objektiven Fortschritte, der sozialen Verbesserungen und der enormen technischen Erleichterungen nicht so, dass wir heute leichter mit ihnen zurechtkommen. Sie haben sich in der Weise verändert, dass sie heute andere und neue Anforderungen an uns (zum Beispiel an unsere Aufmerksamkeit, an unsere Stresstoleranz, an unsere Kommunikationsfähigkeit, an unsere psychische Flexibilität, an unsere Umstellungsfähigkeit im Lebenslauf) stellen. Auf diese Anforderungen sind wir von unserer Ausstattung her – die sich im Verlauf der Evolution entwickelt hat – nicht „automatisch“ gut eingestellt. Wir treffen auf eine von uns selbst gemachte Umwelt, auf die wir psychobiologisch nicht gerade gut vorbereitet sind.

Wir wissen immer besser darüber Bescheid, was gut und was schädlich für uns ist. Wir haben eine bessere Wahrnehmung und eine höhere Sensibilität für psychische Probleme. Gerade die Sensibilität für die Verletzlichkeit von Kindern ist gestiegen. Eine große Zahl von Untersuchungen hat aufgezeigt, welche schlimmen Folgen zum Beispiel die Misshandlung oder der Missbrauch von Kindern für das ganze weitere Leben haben kann. Die Normen und Bewertungsmaßstäbe im Hinblick auf den Gewaltschutz und das Kindeswohl haben sich in den letzten Jahrzehnten sehr grundlegend verändert. Auch die Erwartungen, die wir heute an die Erziehung und Betreuung von Kindern stellen, sind glücklicherweise andere als noch vor wenigen Jahrzehnten.

Die angesprochenen – durchaus positiven – Veränderungen aber tragen nicht zu einer Beruhigung, Entspannung und Entängstigung bei, sondern im Gegenteil, sie haben auch paradoxe Auswirkungen: Mit den objektiven Fortschritten und den veränderten Maßstäben haben sich auch unsere Erwartungen an uns selbst erhöht, der soziale Vergleich stellt sich verschärft dar: Die Erwartung „normal“ zu funktionieren, die Zeit effektiv zu nutzen, der Druck sich selbst, das eigene Leben, die eigenen Bedingungen immer weiter zu optimieren haben sich erhöht und die Ängste, „abgehängt“ zu werden oder „hinten runter zu fallen“ sind eher größer geworden. Der Therapiebedarf ist sowohl bei Erwachsenen wie bei Kindern rasant angestiegen und wächst weiter.

Der Zeitdruck, der Normalitätsdruck, der Druck zur Optimierung stellt sich in Familien mit Kindern besonders krass dar. Wer will nicht eine gute Mutter/ein guter Vater für sein Kind sein? Wer will nicht das Beste für sein Kind? Die Eltern stehen unter einem Druck, der sich zu einem großen Teil aus den eigenen hohen Erwartungen an sich selbst ergibt. Diese Ansprüche sind zwar gut verständlich, aber häufig unerfüllbar. Empirische Studien zeigen, dass der zeitliche ebenso wie der finanzielle Druck in Familien mit kleinen Kindern zu einem sehr hohen Stresspegel führen kann, der sich nachweisbar schädlich auf die psychische Gesundheit der Kinder auswirkt.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen haben seit der Jahrtausendwende neue psychotherapeutische Ansätze eine sehr große Resonanz gefunden, die alte östliche Traditionen und meditative Techniken aufgegriffen und in neue Therapiekonzepte umgesetzt haben. Diese neuen Therapiekonzepte fügen sich nicht mehr in die gewohnten überkommenen Einteilungen nach verschiedenen Therapieschulen, sondern stellen für alle traditionellen Ansätze eine Bereicherung und Weiterentwicklung dar. Jörg Mangold hat sich – nach einer fundierten ärztlichen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Ausbildung – sehr intensiv in diese neuen Konzepte eingearbeitet, eingefühlt und eingelebt und diese zu einer eigenen und sehr authentischen therapeutischen Haltung entwickelt, die gekennzeichnet werden kann durch die Begriffe Achtsamkeit, Mitgefühl und Selbstmitgefühl.

Ich habe Jörg Mangold als jungen Arzt kennengelernt, kurz nachdem er sein Medizinstudium abgeschlossen hat und konnte die ersten sehr engagierten Schritte seiner psychotherapeutischen Arbeit begleiten. Später dann habe ich ihn erlebt als Familienvater, als Leiter seiner kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis, als Inspirator des großartigen Mangold-Praxisteams und als Motor einer humanitären Arbeit, die er unter dem Titel „Allgemeines Recht auf Gesundheit und Ausbildung“ organisiert hat. Ich bewundere seine große Offenheit für Neues, für Kritik, für Veränderungen, ich kenne seine an Umtriebigkeit grenzende hochdynamische Aktivität, ich schätze sein humanitäres Engagement und seine Lebendigkeit. Und ich bewundere seine große Bereitschaft, ja seinen Mut und seine Unerschrockenheit, sich selbst zur Disposition zu stellen.

In seinem hier vorgelegten Buch werden diese Eigenschaften auch für den deutlich, der ihn noch nicht persönlich kennengelernt hat und es ist sehr schön erkennbar, wie sich seine Achtsamkeitspraxis, seine praktischen Erfahrungen als Arzt und als Psychotherapeut mit seinem ganz privaten und persönlichen Lebensweg, den er gemeinsam mit seiner Familie gegangen ist, verbinden. Ich habe das vorliegende Buch mit großer Begeisterung und einer wirklichen Lernfreude gelesen.

Es handelt sich hier nicht um einen Elternratgeber, denn es werden keine Ratschläge gegeben. Jörg Mangold stützt sich auf aktuelle Erkenntnisse aus der evolutionären Biopsychologie und der Neuropsychologie; er präsentiert auf dieser Grundlage hilfreiche kognitive Koordinaten, mit denen wir uns selbst und auch unsere eigene Schwächen besser verstehen und akzeptieren können; er gibt uns Anregungen wie wir uns als Väter oder Mütter in freundlicher Weise neu kennenlernen können. Das Buch vermittelt keine Techniken im engeren Sinne, sondern gibt uns stattdessen sehr konkrete Vorschläge für die praktische Einübung in eine menschenfreundliche Haltung, sich selbst, den Partnern und den eigenen Kindern gegenüber.

Die Einübung dieser Haltung hat – im Sinne bester psychotherapeutischer Tradition – durchaus subversiven Charakter. Achtsamkeit und Selbstmitgefühl sollten nicht als weitere Selbstoptimierungsstrategien missverstanden werden; sie können und sie werden uns vielmehr dabei helfen, eigenen und fremden Erwartungen gegenüber auf einen gewissen Abstand zu gehen, um im alltäglichen Getümmel sich selbst, die eigene Familie, den eigenen menschlichen Bezirk zu bewahren und zu erweitern. Dies wird für viele Familien sehr hilfreich sein und vielleicht kann dies auch zu einer Kultivierung unserer Zivilisation beitragen.

Marburg, 23. August 2017

PROF. DR. PHIL., DIPL.-PSYCH. FRITZ MATTEJAT

Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendpsychotherapeut, langjähriger leitender Psychologe der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie und Vorstand/Ausbildungsleiter des Instituts für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin an der Philipps-Universität Marburg

Einleitung

Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort.Dort treffen wir uns.

RUMI, persischer Dichter

Dies ist ein Selbstfürsorgebuch für engagierte Eltern. Sie halten keinen Erziehungsleitfaden, kein neues „Wie-mache-ich-es-richtig-mit-meinem-Kind“-Buch in den Händen. Wenn Sie das gesucht haben, ist jetzt ein guter Moment umzukehren und das Buch zurückzubringen.

Vielmehr geht es in diesem Buch um Selbstvertrauen, Selbstfreundlichkeit, Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl für uns als Eltern.

Ich hatte vor dem Schreiben eine kleine Umfrage unter Eltern in meinem privaten Umfeld durchgeführt. Jeder sollte zehn Punkte benennen, die bereichernd und beglückend sind am Elternsein und zehn, die schwierig sind oder Sorgen bereiten.

Bei bereichernd wurde am häufigsten genannt:

• das Wachsen und Entwickeln der Kinder sehen

• eine Familie sein und Verbundenheit spüren

• das Lachen eines Kindes

• die Welt mit den Augen des Kindes sehen und spielen zu können

• bedingungslose Liebe spüren

Am meisten Sorgen bereitet:

• Angst zu haben, dass den Kindern etwas zustößt (schlimme Krankheit, Tod Gewalt); nicht helfen können, wenn das Kind leidet oder in Not ist; Kontrolle abgeben.

• die ungewisse Lage der Welt, der Gesellschaft, der Natur.

• ein ständiges Gehetztsein, beim Versuch Berufstätigkeit und Familie gleichermaßen gerecht zu werden.

• genügend Zeit zu finden für Partnerschaft, sich selbst und Freunde.

• Schule und das Schulsystem.

Ich finde, wir haben als Eltern durchaus einiges zu tragen und kriegen dann dazu noch oft eins obendrauf. Die einen beklagen die Verunsicherung und Abnahme der Erziehungskompetenz von Eltern heutzutage, die anderen, dass wir nicht mehr genügend Qualitätszeit in Familien pflegen. Und dann kommen noch die Besserwisser und Angstmacher, die vor allen Katastrophen warnen und am liebsten einen Elternführerschein einführen würden. Wir finden die verschiedensten, oft widersprüchlichen Expertenmeinungen zur Erziehung; woraus statt einer persönlichen Art des Elternseins oft ein großer Druck wird, alles möglichst perfekt zu machen.

Genau darum geht es in diesem Buch: Diesen Drang zur Perfektion besser zu verstehen – und ihn loszulassen! Uns selbst mehr zu vertrauen und dabei Mitgefühl mit uns selbst und mit den anderen als Orientierung zu nutzen. Leben, und besonders Leben in Familien mit Kindern, ist bunt, vielfältig, dramatisch und innig, freud- und leidvoll, und es ist vor allem kein Optimierungsprozess.

Selten wird betont, dass wir Menschen mit Körper, Gehirn und damit auch Geist aus einem viele Millionen Jahre alten Evolutionsprozess ausgestattet sind.

Ein ganzer Teil der Nöte von uns modernen Eltern scheint zu entstehen, weil wir oft weiterhin mit einem Dinosauriergehirn auf eingebildete Säbelzahntiger im Kinderzimmer reagieren.

Wenn das Lesen und Erproben der Buchinhalte Ihnen ein wenig hilft, sich und Ihr Elterngehirn besser zu verstehen, auf Ihre Herzensgüte, Selbst-Mitgefühl, Mitfreude und eine Portion Gelassenheit zu vertrauen und sich selbst wie einen guten Freund zu behandeln – in guten wie in schwierigen Zeiten –, dann hat es sich gelohnt!

Das Buch ist als Reise aufgebaut mit Stationen, um Wissen aufzutanken, Selbsterforschung zu betreiben und konkrete Werkzeuge zur Anwendung im Elternalltag mitzunehmen.

Sie beginnt mit einer Darstellung der Grundlagen, wie unser Gehirn in Stress gerät und wie wir uns damit in einer dicht getakteten, modernen Lebenswelt zurechtfinden müssen, für die wir von Natur aus nur sehr eingeschränkt vorbereitet sind (Kapitel 1 und 2). Achtsamkeit und Mitgefühl, auch mit uns selbst, sowie Mitfreude und Gelassenheit werden als heilsame Haltungen vorgestellt (Kapitel 3) und konkrete Anwendungsmöglichkeiten in den unterschiedlichsten Lebenslagen erarbeitet, immer wieder auch in Übungen (Kapitel 4).

Abgerundet wird die Reise durch Anregungen zur gezielten Kultivierung des Positiven, von Stärken und Ressourcen (Kapitel 5).

Wer diese Qualitäten vertiefen will, erhält hier (Kapitel 6) auch einen Fahrplan mit konkreten Übungen und Meditationen: Mindful Compassionate Parenting – MCPAR: Elternschaft mit Achtsamkeit und Selbstmitgefühl. Ergänzend werden Übungen und Meditationen als MP3 zum freien Download und der Videokurs EMAUS unter www.we-mind.life angeboten. Des Weiteren gibt es im Buch Anleitungen für Achtsamkeitsübungen in der Familie (Kapitel 7). Eine Reihe von mitfühlenden und liebevollen Briefen bietet abschließend Impulse zu speziellen Themen (Kapitel 8).

Die Theorien und Anregungen stammen nicht allein von mir, sondern von verschiedenen klugen Lehrern, Wissenschaftlern und Autoren. Ich persönlich greife auf 54 Jahre Selbsterfahrung als Kind meiner Eltern zurück. Dazu gesellen sich 25 Jahre kinder- und jugendpsychiatrische Begleitung von vielen Familien, zehn Jahre Üben in Achtsamkeit, Meditation und Selbstmitgefühl und die Erfahrung der heilsamen Auswirkung auf mich selbst und auf eine große Zahl von Menschen in meinen Kursen. Nicht zu vergessen: 28 Jahre intensiven Lernens in einer Langzeit-Liebesbeziehung und einer Familie mit Patchwork-Charakter, in der ich sowohl als Stiefvater als auch seit 23 Jahren als „Biovater“ gefordert bin. Ich hoffe, dass dies mein Beitrag dazu sein kann, dass wir Eltern uns selbst mehr trauen, uns mit all unserer Menschlichkeit, den Schokoladenseiten und den scheinbaren „Schwächen“ annehmen, um uns dann mit Mut, Mitgefühl und Gelassenheit in diese fordernde und wunderbare Begleitung unserer Kinder auf ihrem Lebensweg einbringen zu können.

Ansbach, den 29. August 2017

JÖRG MANGOLD

Kapitel Eins

Unser trickreiches Elternhirn

Und dann braucht man auch noch Zeit, umeinfach dazusitzen und vor sich hin zu gucken.

ASTRID LINDGREN

1.1 Warum wir als Eltern so ticken, wie wir ticken – vor allem wenn’s schnell gehen muss oder stressig ist

Wir starten diese Selbsterforschungsreise des Elternseins bei unserem Gehirn. Warum? Weil dort das „Zentrum der Macht“ sitzt. Jede unserer Wahrnehmungen – alles was wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten – wird dorthin gemeldet. Diese Sinnesreize werden mit Gefühlen und Gedanken verknüpft. Im Gehirn entstehen unsere Ideen und Vorstellungen über die Welt. Hier haben die Impulse für unser Handeln und unsere Reaktionen ihren Ursprung. Bei all dem können wir uns auch noch selbst beobachten. Wir können uns quasi beim Leben zuschauen und über dieses nachdenken. Weil wir wissen, dass wir wissen, haben wir uns Homo sapiens sapiens genannt.

Nicht umsonst gilt unser Gehirn als das komplexeste System, das wir im ganzen Universum kennen. Auf unserem Weg durch die Entwicklungsgeschichte des Gehirns werden wir lernen, warum wir als Eltern auch heute noch uralte Alarmsysteme in uns tragen und sie immer wieder aktivieren: „Achtung – es geht ums Überleben!“ und „Überall lauern Gefahren“. Wir entdecken, dass wir im Kinderzimmer oft fühlen und handeln, als wären wir in der Steinzeit und hätten es mit Säbelzahntigern zu tun. Wir lernen aber auch ein Beruhigungs- und Fürsorgesystem kennen, das wir als Gegenspieler zum Stress stärken können.

1.2 Das Gehirn hat eine Geschichte

→ Abb. 1.1 Dreieiniges Gehirn (engl. „triune brain“). Vgl. McLean, P. et al., A Triune Concept of the Brain and Behaviour. Toronto: University of Toronto Press, 1973.

Das Gehirn ist nicht über Nacht in unseren Kopf geraten. Seine Reifung hat auch nicht erst mit unserer Zeugung begonnen. Unsere Eltern haben uns zwar mit ihren Genen den Bauplan vererbt. Aber der Aufbau dieses Organs und grundlegende Schaltkreise haben sich in Millionen von Jahren der Evolution entwickelt.

Es lohnt sich also zu schauen, wo wir herkommen. Denn die Art und Weise, wie wir heute uns selbst, unsere Kinder und die Welt wahrnehmen, basiert ganz entscheidend darauf, wie sich dieses Organ im langen Lauf der Zeiten an seine Aufgaben angepasst hat.

Alte und neue Hirnanteile

Noch heute kann man die Entwicklungsstufen im Gehirn erkennen. Grundlegende Systeme bestehen schon seit der Zeit der Dinosaurier. Diese Hirnstrukturen sind bei uns und zum Beispiel Eidechsen noch immer ziemlich ähnlich aufgebaut. Nennen wir diese Anteile das „Dinosaurier-Gehirn“. Es regelt überlebensnotwendige Funktionen wie Atmung, Schlaf, Durst, Hunger und Körpertemperatur, aber auch grundlegende Reaktionen auf angenehme und unangenehme Reize, auf Bedrohung und zudem die Sexualität. Hier können wir heute noch ticken wie ein Dino.

Eine große Veränderung durchlief das Gehirn, als Tiere anfingen, ihren Nachwuchs zu säugen. Das verlängerte die Brutpflege erheblich und bedurfte einer engen, fürsorglichen Bindung an den Nachwuchs. Bindung braucht Emotionen. Deshalb entwickelten sich besondere Strukturen im Gehirn. Sie ermöglichten es, Gefühle mit Erfahrungen zu verknüpfen und die neuen Eigenschaften zu speichern. In späteren Entwicklungsstufen der Säugetiere waren diese Areale auch beim Lernen sowie für Beziehungen und Gruppenbildung wichtig. Nennen wir sie zusammenfassend das „alte Säugetiergehirn“. Wir haben zur Evolution ja meist martialische Begriffe wie Kampf und Auslese im Kopf. Es ist doch eine nette Randnotiz, dass Nähe, Versorgung und Fürsorge die Basis für diese so erfolgreiche Weiterentwicklung der Säugetiere und ihrer Gehirne bildeten.

Zuletzt kamen die Errungenschaften hinzu, die uns als Homo sapiens so einzigartig machen. Direkt hinter der Stirn sitzt die Kommandozentrale für die Denkfertigkeiten, die uns als Menschen besonders auszeichnen. Dort ist die Hirnmasse in der Menschwerdung am meisten gewachsen. Deswegen haben wir diese hohe aufrechte Stirn und nicht mehr die flachere Stirnform unserer Vorfahren, der Neandertaler.

Nur ein Wimpernschlag Menschheit

→ Abb. 1.2 Menschwerdung

Mit Blick auf die Erdentstehung erscheint die gesamte Geschichte des Homo sapiens nur wie ein Blinzeln. Noch einmal dramatisch an Fahrt aufgenommen hat die Entwicklung seit der industriellen Revolution vor 200 Jahren. Und in den letzten 30 Jahren der digitalen Revolution wurde unsere Lebensart mit Computern, Internet und Smartphones noch einmal rasant umgekrempelt. Unsere Kinder können sich ein Leben ohne digitale Technik im Wohnzimmer und das Smartphone in der Hosentasche – mit Verbindung zur ganzen Welt – gar nicht mehr vorstellen.

Wenn ich erzähle, dass meine Familie bis ich 10 Jahre alt war noch nicht einmal ein Telefon besaß, komme ich völlig antik daher. Unser Schwarz-Weiß-Fernseher empfing nur drei Programme und spätestens um Mitternacht gab es nur noch das Testbild zu sehen. (Ich erinnere mich gut an den Streit „Daktari versus Sportschau“, den mein Vater immer gewann.)

Wir haben als Menschen ein ganz neues Zeitalter geschaffen, in dem wir uns mit unseren alten und neuen Gehirnanteilen zu behaupten haben. So schnell konnte dieses Organ gar nicht „hinterherkommen“ und auch als Individuum fällt es uns nicht immer leicht.

Später kommen wir noch ausführlicher darauf zu sprechen, dass es auch eine Kehrseite der Medaille dieser neuen Hirnwindungen und menschlichen Denkfunktionen gibt, und welche „unerwünschten Nebenwirkungen“ sich daraus für unsere Psyche ergeben können.

Eine Urwelt voller Gefahren steckt uns noch heute im Kopf

Viele Urbewohner der Erde haben es nicht geschafft, zu überleben und sind im Verlauf der Zeit ausgestorben. Aber das menschliche Gehirn hat sich in einer Art und Weise entwickelt und verändert, die hilfreich war für das Überleben. Anders als in unserer jetzigen Lebenswelt ging es dabei die meiste Zeit um Leben und Tod.

Die Hauptregel war:

»To have lunch or to be lunch!«

also

»Hast du was zu essen oder wirst du gefressen?«

Das hatte Auswirkungen auf das Gehirn. Es hat gelernt, negative Ereignisse stärker zu gewichten. Die Wissenschaftler bezeichnen das als „negativity bias“.

Vielleicht wird uns als Mutter oder Vater am Ende des Tages klar, dass wir einen wirklich blöden Fehler gemacht haben. Daneben könnten uns noch 35 Dinge in den Sinn kommen, die an diesem Tag wirklich gut gelaufen sind. Wenn wir trotzdem grübelnd bei dieser einen Geschichte hängen bleiben, hat das genau damit etwas zu tun.

In der Urzeit war es eben wichtiger, sich die kritischen Lebensereignisse zu merken, etwa zu wissen, wo der Säbelzahntiger kreuzt, als zu speichern, wo die größten Pilze wachsen. Das heißt nicht, dass es nicht prima war, wenn sich einer aus dem Stamm gemerkt hatte, wo die besten Pilze wachsen und dafür auch gelobt wurde. Aber all diejenigen, die sich Gefahren nicht merken konnten, wurden zur Mahlzeit. Unterm Strich führte das zu einer Auslese zugunsten der Menschen mit Angst-, Gefahr- und Krisenspeicher-Gehirnen, die diese Gene für ein starkes Alarmsystem weitergeben konnten. Es haben also die nervösen Angsthasen überlebt, die ständig in Hab-Acht-Stellung waren und überall Unheil lauern sahen.

Kommt uns das irgendwie bekannt vor als Eltern?

Und jetzt wissen wir: Dafür können wir gar nichts! Denn wir haben ein Gehirn im Kopf, das sich evolutionsbedingt an die kritischen Ereignisse besonders gut erinnert.

Dazu kommt noch, dass wir aus uraltem Antrieb unsere Kinder schützen wollen. Es geht ja biologisch auch darum, die eigenen Gene weiterzugeben. Säuger, das wissen wir nun, versuchen dies über intensive Brutpflege zu ermöglichen. Wir Menschen haben das ja zu einem Extrem getrieben: Ab welchem Alter würde unser Kind eine Woche überleben, wenn es im Wald auf sich gestellt ist? Gut, manche Mütter würden sagen nie und manche Väter wären vielleicht mutiger. Aber im Vergleich zu anderen Säugern braucht unser Nachwuchs doch extrem lange, bis er ansatzweise selbstständig ist.

Kritik wiegt schwerer als Lob

Vom reinen Überlebensvorteil bei Gefahr hat sich der evolutionäre „negativity bias“ auch in die Spielregeln des Zusammenlebens unserer Vorfahren eingeschlichen. Heute erleben wir das hautnah, zum Beispiel bei Kritik und negativen Rückmeldungen.

An wie viele Komplimente oder Lob können Sie sich aus dem Stehgreif erinnern? Und wie präsent sind Ihnen dagegen vielleicht viel länger zurückliegende Momente einer beißenden Kritik oder Peinlichkeit?

Darauf, wie wir Kritik wahrnehmen, haben sich auch hunderttausend Jahre Leben in kleinen überschaubaren Stammesgruppen ausgewirkt. Verbannung wäre damals der sichere Tod gewesen und damit wurden kritische Rückmeldungen aus der Gruppe viel überlebenswichtiger als besondere Ehrenpreise. Daher hinterlässt Kritik heute noch so viel stärkere seelische Spuren als Lob.

Ein persönliches Beispiel: Ich unterrichte angehende Psychotherapeuten. Nach einem Wochenendseminar füllen die Teilnehmer Feedback-Bögen aus. Darin bewerten sie mit Schulnoten von eins bis sechs den Dozenten, seine Wissensvermittlung, seine Art vorzutragen und so weiter. In einem der Institute musste ich die Bögen immer selbst einsammeln. Dabei konnte ich der Versuchung natürlich nicht widerstehen und schaute sofort, welche Noten ich bekommen hatte. Damit war das Wochenende regelmäßig ruiniert. Meist waren mindestens 13 von 15 Bewertungen recht gut, aber immer wieder vergaben auch ein bis zwei Teilnehmer eine drei oder vier. Diese wenigen kritischen Bewertungen machten mich fertig und gingen mir auf der ganzen Heimfahrt nicht mehr aus dem Kopf. Wenn später die Gesamtauswertung des Instituts zu dem Seminar kam, war der „Notendurchschnitt“ gut. Irgendwann wurde mir dieses Wechselbad der Gefühle richtig klar und von da an faltete ich die Bögen sofort zusammen, gab sie ohne hineinzuschauen ab und wartete auf die Gesamtauswertung.

Heute, nach einiger Praxis in Selbstmitgefühl, kann ich auch wieder gleich auf die Bögen schauen und mir sagen: „Ach, irgendjemand ist immer unzufrieden, du kannst nicht alle erreichen. Dafür sind die Menschen zu unterschiedlich. Wenn die Mehrheit zufrieden ist, dann bin ich das auch.“ Ich weiß also aus eigener Erfahrung, dass Kritik manchmal schwerer wiegt als Lob.

Rick Hanson, ein US-amerikanischer Neuropsychologe, meint, dass Kritik fünfmal stärker wahrgenommen wird als Lob. Bei mir war das sicher eher im Verhältnis 10:1. Aber herauszufinden, dass die historische Ausrichtung meines Gehirns da mitspielt und ich nicht besonders überempfindlich bin, hat mir geholfen. Es ist auch gut zu wissen, dass ich selbst etwas dafür tun kann, um dieser Negativ-Tendenz entgegenzusteuern oder sie gar auszugleichen. Ich kann mit einem selbstfreundlichen Geist meinem Gehirn neue Pfade beibringen und diese festigen.

Was hat das alles mit dem Elternsein zu tun?

Greifen wir das Verhältnis „Kritik zu Lob“ auf. Eine kleine Mathe-Aufgabe für Eltern:

Gehen wir davon aus, dass uns Kritik und Lob im Verhältnis 5:1 berühren. Jetzt rechnen wir mal hoch, wie oft wir im Alltag unser Kind kritisieren beziehungsweise korrigieren und wie oft wir es loben. Diese Rechnung ist wichtig, weil ja auch Kinder im Sinne des „negativity bias“ kritische Anmerkungen viel stärker wahrnehmen.* Die Negativtendenz ist ein Sinnbild dafür, dass wir bei so vielem – was wir denken, fühlen und wie wir reagieren – von einem Gehirn gesteuert werden, das sich über Millionen von Jahren zum Überleben in einer völlig anderen Welt ausgebildet hat. Je mehr wir im Alltagsleben gestresst oder unter Druck sind, desto eher geraten wir in den „Dinosaurier-Modus“. Wir schalten automatisch und vorbewusst auf diese uralten Hirnanteile und ihre Not- und Überlebensprogramme zurück.

Starke Anforderung, Stress und Bedrohung passen nun durchaus gut zur Stellenbeschreibung dieses härtesten (und freudigsten) Jobs der Welt, dem Elternsein.

Das Bild des Dinosaurier-Modus kann uns helfen, so manche unserer Reaktionsweisen als Vater oder Mutter besser zu verstehen. Vor allem wenn wir nach einem Streit, nach einem Hineinrauschen in Genervtsein, Schimpfen und Strafen-Verhängen hinterher manchmal selbst verblüfft sind, was uns da geritten hat.

Und es gibt noch eine weitere wichtige Erkenntnis: Das Gehirn, dieses Oberzentrum, ist auch nur ein Organ unseres Körpers. Es regelt wichtige Funktionen und generiert die ganze Zeit Gedanken, so wie unsere Speicheldrüse uns das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt oder unser Magen Magensaft produziert, wenn wir eine leckere Speise essen.

Oft ist uns gar nicht bewusst, dass hier unentwegt „geistige Spucke“ läuft. Zudem vergessen wir manchmal, dass das nur Gedanken sind und nicht die Wirklichkeit.

Jeder von uns kennt Situationen, in denen wir vollständig von unseren Gedanken überzeugt sind, uns aber Momente, Stunden oder Tage später wundern, was wir uns da eigentlich zusammengereimt haben. Wenn wir Pech haben, sind uns die Gedanken schon aus dem Mund gelaufen, und wir würden uns sehr wünschen, sie wieder zurückholen zu können.

Es ist beinahe eine Entzauberung dieses Organs: „Hey ja, dauernd sind da Gedanken, aber eigentlich sind es nur Gedanken, sonst nichts.“

Gedanken sind nur Gedanken, sind nur Gedanken. Glaube nicht alles, was du denkst!

Versuchen Sie mal 3 Minuten ruhig zu sitzen oder zu stehen und einfach zu atmen. Achten Sie nur auf die Bewegungen des Atmens in Ihrem Körper. Sie werden merken, dass Sie ganz schnell auch Gedanken wahrnehmen, vielleicht sogar einen ganzen Fluss an Gedanken. Wenn Sie aufgeregt sind, dann fließt er noch schneller.

In Übungen zur Achtsamkeit versuchen wir uns selbst und auch unser Denken wahrzunehmen. Bemerken, wie viele Gedanken da sind, wie sie ständig kommen und gehen. Wir versuchen uns dabei ein wenig neben den Fluss der Gedanken zu stellen, statt mittendrin zu sein.

Gerade wir Eltern sind ständig in Aktion und denken quasi doppelt, für uns und für die Kinder. Vor allem wenn wir im Stress sind und über viele Sorgen oder Befürchtungen nachdenken, kann es helfen, sich neben den Gedankenfluss zu stellen und zu beobachten, um nicht mit dem Gedankenfluss fortgespült zu werden.

Wir werden das in Kapitel 3 aufgreifen und Übungen dazu ausprobieren.

Kurz und knapp:

• Unser Gehirn ist älter als wir denken. Es hat sich über Millionen von Jahren entwickelt, angepasst, um zu überleben.

• Die Menschen mit den empfindlichsten Alarmanlagen im Gehirn haben überlebt und ihre Gene weitergegeben.

• Aus diesem Grund speichern wir heute noch kritische Ereignisse intensiver ab als positive. Das nennt man die Negativ-Tendenz des Gehirns. Deshalb berührt uns Kritik auch viel stärker als Lob.

• Wir haben fantastische Denkfunktionen entwickelt in unserem „neuen Hirn“ und verändern damit die Welt. Aber je stressiger es wird, desto mehr greifen wir auf unser „altes Hirn“ zurück und führen im Autopilot evolutionäre Überlebensprogramme gegen „Säbelzahntiger“ aus.

1.3 Der Chef sitzt oben, der Dino geht unten rum – Der obere und der untere Reaktionsweg des Gehirns

Nun wollen wir uns die uralten und die neuen Regulationsmechanismen unseres Gehirns noch etwas genauer anschauen.

Wenn wir ruhig und gelassen sind, können wir mit allen jüngeren Hirnabteilungen arbeiten, reif und überlegt handeln. Das Kommando wird dann im Gehirn von oben nach unten weitergegeben. Eine Vielzahl neurobiologischer Befunde zeigt aber, dass wir unter Druck oder Stress mit dem alten Dinosaurier-Gehirn arbeiten, sozusagen eine Abkürzung nehmen.

Das bezeichnet Daniel Siegel, US-amerikanischer Psychiater und Neurowissenschaftler, der sich auch mit Achtsamkeit und Erziehung beschäftigt hat, als den unteren Weg. Wir führen dann unbewusst und blitzschnell vor Urzeiten angelegte Notreaktionen aus.

Oben beim Chef

Wesentlich für den oberen Weg sind die Gehirnareale hinter der Stirn, vor allem die Regionen, die Neurowissenschaftler als Präfrontaler Cortex und Anteriorer Cingulärer Cortex bezeichnen. Wenn diese zwei Bereiche mitspielen dürfen, sitzt der reife Erwachsene als Chef am Steuer.

Wir haben dann eine Chance, uns vorher zu überlegen, was wir tun oder sagen wollen. Wir können unsere Gefühle und Emotionen regulieren. Der obere Weg hat also eine Bremse eingebaut, die es uns erlaubt, unsere Impulse noch einmal zu überprüfen.

Sich bewusst zu steuern, ist eine wichtige menschliche Eigenschaft, die während der Entwicklung eines Kindes zum Erwachsenen immer besser ausgebildet wird. Sie wird neurowissenschaftlich Exekutivfunktion genannt. Dabei hemmen die jüngeren Hirnareale den Überschuss der anderen, von oben nach unten.

Übrigens haben Kinder und Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) genau mit diesen Exekutivfunktionen Probleme. Bei ADHS sind die Mitarbeiter des Chefs in Gehirnabteilungen weiter hinten und unten quasi schwerhörig. Sie reagieren oft nicht auf die Anweisungen ihres Chefs. Die Konsequenz ist, dass Reize, innere Ideen und Impulse nicht so gut gefiltert und gehemmt werden.

Ein Ausspruch einer Erwachsenen mit ADHS verdeutlicht das: „Ich möchte endlich das sagen können, was ich wirklich meine, und nicht dauernd das aussprechen, was mir zuerst einfällt!“

→ Abb. 1.3 Der obere Weg. Vgl. Siegel, Daniel, The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. New York: Guilford Press, 2001.

Unsere Handlungen werden nicht nur von oben geplant, sondern auch vom Chef mit dem abgeglichen, was sich bislang für uns bewährt hat. Wir sind in der Lage, die Folgen unseres Tuns durchzuspielen und dementsprechend abzuwägen.

Wenn der Chef im Stirnhirn mitredet, ist das für uns als Eltern der entscheidende Heimvorteil in der Aktion mit unseren Kindern.

Wir haben schon einiges erlebt und Erfahrungen gesammelt. Wir können weiter voraus und um die Ecke schauen. Unser Chef im Hirn hält dann auch die ganzen schnellen und akuten Emotionen von unten aus dem alten Säugetier-Hirnanteil (Limbisches System) im Zaum. Er weiß, dass sich direktes Handeln aus Ärger, Wut oder Panik oft nicht wirklich lohnt. Er kann vorher beurteilen, was es kostet, aus dem ersten Affekt zu reagieren und was es kostet, nicht zu handeln. Es wäre schön, wenn unsere Kinder das alles auch schon könnten. Viele Alltagssituationen wären dann viel leichter miteinander zu bewältigen. Aber sie müssen diese Steuerung erst lernen und üben.

→ Abb. 1.4 Der untere Weg. Vgl. Siegel, Daniel, The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. New York: Guilford Press, 2001.

Wir merken allerdings, dass uns selbst als Erwachsene der Chef immer mal wieder abhanden kommt. Das sind meist Situationen, in denen wir ganz anders reagieren und handeln, als wir das mit etwas Abstand und Ruhe tun würden.

Gerade für uns Eltern gibt es im Hin und Her mit unseren Kindern immer wieder viele Gelegenheiten, die uns aufregen und in Stress bringen. Dann laufen wir Gefahr, dass falscher Alarm ausgelöst wird und wir auf den unteren Weg geraten.

Unten rum geht’s schneller

Dieser untere schnelle Weg ist in keiner Weise schlecht. Im Gegenteil: Wenn wirklich Gefahr droht, erlaubt er uns, schnell und sofort zu handeln und unser Kind zu retten oder zu schützen.

Wenn wir beispielsweise an einer viel befahrenen Straße stehen, unseren Kleinen der Ball herunterfällt und auf die Straße rollt und sie den ersten Schritt machen, um hinterherzulaufen. Dann greifen wir sie unvermittelt beim Arm, ohne vorher durchgerechnet zu haben, woher die Autos kommen, und ob es gut gehen könnte.

Oder ein anderes Beispiel: Sehen wir im Augenwinkel, dass von rechts etwas großes zotteliges Schwarzes auf uns zuspringt, sortieren wir nicht erst geistig durch, ob das Tante Helgas lieber Neufundländer ist oder ein anderer Hund; und schon gar nicht, um welche Rasse es sich handelt. Wir sind sofort auf Alarmstufe rot, bereit zu Flucht oder Verteidigung.

Die eigentliche Aufgabe des unteren Wegs im Gehirn ist die akute Notreaktion. Er ist wesentlich, wenn es schnell gehen muss und keine Zeit ist, alle Entscheidungen dem Chef da oben im Kopf vorzulegen.

Teil des unteren Wegs ist der sogenannte Mandelkern (Amygdala), eine ständig aktive Alarmanlage. Der Mandelkern scannt alle unsere Wahrnehmungen auf Gefahren da draußen, bevor uns das oben überhaupt bewusst wird.

Schrillen die Sirenen – „Raumschiff Enterprise auf Alarmstufe rot und alle auf Gefechtsstation!“ –, werden prinzipiell drei archaische Reaktionsmuster ausgelöst: Kampf oder Flucht; im schlimmsten Fall, wenn beides erfolglos scheint, Totstellen beziehungsweise Erstarren.

Im Körper wird das Stresssystem (Sympathikus) zum Kämpfen oder Fliehen hochgefahren, Stresshormone werden ausgeschüttet. Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, um alle Muskeln mit mehr Blut zu versorgen. Die Bronchien werden weit, die Atemfrequenz wird erhöht, um möglichst viel Sauerstoff in den Organismus zu pumpen. Wir sehen scharf. Und beginnen zu schwitzen, um schon mal zu kühlen, bevor die Aktion losgeht. Jetzt sind wir bereit gegen alle Säbelzahntiger der Welt zu kämpfen, unser Kind bis zum Äußersten zu verteidigen. Oder vielleicht zu fliehen, wenn wir alleine sind.

Gerade als Eltern erleben wir aber oft den falschen Alarm. So können wir im Kinderzimmer oder am Esstisch immer weiter den Streit mit unserem Kind eskalieren, um dann wilde Maßnahmen auszusprechen. Oder wir haben unseren geliebten Sohn schon fünfmal gerufen, weil wir eigentlich schon zu spät dran sind, und unser Stresssystem steigert die Erregung immer mehr. Und warum?

Sobald wir unter Stress geraten, rauschen wir auf den unteren Weg, weil uns unsere Kinder so wichtig sind. Vielleicht wurde in uns auch ein besonders wunder Punkt berührt, der den Alarm auslöst. Jedenfalls hat uns etwas so stark und heiß am Wickel, dass innerlich der Feueralarmknopf gedrückt wird, obwohl gar kein Feuer ausgebrochen ist. Und schon läuft das volle Notfallprogramm ab: Die Sirenen schrillen los, die Sprinkler gehen an, mit quietschenden Reifen fahren die Einsatzfahrzeuge vor.

Nicht selten stehen wir dann später pudelnass inmitten hektischer Feuerwehrleute und fragen uns, wie wir bloß wieder in diesen Schlamassel hineingeraten sind. Wir sind mit Vollkaracho über den unteren Weg geeilt, ohne dass der reife Erwachsene in uns als Chef mitsprechen konnte.

Wir können uns also gerade als Eltern selbst in eine gefühlte Bedrohung manövrieren. Dies ist auch ein Grund dafür, warum es besonders oft mit unseren liebsten Kleinen kracht, wenn wir einen ganz genauen Plan im Kopf haben wie die Dinge laufen sollen. Nur unsere Hübschen verfolgen ja oft ganz andere Pläne!

Unser Stresssystem fährt hoch, die Alarmanlage wird immer sensibler und meldet irgendwann Bedrohung (auch wenn es nur für die Pläne ist). Und schon sind wir auf der Abkürzung unten rum. Diese „Falle“ im Umgang mit unseren Kindern funktioniert umso besser, je kleiner sie sind, je mehr sie sind, je energiegeladener und selbstbewusster sie sind.

Sind dann auch noch andere beteiligt, können die Wege vollends durcheinandergeraten. Sehr wahrscheinlich sind wir sehr schnell auf dem unteren Weg, wenn der Nachbar wutentbrannt auf unseren Sohn zugestürmt kommt, weil der gerade die schönen Rosen dort drüben geköpft hat. Dann stellen wir uns als Löweneltern dazwischen, besetzen alle Gefechtsstationen auf höchster Alarmstufe und sind bereit, für unser Kind zu kämpfen. Das kann zu sehr spannenden Ergebnissen führen, wenn der Nachbar ebenfalls gerade auf dem unteren Weg rast, um seine geliebten Rosen zu verteidigen oder zu rächen.

WIR KÖNNEN NICHTS FÜR DIESES TRICKREICHE GEHIRN

Das ist die große Botschaft aus den bisherigen Betrachtungen, wie unser Hirn gebaut ist und für was es sich entwickelt hat.

Wir haben unser Gehirn nicht ausgesucht, wir hatten kein Mitspracherecht beim Bauplan. Über Millionen von Jahren entwickelt zum Überleben, ist es uns so zugeschustert worden. Ergänzend wurden noch ein paar Besonderheiten unseres persönlichen Temperamentes über die Gene unserer Eltern eingebaut. Auch die haben wir nicht aussuchen können. Und so versuchen wir nun unser Bestes als Vater oder Mutter, um mit diesem trickreichen Organ bei allen Aufgaben unserer Brutpflege einen Weg zwischen oben und unten zu finden.

Es ist Zeit für Selbstmitgefühl und nicht für Selbstvorwürfe, wenn wir feststellen, dass wir mal wieder ungeplant unter falschem Alarm in die Abkürzungsfallen geraten sind.

Die gute Botschaft ist: Wenn wir erkennen und verstehen, wie wir mit den alten und den jüngeren neuen Anteilen im Gehirn reagieren, können wir lernen, das Zusammenspiel selbst mehr zu beeinflussen. Wir können Wege üben, den Chef zu stärken und ihm Zeit für Mitsprache zu geben.

Bemerkenswert ist, dass wir das ganze Phänomen des oberen und unteren Weges oft recht gut erkennen können, wenn wir anderen dabei zuschauen. Wir wundern uns vielleicht sogar ein bisschen, wenn unsere Bekannten oder Freunde mit ihren Kids in das Schattenboxen mit den vermeintlichen Säbelzahntigern einsteigen: „Warum machen die jetzt so ein Drama?“ Wir haben emotional mehr Abstand und versuchen unsere Freunde aus ihrer Erregung wieder herunterzubringen.

Wir haben also das Zeug dazu!

In den Kapiteln 3 und 4 wollen wir deshalb genauer erforschen,

• wie wir uns selbst gute Freunde sein können,

• wie wir den achtsamen Beobachter in uns auf den Plan rufen können, um zu prüfen, wie viele Säbelzahntiger wirklich da draußen lauern,

• wie wir uns selbst wieder auf den oberen Weg bringen können,

• wie wir achtsamer merken, wann wir unter Stress geraten und unsere Alarmanlage immer sensibler wird,

• wie wir Positives kultivieren, um der Negativ-Tendenz des Gehirns entgegenzuwirken.

Kurz und knapp:

• Mit den „neuen“ Hirnanteilen im Stirnhirn können wir uns steuern und ruhig und überlegt handeln: der obere Weg.

• Bei Gefahr nutzen wir den schnellen unteren Weg und handeln automatisch.

• Als Eltern erleben wir immer wieder falschen Alarm.

1.4 Bin ich im roten, blauen oder grünen Bereich?

Nachdem wir die Alarmfunktion und ihre zugrunde liegende Verschaltung kennengelernt haben, schauen wir jetzt noch genauer darauf, wie unsere Emotionen und unsere Motivationen im Gehirn geregelt werden. Wir werden dabei außer einer Gefahr noch anderen Auslösern für Stress begegnen. Gleichzeitig lernen wir aber auch einen wichtigen Gegenspieler kennen.

Welche Farbe hat der Stress?

Um unsere Emotionen zu regeln, greift das Gehirn auf drei Systeme zurück: Alarm, Antrieb und Fürsorge. Sie sind für unsere Motivation verantwortlich, bestimmen, was wir wollen und warum. Es ist wichtig zu verstehen, wie diese Systeme zusammenspielen und welche Reaktionen sie auf der Ebene von Körper und Geist auslösen.

Wie in der Abbildung zu sehen ist, sind die Systeme Alarm und Antrieb dem Stress zugeordnet. In beiden Funktionen werden Gehirn und Körper (Sympathikus) aktiviert. Wir sind hellwach und angespannt.

Warum das so ist und was dabei passiert, haben wir schon beim „unteren Weg“ kennengelernt. Wenn unser Alarmsystem (rot) aktiv ist, wird alles auf den Plan gerufen, was wir zum Kämpfen oder zum Fliehen benötigen: schnellerer Herzschlag, höherer Blutdruck, Muskelanspannung, schnelleres Atmen, Schwitzen.

Neu ist, dass wir uns in einen ähnlich erregten Zustand auch ohne Bedrohung bringen können. Das rührt zum einen von unserem Urantrieb her, Nahrung zu beschaffen. Es leuchtet ein, beim Jagen den Körper ganz ähnlich bereit zu machen, sowohl für die Anstrengung beim Laufen und Klettern als auch zum Kämpfen oder bei Misserfolg zum Fliehen. Dasselbe gilt für einen weiteren Urantrieb, die Fortpflanzung. Wir können also wach, voller Energie und maximal aktiviert sein, wenn wir ein Ziel verfolgen, etwas unbedingt erreichen wollen oder Sex haben.

Im Körper vermittelt das beide Male der gleiche Schenkel des sogenannten vegetativen Nervensystems, der Sympathikus. Über dessen Nervenleitungen und die Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin wird für die schnelle, wache Aktion alles hochgeregelt. Begleitend werden weitere Hormone, insbesondere Stresshormone wie Kortisol, freigesetzt. Diese steuern dann eine zweite, etwas länger andauernde Welle an Körperreaktionen, die für Kampf, Flucht oder Jagd benötigt werden. Eine Folge ist etwa ein geringeres Schmerzempfinden. Zusätzlich verschwendet unser Körper keine Energie für Heilungs- oder Reparaturprozesse.

→ Abb. 1.5 Stressregulierende Systeme im Körper, Vgl. Van den Brink, E. und Koster F., Mitfühlend leben: Mit Selbst-Mitgefühl und Achtsamkeit die seelische Gesundheit stärken: Mindfulness-Based Compassionate Living – MBCL. München: Kösel-Verlag, 2013, sowie: Gilbert, Paul, Wie wir Mitgefühl nutzen können, um Glück und Selbstakzeptanz zu entwickeln und es uns wohl sein zu lassen. Freiburg: Arbor Verlag, 2011.

Generell wird unser Körper durch den Sympathikus bis in die letzte Faser aktiviert. Er fährt alles herunter, was wir uns gerade nicht leisten können, etwa die Verdauung. Schließlich macht es keinen Sinn, auf der Jagd oder Flucht anzuhalten und zu pinkeln.

Nun müssen wir ja heutzutage selten wirklich kämpfen, fliehen oder unsere Nahrung jagen. Wir haben zu großen Teilen einen zivilisierten Umgang miteinander gefunden und kraftsparendere Wege, um an unsere Nahrung zu kommen. Dennoch greifen wir bei stressigen Anforderungen in der Arbeit oder innerhalb der Familie auf die gleichen alten Regelsysteme zurück.

Angst aktiviert das rote Alarmsystem, Ärger und Wut ebenfalls. Ursprünglich ging es ums Überleben. Heute reichen schon Befürchtungen oder Grübeln darüber, was Schlimmes passieren könnte. Der Zielzustand ist Sicherheit.

Etwas unbedingt haben zu wollen, Ziele erreichen zu wollen oder zu müssen, aktiviert unser blaues Antriebssystem. Ursprünglich ging es um Wasser, Nahrung und Fortpflanzung. In unserer Ist-Welt fällt heute darunter auch Leistung, Streben nach Besitz, Konsum, Erfolg, Wachstum, Weiterentwicklung, Neugier und Erforschen. Der Zielzustand ist die Sättigung.

Dass beide Systeme das Stressprogramm des gesamten Körpers anknipsen, können wir wahrnehmen. Unser Körper eignet sich deshalb bestens als Frühwarnsystem. Eines, das uns anzeigt, wie hoch wir denn gerade schon drehen oder welche Betriebstemperatur bereits erreicht ist. Das ist der Grund, warum achtsamkeitsbasierte Methoden so viel Wert auf Übungen zur Körperwahrnehmung legen.

Sind wir im Stress, verbrauchen wir ständig Energie. Auf Dauer muss dieser Zustand wieder beendet werden, sonst gehen wir ein. Fanden unsere Vorfahren keinen Ausweg aus dem roten beziehungsweise blauen Bereich, wurden sie gefressen oder verhungerten. Heute kennen wir zum Teil die Mechanismen dahinter. Wir verstehen, dass für chronische Stressreaktionen bis hin zum „Burn-out“ ein ständig aktiviertes Alarm- und Antriebssystem verantwortlich ist.

Stress kann also rot, blau oder beides sein.

Welche Farbe hat die Erholung?

Die beiden Aktivierungssysteme Rot und Blau brauchen einen Gegenspieler: das Fürsorgesystem. Das ist in der Abbildung im unteren Feld grün dargestellt. Es steht für Erholung, wirkt sich beruhigend auf den Körper aus und wird durch den Parasympathikus beeinflusst.

Im grünen Fürsorgesystem sorgt dieser andere Schenkel des vegetativen Nervensystems dafür, dass Atmung und Herzschlag langsamer werden, die Muskeln sich entspannen. Die Durchblutung wird mehr auf die inneren Organe ausgerichtet, Nahrungsaufnahme und Verdauung werden angeregt. Unsere Energiespeicher, die wir für eine Aktion geleert haben, können nun wieder aufgefüllt werden.

Interessanterweise ist dieses System eher WIR-zentriert. Es geht weniger um MEIN Überleben, MEINE Sättigung oder MEINE Erholung. Im Laufe unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung als Säugetiere hat sich Beruhigung durch Nähe und Fürsorge von anderen als nützlich erwiesen. Das erleben wir schon im Bauch der Mutter und fortwährend ab der Geburt. Läuft unser Gehirn im grünen System sind wir voll auf Beziehung und Bindung mit anderen ausgerichtet. Wir empfinden Verbundenheit und Wohlgefühl.

Egal, welches Regulationssystem wir betrachten, keines ist besser oder schlechter als das andere. Wir benutzen sie alle drei und brauchen sie alle drei zum Überleben. Vielmehr geht es um das Gleichgewicht innerhalb des jeweiligen Systems und das ausbalancierte Zusammenspiel der Systeme untereinander. Wir können sehr gut in den Aktivierungsmodus der drei Systeme schalten. Die jüngsten menschlichen Anteile in unserem Gehirn spielen uns aber oft einen Trick.