Wir hatten ein barbarisch schönes Leben - Gretchen Dutschke - E-Book

Wir hatten ein barbarisch schönes Leben E-Book

Gretchen Dutschke

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Beschreibung

Die große Rudi-Dutschke-Biographie – der Bestseller endlich als KiWi-Paperback Gretchen Dutschke überrascht uns als Biographin ihres ermordeten Mannes. Dieses Buch ist antiautoritär und liebevoll, witzig und tragisch, analytisch und spannend. Es ist der letzte Text des Aufstands von 1968. Am Ende töteten die Kugeln des Attentäters dann doch. Sein Opfer, Rudi Dutschke, verkörperte die außerparlamentarische Opposition (APO) der sechziger Jahre, und er wurde zu einer herausragenden Persönlichkeit der ökologischen Bewegung. Rudi Dutschke starb 1979 an den Verletzungen, die ihm Josef Bachmann, ein aufgehetzter Rechtsextremist, 1968 beigebracht hatte. Rudi Dutschke war ein origineller Denker. Er schuf eine auf die revolutionäre Praxis bezogene Theorie und versuchte danach zu leben. Er forderte, dass Deutschland sich unter freiheitlichen Vorzeichen wiedervereinigen solle. Und er verstand die neuen ökologischen Bedrohungen als Anstoß, seine Theorie fortzuentwickeln. Niemand kannte Rudi Dutschke besser als seine Frau, die uns mit diesem Buch als Biographin überrascht. Sie präsentiert dabei unzählige, bisher unbekannte Quellen. Sie schildert ein großes Politabenteuer und die Geschichte einer Liebe, die allen Zerreißproben standhielt. Gretchen Dutschke hat den letzten Text des Aufstands von 1968 geschrieben.

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Seitenzahl: 822

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Gretchen Dutschke

Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben

Rudi Dutschke

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Gretchen Dutschke

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

HinweiseDie ReiseKindheit und JugendDie MauerSubversive AktionDer SDSUnsere EntscheidungVietnamFormierte Gesellschaft und politische OrganisationZuspitzungDer Anfang vom Ende des SDSDie Ratten kommen aus den LöchernExplosionNachdenkenDas Ende des SDSZersplitterung, VerbitterungCambridgeHerantastenAufrechter GangDoktorarbeitBelebungenTerror und HysterieOrganisierungsversucheMenschenrechteWyhl und BrokdorfDer »deutsche Herbst«Die neue ParteiDurchbruchZuletztZeittafel
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Mitarbeit: Christian v.Ditfurth

 

 

Zitate Rudi Dutschkes, die nicht in Anmerkungen nachgewiesen sind, entstammen seinem Tagebuch.

Einfügungen in Zitaten sind in eckige Klammern gesetzt.

Es ist uns trotz großer Bemühungen nicht gelungen, alle Urheber nicht veröffentlichter Briefe zu finden, aus denen in diesem Buch zitiert wird. Die betreffenden Personen sind gebeten, sich beim Verlag zu melden.

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Die Reise

Ich kaufte mir eine Passage auf einem Frachter. Der sollte mich weit wegbringen. Ich wusste nicht, wohin, und das war gut. Ich hatte die Ausbildung gerade fertig und wollte weg, um einen großen Abstand zwischen mir und den Schuldgefühlen zu schaffen, die in der einschnürenden Enge von Familienmoral und Religion gewachsen waren.

Das war im Januar 1964. Das Schiff sollte irgendwann in den nächsten Wochen in See stechen. Der Abfahrtshafen irgendwo an der Ostküste der USA und der Zielhafen irgendwo in Europa waren nicht bekannt. Von Chicago, meiner Heimatstadt, aus waren es mindestens 1500 Kilometer bis zur Ostküste. Ich verabschiedete mich von meinen Eltern, die nicht viel sagten, wie seit Langem – die Sprachlosigkeit unserer Entfremdung voneinander. Meine Mutter sah traurig aus, aber sie versuchte nicht, mich umzustimmen Sie wusste, dass ich in einer Welt lebte, die ihr fremd war. Aber sie betete sicherlich, dass meine Seele nicht in der Dunkelheit verloren gehe.

Mit meiner Gitarre, einem kleinen Koffer und wenig Geld reiste ich zu meinem Freund Steve, der an der Yale-Universität studierte, und wartete. Jeden Tag rief ich die Reederei an, und jeden Tag erhielt ich die gleiche Antwort: »Wir wissen noch nichts.« Ich bekam Bedenken. War es richtig? Konnte ich? Wollte ich? Sollte ich lieber bei Steve bleiben? Aber mit einer Zuversicht, die ich nicht fühlte, verkündete ich Steve: »Ich werde in einem Jahr zurückkommen, nachdem ich Deutsch und Französisch gelernt habe.«

Er antwortete mit einer Mischung aus Bewunderung und Vorbehalten: »Ja, ja, du kannst aber auch hier bleiben, wenn du willst, und wenn ich die Ausbildung beendet habe, können wir heiraten.«

Aber ich murmelte verunsichert: »Ich muss erst die Welt sehen.«

 

»Von Newport News aus in zwei oder drei Tagen«, antwortete einer von der Reederei, als ich wieder einmal anrief.

»Es ist so weit«, rief ich aufgeregt zu Steve. »Wo ist Newport News? Ich muss jetzt dorthin.« Wir fanden es auf der Karte. Nah war es nicht.

Wieder gab es einen zähen Abschied voller Ungewissheit. Erst am nächsten Tag war ich in Newport News. Eine Hafenstadt, heruntergekommen, rau und voller zielloser Menschen. Ich fand die Reederei und bekam die Auskunft: »Das Schiff fährt heute nicht, vielleicht morgen.« Ich musste in dieser Nacht irgendwo in der Stadt unterkommen. Es sah alles unglaublich trostlos aus, und ich fragte mich wieder, wieso ich das alles überhaupt machte, wo ich doch bei Steve hätte bleiben können.

Ich fand ein billiges Zimmer beim Christlichen Verein Junger Frauen. Wir lagen dort zu dritt in nebeneinanderstehenden Feldbetten. Die Frau neben mir sprach mich an. Sie kam vom Land und fühlte sich von der Stadt überwältigt. Sie suchte Arbeit und Halt und fand beides nicht. Sie sah schon etwas mitgenommen aus, obwohl sie jünger war als ich. Mir schauderte, und ich wunderte mich, dass das Leben einen so schnell auszehren konnte. Ich bekam Angst davor und wollte es nicht wahrnehmen, aber mein Bauch zog sich zusammen, und ich spürte eine leichte Übelkeit.

Auch am nächsten Tag fuhr das Schiff nicht. Noch eine Nacht im schäbigen Zimmer mit der Frau, die Arbeit suchte. Aber am darauffolgenden Tag erfuhr ich in der Reederei, dass es endlich losging. Es war Februar geworden, winterlich grau und trüb. Auch das Schiff sah grimmig aus. Es war alt und von Rostbeulen und Ruß überzogen. Langsam stieg ich die wackelige Leiter zum Deck hinauf. Es waren schon einige andere Passagiere da, und wir standen ratlos herum. Erst nachdem sich das Schiff Stunden später mit ohrenbetäubendem Sirenengeheul verabschiedet hatte, zeigte ein Seemann den zwölf Passagieren, darunter vier Frauen, ihre Kabinen. »Das Schiff bringt eine Ladung Kohle nach Antwerpen«, sagte er. »Es wird vielleicht zwei Wochen dauern oder auch nicht. Sie essen natürlich mit dem Kapitän.«

Nun waren wir mit vierzig Seeleuten zusammengepfercht in einem rostigen Kahn auf einem endlosen Meer. Bald zog ein beißender Wintersturm auf. Unser Frachter bockte wie ein Pferd, das sich seines Reiters entledigen will. Beim Essen erzählte der Kapitän, dass in der Nähe ein Schiff untergehe. Ich begann zu kotzen. Noch nie in meinem Leben habe ich so viel gekotzt, grün, eine Woche lang kam nur noch der Magenschleim heraus. Ich dachte, ich würde sterben. Aber eines Morgens wachte ich auf, und mein Magen verkrampfte sich nicht mehr.

Nach zwei Wochen auf See waren die Menschen angespannt. Die Matrosen kamen nachts auf Deck und schauten in die Fenster der Kabinen, in denen die Frauen untergebracht waren. Ich erwachte einmal aus einem Traum und sah mit Schrecken die Augen eines Seemanns auf mich starren. Ein anderes Mal sah ich, wie der Kapitän auf einen Matrosen losging. Dessen Gesicht war blutüberströmt. Der Kapitän drückte ihn schimpfend in eine Decksluke. Der Matrose wehrte sich und krallte sich am Lukenrand fest. Aber dann lösten sich seine Finger, und sein Körper verschwand in der Luke. Als der Kopf wieder hochkam, knallte der Kapitän den Lukendeckel zu und verschloss ihn, als wollte er ein wildes Tier einsperren.

Es war, als ob wir nie aus diesem Kreis von grauem Wasser und grauem Himmel entkommen könnten. Aber eines Tages trat ich aus der Kabine, und ein Passagier begrüßte mich freudig bewegt mit den Worten: »Schau nach draußen.« Wir konnten Land sehen. Uns ergriff eine unfassbare Erleichterung.

Im Gang sah ich eine Tonne, die dort zuvor nicht gestanden hatte, und ich schaute hinein. Sie war voll mit Präservativen, es müssen Tausende gewesen sein. Ich lachte. Jemand kam und fragte, was so witzig sei. Ich zeigte auf die Präservative. »Für die Matrosen, für heute Abend in Antwerpen«, erklärte er. Ich nahm einen Kondom und blies ihn auf wie einen Ballon. Das hatte ich als Kind schon einmal gemacht. Ich wusste nicht, was ich da in meines Vaters Kommode gefunden hatte. Meine Mutter schlug mich deswegen, aber sie erklärte mir nicht, warum. Ich nahm noch ein Präservativ und ging in meine Kabine, um es mit Wasser zu füllen. Wieder auf Deck, traf ich auf einen Schiffsoffizier. »Pass auf!«, rief ich und zielte mit dem Wasserballon auf ihn.

Er lachte: »Das wagst du nicht.«

»Ich tue es«, erwiderte ich.

Er lachte lauter, und Leute kamen, um zu schauen, was los war. Ich hielt den Ballon weiter über meinem Kopf. Einige Augenblicke der Spannung, dann warf ich. Der Kondom traf, platzte, und das Wasser floss über den Bauch des Offiziers. Die Zuschauer klatschten und brüllten vor Lachen. Dann griffen sie alle in die Tonne, und ein wildes Spiel tobte. Als der Kapitän sich brüllend dem nassen Tumult näherte, traf ihn ein wassergefülltes Präservativ im Gesicht. Er würgte und schrie. Aber die Leute johlten und hörten nicht auf ihn. Die Matrosen schlichen sich unerlaubterweise aufs Deck und machten mit. Die Schlacht der Präservative erfasste das ganze Schiff. Es war bald übersät mit Hunderten von weißen Gummifetzen auf dem triefend nassen Deck.

*

Wenige Tage später war ich in Deutschland, in einem Dorf in Bayern, im Ausländergetto eines Goethe-Instituts. Die einzigen Deutschen, die ich dort traf, waren die Lehrer. Eine meiner Klassenkameradinnen war Denyse aus Frankreich. An Wochenenden arbeitete sie in München als Animierdame. Sie nahm mich einmal mit, und ich sah zum ersten Mal, wie Frauen mit großen rosa Federn über ihrem Hintern tanzten. Denyse musste so viel Wein trinken, dass ihr Kopf bald klirrte.

Als der Kursus zu Ende ging, erzählte sie mir, dass Berlin eine spannende Stadt sei. »Komm mit nach Berlin«, schlug sie vor. Und ich dachte: »Warum nicht.« So landete ich im Mai 1964 in Westberlin. Denyse fand Arbeit als Animierdame und verdiente genug Geld, um sich eine Wohnung zu leisten. Dafür ging es ihr oft schlecht.

Da mein Geld inzwischen knapp geworden war, empfahl sie mir: »Carol, du kannst es auch machen und viel Geld verdienen. Ich werde meinen Boss fragen.« Sie nannte mich Carol, weil sie Gretchen nicht aussprechen konnte.

»Nein«, entgegnete ich. »Ich vertrage keinen Alkohol.« Ich blieb arbeitslos und hatte kaum Geld und keine Wohnung; ich schlief in der Mission am Bahnhof Zoo. Dort war es schlimmer als im Christlichen Verein Junger Frauen in Newport News. Ich übernachtete in einem riesigen Saal voller Menschen, es roch grässlich. Wenn ich den Gestank in der Bahnhofsmission nicht mehr aushalten konnte, schlief ich im Grunewald, sobald es wärmer wurde. Und wenn ich völlig verdreckt war, nahm ich ein Hotelzimmer und badete.

Endlich fand ich eine Arbeit als Tellerwäscherin in einem Strandcafé am Tegeler See. Mit meinem kargen Lohn konnte ich ein Zimmer bezahlen. Genauer gesagt handelte es sich um eine Küche. Mein Bett bestand aus drei Kissen, die auf einem alten gekachelten Herd lagen. Eine andere Mieterin, Marlies, durfte die Küche ebenfalls benutzen. Sie kam jeden Morgen um fünf Uhr und wusch sich, was mich regelmäßig aus dem Schlaf riss. Aber sie war freundlich und nahm mich hin und wieder mit in die Stadt. Ich wunderte mich anfangs, dass Männer mir Geld anboten, wenn ich mit Marlies unterwegs war. Sie sagte dann: »Lass die Frau in Ruhe, sie gehört nicht dazu.«

Eines Tages ging ich ins »Aschinger«, um Erbsensuppe zu essen. Das war das billigste Gericht, und es sättigte gut. Wie gewöhnlich füllte ich meine Tasche mit Brötchen, damit ich auch für später etwas hatte. Da keine Tische frei waren, setzte ich mich zu einem jungen Mann, und wir kamen ins Gespräch. Er hieß Lugio und war aus Italien. Nach dem Essen sagte Lugio, dass er einige Leute beim Aquarium am Zoo treffen wolle, und er fragte mich, ob ich mitkäme. »Ja, klar«, sagte ich, und wir zogen los.

Nach dem Aquariumsbesuch gingen wir weiter zum Café am Steinplatz. Die weißen Tische warfen das Sonnenlicht auf die Gesichter der Menschen, die rege diskutierten. Wir setzten uns an einen Tisch zu Bekannten von Lugio. Neben mir saß ein Mann. Ich schaute ihn neugierig an. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Haufen Bücher, alle polnisch.

»Bist du aus Polen?«, fragte ich schüchtern.

»Ah nein«, erklärte er, »aber ich lerne Polnisch, damit ich die Bücher lesen kann.«

»Du redest deutsch nicht wie die anderen«, bemerkte ich. Er ging darauf nicht ein.

»Ich bin Rudi«, sagte er.

»Ich heiße Gretchen«, erwiderte ich. Die Leute am Tisch kicherten. Denn Gretchen ist »Faust«, und wenn nicht, dann ist sie bäuerlich, naiv und unbeholfen und vor allem deutsch. Sie ist auf jeden Fall keine Amerikanerin.

Rudi lachte nicht. Er grinste mich freundlich an und fragte, was ich machte und warum ich nach Deutschland gekommen sei. Mein Blick war wie gefesselt von seinen hell und dunkel gefleckten braunen Augen, sie waren unglaublich weich und intensiv. Er trug eine kurze Lederhose, aus denen gut trainierte Beine herausragten. Er hatte glatte schwarze Haare, die über die Ohren hingen, was damals ungewöhnlich war. Er gefiel mir.

Die Sonne sank hinter den Bäumen. Der Kakao war längst ausgetrunken, und die Leute am Tisch beschlossen, einen Western mit John Wayne anzuschauen. Ich ging mit und saß im Kino zwischen Rudi und Lugio. Nach dem Film war es beinah dunkel, und die Gruppe begann sich aufzulösen. Sie fragten mich, wohin ich gehen würde. Ich dachte an die Kissen auf dem Herd und rümpfte schweigend meine Nase. »Dann gehst du mit Rudi«, befahlen sie. Rudi schaute einen Augenblick erschrocken, aber er protestierte nicht.

Ich folgte ihm durch die nächtliche Stadt. Wir nahmen die S-Bahn nach Schlachtensee, dann gingen wir durch stille Gassen, zwischen kleinen Einfamilienhäusern und vielen Bäumen, es war beinahe ländlich.

Rudis Zimmer war im Dachboden. Es hatte nur ein kleines Fenster, durch das das Mondlicht hereinstrahlte, und es verwandelte das schmale Bett, den Tisch und die vielen übereinandergestapelten Kisten voller Bücher in magische Gestalten. Wir saßen auf dem Bett, redeten und verfielen dem Zauber der Anziehung. Keine Lampe brannte. Ich hatte meine Augen geschlossen.

Auf einmal drang eine grelle Helligkeit ins Zimmer. Ich riss die Augen auf. Rudi sprang auf und schrie. Die Zimmertür stand in Flammen. Rudi riss die Decke vom Bett und schlug auf die Flammen ein. Als er sie erstickt hatte, öffnete er die Tür, und da standen drei Männer, die in Lachen ausbrachen. Rudi fluchte, um den Schreck zu überspielen. Die Männer lachten weiter. Ich schaute sie voller Unverständnis an. Es war alles so schnell geschehen, dass ich keine Zeit hatte, Angst zu bekommen. Ich begriff nicht, was diese Männer so komisch fanden.

»Wer ist das in deinem Zimmer?«, fragten sie Rudi. »Bringst du etwa ein Mädchen mit nach Hause?« Sie begannen wieder zu lachen.

»Das hätte schiefgehen können«, schimpfte Rudi. »Warum macht ihr so was?«

»Ach nein, wir haben schon aufgepasst, alter Rudi. Sag mal, wer ist das?«

Rudis Kommilitonen waren etwas übermütig, denn die Vermieter waren verreist. Sonst hätte ich Rudis Zimmer nachts auch nicht betreten dürfen. Das war damals sogar gesetzlich verboten, die Hausbesitzer hätten wegen Kuppelei angezeigt werden können.

Nach dem »Feueranschlag« auf die Zimmertür wollte Rudi wissen, was ich tagsüber machte, und so erfuhr er, dass ich eine Vorlesung des Theologieprofessors Helmut Gollwitzer besuchte. Rudi kannte Gollwitzer, aber nur von der Kirche, wo er ihn predigen gehört hatte. »Wie kommst du darauf?«, fragte er.

Ich antwortete, dass ich wissen wollte, ob die Theologen überhaupt etwas Relevantes mit dem Christentum anfangen könnten. »Aber es ist manchmal schwer für mich, zu verstehen, was er sagt.«

Rudi war gleich begeistert: »Dann komme ich mit zur Vorlesung, und wir können darüber diskutieren.«

Wir redeten über Gollwitzer, über Karl Barth und Paul Tillich, deren Vorlesungen ich in Chicago gehört hatte. Aber ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie Sozialisten gewesen waren. Christentum und Sozialismus, ich war erstaunt und fasziniert. Ich nahm jedes Wort, das Rudi sagte, in mich auf. Und wir kamen uns immer näher.

 

In meiner Küche war die Hölle los. Der türkische Besitzer des Hauses, das nicht mehr war als eine Kriegsruine, von der das oberste Stockwerk fehlte, hatte entdeckt, dass Marlies eine Prostituierte war. Er dachte, dass sie ihre Geschäfte im Haus betrieb, und wollte sie in flagranti erwischen. Er kam mitten in der Nacht und weckte alle Mitbewohner auf. Aber er fand nichts. Trotzdem tauchte er immer wieder auf und störte uns. Wir ließen ihn nicht herein, wenn er klingelte, aber er beschaffte sich Zugang. Wir schraubten im Flur die Birne aus der Fassung, damit er nachts das Licht nicht anmachen konnte. Er kam mit Kerzen. Wir verbarrikadierten die Tür, aber er schlug und schob, bis die Sperre fiel. Wir stellten alle Möbel der Wohnung hinter die Haustür, und nun schaffte er es nicht mehr, sodass wir wenigstens einmal lachen konnten. Aber er schrie. So ging das jede Nacht, und es raubte uns den Schlaf.

Als ich Rudi wieder traf, klagte ich: »Ich habe genug davon. Ich brauche Schlaf.« Er bot mir an, bei ihm zu wohnen, solange seine Vermieter verreist waren. So schlichen wir uns eines Nachmittags in meine Küche. Ich packte meine wenigen Sachen in einen Koffer und einige Tüten und ließ dort nie wieder von mir hören.

 

Meine Gitarre fehlte mir. Ich hatte sie vor einiger Zeit einem Chilenen geliehen. Jetzt, wo ich in Rudi verliebt war und es ihm nicht sagen konnte, wollte ich ihm wehmütige Lieder über Liebe und Sehnsucht spielen und singen. Wir gingen zu der Villa, in der der Chilene ein Zimmer gemietet hatte. Niemand war da. Wir liefen um das Anliegen herum und schauten in die Fenster des Hauses. Plötzlich sah ich meine Gitarre. »Da«, flüsterte ich aufgeregt, »da ist sie.«

»Okay«, sagte Rudi, »dann schaue ich, wie wir sie kriegen.« Er schlich zur Villa und untersuchte alle Fenster. Schließlich entdeckte er ein Kellerfenster, das nicht verschlossen war, schob es auf und verschwand im dunklen Keller. Nach einer Weile tauchte er wieder auf. »Komm her«, zischte er, »nimm die Gitarre.« Er reichte sie durch das Fenster, dann zog er sich selbst hinauf.

 

Jede Stunde hörte Rudi die Nachrichten im Radio, und er verfolgte auch die politischen Kommentare. Einmal sprach im Radio ein Mann mit einer hässlichen Fistelstimme. Ich verstand kaum ein Wort. Rudi schaute finster auf das Radio. Der Mann mit der Fistelstimme sprach weiter, und Rudi fing an zu fluchen. Plötzlich hob er das Radio hoch und schleuderte es gegen die Wand. Jetzt sprach der Mann mit der Fistelstimme nicht mehr. »Du hast dein Radio kaputt gemacht«, sagte ich erstaunt.

»Ulbricht, der Betrüger, ich kann das nicht hören«, brummte Rudi.

 

Eines Tages war unser Leben im Zimmer unter dem Dach vorbei. Die Hausbesitzer sollten zurückkommen. Ich hatte keineswegs daran gedacht, ewig bei Rudi zu bleiben. Aber ich wusste, dass ich ihn liebte. War es nur ein Zwischenspiel?

»Ich bin ein Revolutionär«, sagte Rudi ernst. »Ein Revolutionär muss die Revolution machen.« Es gebe einen alten russischen Anarchisten, Sergej Netschajew, der einen Verhaltungskodex für Revolutionäre aufgestellt habe. Darin stehe, dass der Revolutionär mit der Revolution verheiratet sei und es keinen Platz gebe für eine Frau.

Ich wollte bei ihm bleiben, aber gegen diese Argumente kam ich nicht an. Und so ging ich mit stechendem Schmerz im Herzen. Rudi begleitete mich zum Bahnhof Zoo. Wir lagen uns in den Armen, bis der Zugschaffner die Türen schloss. Dann nahmen wir uns durch das Fenster an den Händen und hielten uns noch, während der Zug abfuhr. Rudi lief neben dem Waggon her, bis der Bahnsteig zu Ende war. Dann war er weg. Ich wanderte durch den Zug, aber alle Plätze waren besetzt. Ich setzte mich im Gang auf den Boden, den Kopf zwischen den Knien, und begann zu weinen. Nach einer Weile berührte der Schaffner meinen Kopf: »Die Fahrkarte«, forderte er. Ich gab sie ihm. Er betrachtete mein verweintes Gesicht. Dann sagte er: »Kommen Sie.« Er brachte mich in die erste Klasse, wo es leere Abteile gab. »Sie können hier sitzen.«

 

Für Rudi war 1964 die Entscheidung gefallen. Er war Revolutionär. Er hatte eine Theorie, und er wusste, was er tun wollte. Seine Weltsicht war nicht geschlossen wie ein Dogma, aber sie war ein massiver Grundstein, auf dem er aufbauen konnte. Rudi lebte in einem Land, das kurz nach der Zerstörung durch den Weltkrieg reich geworden war. Die fleißigen Deutschen des Wirtschaftswunders waren übereingekommen, über die Vergangenheit zu schweigen. Was brachte einen Mann dazu, sich aufzulehnen in einem Land, das äußerlich so harmonisch zu sein schien?

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Kindheit und Jugend

»Die bäuerliche Tradition kennt sicherlich eine gewisse Wärme, doch ist diese immer vermittelt, begründet und beschränkt über die reale Arbeit auf dem Lande. Auf keinen Fall kann ich auf eine liberal-bürgerliche Kindheit (…) zurückblicken, musste viel arbeiten, schließlich hatten wir einige Hektar in Kolzenburg, die Kartoffeln, Mohrrüben, Getreide usw. kamen nicht aus dem Himmel, die drei Brüder waren schon in der Ausbildung, hatte ich mich halt oft allein mit dem Wagen und unserem Hund in Bewegung zu setzen.«[1]

»Drittes Reich gerochen. Tanz am Tage der Beendigung des Krieges.«[2]

Dass man für Deutschland und seinen »Führer« kämpfen musste, war für Alfred Dutschke keine Frage. Er hatte sich freiwillig zur Deutschen Wehrmacht gemeldet. Schon im September 1939, ganz am Anfang des Zweiten Weltkriegs, ging er ins Feld. Elsbeth Dutschke zog mit ihren drei Söhnen und einem werdenden Kind nach Schönefeld in die Mark Brandenburg zu Verwandten, die sie unterstützen konnten.

Am 7. März 1940 wurde Alfreds und Elsbeths viertes Kind geboren. Der Junge wurde auf den Namen Alfred Willi Rudi getauft, Rudi nach einem Onkel, der im Krieg fiel. Alfred, der an der Front von der Geburt erfuhr, und besonders Elsbeth war ein wenig enttäuscht, dass auch das vierte Kind kein Mädchen war, das später bei der Hausarbeit hätte helfen können. Den drei älteren Jungen hatte Elsbeth keine weiblichen Fertigkeiten beigebracht. Doch als der vierte Junge da war, sah sie keinen Ausweg. Rudi musste nähen und stopfen lernen und seiner Mutter bei allen häuslichen Arbeiten helfen.

Noch 1940 bekam die Familie Dutschke eine Hypothek von der Bank, um in Luckenwalde, der Kreisstadt, nur wenige Kilometer von Schönefeld entfernt, einen Neubau zu kaufen für 12000 Reichsmark. Alfred hatte als Soldat einen Versorgungsanspruch. Das Haus mit seinem gelbgrauen Putz, mit Spitzdach und Stabzaun an der Vorderseite sieht aus wie das Traumhaus der Kleinbürger in den Vierzigerjahren. Es ist eine Doppelhaushälfte zwischen lauter gleich aussehenden Doppelhäusern. Hinter dem Haus liegt ein großes Grundstück mit Obstbäumen und Gemüse. Auch ein Hühnerkäfig wurde gebaut, damit die Familie frische Eier hatte und ab und zu einen Hühnerbraten. Morgens krähte der Hahn und setzte das Leben der Familie in Gang.

Das Haus ist nicht groß. Es gibt eine kleine Küche und ein Esszimmer im ersten Stock. Das Wohnzimmer war immer tadellos geputzt. Es wurde nur am Sonntag benutzt nach Kirchgang und Mittagessen. Unterm Dach liegen zwei Schlafzimmer. Das größere war fast vollständig ausgefüllt von einem riesigen Ehebett. Im anderen Raum standen eng zwei Doppelstockbetten, in denen die vier Jungen schliefen, dazu ein Schrank und ein Tisch.

In diesen Jahren hörte man dumpf den Widerhall der Bombenangriffe auf Berlin. Rudi erinnerte sich später, dass seine Mutter oft weinte und die Schlafenszeit ständig missachtete. »Bei uns in Luckenwalde rissen ›bloß‹ einige Bomben schwere Krater am Rande der Stadt, dort allerdings wohnten wir. Es mangelte nicht an Zusammenbrüchen, das Rennen und Springen in den Keller, dieser Kriegs-›Heimat‹ von 1944 und ’45.«[3] Das Leiden der Menschen um ihn herum ging dem kleinen Rudi schwer zu Herzen.

Als Rudi drei Jahre alt war, hatte der Vater einen kurzen Urlaub und kam auf Besuch. »Ich traf meinen [Vater] Ende 1943, war mir seiner natürlich nicht bewusst, schließlich trieb er sich, oder musste sich treiben lassen, irgendwo herum. Jedenfalls war ich in den Armen der Mutter, da stand ein Besucher plötzlich neben uns, lachte und wollte mich ›so mir nichts, dir nichts‹ in die Arme nehmen, jedenfalls bekam er von mir einen echten Backenschlag, war so eine automatische Re-Aktion. Offensichtlich hatte die Mutter mir als dem Jüngsten besonders beigebracht, mich von den Gefangenen, die in jeder Woche in die Gärten unserer Straße kamen, um Bodenarbeit zu machen, nicht tragen zu lassen, keinen intensiveren Kontakt zu haben. Anders ist mein Schlag gegen den Vater, den Fremden, schwerlich zu erklären. Seine Re-Aktion war seiner Lebens- und Daseinsgeschichte gemäß: Nun nahm er mich erst recht, drehte mich, und die ›Begrüßung‹ erfolgte durch nicht zu vergessende Hiebe auf den Arsch. Damit halt die ›Kräfteverhältnisse‹ wiederhergestellt waren.«[4]

Ob Alfred die aufgepeitschte Begeisterung über den Krieg geteilt hatte, ist nicht sicher. Im Nachhinein war er nicht bereit, es zuzugeben. Er verhielt sich nicht anders als Millionen von Deutschen, die nach dem Ende des Gemetzels vergaßen, was sie davor getan hatten. Es gab keine Fragen, und es gab keine Antworten. Alfred Dutschke erzählte auch keine Kriegserlebnisse. Er muss viel mitgemacht haben, denn er war vom ersten Tag an dabei und geriet am Ende bei Brünn in russische Kriegsgefangenschaft. Er kam 1947 wieder nach Hause.

Statt der Gefangenen tauchten jetzt neue, furchterregende Fremde auf, die Soldaten der sowjetischen Besatzungsmacht. Elsbeth warnte die Kinder, sie sollten sich mit den Soldaten auf nichts einlassen. Aber es war nicht möglich, jede Berührung zu vermeiden: »Auf dem Wege zu Oma-Opa kam es zu meinem Kontakt mit dem direkten Gesicht eines Soldaten der Roten Armee. Wenige Kilometer vor meinem Heimatdorf Sch[önefeld] wurden Mutter und ich von dem Soldaten angehalten, und er nahm uns unser Fahrrad weg. Es war das meines Vaters, der sich zu dieser Zeit noch im Lager in der SU befand. Der Verlust unseres Fahrrads regte mich weniger auf als meine Mutter, schließlich schauten die Augen des Soldaten freundlich auf uns, zum anderen erhielten wir ein anderes Fahrrad, eines für Frauen mit Kinder-Vordersitz. Es sah gut aus, hatte nur einen Mangel. Der Vorderreifen war ohne Luft. Die letzten ca. 4 Kilometer zu gehen war nicht schwer, schließlich waren wir x-mal die ganze Strecke von ungefähr 16 Kilometern mit dem Handwagen gegangen, um Kartoffeln, rote Rüben, Getreide u.a.m. für uns zu beschaffen. Mutter war nun von diesem Soldaten nicht ›vergewaltigt‹ worden – zum anderen wusste ich nicht, was das wirklich ist. Wir kamen in meinem Geburtsort gut an, holten das Esszeug von den Verwandten, Opa reparierte das ›neue Fahrrad‹, und wir kehrten bald ›erfolgreich‹ in unsere Klein-Stadt L[uckenwalde] zurück.«[5]

*

Der Luckenwalder Pfarrer Skrodt musste lavieren zwischen den Ansprüchen eines atheistischen Staats und den Geboten seiner Kirche. Eine unterschwellige Ablehnung des Staats verband sich mit dem Bedürfnis, ihn doch zu akzeptieren. Rudi ging es nicht wesentlich anders. Auch deswegen zog es ihn zu diesem Pfarrer und zur Jungen Gemeinde. Später erinnerte er sich daran: »Die soziale Frage und die Glaubensfrage waren lutheranisch verknotet. Da dennoch weder zu Hause noch in der Gemeinde der Name des Sozialismus eine Schande war, kam er mir in der Oberschule trotz fanatischer Leichtathletiktreiberei immer näher. (…) Eins begann ich bald zu lernen: Der Zweite Weltkrieg war nicht aus dem Himmel gekommen, sowenig wie die Hölle der deutschen Konzentrationslager. Mein christliches Selbstverständnis wehrte sich dagegen, denjenigen dafür verantwortlich zu machen, der die Liebe gelebt hatte und dafür ans Kreuz musste. So stellte sich mir die Frage nach den Verantwortlichen des Zweiten Weltkrieges. Meine christliche Scham über das Geschehene war so groß, dass ich es ablehnte, weitere Beweisdokumente zu lesen, und mich mit einer allgemeinen Erkenntnis zufriedengab: Der Sieg und die Macht der NSDAP, das Entstehen des Zweiten Weltkrieges ist von dem Bündnis zwischen NSDAP und den Reichen (Monopolkapital) nicht zu trennen. Damit war der Raum frei geworden für die erste Entscheidung, zwischen Kapitalismus und Sozialismus grundlegend differenzieren zu können und dennoch mein Christentum nicht aufzugeben. Ein christlicher Sozialist in seiner Widersprüchlichkeit und latenten Produktivität kam da erst einmal heraus.«[6]

Wie viele andere, die nicht ganz verdrängen konnten, hatte Rudi Schwierigkeiten mit seiner Identität als Deutscher. Manchmal resignierte er und glaubte, das Nachdenken über die Nazizeit aufgeben zu müssen. Die Schande war unermesslich groß. Um sich davon distanzieren zu können, bildete er sich ein, dass er ein Jude sei, den die Dutschkes bei sich versteckt hätten. Diese Einbildung stützte er auf die Tatsache, dass er beschnitten war.

 

1946 wurde Rudi eingeschult. Seine Erinnerungen an die Schulzeit zeugen von einem Kind, das gern spielte, nichts gegen Streiche hatte und mit allen gut zurechtkam, auch wenn es darum ging, sich in Kämpfen zu behaupten. Die Lehrer, viele mit einschlägiger nazistischer Vergangenheit, waren autoritär und konservativ. »Wurde von den älteren kräftig geschlagen, noch mit Stock auf die Finger, die jüngeren standen jahrelang nicht nach.« Aber das Lernen machte Rudi Spaß, und er verschlang den Unterrichtsstoff mit großem Eifer. Sein Lieblingsfach war Geschichte. Schwieriger war es mit der Musik. Rudi mochte sie. Er sang aus voller Kehle und merkte es nicht, wenn der Lehrer, »ein ehemaliger NSDAPler, natürlich entnazifiziert«, seine schrägen Töne nicht mehr aushielt. Dann brüllte er verbissen: »Dutschke, Schnauze halten!« Rudi später: »Kam mit der Musik so nie in ein natürliches Verhältnis.«

Seine Zensuren waren gut: »Sein Betragen ist ohne jeden Tadel. Rudi ist ein kluger und aufgeschlossener Junge. Durch seine gute Mitarbeit spornte er die Klassenkameraden an. Zu seiner Arbeit war er stets gewissenhaft, ausdauernd und zielstrebig.« Das bedeutete aber nicht, dass er ein Streber war.

Um die lästigen Pflichten zu Hause so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, entwickelte er manchmal Ideen, die in der Familie keine Begeisterung auslösten. »Habe von ihm [Vater] nur noch 1956 einen kräftigen Schlag ins Gesicht bekommen, hatte das Benzin aus dem Motorrad meines Bruders M[anfred] dazu benutzt, das nasse Holz im Ofen in Schwung zu bringen. Kam wahnsinnig in Schwung, das Feuer erreichte ›Gott sei Dank‹ nicht meinen Körper, landete voll in der Zwischentür unserer Räume, von der Farbe blieb nichts, und die Tür war wüst, schwarz und ›leer‹. Bis zur Rückkehr der Eltern verblieben noch einige Stunden, die Brüder wurden zuerst informiert und hielten ›dicht‹. Was tun? Ich fuhr zu meinem Leichtathletikfreund, [der] war Maler, erhielt die notwendigen Unterlagen, er persönlich konnte leider nicht kommen. Das Ergebnis meiner Arbeit an der Tür konnte sich sehen lassen, doch es reichte nicht aus. Vor den Eltern tat ich so, als ob es doch mal fällig gewesen wäre. Wenige Worte hatte ich gesagt, schon schlug der Vater halt zu.«[7]

*

1949 wurde aus der sowjetischen Besatzungszone die DDR, im Westen wurde die BRD gegründet. Die Menschen um Rudi ertrugen es als einen unausweichlichen Schicksalsakt, und sie nahmen sich vor, damit zurechtzukommen. Sie schimpften nicht auf den aufgepfropften Sozialismus, sondern ermahnten sich, bloß vorsichtig zu sein und der Staatsmacht keinen Anlass zu geben, sie ins Visier zu nehmen. Meistens hörte die Familie Westsender, und Vater Dutschke soll interessiert die Politik in Westdeutschland verfolgt haben. Das wusste später jedenfalls die Stasi zu berichten.

Am 17. Juni 1953 drang die Politik zum ersten Mal nachdrücklich in Rudis Leben ein, als in Ostberlin und anderen Städten die Arbeiter auf die Straßen gingen: »Die Eigenartigkeit des 17. Juni 1953 wurde uns am frühen Morgen um 6:30 Uhr ›deutlich gemacht‹, als unsere Eltern meine Brüder und mich weckten. Vater und Mutter waren äußerst unruhig, sprachen immer wieder auf uns ein, auf keinen Fall dort hinzugehen oder stehenzubleiben, wo viele Menschen zusammengekommen seien, miteinander sprechen usw. Wir sollten der bevorstehenden Arbeit und Schule unverändert nachgehen und pünktlich nach Hause kommen, d.h. nach Beendigung der Tätigkeit in der Fabrik, in der Landwirtschaft und in der Schule.

Was war los? Warum diese Aufregung? Wir hörten unseren Sender, den der DDR, dieser sprach von ›Provokationen des westdeutschen Revanchismus im Bündnis mit dem US-Imperialismus‹. Das war mir ein ziemliches Rätsel, meinen älteren Brüdern, zwischen 15 und 19 Jahre alt, gleichermaßen. Vater und Mutter wollten es uns nicht erklären oder konnten es nicht. Wir hörten den ›RIAS‹, dieser sprach von ›Kampf um Freiheit‹ am meisten, wies aber auch auf nicht erfüllte Lohnforderungen der Arbeiter hin. Das klang für unsere jungen Köpfe einsichtiger, besonders für die meiner Brüder. (…) Unsere Schule lief am 17. Juni so ab wie jeden Tag, über die sich weiterentwickelnden Unruhen in den Fabriken Ostberlins und in vielen Städten der DDR hörte ich nichts (!) in der Schule, das erfolgte erst gegen Abend, im Besonderen, aber nicht nur, über die Westsender. Die Familie schimpfte gegen die eigene Regierung, über die westliche, und wusste nicht wirklich die Lage einzuschätzen. Die Erschießungen von Arbeitern empörten und verunsicherten uns, es war aber nicht ein Klassenbewusstsein, sondern ein christlich-allgemeines mit all seinen Schwierigkeiten.

Am 18. Juni erfolgten für uns am frühen Morgen erneut die Anweisungen durch die Familie, mit etwas verändertem Blick ging ich kurz vor 8 Uhr mit meinem Freund K[laus], Sohn eines Bauarbeiters, wieder wie am Tage vorher in die Volksschule der Kleinstadt (…).

K. erzählte, dass sein Vater in Ostberlin arbeitete, nicht nach Hause gekommen war, die Mama sehr unruhig sei. Ich betete in mich hinein, K. hörte so etwas nicht gerne, obwohl er mit mir zusammen in den Kirchenunterricht ging.

Auffallend nach der erweiterten Nervosität in unseren Familien war für uns das veränderte Klima in den Straßen auf dem Wege zum Unterricht. Die Autos, Lastwagen und Fahrräder unserer Umgebung, die wir wegen ihres täglichen Erscheinens gut kannten, teilweise liebten und bewunderten – mehr als die Personen –, waren fast gar nicht auf den Straßen wirksam. Es war unmöglich, dass so viele Unfälle in unserer Stadt in so wenigen Stunden sich abgespielt haben sollten.

Dagegen sahen wir ungewöhnlich viele Wagen der sowjetischen Roten Armee. Auf den allerersten Blick war das für uns nicht ungewöhnlich, schließlich wohnten wir in der Nähe einer großen Kaserne der Sowjetsoldaten. Soldaten der Roten Armee beherrschten an diesem 18. Juni die Ecken und Übergänge der Straßen, die Gewehre in Kampfbereitschaft.

Als K. und ich ihnen auf dem Wege zur Schule begegneten, ihnen ein nicht ganz ehrliches ›mo gelam‹ zuriefen, blieben die Gesichter der Soldaten hart und verwiesen uns sprachlos auf die Litfasssäule: Die Zusammenballung von mehr als zwei Personen in den Straßen wird aufgelöst; wer nach 20 Uhr auf der Straße angetroffen wird, hat mit Verhaftung und direkter Verurteilung zu rechnen u.a.m. stand dort, die Unruhe der Eltern wurde verständlicher, aber es war damit für uns keine Aufklärung erfolgt.

Als wir schließlich die Schule erreichten, verklärte sich unsere gesammelte junge Erfahrung: Die Lehrer und Lehrerinnen in der Schule ließen den Unterricht bei uns so ablaufen, als ob die gesellschaftlichen Verkehrsformen jenes Tages, die Prozesse der Übergänge etc. die gleichen wie vorher in der ›normalen Lage‹ der Stadt gewesen wären. (…) Aufklärung und eine Form der Information, die die Lage unserem Alter entsprechend für uns erkennbar gemacht hätte, erreichten uns nicht. Wir kehrten nach Hause zurück, ohne verstanden zu haben – unserem Alter gemäß.«[8]

 

Für Rudi war damals der Sport das Wichtigste im Leben. Er war ein guter Sportler und hatte immer mehr Erfolge. Sein Traum war, einmal Olympiasieger zu werden. Er trainierte hart und begann Meisterschaften zu gewinnen. 1955 war er Dritter bei den Waldlaufmeisterschaften, aber schon Kreismeister im Diskuswerfen mit 31,75 Metern und im selben Jahr Bezirksbester mit 34,21 Metern. Damit gehörte er zu den 24 besten Diskuswerfern seiner Altersgruppe, der A-Jugend, in der DDR. »Aufgrund des Sieges beim Bezirks-Turn-und-Sportfest wurde ich Mitglied der Bezirksauswahl«, schrieb er in sein Fotoalbum. »In Cottbus warf ich 1956 38,42 m, womit ich in der Bestenliste der DDR den 7. Platz einnahm.« Bei diesem Turnier stieß er die Kugel 11,74 Meter. Das war Rekord bei der A-Jugend. Beim Schulsportfest 1957 sprang er 6,81 Meter weit. »Bei der gleichen Veranstaltung erreichte ich im Kugelstoßen 11,37 m. Im Hochsprung Schulrekord mit 1,63 m; im 100-m-Lauf 12,0 sc. Bei diesem Wettkampf der B. S. G. Fortschritt wurde ich Sieger [im Diskuswerfen] mit der persönlichen Bestweite von 36,49 m. Da der Veranstalter, also die B. S. G. Fortschritt, die Ergebnisse nicht meldete, wird mein bestes Ergebnis nicht in der Bestenliste zu finden sein. Die beste Weite, die ich außerhalb erzielte, waren 35,38 m, die ich in Finsterwalde, wo ich 4. hinter Rogalski, Roß und Peter wurde, warf. Im Jahr 1958 möchte ich gern über 40 m werfen, um wieder einen Platz in der Zehnbestenliste der DDR einzunehmen.« Daraus wurde aber nichts. 1958 versuchte er sich im Hochsprung. »Ich schaffte 1,64 m und verfehlte 1,69 m äußerst knapp. Ich sprang Straddle. Diese Sprungart beherrsche ich jedoch noch sehr unvollkommen.« Seinen letzten Zehnkampf machte er 1959/60. Im Mai 1959 wurde er Bezirksmeister im Stabhochsprung mit 3,30 Metern. Am 1. Mai 1960 gewann er in Genthin einen Wettkampf, an dem auch Sportler aus der Bundesrepublik teilnahmen, mit einem Sprung von 3,60 Metern. Seine Rekorde sind in Luckenwalde nie übertroffen worden.

Er trat in den Sportklub der Schule ein und wurde schnell sein Leiter. Das zwang ihn, der Staatsjugend FDJ beizutreten. Seine Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen: »War innerlich entschlossen, der Partei meine Hand zu verweigern.« Aber sein Eifer, Leistungssport zu treiben, überlagerte alles andere.

Der Sport bestimmte auch sonst Rudis Leben. Er hörte im Radio alle Sportberichte aus Ost und West, die er empfangen konnte. Er begann vor dem Radio mit den Reportern zu wetteifern, ob er genauso gut wie sie berichten könnte. Dieses Spiel machte ihm einen solchen Spaß, dass er bald auf die Idee kam, Sportjournalist zu werden, wenn aus der olympischen Goldmedaille nichts werden sollte. Er übte zielstrebig als Möchtegern-Sportreporter und entwickelte sich zu einem Redner, ohne es eigentlich zu merken.

*

Als 1956 die ungarischen Arbeiter gegen die sowjetischen »Freunde« und ihre Marionetten in Budapest aufstanden, war Rudi ganz auf ihrer Seite. Auch darüber wurde in der Schule nicht gesprochen, aber zu Hause und in der Gemeinde, denn alle hörten die Berichte des westlichen Rundfunks. »Dass ein Volk sich freizumachen versuchte, begeisterte mich, dass die Nagy-Regierung[9] eine sozialistische war, stand für mich außer Zweifel. Alle Erklärungen dieser Regierung, die im RIAS und SFB ausgestrahlt wurden, ließen für mich keine Unklarheit zu. Die Einführung des Kapitalismus wurde nicht verkündet oder als Ziel gefordert. Die Arbeiterräte spiegelten die Untrennbarkeit von Demokratie und Sozialismus wider.

Was machte ein junger christlicher Sozialist in solch einer Zeit? Wieder wurde gebetet und ein militärischer UNO-Eingriff gewünscht. Ohne schon den US-Imperialismus und sein Wesen der Negation sozialistischer Befreiung im Geringsten durchschaut zu haben, wurde mir an der Ungarn-Tragödie eins klar: Misstraue den russischen und amerikanischen ›Freunden‹ von da oben, die spielen ihr Spiel.

Mein Beten für den ungarischen Aufstand war ohne ›Erfolg‹, aber mein Sozialismus-Verständnis wurde erneut gestärkt – wie auch mein Misstrauen gegenüber dem ›Marxismus-Leninismus‹ der führenden Partei bei uns oder anderswo sich erweitern musste.«[10]

Jetzt formten sich die Gedanken, die in Rudis Kopf keimten, allmählich zu einem frühen Weltbild. Er unterstützte die Forderung nach Selbstbestimmung, wie sie die Menschen in Ungarn erhoben. Aber der Kapitalismus erschien ihm wenig reizvoll. Zumal es ihn abstieß, wie die Nazitäter in Westdeutschland weißgewaschen wurden und viele von ihnen ihre Karrieren fortsetzten, als wäre nichts geschehen. Er hoffte damals noch auf die SPD. Rudi hatte im Radio Reden des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher gehört. Schumachers Kritik des Monopolkapitalismus zog ihn an, auch dessen Aussage, dass die Wurzeln des Nationalsozialismus in der sozialökonomischen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft zu finden seien. Aber Schumacher war schon 1952 gestorben, und sein nachwirkender Einfluss schwand rapide.

*

Rudi sollte als Erster in seiner Familie das Abitur machen. Und alles lief darauf hinaus, dass er gleich danach das Sportjournalistikstudium in Leipzig aufnehmen würde. Bis im November 1957 die Jahreshauptversammlung der FDJ-Schulgruppe alles änderte. Rudi sollte dort als Leiter der Sportabteilung der FDJ etwas sagen. Im Anschluss berichtete Schulparteisekretär Wolfgang Gattner über die Veranstaltung: »Dort war es negativen Kräften gelungen, das Bild zu bestimmen. So äußerte der Jugendfreund Dutschke, wenn er das Wort schießen höre, liefe es ihm kalt über den Rücken. Keiner wolle Krieg. Das Verbot der Westreisen sei ein Eingriff in die persönliche Freiheit. Man solle doch immer alle Deutschen an einen Tisch bringen. (…) Der Jugendfreund Neye setzte hinzu, dass die Schüler nicht von der Notwendigkeit des Eintritts in die NVA [Nationale Volksarmee] überzeugt seien. (…) Beide Schüler erhielten für ihre Ausführungen starken Beifall.«[11]

Von den sechs Jungen in der Klasse 12a meldete sich nur einer zum Militär. Direktor Schöckel und die SED-Genossen an der Schule dachten sich einen Trick aus, um den »negativen Kräften« ihren Glanz zu nehmen. Als bei der Abiturfeier die rund 150 Schüler der Oberstufe und ihre Lehrer in der Aula der Schule versammelt waren, trat Direktor Schöckel vor an das Rednerpult auf blumengeschmückter Bühne. Er rief Rudi auf und verlangte von ihm, vor den versammelten Schülern seine Haltung zum Militär darzustellen und Selbstkritik zu üben. Statt aber die gewünschte Erklärung abzugeben, wandte Rudi sich an den Lehrkörper: »Warum denken Sie nicht wie ich? Haben Sie vergessen, was noch vor wenigen Jahren an dieser Schule gelehrt und gelernt worden ist? Niemals wieder eine Waffe in eines Deutschen Hand. Damals hat niemand Pazifismus als gesellschaftlich inaktive Handlung bezeichnet. Warum ist das heute anders?« Er schloss seine Ausführungen mit der Feststellung, er könne nichts Unrechtes darin erkennen, nicht zum Militär zu gehen. In der Aula ertönte begeisterter Applaus. Schulleiter und FDJ-Sekretär versuchten vergebens die Stimmung zu wenden, keine Hand rührte sich zum Beifall für ihre Erklärungen, aber es traute sich auch keiner, Rudi offen zur Seite zu stehen.[12]

Was war über ihn gekommen, dass er den Mut hatte, sich mit den Mächtigen anzulegen? »Wenn man das Reden erlernt hat, schließlich wollte ich Sportjournalist werden und trainierte unheimlich oft zu Hause, so reißt es einen manchmal durch«[13], erklärte Rudi. »Einmal provozierte mich die Lobhudelei gegenüber der Sowjetunion und die Beschimpfung Westdeutschlands durch den neuen Parteivorsitzenden der SED an unserer Schule. Allein hätte das schwerlich ausreichen können. Wahrscheinlich hat mich etwas anderes in letzter Konsequenz viel mehr getrieben: Es war für mich die erste Möglichkeit, vor Hunderten von Schülerinnen und Schülern wirklich öffentlich sprechen zu können. Ich setzte mich vom Standpunkt des christlichen Sozialisten mit den Vorgängen innerhalb und außerhalb der Oberschule auseinander. Wie durcheinander auch immer, an erstmaligem breitem Beifall auf der ›politischen Szene‹ mangelte es nicht. Aber meine bewiesene Fähigkeit zur Rhetorik und Argumentation sollte mir schlecht bekommen.

Gerade der ›Marxist-Leninist‹ des Hauses erhob schließlich seine Einwände. Wenige Monate später wurde aus dem real ›guten‹ Abitur ein gerade ›genügendes‹ wegen ›ungesellschaftlichen Verhaltens‹. Mein Weg nach Leipzig zur sportjournalistischen Ausbildung war damit blockiert.«[14]

Rudi versuchte seine Haltung gegenüber der Schulleitung schriftlich zu verteidigen, möglicherweise hatte der Direktor ihn dazu aufgefordert: »So sah ich schon sehr früh die Schrecken des Krieges. Ich hörte, dass mein Onkel bei Maikop durch einen Volltreffer in seinem Panzer ums Leben gekommen war. Die Benachrichtigung darüber sagte aus: ›Gefallen für Führer und Reich.‹ Was uns dieser Führer und dieses Reich gebracht haben, sehen wir erst heute, da an eine Einheit Deutschlands noch nicht wieder zu denken ist. Es soll nicht noch einmal heißen ›gefallen‹. Meine Mutter hat uns vier Söhne nicht für den Krieg geboren. Wir hassen den Krieg und wollen den Frieden. (…)

Im Jahre 1954 begann ich mit dem Besuch der Gerhart-Hauptmann-Oberschule. Wie es so allgemein üblich war, trat auch ich in die FDJ ein, ohne die richtige Überzeugung zu haben. Obwohl ich nun schon seit 4 Jahren an Wahleinsätzen, Versammlungen und Sportveranstaltungen der FDJ teilnehme, habe ich noch keinen richtigen Kontakt zur FDJ bekommen. Das liegt wahrhaftig nicht an meiner Gesinnung. Ich sehe den Hauptgrund darin, dass sich niemand von der FDJ mit mir in sachlicher Diskussion politisch auseinandergesetzt hat. Jetzt ist es nicht mehr nötig, weil ich durch gute Arbeit im Fach Geschichte und Gegenwartskunde zu einem überzeugten Anhänger des Fortschritts wurde. Wenn ich auch an Gott glaube und auch nicht zur Volksarmee gehe, so glaube ich dennoch, ein guter Sozialist zu sein. Ich glaube auch zu wissen, was ich dem Staat, der mir den Besuch der Oberschule ohne finanzielle Opfer ermöglichte, schuldig bin. Ich werde in der Produktion so arbeiten, dass ich mithelfe, unseren Staat zu stärken und zu festigen.«[15]

Der Brief half ihm natürlich nicht, er wanderte in die Stasiakten. Rudi versuchte nun das Beste aus seiner Lage zu machen, ohne seine Überzeugungen zu verraten.

Die DDR-Regierung bot Menschen, die kein oder ein schlechtes Abitur hatten, an, dass sie an eine Universität durften, wenn sie zuvor eine Berufsausbildung absolvierten. Eine Wehrpflicht gab es vor dem Mauerbau nicht in der DDR. Ein Abiturient, der eine Hochschule besuchen wollte, war aber meist chancenlos, wenn er nicht den Dienst in der Nationalen Volksarmee nachweisen konnte. Rudi beschloss, eine Lehre als Industriekaufmann anzutreten, weil er hoffte, danach studieren zu können, ohne zur Armee zu müssen. »Denkst du, ich wollte Industriekaufmann werden?«, schrieb er später an den Dichter und Revolutionär Peter Paul Zahl. »Ging mich echt nichts an, der vage Traum vom Sportjournalisten oder Olympiasieger im Zehnkampf (Leichtathletik) bewegte mich innerlich. Ulbricht hatte ja versprochen, nach der ersten Ausbildung zur Uni gehen zu dürfen (…), nicht zur Armee.«[16]

Die Ausbildung dauerte eineinhalb Jahre. Neben dem Fachunterricht wurde auch Staatsbürgerkunde gelehrt, und außerdem musste Rudi in einem Textilbetrieb, dem VEB Beschläge Luckenwalde, arbeiten. In den meisten Fächern bekam er die Note 1, in Staatsbürgerkunde allerdings nicht. Er hatte keine Lust auf die üblichen marxistisch-leninistischen Bekenntnisrituale. »Bei politischen Diskussionen erweckte D. oft den Eindruck, als ob er an diesem Geschehen vollkommen unbeteiligt wäre. Es wird eingeschätzt, dass D. in politischer Hinsicht desinteressiert war«, notierte die Staatssicherheit später.

Unter den Kollegen im Betrieb dagegen schwieg er nicht. Sie »lachten mich etwas aus; ›hier muss man sich anpassen‹, hielten mich für einen Schwachkopf, allerdings für einen ›angenehmen‹«[17], schrieb er. Diese achtzehn Monate waren die einzige Zeit in Rudis Leben, in der er direkt mit Arbeitern zusammen war. Sie haben zuerst »zumeist in sich hineingegrinst«, aber dann merkten sie, dass Rudi ein guter Kumpel war, der seine geistige Überlegenheit nicht heraushängen ließ.

Nach Abschluss der Ausbildung schlug Rudis Betrieb ihn für einen Studienplatz vor. Aber dann erschien ein Offizier der NVA und erklärte Rudi, dass er vor dem Studium einen zweijährigen Wehrdienst leisten müsse. Völlig deprimiert traf er nach diesem Gespräch seinen Freund Bernd Thesing. Dieser berichtet: »Einen Satz des NVA-Offiziers hatte sich Rudi besonders eingeprägt. Wenn er nicht zur NVA gehe, sei er für Adenauer. Und wenn er für Adenauer sei, flöge er innerhalb von drei Wochen von jedem Studienplatz, den er eventuell erreichen sollte.«[18]

»Als bald in unserem Textilbetrieb bekannt war, ›der Rudi durfte nicht nach Leipzig zum Studium des Sportjournalismus, hat zu große Schnauze gehabt, will nicht zur Armee‹, wurde die Stimmung und Beziehung viel gelockerter, als aktiver Leichtathlet sowieso günstig dafür, aber nicht die christliche Seite von mir, die spielte aber weder auf dem Sportplatz noch im Betrieb eine Rolle.«[19]

Rudi hatte seine Meinung über die Armee nicht geändert. »Mutter lehnte es ab, ihren Sohn mit Betriebs-Anzug (Armee) zu sehen«, schrieb er später. Sein Vater, der selbst Soldat gewesen war, war ratlos. Er hätte es »am liebsten gesehen, wenn ich mal in die UNO-Armee hineinkommen würde. Viel zu früh und zu spät gedacht (…), bei mir war es dieses Christentum, Mutter im Besonderen.«[20]

Rudi war kein klassischer Pazifist. Aber es war seine Abscheu vor der Nazizeit, die ihn davon abhielt, zum Militär einzurücken. Außerdem war ihm die Vorstellung zuwider, dass Deutsche gegen Deutsche kämpfen könnten.

Jetzt gab es keine Möglichkeiten mehr, die ausgeschöpft werden konnten. Rudi musste die Idee aufgeben, in Leipzig Sportjournalismus zu studieren. Der Gang in den Westen wurde unvermeidlich.

 

Das DDR-Abitur wurde in Westdeutschland nicht anerkannt. So musste das Studium wieder hinausgeschoben werden. Rudi meldete sich für die Abiturklasse an der Askanischen Schule in Berlin-Tempelhof an. Weil es zu viel Zeit gekostet hätte, zwischen Luckenwalde und Westberlin zu pendeln, suchte er sich ein Zimmer und fand es in Schlachtensee. Bernd Juds, einer der Mitbewohner, übernahm es, Rudi in das Leben im Westen einzuführen. Er schlüpfte gewissermaßen in die Vaterrolle, damit der Junge, der immerhin zwanzig Jahre alt war, nicht zugrunde ging in der Konsumwelt. Bernd war ein engagierter Sozialdemokrat, der Spaß daran hatte, nächtelang mit Rudi über Politik zu diskutieren.

Um finanziell über die Runde zu kommen, arbeitete Rudi zunächst in einer Gärtnerei bei Verwandten. Aber er hatte davon bald genug. Er bekam dann eine Stelle in der Sportredaktion der »BZ«. Es war ihm damals noch egal, dass diese Zeitung dem Springer-Konzern gehörte. Hier konnte er wenigstens teilweise das tun, was ihm in der DDR verwehrt worden war.

 

Zwei Arbeiten, die Rudi in seiner Westberliner Schulzeit verfasst hat, sind erhalten geblieben. In der einen befasst er sich unter dem Titel »Die Dämonie der Macht« mit dem katholischen Theologen Romano Guardini, die andere handelt von »Freiheit und Ordnung«. Es gibt darin nichts, was an den Marxismus anknüpft. Rudi spricht aber einige Fragen an, die ihn noch jahrelang beschäftigen würden: Eine davon war die Frage der Macht, die er später als Marxist nie aus den Augen verloren hat. Vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus schreibt er: »In Wahrheit ist die Macht etwas durchaus Mehrdeutiges. Macht kann Gutes wie Böses hervorbringen. Sie kann aufbauen und zerstören. Zu was die Macht wird, hängt davon ab, wie die Gesinnung des Machtausübenden ist. Bei genauer Prüfung der Entwicklung der Macht zeigt sich, dass das Ethos des Machtgebrauchs nicht größer geworden ist, die Klarheit des Gewissens nicht so gestiegen ist wie die Machtkonzentration. Es zeigt sich, dass der moderne Mensch nicht zum richtigen Gebrauch der Macht erzogen wurde.

Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Gefahr des Missbrauchs der Macht ständig steigt. Es scheint sich immer mehr die Neigung zu vergrößern, die Machtausübung als einen Naturvorgang anzusehen und die Machtausübung nur nach Nützlichkeitserwägungen zu betreiben.«

An anderer Stelle heißt es: »All die unfassbaren Systeme der Vernichtung haben doch nur entstehen können, weil die Menschen nicht das Beet der Humanitas gepflegt haben – oder ist das Sinnen des Menschen von Anfang bis in Ewigkeit böse?«

Schon 1960, angesichts der seit Anfang der Republik währenden Bundeskanzlerschaft Konrad Adenauers, hatte Rudi große Bedenken, ob die Demokratie in Westdeutschland mehr war als ein Phänomen an der Oberfläche: »Es gibt keine Garantie für den sittlichen Gebrauch der Macht. Es gibt nur die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Gute durchsetzen wird. Es muss nachgeholt werden eine Erziehung der Menschen und besonders der Elite. (…) Uns wurde die Freiheit gegeben in der BRD, und dann haben wir sie gebraucht, ohne dazu erzogen zu sein. Das war ein nicht wiedergutzumachender Fehler der Alliierten Siegermächte. Ein permanenter Bundeskanzler ist eine große Gefahr für die Freiheit und für die Demokratie.«

Demokratie, was war das eigentlich? »Demokratie, das bedeutet: die Meinung des Gegners, der auch auf dem Boden der Verfassung steht, zu respektieren. Der politische Gegner darf nicht als Irrer oder potenzieller Dummkopf abgestempelt werden. In der Demokratie ist das Streben nach Macht gezähmt und kultiviert.«

Fast zwanzig Jahre später nahm Rudi diese Gedanken wieder auf. »Der unbedingte Macht- u[nd] Führungsanspruch der CDU; Missbrauch der Macht, kein wirkliches demokratisches Bewusstsein ausgebildet (Strauß: u.a. Fernsehstreit, Verletzung der Verfassung). Das alles bedeutet, dass sich die Macht objektiviert und damit sich dämonisiert.«[21]

1960 überlegte Rudi: »Die absolute Wahrheit, die absolute Freiheit, die absolute Ordnung können wir nicht erreichen. Alles ist auf dem Wege. (…) Nehmen wir das Beispiel meiner Heimat. Die Legitimität einer Ordnung beginnt mit dem Wahrwerden der schriftlich fixierten Gesetze. In der Verfassung der sogenannten DDR ist das Recht auf Glaubensfreiheit fest verankert. Die Praxis des Regimes sieht aber so aus, dass die Glaubensfreiheit sehr weit eingeschränkt ist. Kann ich als überzeugter Christ eine Ordnung der Unfreiheit anerkennen? Die Kirche ist der Ansicht, dass die Ordnung von Gott ist. Hier stehe ich als Christ in großer Gewissensnot. (…) Seit Jahrhunderten sind die Menschen auf der Suche nach Freiheit, Ordnung, Wahrheit. Warum haben wir nicht schon längst einen Weltstaat? Warum schweben wir zwischen Krieg und Frieden? Warum versuchen wir, das All zu erforschen, wo doch auf der Erde noch zwei Drittel der Menschen hungern? (…) Ich weiß auch, dass durch die politische Spaltung der Welt die Begriffe der Freiheit und der Ordnung eine grundverschiedene Interpretierung erfahren. Der Osten sagt: ›Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit.‹ Der Westen sagt vielleicht: ›Freiheit ist Freiheit des Andersdenkenden.‹ Beides zusammen ergäbe mein Idealbild der Freiheit.«[22]

Rudi war sich noch nicht klar darüber, wohin seine Überlegungen führen mussten. Aber mit der Zeit würde die Bewegung, die er mit schuf, immer deutlicher die Aufgabe übernehmen, die 1949 nicht bewältigt worden war – die verpestete deutsche Geschichte zum Gegenstand des Streits zu machen. Diese Bewegung gab den Deutschen eine neue Vergangenheit, die nicht mehr aus den faschistischen Wurzeln erwuchs. Das war die Revolution, die Rudi führen sollte.

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Die Mauer

»Die ewige Unvollendetheit«[23]

Im Sommer 1961 machte Rudi sein zweites Abitur. Er ging zurück nach Luckenwalde, um noch ein letztes Mal, umwoben von der Aufmerksamkeit der Familie, auszuspannen. Erst kurz vor Anfang des Herbstsemesters wollte Rudi nach Berlin zurückkehren. Aber im August verschärfte sich die politische Situation in der DDR. Der Flüchtlingsstrom nach Westberlin schwoll an, und am 9. August stand in der »Bild«-Zeitung: »In der Nacht nach der Chruschtschow-Rede: Flüchtlings-Strom verdoppelt!« In Luckenwalde las niemand Springers Revolverblatt. Aber was Chruschtschow gesagt hatte, sprach sich herum, und die Verstärkung der sowjetischen Streitkräfte an der Westgrenze der DDR sowie die Einberufung der Reservisten waren unübersehbar. Man konnte sich vorstellen, was das bedeutete.

Das große Leck der DDR war in Berlin. Um von Ost nach West zu kommen, musste man dort nur die Straße überqueren. So verließen immer mehr Menschen das Arbeiter-und-Bauern-Paradies. Es lag auf der Hand, dass die DDR-Regierung etwas unternehmen würde, um das »Ausbluten« zu stoppen. Rudi fühlte sich nicht bedroht. Aber seine Eltern ahnten, dass sein Studium wieder in Gefahr war.

Am 10. August titelte die »B. Z.« in ihrer Morgenausgabe: »Gestern kamen 2000 – die Flucht wird zur Lawine.« Unter diesen 2000 war auch Rudi. Zuvor hatte er seine Mutter getröstet. »Du, ich bin mit Sicherheit schnell wieder zurück. Ihr habt mit eurer Annahme bestimmt unrecht. Will doch unbedingt bald wieder mit den Brüdern unsere glänzend wachsenden Pflaumen von den Bäumen runterholen, damit du wieder deinen so gut schmeckenden Pflaumenkuchen machen kannst.« Rudi stieg mit seinem Koffer auf den Soziussitz des Motorrads, das seinem Bruder Helmut gehörte. Helmut fuhr los. An der Stadtgrenze von Luckenwalde gab es eine Polizeikontrolle. Rudi und Helmut, die den Polizisten kannten, erzählten ihm, dass sie nach Rostock fahren wollten, um Sommerferien zu machen. Er glaubte ihnen, und sie durften weiter. »Die familiäre Schnur riss, Eltern und alle drei Brüder verblieben. Ein neuer Lebens- und Lernprozess hatte zu beginnen«, konstatierte Rudi.

Am 13. August ließ die Regierung der DDR die Grenze zwischen den Westsektoren und dem Ostsektor Berlins abriegeln und Stacheldrahthindernisse und provisorische Betonmauern errichten. Rudi meldete sich als DDR-Bürger bei der Westberliner Polizei und wurde gleich von den »Amis« verhört. Aus Sicht des SED-Regimes war er »republikflüchtig« geworden.

»Ich landete halt mit 21 im ›Goldenen Westen‹, dann noch allein, mich in ihn zu ›verlieben‹ war weder Anlass noch Zeit, ganz zu schweigen vom Misstrauen und den gerade ausreichenden 250–300 DM pro Monat. Die christlich-sozialistische Ecke half da desgleichen, aber Westberlin, die BRD als ein ›anderes Land‹ zu begreifen, kam mir nie in den Sinn.«[24]

In der Woche nach dem Bau der Mauer zog er zusammen mit Mitschülern zum »antifaschistischen Schutzwall«, ausgestattet mit Seilen und Flugblättern von der UNO. »Wir aus der 13. Klasse versuchten die Mauer einzureißen.« Mit den Seilen wollten sie die provisorischen Betonplatten herunterziehen, aber das misslang. Die Flugblätter warfen sie über die entstehende Mauer.

Bevor das Semester anfing, reiste Rudi nach Norwegen. Er wollte sich ablenken von der Trennung von seiner Familie und der Wut über die Mauer: »Ich, der ich durch die politischen Wirren der Nachkriegszeit den Weg zum besseren Ende der Wurst, ich lebe in der westlichen Sphäre, gefunden hatte, kümmerte mich kaum um dieses Gesaue an der Mauer, hatte mit mir genug zu tun. Nicht Wohnung oder Frau, auch nicht mein Universitätsstipendium standen im Mittelpunkt meines Wollens oder Sollens. Die nicht beweisbare, aber sicher aufweisbare Seele hatte genug von Protestnoten, von beschwörenden Appellen der Freundschaftsversicherung, von Mördernamen, Mörderaugen und Morden. Sinnlos die Opfer aller Schattierungen. (…) Zerschunden an Körper und Kleidung, schnaufend und lachend, o, wie war ich innerlich frei, erreichte ich die von mir errichtete Hütte unweit der völlig unbewohnten Steilküste. Voll von Verlangen nach Schlaf, erklomm ich die hochstehende Bettstelle und versank bald in die Welt des Imaginären. Nach etwa zehn Stunden wurde mein Schlaf durch gewaltige Donnerschläge beendet. Noch ein wenig trunken von der Welt des Unbewussten, rannte ich ins Freie, um mein körperliches und seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Ein greller Blitz ließ meine Augen erschauern, das folgende Donnern pflanzte sich von Fels zu Fels fort, als gäben sie einander den Morgengruß der Natur weiter. Mit grollendem Herzen trollte sich schließlich der Donnervogel von dannen. Kaum hatte ich meinem ersten Besucher zum Abschied eine glückliche Weiterreise gewünscht, musste ich meine ganze Aufmerksamkeit dem von der Randerscheinung zum Hauptakteur gewordenen Regen zuwenden, er bzw. sie hätte sich sonst gekränkt gefühlt, wo ich doch ihr bester Freund bin. Ich liebe den Spaziergang im Schnee des Sommers, bin ich ohne Mädchen, es kommt mitunter vor, habe ich doch eine Geliebte. Der Regen kann nur weiblich sein, mal leicht kosend und streichelnd, mal mit atemnehmender Wucht uns pressend. War ich nun mit einem Mädchen im Regen unterwegs, so küsste ich von der Wange der Geliebten die andere Geliebte, eigentlich betrog ich eine von beiden.

Auch sie zog weiter, von mir nur einen Handkuss erhaltend, und die ›An-sich-Gute‹, die Sonne, wandte mir ihr glutvolles Angesicht zu; sie, die schon sah, was keines Menschen Auge je sah oder sehen wird, die den mit Treibeis gefüllten Nil, die ersten Menschen, den Untergang Karthagos und den Aufgang Roms, den sterbenden Christus sah; Verbrechen und Nächstenliebe sah und sieht, alles erhaltend und verschönernd, sie blickte auch mich an, und innerhalb weniger Minuten im Nacheinander der Zeit waren meine durchweichten Kleider getrocknet. (…)

[Ich] war nicht in der Lage, das für die Erholung so wichtige Nichtdenken zu entfalten, ich dachte, ich schäme mich nicht, ich dachte an den greisen Arnold Zweig, an Willi Bredel, Hermlin, Heym und viele andere, an die Jasager der Mauer, die Bejaher des Unrechts, solange nicht ausdrücklich Nein gesagt wird, wird bejaht – innere Emigration gibt es nicht –, und verstand diese Mitwandler, die konform gehen müssen, um überhaupt das nackte Leben retten zu können. Früher konnte sich der unabhängige Geist, der mit dem Denken und Treiben der herrschenden Mächte der Zeit unzufrieden war, zurückziehen, sich ganz seiner Arbeit hingeben – heute, ein Novum in der Geschichte der Menschheit, verschwinden Menschen ohne eine Spur, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Und ich stand auf, dankte für die mir in den Schoß gefallene Freiheit, ging in die unter der ächzenden Sonne schier zusammenlaufende Hütte, packte meine Reisesachen zusammen und verließ die wunderbare unbewohnte Gegend, wollte mich erneut in den Schmutz, in die ewige Unvollendetheit, die ja nun einmal unser Wesen ist, werfen.«

*

Neben dem Studium trieb Rudi weiter Sport, zuerst Leichtathletik, später Ringen im griechisch-römischen Stil. Aber dann ging etwas schief bei einem Ringkampf. Rudi bekam plötzlich furchtbare Ohrenschmerzen. Die Ohren schwollen an und verwandelten sich in formlose Anhängsel seines Kopfs. Er kam ins Krankenhaus, aber alle Versuche, seine Ohren wieder in ihre ursprüngliche Fassung zu bringen, scheiterten. Sie blieben die für Ringer typischen Blumenkohlohren. Er nahm es hin ohne Klage, aber mit dem Sport war es nun vorbei.

 

Ende der Fünfzigerjahre begann in vielen Großstädten im Westen eine Abrechnung mit der von den Eltern geschaffenen Welt. Die nachrückende Generation begehrte auf gegen die Konsumbesessenheit, die kleinbürgerliche Beschränktheit und die Fixierung auf Wirtschaftswachstum in den Nachkriegsjahren, und in Deutschland auch gegen das große Schweigen über die Nazizeit. Der Protest war kaum politisch, er stützte sich auf die existenzialistische Philosophie, Buddhismus und Beatmusik und strebte nach Befreiung von einer erdrückenden Sexualmoral.

In Westberlin trafen sich die jungen Existenzialisten am Steinplatz. Diese Welt war Rudi so fremd wie Afrika. Niemals, so sagte er später, wäre er von sich aus darauf gekommen, dorthin zu gehen. Aber ein Freund, Hubertus Freiesleben, führte Rudi auf dem Steinplatz ein. 1962 gab es einige politische Ereignisse in Deutschland, die am Steinplatz eifrig diskutiert wurden: die geplante Atombewaffnung der Bundeswehr, die Entführung des Redakteurs der Gewerkschaftszeitung »Metall« Heinz Brandt in die DDR, die »Spiegel«-Affäre und der Streit um Erich Kuby. Rudi griff begeistert ein. Aber er wollte auch nicht unwissend diskutieren.