Wir haben nur dieses Land - Kurt O Wyss - E-Book

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Kurt O Wyss

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Beschreibung

'Mutter aller Nahostkonflikte' nennt Kurt O. Wyss, der als Diplomat u.a. in Jordanien, Syrien und der Türkei im Einsatz war, die beinahe ein Jahrhundert dauernden Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern. Seit der Gründung hat Israel in diesem ungleichen Kampf das maximalistische Vorhaben nicht aufgegeben, sich gemäss biblischen Verheissungen das ganze Territorium des historischen Palästina einzuverleiben oder zumindest unter seine Vorherrschaft zu bringen. Weshalb kann sich Israel bis heute straflos über die von der Staatengemeinschaft geforderte Zweistaatenlösung hinwegsetzen? Wie konnte der Kleinstaat innert kurzer Zeit zu einer regionalen Vormacht aufsteigen, die dem Nahen Osten eine 'neue Ordnung' aufzuerlegen trachtet?

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Seitenzahl: 523

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Titel

Kurt O. Wyss

«Wir haben nur dieses Land»

Der Israel-Palästinenser-Streit als Mutter aller Nahostkonflikte

Mit einem Vorwort von Arnold Hottinger

Stämpfli Verlag

Impressum

Die bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliografie ist über www.d-nb.de abrufbar.

© Stämpfli Verlag AG, Bern · 2., aktualisierte Auflage 2015

Lektorat · Benita Schnidrig, Stämpfli Verlag AG, Bern

Gestaltung · Stämpfli Verlag AG, Bern

Umschlag · Nils Hertig, clicdesign, Liebefeld

E-ISBN 978-3-7272-1462-2

Über das Buch

«Mutter aller Nahostkonflikte», so nennt Kurt O. Wyss die bei­nahe ein Jahrhundert dauernden Auseinandersetzungen zwi­schen Israel und den Palästinensern. Weshalb kann sich Israel über die von der Staatengemeinschaft geforderte Zweistaatenlösung hinwegsetzen? Wie konnte der israelische Kleinstaat innert kurzer Zeit zu einer regionalen Vormacht aufsteigen?

Die Zweitauflage berücksichtigt die neusten Entwicklungen im Israel-Palästinenser-Konflikt.

«Das Buch ist ebenso gut recherchiert wie zutreffend, wirklich sehr gut. Ich stimme bis in alle Details zu.»

Arnold Hottinger

Inhalt

Ein Wort des Autors zur Neuauflage

Vorwort

Einleitung

Der Nahostkonflikt: Ist Israel friedensfähig?

Die Wurzeln des Nahostkonflikts

Israels Gründungsmythos oder die Dominanz des biblischen Geschehens

Das zionistische Projekt

Die britische Mandatsmacht

Israelischer Unabhängigkeitskrieg

Der UNO-Teilungsplan

Der Krieg aus israelischer und palästinensischer Sicht

Die Massaker

Palästinensischer Überlebenswille

Die Phase von Israels Angriffskriegen

Ben Gurions Plan zur Neuordnung des Nahen Ostens

Der Sinai-Feldzug von 1956

Der Sechstagekrieg von 1967

Der Friede mit Ägypten von 1979

Kampf gegen Widerstandsbewegungen

Der Libanon als permanente Kampfarena: der Feldzug von 1982

Der Zweite Libanonkrieg von 2006

Der Gazakrieg von Dezember 2008/Januar 2009

Der neueste Gazakrieg von November 2012

Von Opfern und Tätern

Irrungen und Wirrungen des palästinensischen Widerstandes

Das Volk der Palästinenser

Exodus versus Vertreibung

Die bösen Araber

Der Grossmufti von Jerusalem

Übertragung des Hasses

Die Entmenschlichung der Araber

Terrorismus

Hamas

Hisbollah

Formen des israelischen Terrors

Die langwierige Friedenssuche

Das Osloer Abkommen von 1993

Camp David

Das Taba-Abkommen von 2001

Der saudi-arabische Friedensplan von 2002 und 2007

Das Ringen mit Syrien um den Golan und um Wasser

Der Friedenspolitiker Shimon Peres

Die israelische Abkoppelung des Gazastreifens

Israels Auffassung von Krieg und Gewalt

Die israelische Sonderform des Militarismus

Die «Reinheit der Waffen»

Sprachliche Schönfärberei

Der Begriff Sicherheit

Eine Sperranlage für vermehrte Sicherheit

Die Instrumentalisierung der Shoah

Heiliges Land

Die amerikanisch-israelischen Sonderbeziehungen

Unterstützung von Israel

Amerikanische Nahostpolitik

Christliche und jüdische Zionisten in den USA

Die Administration Obama

Das amerikanisch-israelische Gedankengebäude für die Schaffung eines «Neuen Nahen Ostens»

Israelische Mithilfe bei der amerikanischen Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens

Israel – ein wichtiger Faktor im Irak-Krieg

Die amerikanische Politik gegenüber Syrien

Israelische und amerikanische Militärberater in Georgien

Die aufstrebende Regionalmacht Iran

Bedrohung durch die iranische Bombe?

Das iranische Nuklearprogramm

Die Atommacht Israel

Obamas Plan einer atomwaffenfreien Welt im Vorderen Orient

Die Rolle Europas

Die deutsche Nahostpolitik

Die jüdische Dachorganisation Frankreichs

Das Verhältnis Schweiz–Israel

Die Genfer Friedensinitiative

Die Schweizer Nahostpolitik

Die Juden in der Schweiz

Die christlichen Zionisten in der Schweiz

Die Palästina-Frage in der UNO polarisiert

Die besetzten Gebiete

Palästinas Wirtschaft

Israels Kampf ums Wasser

Israel und die Rivalität zwischen Fatah und Hamas

Der demokratisch erfolgte Hamas-Wahlsieg von 2006 und die Folgen

Der als «irrelevant» erklärte Mahmud Abbas

Israels Verhältnis zur UNO

Amerikanische Rückendeckung

Israelisch-jüdische Kritik am Goldstone-Bericht zum Gazakrieg

Netanyahus UNO-Rede

Die Aufwertung Palästinas zum UNO-Beobachterstaat

Die Demokratie Israel – ein verrückter Staat?

Die israelische Friedenssehnsucht

Frieden und Sicherheit

Ariel Sharon, der Mann des Friedens?

Verhandlungen

Israels Image

Israelisch-jüdischer Fundamentalimus

Der Arabische Frühling

Paradigmenwechsel bei der Friedenssuche

Einen Gorbatschow braucht Israel

Der gewaltlose Widerstand nimmt zu

Entwicklungen des israelisch-palästinensischen Konflikts seit dem Frühjahr 2013

Die gescheiterte Friedensmission von John Kerry führte zu einer Kursänderung

Der neueste Gazakrieg vom Sommer 2014 und die Folgen

Abbas, im Popularitätstief, sucht internationale Rückendeckung

Der politische Druck auf Israel muss erhöht werden

Nachwort

Anhang

Liste der verwendeten Literatur

Ein Wort des Autors zur Neuauflage

Kurz vor Jahresende 2014 überraschte mich der Berner Stämpfli Verlag mit der Mitteilung, die Erstauflage von «Wir haben nur dieses Land: Der Israel-Palästinenser-Konflikt als Mutter aller Nahostkonflikte» sei fast vergriffen und eine Neuauflage in E-Book-Form vorgesehen. Das ist ein mutiger Schritt und angesichts der sensiblen Thematik alles andere als selbstverständlich.

Schon als ich an meinem Buch schrieb, machte mich der Nahostkenner Arnold Hottinger darauf aufmerksam, dass die Studie von gewissen Kreisen verrissen werden dürfte. Das ist denn auch geschehen, und ich bin als Autor heftig angegriffen worden. Zahlreiche Redaktionen wichen einer Buchbesprechung aus, wohl um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, «antisemitisch» zu sein. Ausnahmen waren die Rezensionen des bekannten Publizisten Erich Gysling auf der Internet-Plattform «Infosperber», von Willi Herzig in der «Neuen Zürcher Zeitung» sowie der früheren Bundesrätin und EDA-Vorsteherin Micheline Calmy-Rey in der «NZZ am Sonntag».

Trotz aller Widerwärtigkeiten scheint das Buch dennoch seine Leserschaft gefunden zu haben, was mich mit grosser Genugtuung erfüllt. Es ist zu hoffen, dass mit dem E-Book vielleicht auch die jüngere Lesergeneration im deutschsprachigen In- und Ausland angesprochen werden kann.

Im vorletzten Kapitel «Entwicklungen des israelisch-palästinensischen Konflikts seit dem Frühjahr 2013» wird das Geschehen seit dem Redaktionsschluss der Erstausgabe nachgezeichnet. Dabei steht die fortgesetzte Politik Israels zur Fragmentierung und Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft im Vordergrund.

Kurt O. Wyss

Bern, im März 2015

***

Vorwort

Über den Streit zwischen Palästinensern und Israelis gibt es zwei gegensätzliche Diskurse, jenen der Israelis und jenen der Palästinenser. Die Sicht der Israelis und all ihrer Freunde, weltweit, ist uns in Europa vertraut. Sie war lange Jahre nach der Gründung des Staates Israel praktisch die einzige, die es gab. Man kann sie als die Erfolgsgeschichte Israels zusammenfassen. Ein Staat der Juden wurde gegründet in ihrer alten Heimat; er verteidigte sich erfolgreich gegen «die Araber», blühte und gedieh; Juden aus aller Welt wurden «heimgeholt» in ihr neues Land. Es entwickelte eine mächtige Armee und eine reiche Wirtschaft. Israel wurde die «einzige Demokratie» im Nahen Osten und ein Staat mit bedeutendem Einfluss in der Aussenwelt, besonders in den Vereinigten Staaten.

Die zweite Version, jene der Palästinenser, war in Europa anfänglich kaum bekannt. Nur einige Individuen, die den Palästinensern nahestanden, wussten von ihr. Doch etwa zwei Jahrzehnte nach der Gründung Israels wurde die Klage der Palästinenser auch in unseren Breiten unüberhörbar.

Das Gegenstück zum erfolgreichen israelischen Unabhängigkeitskrieg ist die palästinensische Katastrophe (arabisch «Nakba»). Die damit einhergehende «ethnische Reinigung» Palästinas, wie man ein derartiges Vorgehen in späteren Zeiten nennen sollte, ist das entscheidende Ereignis in der Selbstsicht der Paläs­tinenser. Ihre grosse Masse wurde zu staatenlosen Flüchtlingen. Ihre Zahl ist in der Zwischenzeit auf über sechs Millionen gewachsen. Ihr Sinnen und Trachten war seither auf «Rückkehr» gerichtet. Die im Westjordanland, in Ostjerusalem und im Gazastreifen zurückgebliebenen Palästinenser mussten ihre Zielsetzungen im Verlaufe der Zeit unter der Wucht der Umstände revidieren. Sie sind für eine Zweistaatenlösung auf der Basis der Grenze vor dem Krieg von 1967 bereit, die auch von der Mehrheit der Staatenwelt anerkannt wird.

Die Wahrheit muss irgendwo zwischen den beiden Sichtweisen liegen. Doch sie ist nicht gleich weit von beiden entfernt. Die israelische Darstellung enthält viele propagandistische Elemente, die sich als ganz oder teilweise unwahr erweisen. Beispiele sind der heute diskreditierte, doch einst weit verbreitete Slogan vom «Land ohne Volk für ein Volk ohne Land» und die lange Jahre hindurch geglaubte, seit 1959 jedoch als Fälschung entlarvte Behauptung, nach der die Palästinenser auf Anweisung der arabischen Regierungen aus Palästina geflohen seien. Noch heute steht im Raum die Propagandabehauptung, die Ansiedlungen von Israelis im Westjordanlande geschähen um der Sicherheit willen.

Die Darstellungen der Palästinenser sind oft rhetorisch gefärbt. Übertreibungen aller Art gehen auf einen inneren Zwang zurück, sich selbst angesichts aller schwer zu ertragenden Misserfolge dennoch Mut einzusprechen. Beide Sichtweisen haben nur eines gemeinsam: Beide Gegner weigern sich und vermögen es daher nicht, das Übel zu sehen, das sie der Gegenseite antun. Beide haben sich in die Überzeugung verrannt, der Andere verdiene, was immer ihm Schlimmes geschehe. Er sei selbst daran schuld.

Die Unfähigkeit, sich an die Stelle des Anderen zu versetzen, ist bedingt durch die langen Jahrzehnte des Kriegs und der Feindschaft. Sie kann nur schrittweise reduziert werden, wenn die Gewalt endet und statt ihrer eine gewaltfreie Koexistenz aufgebaut werden kann. Die erhoffte Zweistaatenlösung hätte dafür einen Rahmen geboten. Doch Israel weigert sich, sie durchzuführen. Die gegenwärtig dominierenden Rechtsregierungen ziehen eine Politik der Gewaltanwendung vor, mit dem Zweck, ihre Dominanz über die Westjordangebiete durchzusetzen. Den Beweis für diese Aussage liefert die israelische Siedlungspolitik.

Es ist das Verdienst des mit der nahöstlichen Region vertrauten ehemaligen Schweizer Diplomaten Kurt O. Wyss, dass er es sich im vorliegenden Buch zur nicht leichten Aufgabe gemacht hat, die dominierende israelische Sichtweise des Konflikts kritisch zu hinterfragen und dem palästinensisch-arabischen Diskurs zu vermehrter Nachachtung zu verhelfen. Der Autor versteht es überdies, den Endloskonflikt in den regionalen und weltpolitischen Gesamtzusammenhang zu stellen.

Arnold Hottinger

Zug und Madrid, Januar 2013

Einleitung

Der klassische Nahostkonflikt zwischen Israel und den Arabern bzw. Palästinensern ist als Folge des blutigen Bürgerkriegs in Syrien, der politischen Wirren in Ägypten und von Israels Lärm um das iranische Atomprogramm weitgehend aus den internationalen Schlagzeilen verdrängt worden. Nichtsdestotrotz bleibt diese längste kriegerische Auseinandersetzung, deren Anfänge weit in die Zeit vor der Gründung Israels zurückreichen, die Mutter aller Konflikte im nah- und mittelöstlichen Raum.

Die vorliegende Studie ist die Frucht meiner fast fünfzigjährigen Beschäftigung mit dieser Thematik. Hauptzweck des Buches ist es nachzuweisen, dass Israel auch seit seiner Gründung nie das maximalistische Vorhaben aufgegeben hat, sich das ganze Territorium des historischen Palästina einzuverleiben oder zumindest unter seine Vorherrschaft zu bringen. Es soll den vielfältigen Gründen nachgegangen werden, weshalb sich Israel jahrzehntelang straflos über die von der Staatengemeinschaft geforderte Zweistaatenlösung, die auch dem pa­lästinensischen Volk eine staatliche Existenz verschaffen soll, hinwegsetzen kann. Dieses weltweit einzigartige Phänomen wird ebenso ausgeleuchtet wie das andere Phänomen, dass der israelische Kleinstaat innert kurzer Zeit zu einer dominierenden regionalen Vormacht aufsteigen konnte.

An einer einvernehmlichen Friedenslösung mit den alteingesessenen Palästinensern, welche die Interessen beider Seiten berücksichtigt, ist Israel trotz aller Lippenbekenntnisse nicht interessiert. Mit dieser Hinhaltetaktik gerät die strukturelle Ursache des Konflikts immer mehr in Vergessenheit, nämlich die Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft durch Vertreibung und Aneignung ihres Reichtums durch den israelischen Staat. Diese schreitet – von den USA unterstützt und von der übrigen westlichen Welt nur unwesentlich behindert – ungebrochen voran und stützt sich auf die israelischen Institutionen und Gesetze. Ein Ausweg aus der Gewalt, die sowohl einen bewaffneten wie einen strukturellen und institutionellen Charakter hat, setzt die Rückbesinnung auf fundamentale Grundrechte voraus, die Israel für sich selbst in Anspruch nimmt. Die Staatengemeinschaft kommt nicht umhin, sich aktiv an den bisher von Israel torpedierten Friedensbemühungen zu beteiligen und entsprechenden Druck auf den jüdischen Staat auszuüben.

Nicht die Existenzberechtigung Israels wird im vorliegenden Buch in Frage gestellt – bemängelt wird lediglich die Tatsache, dass Israel dem palästinensischen Volk nicht den ihm zustehenden Platz in der Staatengemeinschaft einräumen will.

Meine Beurteilung des Nahostkonflikts stellt Israel und vor allem den israelischen Regierungen ein schlechtes Zeugnis aus, ein schlechteres jedenfalls als der weit unterlegenen palästinensisch-arabischen Seite. Ich verwahre mich indessen gegen den Vorwurf, ein Judenhasser oder Antisemit zu sein. Während meines Attaché-Jahres in Polen 1973/74 konnte ich mir in Auschwitz-Birkenau persönlich ein Bild davon machen, welch grauenhaftes Schicksal dort grosse Teile des europäischen Judentums erleiden mussten. Sowohl Israelis wie auch Schweizerinnen und Schweizer jüdischer Herkunft zähle ich zu meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Der Grossteil der für dieses Buch verwendeten Literatur stammt von israelischen bzw. jüdischen Autoren.

Ich bewundere die einzigartige Aufbauleistung Israels, die mit beträchtlicher materieller Unterstützung aus dem Ausland innerhalb weniger Genera­tionen erreicht wurde. Die kurze Geschichte Israels von etwas über sechzig Jahren ist zur Hauptsache eine Erfolgsstory par excellence, indem ihm der Sprung zu einem Global Player gelungen ist, der die höchste Dichte an Hightechunternehmen ausserhalb von Silicon Valley aufzuweisen hat. Kaum ein Land der Welt investiert mehr Mittel seines Staatshaushalts in die Forschung als Israel, seine universitäre Bildung gilt als weltweit zweitbeste. Israels solides Bankensys­tem überstand die globale Finanzkrise ohne grössere Probleme, und selbst die Wirtschaft schnitt im Rezessionsjahr 2009 besser ab als die manch eines westlichen Landes. Hinsichtlich der Waffenexporte figuriert der kleine Staat weltweit an fünfter Stelle.

Wie so viele war auch ich anfänglich der Faszination des Volkes der Bibel erlegen. Mit dem jüdischen Staat und mit dem israelisch-arabischen Konflikt hatte ich mich schon vor meinem 1972 erfolgten Eintritt ins Schweizer Aussenministerium intensiv beschäftigt. Damals war ich ein glühender Bewunderer Israels. Wie manche Altersgenossen las ich mit Enthusiasmus den Roman «Exodus» von Leon Uris. Ich kenne zahlreiche schweizerische Jugendliche, die sich nach Israel in Kibbuzim begaben, um dort freiwillig beim Aufbau der landwirtschaftlichen Arbeits- und Siedlungsgenossenschaften mitzuhelfen. Die wirtschaftliche Ordnung Israels entsprach weitgehend dem Weltbild der Schweizer Bevölkerung.

Die damalige Sympathiewelle, ja Begeisterung für Israel beruhte zum gros­sen Teil auf der menschlichen Neigung, automatisch für den Schwächeren Partei zu ergreifen, für David gegen Goliath. Man konnte sich mit dem kleinen israelischen Staat identifizieren, der gegen eine militärische Übermacht für eine anscheinend gerechte Sache focht. Vielleicht spielten auch Erinnerungen an die Sonntagschulzeit eine Rolle, als wir Kinder der Lehrerin begeistert zugehört hatten, wie die Israeliten schon zu biblischen Zeiten ihre übermächtigen Gegner, zum Beispiel die Philister, in die Flucht geschlagen hatten. Der Kleinstaat Schweiz identifizierte sich mit dem wehrhaften Kleinstaat im Nahen Osten. «Un petit pays aide un petit pays», war ein weit verbreiteter Slogan.

Die israelische Armee erhielt bei unseren eigenen militärischen Planern geradezu Vorbildcharakter, weil sie aufzeigte, wie einem überlegenen Gegner erfolgreich Widerstand geleistet werden konnte. Als junger Leutnant der Schweizer Armee sah ich in jener Zeit des Kalten Krieges, als das Böse ohnehin aus dem Osten kam, keine Veranlassung, diese Lagebeurteilung in Frage zu stellen. Für den von der Sowjetunion unterstützten Goliath, die arabischen Staaten, hätte man sowieso nur Sympathie empfinden können, wenn er dem (scheinbar) Schwächeren mit Grosszügigkeit und Noblesse entgegengekommen wäre. Dieser unserer Vorstellung konnte und wollte die arabische Staatenwelt damals nicht entsprechen.

Mein unreflektiert-israelfreundliches Bild erhielt erstmals einen Dämpfer, als ich während und nach dem Sechstagekrieg von 1967 zu Studienzwecken in London weilte. Dort fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass die englischen Medien nicht nur einseitig proisraelisch eingestellt waren, wie dies in der Schweiz der Fall war; in der Presse kam vielmehr auch der arabische Standpunkt zum Zuge, der – so schien es mir – durchaus seine Daseinsberechtigung hatte.1 Die Folge davon war ein längerer Bericht meinerseits mit dem Titel «Verständnis auch für die Araber», der auf der Frontseite der Tageszeitung meiner Vaterstadt Burgdorf zur Einschätzung des Sechstagekrieges erschien. Meine Hauptaussage war die, dass Israel seit der Staatsgründung schwere Völkerrechtsverletzungen begangen hatte, über die der Westen jedoch wegen der ­Nazi-Gräuel grosszügig hinweggesehen hatte, was die Araber wiederum in ihrer Auffassung bestärkte, das schlechte Gewissen des Westens den Juden gegenüber werde auf ihrem Buckel abgetragen. Ganz abgesehen davon wurden die arabische Welt und der Islam im Abendland fast nur negativ wahrgenommen. Nun stand das «Burgdorfer Tagblatt» nicht gerade im Ruf, eine Weltzeitung zu sein; doch löste der Artikel des «Londoner Korrespondenten» in meinem Heimatstädtchen lebhafte Stellungnahmen pro und contra aus. Und das Blatt durfte für sich in Anspruch nehmen, als eine der ersten Schweizer Zeitungen überhaupt dieses heisse Eisen angepackt zu haben.

Wohl nicht zu Unrecht, wie die seitherige Entwicklung zeigen sollte. In meiner Auffassung bestätigten mich mehrere Aufenthalte in dieser Weltgegend. Als Diplomat hatte ich Gelegenheit, praktischen Anschauungsunterricht vor Ort zu geniessen: Zweimal war ich auf Mission (in Syrien und in der Türkei), ich verbrachte mehrere Monate in Jordanien und weilte während meiner Inspektionstätigkeit in Israel.

Die zionistische Bewegung und die Israelis, die sich seinerzeit unter Berufung auf die göttliche Verheissung selbst mit Gewalt in Palästina eingeladen hatten, kommen nicht umhin, irgendeinmal ihre Ablehnung der arabisch-muslimischen Umwelt aufzugeben und sich der Vergangenheitsbewältigung zu stellen. Das Eingestehen eigener Fehler und Verbrechen durch jüdische Organisa­tionen und die Israelis, die vom Opfervolk zum Tätervolk mutiert sind, würde den arabischen Gegenhass und Terror reduzieren helfen und den Weg frei machen, um allseits akzeptable Lösungen für das Palästinenserproblem zu finden. Nachdem der Nahostkonflikt die Region, ja die ganze Welt schon übergebührlich lang belastet hat, würde der jüdische Staat endlich zu einem voll anerkannten und geschätzten Mitglied der internationalen Gemeinschaft werden.

Ich habe zu danken. Verschiedene Personen haben mir wertvolle Ratschläge gegeben und kritische Bemerkungen gemacht. Sie sind hier nicht im Einzelnen erwähnt. Ich statte ihnen kollektiv meinen Dank ab. Ein ganz besonderer Dank gilt dem Verlag Stämpfli AG und dessen Geschäftsführer Dr. Manfred Hiefner, die sich nicht scheuten, das vorliegende Buch trotz oder gerade wegen der sensiblen Thematik herauszugeben. Lobend hervorheben möchte ich hier auch Verena Sturzenegger-Wälti, Raúl Lautenschütz und Dr. Jürg Wegmüller, welche die Mühe auf sich genommen haben, das Manuskript gründlich durchzulesen. Susanne Bieri, die das Leid in den besetzten Gebieten aus eigener Erfahrung kennt, vermittelte mir wertvolle Hinweise. Dank ihrer guten Vernetzung habe ich Dokumente erhalten, die nicht leicht zugänglich sind. Die Bereitschaft des renommierten Nahostexperten Dr. Arnold Hottinger, ein Vorwort zu diesem Buch zu schreiben, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bei all diesen Mithilfen versteht es sich von selbst, dass ich für den Inhalt des Buches die alleinige Verantwortung trage.

Zu guter Letzt bin ich meiner Familie zu wärmstem Dank verpflichtet. Sohn Stéphane ist mir, in Informatikbelangen unbedarft, immer wieder tatkräftig zur Seite gestanden, wenn ich mit der Computerbedienung nicht mehr weiterwusste. Meine liebe Gattin Françoise musste während der langen Zeit der Niederschrift mit der ihr eigenen Langmut auf vieles verzichten, wenn meine Gedanken fast nur noch um das Manuskript kreisten. Dass mir Françoise dennoch unentwegt ihre volle Unterstützung zukommen liess, schuf erst recht die Voraussetzung, um mein lange gereiftes Vorhaben überhaupt umsetzen zu ­können.

Bern und Bicon bei Artonne (F), März 2013, Kurt O. Wyss

1Diese unterschiedliche Auffassung reflektiert nicht zuletzt die widersprüchliche, wenn nicht gar doppelzüngige Politik, welche Grossbritannien während und nach dem Ersten Weltkrieg im Nahen Osten geführt hatte: Einerseits wurde 1917 dem jüdischen Volk eine «nationale Heimstätte» in Palästina in Aussicht gestellt (Balfour-Declaration), freilich mit der Einschränkung, «dass nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina beeinträchtigen könnte»; andrerseits wurden die Araber von London in ihrem Unabhängigkeitskampf gegen das Osmanische Reich aktiv unterstützt. Dass in der Folge die britische Mandatsmacht die Zionisten gegenüber den Palästinensern eindeutig bevorzugte, wird auf S. 27 ff. beschrieben.

Der Nahostkonflikt: Ist Israel friedensfähig?

«Die einzige Friedensverhandlung ist eine Besiedlung des Landes, wir siedeln und bauen, und manchmal führen wir Krieg.»

Moshe Dayan, der nach dem Sechstage­­krieg von 1967 als Held verehrte Generalstabschef und spätere Politiker

Der israelisch-arabisch/palästinensische Konflikt ist und bleibt «die Mutter aller Konflikte» im Nahen und Mittleren Osten. Es gab zwar blutigere Kriege wie den irakisch-iranischen Krieg der 1980er-Jahre, wie die Kriege in Tschetschenien und im Sudan, im Kongo oder die Irak-Invasion von 2003, nicht zu reden von den gegenwärtigen Umwälzungen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen im arabischen Raum. Aber was zwischen Israel und den Palästinensern geschieht, geht nicht nur die Israelis und die Palästinenser sowie den arabisch-muslimischen Raum an. Dieser Konflikt löst weltweite Emotionen aus, er ist Weltpolitik, worin er sich von anderen regionalen Brennpunkten unterscheidet, die höchstens für die Nachbarn von Bedeutung sind. Zum Nahostkonflikt hat jeder, der sich für Politik interessiert, eine Meinung, ob er in Jerusalem, in Kairo, in Washington oder in New York, in Teheran, in London oder in Brüssel lebt. Kein amerikanischer Präsident als Vertreter der Supermacht kann es sich leisten, sich nicht mit dem Nahostkonflikt zu befassen. Stellungnahmen zur ­israelisch-palästinensischen Auseinandersetzung gehören deshalb seit vielen Jahren zum Standardrepertoire der internationalen Diplomatie.

Es erstaunt denn weiter nicht, dass kein anderer Konflikt auf ein grösseres internationales Medieninteresse stösst. Der übermässig hohe Anteil von News über den Kampf um Palästina, der in der Weltpresse erscheint, ist ein schlagender Beweis dafür. Nicht von ungefähr hält sich nach Washington die weltweit grösste Zahl ausländischer Korrespondenten in Jerusalem auf,2 die über sämtliche Fazetten dieses Endloskonflikts berichten. Die israelischen, aber auch die palästinensischen Entscheidungsträger sind weltbekannte Figuren, die in keinem Verhältnis zur Kleinheit der von ihnen vertretenen Staatsgebilde und Einwohner stehen.

Für die überproportionale Beschäftigung gerade der westlichen Öffentlichkeit mit der vielschichtigen Konfrontation gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Da ist einmal die enge emotionale Verknüpfung der israelisch-arabischen Problematik mit dem heute besonders spannungsgeladenen Verhältnis zwischen westlicher und islamischer Welt, dann die historischen, kulturellen und verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen Europa und dem Orient; nicht zu reden von der für den Westen strategischen Bedeutung der erdölreichen Region des Nahen und Mittleren Ostens. Zu guter Letzt berufen sich alle drei grossen monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam auf das begrenzte Stück «Heiliges Land» einschliesslich Jerusalems.

Obschon sich die Auseinandersetzung an der Schnittstelle der drei Hochreligionen abspielt, ist es kein religiöser Krieg. Es ist ein Territorialkonflikt um ein beschränktes Stück Land, in dem der dominierende Staat Israel mit den überlegenen militärischen, politischen und diplomatischen Mitteln eines Erstweltlandes seine Machtbasis auf Kosten der vertriebenen, besetzten und drangsalierten einheimischen Bevölkerung, die ein Dritt- oder sogar Viertweltland darstellt, ständig zu erweitern sucht.

Israel selbst hat entgegen aller Friedensbeteuerungen ein Interesse daran, diesen Konflikt möglichst low-key weiterzuführen und ihn abseits des Weltinteresses in die vermeintliche Zweitrangigkeit versinken zu lassen. Eine Weder-Krieg-noch-Frieden-Situation wird nämlich von den israelischen Regierungen als günstige Voraussetzung betrachtet, um ungestraft den grösstmöglichen Profit herauszuholen. Diese vom Sieger dominierte Politik erlaubt es, die heiklen Fragen eines Friedensschlusses (definitive Grenzziehung, Status von Ostjerusalem, Regelung des Flüchtlingsproblems usw.) oder gar die Proklamation eines lebensfähigen Palästinenserstaates zu verhindern.

Kriege wurden von Anfang an als probates Mittel angesehen, um möglichst rasch zum gewünschten Ziel des Landerwerbs zu kommen. Offensichtliche Angriffskriege zwecks territorialer Abrundung werden nach aussen als «Verteidigungskriege» dargestellt, die der jüdische Staat wegen der angeblich jederzeit drohenden Vernichtung führen muss. Mittlerweile hat Israel den arabischen Staaten längst den Rang des wild dreinschlagenden Goliaths abgelaufen, der auch ohne Zögern zum Mittel des Staatsterrorismus greift. Der vermeintlich kleine David nimmt sich seit einiger Zeit die Freiheit heraus, den nah- und mittelöstlichen Raum (Westjordanland/Gaza/Ostjerusalem, Libanon, Syrien, Irak, Iran) entweder nach seinem Gutdünken umzugestalten oder an massgebender Stelle die eigenen Vorstellungen einfliessen zu lassen.

Es ist Israel gelungen, die Palästinenser, die eigentlichen Opfer der Auseinandersetzung, als Kriegstreiber und Terroristen darzustellen, während sich Israel in der Rolle des Friedenschampions sieht, dessen hehre Absichten immer wieder durchkreuzt werden.

Ich stelle keineswegs in Abrede, dass die nationalsozialistische Vernichtungsorgie zu einem Opfertrauma in der israelischen Gesellschaft geführt hat. Was ich hingegen kritisiere, ist der Umstand, dass das offizielle Israel die real existierenden Bedrohungsängste gestützt auf die eigene Verteidigungsfähigkeit nicht zu beschwichtigen sucht. Die Existenzängste werden im Gegenteil bewusst geschürt, um die verunsicherte Bevölkerung auf kriegerische Auseinandersetzungen einzuschwören, die von der in Sicherheitsfragen längst entmündigten Gesellschaft bisher meist fraglos in Kauf genommen wurden. Als Mittel dient die Instrumentalisierung des Holocaust: Die Israelis werden im Glauben gelassen, dass es sich bei der neuen Feindschaft mit der arabischen Welt um eine direkte Weiterführung der Judenverfolgungen während der Nazi-Zeit handelt. Weil das Nachkriegsdeutschland Sühne geleistet hat und ein respektiertes Mitglied der Staatengemeinschaft geworden ist, wird die unversöhnliche Feindschaft auf die Araber und insbesondere auf die Palästinenser übertragen. Die letztgenannten werden dämonisiert, weil sie sich der von Israel gewaltsam durchgesetzten Ordnung zu widersetzen wagen. Für den israelischen Philosophen und Historiker Moshe Zuckermann ist es die «Melange aus narzisstischer Selbstviktimierung und brutaler Aggression», die für den jüdischen Staat symptomatisch ist.3 Dieses doppelte Konstrukt steht umgekehrt proportional zur wirklichen Lage, wie sie sich dem leidgeprüften palästinensischen Volk präsentiert.

Auch die Schweiz kriegt ihr Teil am «Feindschaftstransfer» ab, weil sie nicht immer bereit ist, die israelisch-jüdische Sichtweise des Konflikts zu teilen, sondern sich um Lösungen bemüht, die beiden Seiten gerecht werden sollen. Eine neutrale Haltung wird aber aus der Sicht Jerusalems als antiisraelische Parteilichkeit ausgelegt.

Israel tritt der arabischen Welt gegenüber mit Ignoranz, einem rassistisch angehauchten Überlegenheitsdünkel sowie mit Verachtung auf («die Araber verstehen nur Gewalt»). Die selbst gewählte Isolation soll nicht nur die regionale Vorherrschaft des jüdischen Staates sichern, sondern auch helfen, die beiden grundsätzlich verschiedenen Volksgruppen der Araber und Juden auseinanderzuhalten. Mit dieser Trennung wird erst eigentlich die zionistische Utopie eines «Vorpostens der Zivilisation gegen die Barbarei» möglich gemacht. Damit wurde eine gefährliche Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie hergestellt, die Deutschland als «Bollwerk Europas gegen den slawisch-bolschewistischen Osten» gesehen hatte, ebenso gibt es eine zionistische Affinität zum Blut-und-Boden-Mythos sowie zum Heldenkult unseligen Gedenkens.

Israel hat vor allem seit dem Sechstagekrieg von 1967 als Folge der Schwäche der arabischen Staatenwelt den gesamten Nahen Osten strategisch dominiert. Es tritt immer mehr als repressive Besatzungsmacht und aggressiver Akteur auf der nahöstlichen Szene in Erscheinung. Das Land nimmt sich, immer «in legitimer Selbstverteidigung», Rechte heraus, wie das kein anderer Staat ungestraft tun kann. Was sich «die einzige Demokratie des Nahen Ostens» vor den Augen der Welt alles erlaubt, ist einzigartig. Andere Staaten hätte man bei gleichem Verhalten zu stoppen versucht, wenn nicht mit Krieg, so doch mit Strafaktionen und Sanktionen.

Die selbstgerechte, ausschliesslich auf Israel bezogene Politik ist möglich, weil der jüdische Staat stets auf die Unterstützung der Vereinigten Staaten zählen kann. Die jüdische Lobby in den USA, die Neokonservativen sowie die fundamentalistischen christlichen Evangelikalen beeinflussen die amerikanische Nahostpolitik im Sinne Israels.

Israels Fähigkeit, die Wünsche der Palästinenser fast total und diejenigen all seiner arabischen Nachbarn grösstenteils zu ignorieren, beruht gemäss dem international bekannten kanadischen Strategie- und Nahostexperten Gwynne Dyer auf folgenden drei strategischen Aktivposten:

1. Das israelische Monopol auf Atomwaffen mit mehreren Trägersystemen, die in der Lage sind, jedes arabische Land, auch den Iran, zu erreichen, während kein anderer Staat in der Weltgegend über die Kapazität atomarer Abschreckung verfügt.

2. Die überwältigende militärische Überlegenheit der konventionellen Streitkräfte Israels, die mit Leichtigkeit die regulären Armeen aller arabischen Nachbarstaaten vernichten könnten.

3. Der beinahe bedingungslose militärische und finanzielle Rückhalt des engen Bündnispartners USA.

Dyer fügt noch einen vierten Aktivposten an, für den Israel allerdings keine Schuld trifft, nämlich die schiere Armut, Inkompetenz und Uneinigkeit der arabischen Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft des jüdischen Staates.4

Aufschlussreich ist die Einstellung des Abendlandes und insbesondere Europas zur Palästinafrage, die zunehmend von Vorurteilen gegen den Islam bestimmt ist. Die Islamophobie, von der viele Politiker als neuem Feindbild Gebrauch machen, wird von Israel mit dem Hinweis auf die islamistische Bedrohung, die es gemeinsam zu bekämpfen gilt, geschürt. Dies fällt dem jüdischen Staat umso leichter, als er seine ursprünglichen nahöstlichen Wurzeln leugnet und sich als «eine westliche Oase in einem Meer der Rückständigkeit» sieht. Oft steckt hinter den antiislamischen Vorurteilen europäischer Staaten eine problematische Bewältigung der eigenen Vergangenheit, wobei das Problem auf Israel und Palästina projiziert wird. Der jüdische Staat wird dann als Leuchtturm in einem Meer der Finsternis wahrgenommen, der Opfer einer ihm aufgezwungenen Situation wird. In willfähriger Übernahme der israelischen Weltschau werden die Palästinenser nicht selten als kriegslüsterne Täter und Terroristen identifiziert.

Israel beschwört immer wieder seine Friedenssehnsucht, ist aber unfähig, den Friedenswillen in der eigenen Gesellschaft politisch so zu positionieren, dass er mit dem notwendigen Preis auch umgesetzt werden kann. Der politischen Kultur Israels ist eine «psycho-kollektive Angst vor dem Frieden» inhärent, wie dieser Zustand auch schon bezeichnet wurde. Der jüdische Staat hat sich in eine innere Sackgasse manövriert, macht aber die Palästinenser dafür verantwortlich. Dafür werden unterschiedliche Schlagworte bemüht wie der Iran, Hisbollah, Hamas, der Holocaust, die friedensunwilligen Palästinenser und deren wirtschaftliche Rückständigkeit, die zerstrittenen palästinensischen Führungspersönlichkeiten, die keine valablen Verhandlungspartner abgeben. Diese Argumente und neuerdings die arabischen Umwälzungen sowie die generell als feindselig empfundene Weltöffentlichkeit dienen als Blitzableiter, um vom eigentlichen Problem, der eigenen Friedensunfähigkeit, abzulenken.

Denn auch nach dem Scheitern des Osloer Friedensprozesses von 1993 und den Folgejahren hat es an Friedensvorschlägen nicht gefehlt. Allein seit Anfang dieses Jahrtausends gab es den Friedensvorschlag der arabischen Staaten von 2002, die Genfer Initiative von 2003, die Road Map mit klar bezeichneten Etappenzielen oder die Friedenskonferenz von Annapolis von 2007 und die amerikanischen Friedensbemühungen der Administration Obama, welche die Regierung Netanyahu mit der Wiederaufnahme der vorübergehend eingestellten Siedlungstätigkeit torpediert hat. Immer bekundete das offizielle Israel Interesse, alle Projekte versandeten aber früher oder später.

Es gibt durchaus israelische Stimmen und solche aus der jüdischen Diaspora, die Wege aufzeigen, wie das Problem anzupacken wäre, um zu einer einigermassen ausgewogenen Lösung zu kommen. Sie ermöglichen dem israelischen Publikum, von der realen Lebenswelt der Palästinenser, ihrer Leidenszeit und Verzweiflung zu erfahren, die sich von der stereotypen Apostrophierung der Araber und Palästinenser als mörderischer Feinde unterscheiden. Es zeigt sich aber, wie gering die Bereitschaft eines Grossteils der israelischen Gesellschaft ist, in den Palästinensern die Mitmenschen zu sehen und sich in die Lage des hart geprüften Nachbarvolkes zu versetzen. Ein klarer Paradigmenwechsel bei der Friedenssuche, der auch verschiedene Formen des gewaltlosen Widerstandes umfassen kann, ist notwendig.

2Dimitris Keridis, «Europe and Israel: what went wrong?» in: Turkish Policy Quarterly, Winter 2003, S. 143. Keridis war zu diesem Zeitpunkt Assistenz-Professor für internationale Politik an der University of Macedonia in Thessaloniki sowie Direktor der Kokkalis Foundation in Athen.

3Moshe Zuckermann, «Antisemit!»: Ein Vorwurf als Herrschaftsinstument, Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft, Wien, 2010, S. 33.

4Gwynne Dyer, Nach Irak und Afghanistan: Was kommt, wenn die westlichen Truppen gehen? Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2008, S. 217.

Die Wurzeln des Nahostkonflikts

Die Einschätzung des Nahostkonflikts in unseren Breitengraden wird durch die im christlichen Abendland gängigen biblisch-historischen Assoziationen geprägt. Die Expertin Gudrun Krämer weist in ihrem grundlegenden Werk über die Geschichte Palästinas5 darauf hin, dass diese Perspektive verzerrt ist und dass diese Verzerrung die Darstellung von Land und Leuten und ihrer Geschichte insgesamt charakterisiert. So wird Palästina in erster Linie mit dem «Land der Bibel» identifiziert. Dementsprechend rücken die Juden in den Mittelpunkt und drängen alle anderen Bevölkerungsgruppen, selbst wenn letztere zu einem gegebenen Zeitpunkt die Mehrheit ausmachten, in den Hintergrund. Das gilt für die biblische Zeit genauso wie für die Gegenwart. Es ist bezeichnend, dass man laut Krämer über christliche Minderheiten im Nahen Osten weniger weiss als über jüdische.

Israels Gründungsmythos oder die Dominanz des biblischen Geschehens

Jedes Volk hat seine Gründungsmythen. Im Fall Israels haben diese direkte Auswirkungen auf seine gegenwärtigen territorialen Machtansprüche. Die Bibel – mit den Hinweisen auf das von Gott verheissene Land – und die Erinnerung an das Exil des jüdischen Volkes sind die zionistische Rechtfertigung für die später erfolgten Eroberungen.

Der israelische Historiker Shlomo Sand, Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv, stellt verschiedene Mythen der jüdischen Geschichte in Frage, was der zionistischen Besetzungs- und Besiedlungspolitik weitgehend die ideologische Grundlage entziehe.6 Etwa jenen Mythos vom Auszug der Kinder Israels aus Ägypten ins Gelobte Land unter der Führung von Moses. Für Sand war die Flucht nach Kanaan, dem heutigen Palästina, kaum möglich, weil dort zu jener Zeit kein anderes Volk als eben jene Ägypter geherrscht hatten, vor denen die Juden angeblich geflohen sind. Auch sei aus dieser Epoche in Ägypten kein grosser Sklavenaufstand bekannt, der die Flucht einer solch gros­sen Zahl von Menschen wahrscheinlich gemacht hätte.

Ähnlich verhält es sich mit der Vertreibung der Juden aus Kanaan-Palästina im Jahre 70 n.Chr., also nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer. Die Römer hätten die von ihnen besiegten Völker zwar harsch behandelt, niemals aber hätten sie die Völker vertrieben. Und wohin hätten die Römer die Juden vertreiben sollen? Viele angrenzende Länder seien damals von den Römern selbst beherrscht worden.

Die Verteilung zahlreicher Juden über die damals bekannte alte Welt erklärt sich Shlomo Sand mit Missionsarbeit. Jüdische Missionare hätten in vielen Regionen rund um das Mittelmeer Menschen zum jüdischen Glauben bekehrt. Andere Juden seien zum Christentum konvertiert, nicht wenige hätten sich nach der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert dem Islam geöffnet. Sands Schlussfolgerung: Viele der heutigen Palästinenser seien eigentlich Nachkommen der Juden. Andere Juden, etwa solche in Nordafrika, seien Nachkommen von Berbern, die zum Judentum bekehrt worden seien. Wieder andere, etwa ein Teil der Chazaren, die im 8. oder 9. Jahrhundert im nördlichen Kaukasus ein Königreich errichtet hatten, seien freiwillig zum mosaischen Glauben übergetreten.

Dies steht im Gegensatz zum Alten Testament. Shlomo Sand schreibt, dass frühe jüdische Historiker das Alte Testament keineswegs als historische Wahrheit betrachtet, sondern als theologisches Werk angesehen hätten. Selbst der israelische Gründervater Ben Gurion sei sich der Tatsache bewusst gewesen, dass die Geschichte vom Exodus mit der Realität nicht übereinstimme, sondern eine Art Metapher sei.

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten jüdische Historiker eine nationale Vision der Bibel und verwandelten Abrahams Reise nach Kanaan, die Flucht aus Ägypten und das vereinigte Königreich von David und Salomon in eine authentische nationale Vergangenheit. Durch ständige Wiederholung haben zionistische Historiker diese biblischen Darstellungen zur Basis einer nationalen Erziehung gemacht.

Wenn indessen ein Ereignis wie der «Auszug aus Ägypten» nicht stattgefunden haben kann, dann verlieren die religiös motivierten Siedler die Basis ihrer Argumente: kein Auszug aus Ägypten, kein Versprechen Gottes, seinem «auserwählten Volk» das «gelobte Land» zuzuweisen.

Die «biblische» Sicht der Israeliten (Hebräer, Juden) hat bis heute die Geschichte Palästinas geprägt. Das gilt gerade im israelisch-arabischen Konflikt um Palästina, wo «Orte und ihre Benennung eine so zentrale Bedeutung für die Begründung eigener, aus der Geschichte abgeleiteter Rechte erlangten, und die Fähigkeit, die Namen der Dinge festzulegen, zu einem der aussagekräftigsten Kennzeichen politisch-kultureller Vormacht wurde»7. Der jüdische Anspruch auf Palästina als «Land Israels» (hebräisch «Eretz Israel») klammert sich an die biblische Geschichte und rechtfertigt so die ununterbrochene Präsenz und Bindung des jüdischen Volkes an dieses Land. Der arabische Anspruch stellt hingegen eine kontinuierliche Anwesenheit von Juden unter Hinweis auf die eigene, mehr als ein Jahrtausend andauernde Verwurzelung in Frage und reklamiert gelegentlich die Kanaanäer als die eigenen Vorfahren, die noch vor den Israeliten das Land besiedelt hatten.

Obschon ein undurchdringliches Gewirr von Fakten und Legenden die Anfänge des jüdischen Volkes kennzeichnet, ist es unbestritten, dass Palästina das territoriale Zentrum der wechselvollen Geschichte des Judentums war und bis heute geblieben ist. Ebenso klar ist es umgekehrt, dass über lange Perioden hinweg kaum noch Juden in dem Lande lebten, das hauptsächlich von den arabischen Palästinensern bevölkert war und ist.

Beidseits wird darum gestritten, wer das Land zuerst besiedelt hat, man bemüht die Archäologie, Karten werden gezeichnet, und oft wird mit Ortsnamen argumentiert. Das Ringen um Palästina bzw. Eretz Israel wurde auch schon als «Territorialisierung von Geschichte» bezeichnet, mit der politische Ansprüche historisch und geographisch untermauert werden, und Bibelwissenschafter sprechen von «Geotheologie»8.

Ein interessantes Detail ist Folgendes: «Palästina», der in der Moderne ausserhalb Israels gebräuchlichste Begriff, geht auf die Philister zurück, denn auf sie bezog sich das griechische «Palaistine», das über die lateinische Form «Palaestina» schliesslich nicht nur in die europäischen Sprachen übernommen wurde, sondern auch im Arabischen («Filastin») Eingang gefunden hat. Die Philister waren im Verlaufe des 12. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung mit dem Seevolk der Phönizier aus dem ägäischen Raum teils friedlich, teils gewaltsam in das Gebiet des späteren Palästina eingedrungen und siedelten mehrheitlich in der Küstenebene von Gaza bis Jaffa. Nun hatten die Philister das Pech, die schlimmsten Feinde der Israeliten zu sein, die sich vorwiegend im zentralen Berg- und Hügelland (hebr. Judäa und Samaria) niedergelassen hatten. Dementsprechend sind sie in der Bibel mit einem negativen Stereotyp belegt. Ähnliches gilt für die Kanaanäer, die in der Schrift als barbarische Götzendiener dargestellt werden. So ergibt sich ein verzerrtes Bild: Der Beitrag der Kanaanäer und Philister, allen voran aber der Phönizier (die im heutigen Libanon lebten) zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des Alten Vorderen Orients ist bedeutsam.9 Aber es war fast ausschliesslich das Volk der Bibel, welches die weitere Geschichte des Landes beeinflussen sollte. 10

Das zionistische Projekt

Der seit den Zeiten des alten Rom in einem Grossteil der Welt grassierende religiöse Antijudaismus, der über Judenverfolgungen sowie Pogrome vor allem in Osteuropa direkt zu Hitlers verbrecherischer Politik einer «Endlösung der Judenfrage» führte, verlieh dem staatenlosen Judentum das unbestreitbare und unbedingte politische Recht, sich und seine Nachkommen durch die Gründung eines eigenen Staates vor weiteren Verfolgungen zu schützen.

Mit dem ersten Zionistischen Weltkongress 1897 in Basel entstand der Zionismus, der sich die Verwirklichung dieses Gedankens zur Aufgabe machte. Der österreichisch-ungarische Jude Theodor Herzl gilt mit seiner Schrift «Der Judenstaat» als Vordenker der zionistischen Bewegung. Er wollte die prekäre Lage der zerstreut lebenden europäischen Juden aufheben und einen politisch-souveränen Staat ausserhalb Europas schaffen. Das Gedankengebäude des Zionismus enthielt die Negation der Diaspora, die Schaffung eines «neuen Juden», die Ansiedlung aller Diasporagemeinschaften auf einem zu erobernden und urbar zu machenden Territorium und die Vermengung aller dieser verschiedenen Gemeinschaften, damit daraus der starke Homo hebraicus erwachse. Die jüdische Nationalbewegung war von einer Vielzahl von zionistischen Gesellschaftsmodellen (revisionistische, demokratische, liberale, marxis­tische oder sozialistische Vorstellungen) geprägt. Ihnen allen gemeinsam war, dass die jüdische Religion – in Übereinstimmung mit den antireligiösen Traditionen im Geiste der sozialistischen und aufklärerischen Einflüsse des 19. Jahrhunderts – ursprünglich eine geringe Rolle spielte.

Während die zionistische Ideologie die traditionell-religiöse Lebensart der Thoraschulen ablehnte, bekämpfte die religiöse Orthodoxie ihrerseits von Beginn weg dezidiert und in aller Schärfe das zionistisch-säkulare Streben nach einem jüdischen Staat. Für Letztere galt das Axiom, die Erlösung sei durch Gott, nicht durch den Menschen herbeizuführen.

In diesem Zusammenhang ist für den israelischen Historiker Moshe Zuckermann von vorneherein eine religiöse Komponente in der zionistischen Nationalbewegung angelegt. Da stellt einmal die Wahl Eretz Israel – ein an sich religiös belegter Begriff der Diasporajuden – einen wesentlichen Gegensatz zum säkularen Anspruch des Zionismus dar, gestützt auf die Tatsache, «dass eine europäisch vorgeprägte, moderne, mithin säkulare Nationalstaatsbildung auf einem von Grund auf religiösen Moment basierte»11. Das in der zionistischen Ideologie gedachte Postulat eines unbevölkerten Territoriums widersprach überdies der objektiven Situation Palästinas – dort lebte bereits ein Kollektiv, mit dem die Zionisten um das Land kämpfen mussten. Dieser Kampf der politischen Nationalbewegung stützte sich im Wesentlichen auf die religiöse Rechtfertigung, dass Gott den Juden das gelobte Land verheissen habe.

Die religiös definierte Volkszugehörigkeit führte zu einer ganz besonderen Mischung von ethnozentrischem Nationalismus und überlieferter Religion. Sie dient den Inhabern der nationalen Definitionsmacht als wirksames Werkzeug. Der israelische Historiker Shlomo Sand zitiert diesbezüglich Liah Greenfeld, die das Charakteristische an solchen problematischen Spielarten des Nationalismus wie folgt beschreibt: «Die Religion ist nicht länger der Ausdruck einer offenbarten Wahrheit und einer persönlichen Überzeugung, sondern ein äusseres Zeichen und ein Symbol für die kollektive Individualität. (…) Noch schwerer wiegt, dass der Wert der Religion hauptsächlich an ihrer äusserlichen – und irdischen – Funktion beurteilt wird, und so wird sie zu einem ethnischen Charakteristikum, zu einer unwandelbaren Eigenart des Kollektivs. In dieser Funktion spiegelt sie eine Notwendigkeit wider, keine freie Entscheidung oder persönliche Verantwortung. Das heisst, in ihr spiegelt sich letztlich eine Rasse wider.»12

Die Volkszugehörigkeit wird religiös definiert und bestimmt auf diese Weise das nationale Selbstverständnis – ein Widerspruch in sich. Der Zionismus birgt nach Zuckermann noch ein weiteres Gegensatzpaar, das mit einem emanzipatorischen und einem unterdrückenden Element umschrieben werden kann. Als «Projekt der Moderne» habe die zionistische Bewegung die Befreiung des jüdischen Volkes durch die Nationalstaatsbildung bezeichnet. Zugleich aber werde in diesem Prozess das bereits auf dem zu erobernden Territorium existierende Kollektiv als der «Andere», als der «Feind» verstanden und somit vom nationalen Projekt ausgegrenzt, auch wenn es teilweise und unter Restriktionen eingebürgert wird. Zuckermann stellt bezüglich der Behandlung der Palästinenser Parallelen zum Schicksal her, das den Juden selbst früher in den einzelnen ­Diasporaländern widerfahren ist.13

Dem Verhältnis zu der bereits vor Ort befindlichen palästinensischen Bevölkerung kam eine zentrale Bedeutung zu. Diesbezüglich gab es innerhalb der zionistischen Bewegung von Anfang an verschiedene Richtungen. Warnende Stimmen wie Georg Landauer (1895–1954) sahen im Zionismus die Erfüllung der grossen humanistischen Gebote des Judaismus und der aufgeklärten Menschheit. Sie drängten auf eine Verständigung mit den Arabern und fanden die Vorstellung unerträglich, ein nationales Heim auf den Trümmern einer andern Nation zu errichten, weil dies den Keim für einen gefährlichen Dauerkonflikt bilden könnte. In seinem Selbstverständnis hat der Zionismus im Unterschied zu allen Kolonialbewegungen, mit denen er oft verglichen wird, die Juden nicht etwa als Eroberer nach Palästina geführt, sondern als Pächter, ­Bauern und Arbeiter.14

Der militante Zweig, die sogenannten Revisionisten unter ihrem Gründervater Zeev Vladimir Jabotinsky (1880–1940), hielt einen Ausgleich mit den Arabern generell für unmöglich. Jabotinsky hat wohl die treffendsten Voraussagen über den zu erwartenden Widerstand der Araber gemacht. Er wusste, dass das Recht der Juden auf Rückkehr in ihre angestammte Heimat nicht ohne Zusammenprall mit dem Recht der dort lebenden und das Land ebenfalls als ihre Heimat betrachtenden Bewohner zu bewerkstelligen sein würde. Für Jabotinsky war es immerhin klar, dass er im Falle ihres Widerstandes die Palästinenser als legitime Feinde anerkennen würde, da er die Motivation für ihre Ansprüche nicht verwarf. Der arabische Widerstand wird bei ihm somit verallgemeinert als normale Reaktion einer jeden Volksgemeinschaft in vergleichbarer Situation aufgefasst und impliziert, dass auch die Juden in ähnlicher Lage kaum anders handeln würden. Jabotinskys Thesen wurden 1923 in zwei Aufsätzen («On the Iron Wall – We and the Arabs», «The Morality of the Iron Wall») veröffentlicht. Der darin enthaltene Grundgedanke besagt, dass die jüdische Besiedlung nur erfolgreich sein kann, wenn sie wie von einer eisernen Mauer geschützt wird, welche die einheimische Bevölkerung nicht niederzureissen imstande wäre. Dieser Mauer werde aber schliesslich die friedliche Koexistenz von Juden und Arabern in Palästina zu verdanken sein.

Wie der Verlauf der Geschichte zeigt, haben sich praktisch alle späteren zionistischen Exponenten den Grundgedanken von Jabotinsky über die uneinnehmbare «eiserne Mauer» explizit oder implizit zu eigen gemacht, ohne hingegen seine andere prinzipielle Erkenntnis – dass die palästinensischen Araber eine spezifische nationale Entität bildeten – wahrzunehmen.

Die gut vernetzte zionistische Bewegung konnte von Anfang an von der projüdischen Neigung verschiedener westeuropäischer Staaten profitieren. Der Zionismus war denn auch eng mit dem europäischen Kolonialismus verbunden. Lord Balfour, welcher der zionistischen Bewegung im Namen der englischen Kolonialmacht eine jüdische Heimstätte in Palästina versprach und auch die Buren in Südafrika unterstützte, beschrieb den Kolonialismus in der damals üblichen Terminologie als Ausdruck der «gereiften Rechte und Privilegien» der weissen europäischen «Rassen». Der Zionismus war somit ein typisches Produkt dieser kolonialistischen Ideologie.

Dementsprechend warb Theodor Herzl mit der Erklärung, die zionistische Bewegung in Palästina werde «ein Stück des Schutzwalles gegen Asien formen» und «ein Vorposten der Zivilsation gegen das Barbarentum» sein, um die Unterstützung der Kolonialmächte England und Frankreich. Diese hatten sich 1916 in einem Geheimabkommen bereits die Einflusssphären im Nahen Osten nach der Niederlage des Osmanischen Reiches aufgeteilt (Sykes-Picot-Abkommen 1916). Kolonialistische Ideologien gingen von der rassistischen Annahme der Überlegenheit der westlichen Zivilsation und des «weissen Mannes» aus. Im vom europäischen Zionismus geprägten Israel hatte diese Haltung die Abwertung und Diskriminierung arabischer und afrikanischer Jüdinnen und Juden zur Folge, die nach der Gründung ins Land geholt werden mussten, um einen Ausgleich zu dem im Holocaust weitgehend ausgelöschten europäischen Judentum zu schaffen.

Mit guten Beziehungen jüdischer Politiker zur britischen Mandatsmacht wurde die Einwanderung begünstigt, die in verschiedenen Wellen erfolgte und als Folge des Holocausts kulminierte. Diese Politik sowie der Landerwerb durch den Jewish National Fund erfolgten auf Kosten der einheimischen palästinensischen Bevölkerung, die das Vorgehen als zunehmende Existenzbedrohung empfand. Deshalb kam es bereits 1936–1939 zu einem Aufstand. Den Arabern wurde der Anspruch auf Palästina abgesprochen, weil sie es nicht verstanden hätten, das Land fruchtbar zumachen. Gemäss der israelischen Historikerin Anita Shapira, die mit ihrem Werk «Land and Power: The Zionist Resort to Force 1881–1948» die zionistische Eroberungsstrategie bis zum Vorabend der Gründung Israels rechtfertigt, war das Ziel die Schaffung eines jüdischen Staates in «ganz Palästina». Dieser jüdische Staat würde die Araber zumindest politisch «dirigieren», sollte sie jedoch «idealerweise» physisch alle vertreiben, «um die Juden von der Bürde zu befreien, das Leben mit einer anderen Bevölkerung teilen zu müssen»15. Die Araber wurden fast durchwegs mit negativen Metaphern bedacht wie «Plünderer», «Strassenräuber», «Diebe», die «arbeitsscheu» seien und die Juden «terrorisieren». Diese Klischees wirken bis in die Gegenwart nach.

Der von der schwärmerischen deutschen Romantik beeinflusste Zionismus stellt eine direkte Verbindung her zwischen dem Boden in Palästina und den Juden: Weil die Vorfahren des jüdischen Volkes aus dieser Gegend stammten und dort begraben waren, können nur die Juden – und sie alleine – einen fundierten Anspruch auf den palästinensischen Boden erheben. Anita Shapira betont mehr als einmal wiederkehrende Themenkreise wie die «Mystik, die das Blut mit dem Boden verbindet», den «Helden-, Toten- und Gräberkult», den Glauben, dass die «Grabstätten die Quelle des lebenswichtigen Bandes zum Boden sind und recht eigentlich die Verbindung des Menschen mit eben diesem Boden bewirken». Oder anders gesagt: «Das Blut macht den Boden fruchtbar.»16

Als Beispiel für den Helden- und Totenkult sei das Neuaufleben der Erinnerung an den Massenselbstmord erwähnt, den letzte Reste der Aufständischen in der Festung Masada im Jahre 73 unserer Zeitrechnung begangen haben sollen. Diese kollektive Verzweiflungstat war die Folge der römischen Eroberung Palästinas und der Zerstörung des Herodes-Tempels als des wichtigsten Symbols des jüdischen Eretz Israel. Der Kollektivsuizid wurde erst im 20. Jahrhundert zu einem symbolisch bedeutenden Ereignis der jüdischen Nationalgeschichte aufgewertet. Masada selbst wurde nach der Gründung des Staates Israel in eine nationale Gedenkstätte umgewandelt, an der, etwa im Rahmen von Rekrutenvereidigungen, der heroische Geist der jüdischen Kämpfer angesichts der erdrückenden Feindesmacht beschworen wird («Masada wird nie wieder fallen!»). Für die Nahostexpertin Gudrun Krämer ist es «eine bewusste Parallelisierung von Antike und Gegenwart, in der das Motiv des Kampfes von David gegen Goliath in (…) sehr anschaulicher Weise in Szene gesetzt wurde.»17

Mit dem «historisch verbrieften Recht» auf ganz Palästina, das notfalls unter Gewaltanwendung durchzusetzen ist, weist der Zionismus nicht nur Ähnlichkeit mit der Heldenepoche der deutschen Romantik auf, sondern er gerät in bedrohliche Nähe zum Blut-und-Boden-Mythos unseligen Gedenkens, wie Norman Finkelstein meint (vgl. «Die jüdische Dachorganisation Frankreichs» im Kapitel «Die Rolle Europas»). Die Nationalsozialisten beriefen sich nämlich auf ein ähnliches «historisches Recht», um die «Wiedereroberung von Lebensraum im Osten» zu rechtfertigen: dieser «Volksboden» sei in uralten Zeiten durch «edles deutsches Blut» fruchtbar gemacht worden, lange bevor er von den Slawen «für einige Jahrhunderte» betreten worden sei. Die minderwertigen slawischen «Eindringlinge» wurden als «Squatters der Geschichte» bezeichnet, die keine Rechtstitel hatten und denen die Befähigung zur Urbarmachung des Landes abging. So wurde etwa Polen unter den Slawen als ein künstliches Gebilde dargestellt, das mehr einer Mischung von zügellosen nationalen Gruppierungen glich als einer festgefügten Nation und das nicht imstande gewesen sei, das Land vor der Verödung und Dekadenz zu bewahren. Dies natürlich im Unterschied zu den deutschen Enklaven, die aller widrigen Umstände zum Trotz gut strukturiert waren und einen grossen Aufschwung nahmen.

Die britische Mandatsmacht

In dem Augenblick, als der britische Aussenminister Lord Arthur Balfour der zionistischen Bewegung 1917 das Versprechen gab, eine «nationale Heimstätte» für Juden in Palästina zu schaffen, begann der endlose Konflikt, der schon bald das ganze Land und sein Volk in Mitleidenschaft ziehen sollte. In der Erklärung, die Balfour im Namen seiner Regierung dem prominenten britischen Zionisten und Baron Lionel Walter Rothschild abgab, verpflichtete er sich, die Rechte der nichtjüdischen Gemeinschaft – eine seltsame Bezeichnung für die deutliche palästinensische Bevölkerungsmehrheit – zu schützen. Diese Deklaration kollidierte sowohl mit den Bestrebungen als auch mit den natürlichen Rechten der Palästinenser auf nationale Souveränität und Unabhängigkeit. Zur Frage nach der Haltung der Palästinenser schrieb Balfour 1919 in einem Memorandum: «In Palästina denken wir nicht daran, die Wünsche der gegenwärtigen Bevölkerung zu konsultieren. (…) Die vier Grossmächte sind dem Zionismus verpflichtet. Und der Zionismus ist – zu Recht oder zu Unrecht, im Guten wie im Schlechten – in jahrhundertealten Traditionen verwurzelt; in gegenwärtigen Notwendigkeiten, in zukünftigen Hoffnungen. All dies ist von ungleich grösserer Bedeutung als die Wünsche und Vorurteile von 700 000 Arabern, welche jetzt das Land bewohnen.»18

Mit dem religiösen Lloyd George, dem britischen Premierminister während des Ersten Weltkrieges, teilte Balfour das tiefe Misstrauen gegenüber den Palästinensern, die von beiden verächtlich «Araber» und «Mohammedaner» genannt wurden, während sie sich mit grossem Engagement für den Erfolg des zionistischen Projekts einsetzten. Beide britischen Spitzenpolitiker waren Anhänger des christlichen Zionismus. Die Vertreter dieser fundamentalistischen Richtung, die heute vor allem in den USA und auch in Europa einflussreich sind, betrachten die Juden in wortgetreuer Auslegung der Bibel als das auserwählte Volk, das von Gott das Land Kanaan (heute Palästina genannt) zum «ewigen Besitz» erhalten hat.

Hier zeichnet sich ein mehrheitlich projüdisches und antiarabisches Verhaltensmuster ab, das nicht nur für die europäischen und amerikanischen Entscheidungsträger, sondern auch für die Mehrheit der öffentlichen Meinung im Westen prägend wurde.

Ende der 1920er-Jahre zeigte sich deutlich, dass die Balfour-Erklärung einen potentiell gewaltsamen Kern besass, da bis dahin bereits Hunderte von Palästinensern und Juden ihr Leben hatten lassen müssen. Dies veranlasste die Briten zu einem ernsthaften, wenn auch zögerlichen Versuch, den schwelenden Konflikt zu lösen. Bis 1928 hatte die britische Regierung Palästina nicht als Kolonie, sondern als Staat innerhalb der britischen Machtsphäre behandelt, indem sie hoffte, sowohl das Versprechen an die Juden als auch die Bestrebungen der Palästinenser unter britischer Aufsicht umsetzen zu können. Es wurde versucht, eine politische Struktur einzuführen, die beide Gemeinschaften im Parlament und in der Regierung gleichberechtigt repräsentieren würde. In der Praxis war das Angebot der Mandatsmacht weniger ausgewogen, denn es begünstigte die jüdischen Siedlungen und diskriminierte die palästinensische Mehrheit. Im ständigen Hin und Her setzte fast immer die zionistische Seite ihren Standpunkt durch.

Nach dem Aufstand der Palästinenser von 1929 schien die Labour-Regierung in London geneigt, vermehrt auf deren Forderungen einzugehen, aber der zionistischen Lobby gelang es, die britische Regierung wieder auf den Balfour-Kurs zurückzubringen. Weitere Unruhen waren die unausweichliche Folge. Sie mündeten 1936 in einen so entschlossenen Volksaufstand, dass die britische Regierung sich gezwungen sah, in Palästina mehr Truppen zu stationieren als auf dem indischen Subkontinent. Nach drei Jahren mit brutalen und rücksichtslosen Angriffen auf ländliche Gebiete Palästinas schlug das britische Militär die Revolte nieder. Die palästinensischen Führer wurden ins Exil geschickt und die paramilitärischen Verbände aufgelöst, die den Guerillakrieg gegen die Mandatstruppen unterstützt hatten. Viele der beteiligten Dorfbewohner wurden inhaftiert, verwundet oder getötet. Da ein Grossteil der palästinensischen Führung nicht mehr im Land war und einsatzfähige palästinensische Kampfeinheiten fehlten, war es 1947 für die jüdischen Untergrundorganisationen verhältnismässig leicht, die ländlichen Gebiete Palästinas einzunehmen.

Britische Offiziere überzeugten die zionistische Führung davon, dass die Idee eines jüdischen Staates eng mit Militarismus und einer starken Armee verbunden werden musste. Zum einen, um die wachsende Zahl jüdischer Enklaven und Siedlungen zu schützen, zum anderen aber auch, weil Akte bewaffneter Aggression eine effektive Abschreckung gegen möglichen Widerstand der Palästinenser waren. Von hier war es nur noch ein kleiner Schritt, die Zwangsumsiedlung der einheimischen Bevölkerung in Erwägung zu ziehen.

Die 1920 gegründete Haganah, die wichtigste paramilitärische Organisation der jüdischen Gemeinde in Palästina, entwickelte sich schnell zum militärischen Arm der Jewish Agency, der zionistischen Körperschaft in Palästina. Die Haganah entwarf letzten Endes die Pläne für die zionistische Einnahme des ganzen palästinensischen Territoriums und begann, die grossräumige Vertreibung der ansässigen Bevölkerung vorzubereiten, was Ilan Pappe «die ethnische Säuberung Palästinas» nennt.19 Sie ging mit Exekutionen, Massakern und Vergewaltigungen einher. Nach heutigem Völkerrecht gilt ethnische Säuberung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die Unterdrückung des Aufstandes von 1936 durch die britische Mandatsmacht, die zur Zerschlagung des palästinensischen Widerstandes und seiner Führungsspitze geführt hatte, verschaffte den zionistischen Führern Zeit und Raum, um ihre nächsten Schritte vorzubereiten. Sobald die Gefahr einer nationalsozialistischen Invasion in Palästina gebannt war, wurde den zionistischen Führern deutlicher bewusst, dass das einzige Hindernis auf ihrem Weg zu einer erfolgreichen Übernahme des Landes nicht so sehr von der palästinensischen Seite her drohte; es war vielmehr die britische Mandatsmacht, die der Umsetzung der jüdischen Pläne im Wege stand.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges startete die jüdische Führung in Palästina eine Kampagne, um vorerst die Briten gewaltsam aus dem Land zu jagen. Gleichzeitig arbeitete sie weiter an ihren Plänen, die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben, die mit 75 Prozent die Mehrheit im Land stellte. Der spätere Gründervater Israels, David Ben Gurion, wollte mit ähnlichen oder noch höheren Prozentzahlen zugunsten des jüdischen Bevölkerungsanteils eine radikale Trendwende herbeiführen. Er erklärte, «dass 80 bis 90 Prozent des palästinensischen Mandatsgebietes genügen würden, um einen lebensfähigen Staat aufzubauen, sofern sie [die zionistischen Führer] eine jüdische Vorherrschaft gewährleisten können»20.

Unter diesen Umständen musste mit arabischem Widerstand gerechnet werden. So sagte der zukünftige erste israelische Ministerpräsident David Ben Gurion schon im Juni 1937 ganz offen: «Wenn ich ein Araber wäre, würde ich noch heftiger, noch bitterer und verzweifelter gegen die Einwanderung rebellieren, die eines Tages Palästina und alle seine arabischen Einwohner unter jüdische Herrschaft stellen wird.»21 Mit einer solchen einseitigen Vision der Zukunft Palästinas war der Konflikt mit der einheimischen Bevölkerung und der arabisch-muslimischen Welt vorgezeichnet.

Von Anfang an war somit die gewaltsame Bevölkerungsvertreibung ein Begriff, der tief im zionistischen Denken verankert ist. Über dieses brutale Vorgehen, mit dem Begriff «Transfer» euphemistisch umschrieben, wurde allerdings nur im restriktiven Führungskreis, kaum jedoch in der Öffentlichkeit gesprochen. Im gleichen Jahr 1937 äusserte sich Ben Gurion zur Absicht, das Land «entarabisieren» zu wollen, wie folgt: «Die Araber werden gehen müssen, aber man braucht einen günstigen Moment, um dafür zu sorgen, etwa einen Krieg.»22

5Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas: Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, Verlag C.H. Beck, 5. Aufl., München 2006.

6Shlomo Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes: Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Propyläen Verlag, Berlin, 2. Aufl., 2010.

7Vgl. Fn. 5, S. 12.

8Dito, S. 13.

9Dito, S. 15. Gudrun Krämer erwähnt vor allem die Konsonantenschrift, die sich sowohl im Mittleren Osten wie in Europa durchsetzen sollte.

10Wer sich eingehend dafür interessiert, dem sei die Lektüre des Buches von Gudrun Krämer, «Geschichte Palästinas» empfohlen (vgl. Fn. 5).

11Nachzulesen bei Tamar Amar-Dahl, Shimon Peres, Friedenspolitiker und Nationalist, Ferdinand Schöningh, Paderborn/München/Wien/Zürich, 2010, S. 38 ff.

12Vgl. Fn. 6, S. 416.

13Als Folge des Befreiungsgedankens der Aufklärung war es zu einer Aufhebung der damals üblichen Ghettoisierung gekommen, und die Juden wurden als gleichberechtigte Bürger in die jeweilige Residenzgesellschaft aufgenommen; zugleich aber hatte eine neue Form des biologischen Rassenantisemitismus eingesetzt, der stufenweise zur gesellschaftlichen Ausgrenzung der Juden führte.

14Eines der Grundideale der zionistischen Bewegung war die Transformation der sozialen und wirtschaftlichen Struktur des jüdischen Volkes, das sich durch die in der Diaspora erzwungenen Lebensbedingungen vor allem auf Handel und Finanzgeschäfte zu beschränken hatte. Zionistisches Ideal war es, die jüdische Jugend das Land bearbeiten zu lassen, Industrien aufzubauen, und zwar nicht durch Kapitalinvestitionen und nicht durch die Beschäftigung einheimischer Arbeiter, sondern durch die völlige Neuerrichtung einer jungen jüdischen Wirtschaft in Palästina. Damit einher ging die Schaffung eines neuen, selbstbewussten Homo hebraicus, der sich vom traditionellen Klischee des vergeistigten, kriecherisch-unterwürfigen und letztlich hilflosen Diasporajuden abheben soll.

15Norman G. Finkelstein, Mythes et réalités du conflit israélo-palestinien, Editions Aden, Brüssel, 2007, S. 178.

16Dito, S. 176.

17Vgl. Fn. 5, S. 25.

18Heikko Flottau, Die Eiserne Mauer: Palästinenser und Israelis in einem zerrissenen Land, Ch. Links Verlag, Berlin, 1. Aufl., 2009, S. 39.

19Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, Zweitausendeins, Frankfurt am Main, 2. Aufl., 2007.

20Dito, S. 50.

21Zitiert nach John J. Mearsheimer/Stephen M. Walt, Die Israel-Lobby: Wie die amerikanische Aussenpolitik beeinflusst wird, Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2007, S. 144.

22Vgl. Fn. 19, S. 46.

Israelischer Unabhängigkeitskrieg

Der von David Ben Gurion erhoffte günstige Augenblick für einen Krieg kam 1948. Weder das Konzept der Landeroberung und des «Transfers» sowie des hiefür «günstigsten» Zeitpunkts noch die Prozentzahlen bezüglich der Territo­riums­erweiterung und der Schaffung eines jüdischen Bevölkerungs­über­hangs erfuhren über all die Jahre bis in die Gegenwart wesentliche Änderungen.

Der UNO-Teilungsplan

Als die britische Schutzmacht ihr Völkerbundsmandat 1947 an die neugegründete UNO abtrat, waren mehr als 94 Prozent des Bodens in arabisch-palästinensischem Besitz. Gemäss Teilungsbeschluss der UN-Vollversammlung vom 29. November 1947 (Resolution 181) sollte die jüdische Gemeinde, die mit rund 609 000 Personen nur eine Minderheit der Bevölkerung ausmachte, 56 Prozent des Territoriums und den Grossteil des fruchtbaren Bodens erhalten, wogegen fast 1,4 Millionen Palästinensern lediglich 42 Prozent des Territoriums zugesprochen wurden. Das war die völkerrechtliche Geburtsstunde des Staates Israel auf palästinensischem Boden.

Israel ist «mit einem lebensgefährlichen Geburtsfehler zur Welt gekommen», stellt Professor Arnold Künzli fest.23 Der UNO-Beschluss kam nämlich gegen den erklärten Willen der arabischen Staaten zustande. Als die Weltorganisation die Teilung beschloss, gab es kaum eine Mitgliedschaft arabischer Staaten, weil diese selbst noch unter europäischer Aufsicht (Grossbritannien und Frankreich) standen. Das oft angerufene Selbstbestimmungsrecht der Völker ist in der arabischen Welt nicht zur Anwendung gekommen, daher deren Wut und Misstrauen. Mit Künzli kommt man deshalb nicht umhin zu sagen, dass Palästina durch ein Diktat der Grossmächte USA und Sowjetunion geteilt worden ist, die sich für einmal einig waren.

Obgleich der UN-Teilungsplan die jüdische Seite eindeutig bevorzugte, akzeptierte ihn die zionistische Hierarchie nur selektiv, weil der Plan «unzionistische Bedingungen für seine Einhaltung» enthalte. Für David Ben Gurion und seine zionistischen Weggefährten bedeutete ein lebensfähiger jüdischer Staat ein Gebiet, das den grössten Teil Palästinas und, wenn überhaupt, nur eine verschwindend kleine Zahl von Palästinensern umfassen sollte. Auch von der Forderung der Resolution, Jerusalem unter internationale Verwaltung zu stellen, liess sich Ben Gurion nicht beeindrucken. Wie Ilan Pappe nachweist, war er fest entschlossen, die ganze Stadt zur Kapitale des entstehenden Judenstaates zu machen.24 Daran hinderten ihn schliesslich Komplikationen und Unstimmigkeiten, die sich bei den jordanisch-jüdischen Verhandlungen über die Zukunft des Landes und der Heiligen Stadt ergeben hatten. Die erwartete kategorische Ablehnung des Teilungsplanes durch die arabischen Regierungen und die palästinensische Führung erleichterte es Ben Gurion, den Plan einerseits pro forma gutzuheissen, vor allem, weil er die Anerkennung der Legalität des jüdischen Staates in Palästina enthielt. Anderseits lieferte ihm die kriegerische Rhetorik der Araber den Vorwand, den UN-Plan gleichzeitig zu ignorieren. Ben Gurion konnte erklären, die Grenzen des jüdischen Staates würden «durch Gewalt entschieden, nicht durch die Teilungsresolution»25. Gleiches galt für das Schicksal der dort lebenden Araber.

Der Krieg aus israelischer und palästinensischer Sicht

Die arabischen Staaten haben, keine sechs Monate nach Verabschiedung der UN-Resolution, mit einem militärischen Angriff auf Israel reagiert. Die auf beiden Seiten blutigen und verlustreichen Ereignisse der Jahre 1948/49 galten und gelten in Israel immer noch als ein Akt der nationalen Notwehr im Kampf ums Überleben, als der winzige, neugeborene Staat von der übermächtiger Militärmaschinerie der arabischen Streitkräfte wie durch ein Wunder nicht erdrückt wurde.

Die neuere historische Forschung hat ergeben, dass diese zionistische Version des Krieges von 1948 nicht der Wirklichkeit entspricht. Einzig in den ersten Kriegswochen sah sich Israel an verschiedenen Fronten bedroht, was für die zeitgenössische Wahrnehmung und spätere Erinnerung an den Krieg bestimmend werden sollte.26 Die objektiven Daten sprachen indessen schon bei Kriegsausbruch eindeutig für Israel. Die jüdische Gemeinschaft war zwar nur halb so gross wie die palästinensische, doch viel besser organisiert, bewaffnet und auf einen Krieg vorbereitet. Die jüdischen Einwanderer waren überzeugte Zionisten mit einer aussergewöhnlichen Hingabe für das Projekt, eine nationale Heimstätte für Juden in Palästina zu schaffen.

Bereits im Februar 1948, drei Monate vor dem israelisch-arabischen Krieg und einige Wochen vor der massiven Waffenlieferung aus dem kommunistischen Ostblock, schrieb David Ben Gurion seinem designierten Aussenminister Moshe Sharett: «(…) wir können uns nicht nur verteidigen, sondern auch den Syrern in ihrem eigenen Land tödliche Schläge versetzen – und ganz Palästina einnehmen. Daran hege ich keinerlei Zweifel. Wir können es mit den gesamten arabischen Truppen aufnehmen. Das ist kein Wunderglaube, sondern kühle, nüchterne Berechnung aufgrund praktischer Untersuchungen.»27

Demgegenüber verspürten die meist bäuerlich geprägten Palästinenser wenig Lust, sich an den Kriegsvorbereitungen zu beteiligen. Die ersten Soldaten trafen zwar mit der Arab Liberation Army seit Januar 1948 aus benachbarten Staaten ein. Heute ist man sich einig, dass die arabischen Armeen schlecht gerüstet waren, in vielen Fällen fehlte es ihnen an der nötigen Motivation. Die anfänglichen Vergeltungsschläge der «Befreiungsarmee» gegen jüdische Gemeinschaften scheiterten häufig unter schweren Verlusten für die arabische Seite, die wegen innerarabischen Konkurrenzdenkens kaum zu koordinierten Aktionen fähig war. Diese Niederlagenserie kontrastierte in Missachtung der wahren Machtverhältnisse mit den grossmäuligen Ankündigungen massgeblicher Politiker, mit den «zionistischen Banden» rasch fertig zu werden.

Selbst Ben Gurion räumte ein, dass der Sieg nicht so sehr der Heldenhaftigkeit der besser ausgerüsteten und ausgebildeten israelischen Streitkräfte an sich zu verdanken gewesen sei, sondern eher eine Folge der Korrumpiertheit und Inkompetenz der arabischen Armeen sowie der Uneinigkeit der arabischen Welt war. Trotz dieser in kleinem Kreis gemachten realistischen Einschätzung des Gegners schürte Ben Gurion in der Öffentlichkeit die zweifellos vorhandenen Bedrohungs- und Existenzängste seiner Bevölkerung und verkündete unablässig, dass Israel von einem «zweiten Holocaust» bedroht sei.