WIR! - Horst W. Opaschowski - E-Book

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Horst W. Opaschowski

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Beschreibung

Das Zeitalter der Ichlinge geht zu Ende. In der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ist kein Platz mehr für Egoisten und Narzissten. Das "Ich" hat ausgedient. Und "Wir"-Gefühle werden wichtiger. Horst W. Opaschowski, der Leiter der renommierten Hamburger "Stiftung für Zukunftsfragen", weiß, wovon er spricht. Er ist seit Jahrzehnten eine unumstößliche Größe in der Zukunftsforschung. Seine empirischen Studien basieren auf ungezählten Interviews und Umfragen in ganz Europa. Und es gibt hierzulande kaum jemanden, der die verschiedenen Generationen so intensiv und gewissenhaft erforscht hat wie der Hamburger Erziehungswissenschaftler, der Anfang 2011 die Geschäftsführung der Stiftung abgeben wird. Jetzt hat er das große Abschlusswerk seiner aktiven Institutstätigkeit vorgelegt. Erstmals gibt er darin auch Auskunft über besondere Ereignisse, Situationen und persönliche Erfahrungen aus seinem Leben. Ganz privat, ein Mensch mit Herz und Seele!

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Horst W. Opaschowski

Wir!

Warum Ichlinge keine Zukunft mehr haben

Für Emmy, Julius, Juri und Maximilian

Ihr seid die Starken!

Die Zukunft gehört Euch.

»Für Egoismus ist in unserer Gesellschaft immer weniger Platz:

Wir müssen mehr zusammenhalten.«

(88 Prozent der Bevölkerung, Stiftung für Zukunftsfragen, 2010)

»Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.«

Victor Hugo

Inhalt

Was mir auf der Seele brennt

Ein persönliches Vorwort

Vom Ich zum Wir

Wertewandel in Deutschland

Optimismus als Pflicht

Leben in Krisenzeiten

Die Erschöpfung des Ich

Der Ego-Kult überlebt sich

Gemeinsam statt einsam

Keiner lebt für sich allein

Renaissance der Familie

Der »zweite« demografische Wandel

Freunde und soziale Konvois

Die Wegbegleiter des Lebens

Comeback der guten Nachbarn

Das Nahmilieu als schützender Rahmen

»Wir sind Mutter Teresa!«

Soziale Vor- und Leitbilder der Jugend

Helferbörsen im Wohnquartier

Die Rückkehr der Genossenschaftsidee

Schafft die Altersheime ab!

Der neue Zusammenhalt der Generationen

Jenseits des Egoismus

Die andere Arbeitswelt

Vom Solitär zum Solidär

Was mir auf der Seele brennt

Ein persönliches Vorwort

»Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.«

Antoine de Saint-Exupéry

Was bleibt? Was ändert sich? Und was kommt auf uns zu? Den Blick nach vorn, immer in die Zukunft gerichtet, bin ich diesen Fragen mein gesamtes Berufsleben hindurch nachgegangen. Mal als Freizeit-, Tourismus- und Zukunftsforscher, mal als Professor, Publizist und Erziehungswissenschaftler, auch als Querdenker, Meinungsmacher und Politikberater. Vielleicht war ich aber auch einfach nur Träumer, Romantiker und Idealist. Jedenfalls habe ich im Laufe meines langen Forscherlebens viele Rollen gelebt, musste sie auch leben. Heute sehe ich mich mehr als realistischen Optimisten und Ideenproduzenten mit Bodenhaftung, als einen Visionär mit Verantwortung, der eine berufliche Mission zu erfüllen hat.

Ich bin ein Kriegs- und Krisenkind, geboren im Januar 1941, zu einem Zeitpunkt, als die britische Luftwaffe gerade Bremen stundenlang bombardiert hatte, Hitler und Mussolini auf dem Obersalzberg zusammentrafen, Rudolf Heß, der »Stellvertreter« des Führers, mit dem Fallschirm in der Nähe von Glasgow landete und der Angriff auf die UdSSR unmittelbar bevorstand.

Vier Jahre später hatte die Großoffensive der sowjetischen Truppen die Massenflucht und -vertreibung in Gang gesetzt. Auch ich war im Flüchtlingsstrom – von Beuthen in Oberschlesien kämpften wir uns durch bis nach Amberg in der Oberpfalz. Mit Vertreibung, Flucht und Einweisung in ein Kinderheim beginnt auch meine persönliche Erinnerung – die an meinen Vater, 1944 im Krieg gefallen, ist überhaupt nicht vorhanden. Für meine Mutter brach nach dem Krieg ihre persönliche Lebenswelt zusammen. Sie hatte alles verloren: ihren Mann, ihre berufliche Karriere als Konzertpianistin, Heim und Heimat und ihren inneren Halt auch. Hilflos und überfordert lieferte sie ihre zwei Kinder an der Heimpforte ab. Ein Leben lang blieb sie meinem Bruder und mir die Antwort auf die Frage nach dem Warum schuldig. Unsere Wahrheitssuche haben wir – um des familiären Friedens willen – schließlich aufgegeben. Das Leben ging einfach weiter.

Räumlich und sozial isoliert lebten mein Bruder und ich in dem Kinderheim hoch oben auf einem Berg über der Stadt Amberg. Eine Nonne führte tagsüber die Aufsicht über 30 Kinder. Dennoch war es eine Zeit der Vereinsamung, die ich als existenziellen Schmerz erlebt habe: niemand, bei dem ich mich hätte anlehnen oder Schutz suchen, niemand, dem ich meine Ängste hätte anvertrauen können. Ich war allein – unter lauter Kindern. Ich kannte kein Radio, keine Zeitung und keine Erwachsenengespräche. Vielleicht bin ich erst mit der Gründung einer eigenen Familie erwachsen geworden und habe zum »Wir« gefunden. Wohl nicht zufällig ist Vertrauen (als Gegenbegriff zur Vereinsamung) ein Schlüsselbegriff meiner Forschung geworden.

»Hunger ist Einbildung« hieß es damals, wenn das Essen knapp wurde. Bei der Einschulung gab es keine Schultüte, dafür mussten wir Heimkinder uns mitunter barfuß auf den Weg zur Stadtschule machen. Als ich sieben Jahre alt war, fand ich in meinem Schulzeugnis den Vermerk des Lehrers vor: »Ein selbstständiger und fleißiger Schüler.« Offensichtlich – das muss ich als Sozial- und Erziehungswissenschaftler sagen – ist das, was mir meine Eltern als Anlage und Merkmale in die Wiege gelegt haben, mindestens so prägend wie die sozialen Umfeldbedingungen gewesen. Denn zeitlebens bin ich ein unermüdlicher Fleißarbeiter geblieben.

Und was die diagnostizierte Selbstständigkeit anbetrifft, so kann ich bis heute nicht aus meiner Haut heraus: Ich muss mich erst einmal selbst behaupten, bevor ich die Hilfe anderer in Anspruch nehme. Andererseits hat das jahrelange Zusammenleben mit anderen Kindern meinen Sinn für Gemeinschaft gestärkt, denn Sozialkompetenz lernt man am besten und beinahe spielend in Gemeinschaft. Mit vier Jahren begann meine Heimkarriere, die erst ein Jahrzehnt später nach wechselnden Heimunterbringungen in Köln endete. Im Alter von 11 Jahren lag ich einmal drei Wochen lang im Krankenhaus. Außer dem Krankenhauspfarrer hat mich niemand besucht. Entbehrung von sozialer Wärme war mein ständiger Begleiter. Im Grunde fing ich erst mit meiner Frau richtig zu leben an, erst durch sie hatte das Leben eine emotionale Sinnperspektive bekommen. Und mit der Geburt unserer Kinder Alexander (1969) und Irina (1972) war das lange entbehrte Familienglück vollkommen.

Ich bin ein Familienmensch und weiß, was soziale Geborgenheit ist, weil ich das Gegenteil – die soziale Kälte – so intensiv erfahren habe. In meiner persönlichen Wertehierarchie lebe ich immer nach dem Grundsatz: Familie geht vor Beruf. Der Zusammenhalt der Familie war und ist für meine Frau und mich oberstes Gebot. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich unsere erwachsenen Kinder in allernächster Nähe von uns niedergelassen haben. Wir leben beides: Nähe und Distanz. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist inzwischen auch bei unseren Kindern eine Leitlinie des Lebens geworden. Als unlängst zum wiederholten Male ein beruflicher Meeting-Termin auf Freitagabend gelegt wurde, legte unser Sohn Alexander Widerspruch ein: »Entschuldigt, ich habe Familie.« Erstaunte Gesichter ringsum. So viel Selbstbewusstsein kann man sich nur leisten, wenn man selbst auch viel leistet.

Das Buch ist meinen Enkelkindern Emmy, Julius, Juri und Maximilian gewidmet. Ihnen gehört die Zukunft. Sie wachsen mit dem Wertewandel von heute auf, wozu auch die Synthese von Altem und Neuem, Konservativem und Progressivem gehört. Sie haben keine Berührungsängste im Umgang mit Älteren und sind mehr als die Generationen des 20. Jahrhunderts bereit, wieder mit und von ihnen zu lernen. »Wenn Opi erzählt, ist das spannender als eine ›Fünf Freunde‹-CD zu hören«, sagte unlängst meine Enkelin Emmy zu meiner Tochter, und solche anerkennenden Worte aus Kindermund sagen viel über die Offenheit und Neugier dieser Generation gelebtem Leben gegenüber.

Noch nie in der Geschichte der Menschheit haben Generationen über so lange Zeiträume zusammengelebt und mit- und voneinander gelernt. Hier deutet sich ein neuer Sinnbildungsprozess zwischen Jüngeren und Älteren an: Die Jüngeren erfahren Geschichte als Geschichten, und die Älteren wissen den neuen Beziehungsreichtum zu schätzen.

Als Zeitzeuge habe ich den Struktur- und Wertewandel der letzten Jahrzehnte erlebt und durchlebt, weshalb ich mich auch hier in diesem Buch zu gelegentlichen autobiografischen Rückblenden herausgefordert fühle. Meine persönliche Forschungsreise setzte 1983 mit Orientierungen für eine Zukunft, die längst begonnen hat[1] ein und war gut ein Vierteljahrhundert später mit der Zukunftsstudie Deutschland 2030[2] noch nicht abgeschlossen.

Die vorliegende Schrift markiert zugleich auch das Ende meiner über 30-jährigen beruflichen Funktion als Gründer und Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg. Der Förderer und Träger der Stiftung, das Unternehmen British American Tobacco, hat sich jahrzehntelang in den Bereichen Forschung und Wissenschaft, Bildung und Kultur engagiert. Es stellt sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung und unterstützt die unabhängige Forschungsarbeit der Stiftung – als Sponsor, Partner und Promoter und als Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Mit dem Unternehmen und der Stiftung war und bin ich mit Leib und Seele verbunden. Dies schließt die persönliche Verantwortung mit ein, die langjährige Forschungsarbeit nicht in einer One-man-Show enden zu lassen, sondern frühzeitig eine Nach-Folge sicherzustellen. Bei dieser Art von Vorsorge löst sich die Sorge des Unternehmens und der Stiftung (»Was machen wir eigentlich, wenn Ihnen ein Ziegelstein auf den Kopf fällt?«) von selbst auf: Die Weichen sind gestellt; der Weg vom Ich zum Wir ist geebnet.

Das Gründungsjahr der BAT Stiftung, 1979, war das Jahr des NATO-Doppelbeschlusses. Der Sozialismus war noch »real existierend« und die polnische Gewerkschaft Solidarność verboten. Die DDR feierte gerade ihren 30. Geburtstag. Ayatollah Khomeini kehrte in den Iran zurück. Aids trat 1979 zum ersten Mal in den USA auf. Die große ökologische Katastrophe Tschernobyl war noch sieben Jahre entfernt, und »Waldsterben«, »Treibhauseffekt« und »Klimawandel« waren unbekannt. Im deutschen Bundestag gab es noch keine Grünen. Die Zeit war geprägt von Wertewandel, Mikroelektronik und Anti-Atomkraft-Demonstrationen.

Die folgenden drei Jahrzehnte standen ganz unter dem Eindruck einer beispiellosen Wohlstandsentwicklung, die nach dem Millennium ihren Höhepunkt erreicht, vielleicht sogar auf lange Zeit überschritten hat. Inzwischen kündigt sich ein Paradigmenwechsel an, ein Wechsel von Wohlstand zu Wohlergehen: Wunschbilder eines grenzenlosen Wohllebens machen zunehmend einer realitätsbezogenen Ernüchterung Platz.

Bei den Pariser Mai-Unruhen 1968 wurde die Forderung erhoben: »Phantasie an die Macht!« Jetzt, vier Jahrzehnte später, muss es im Interesse einer lebenswerten Zukunft für kommende Generationen genauso radikal heißen: »Zukunft an die Macht!« – mit Realitätssinn und mit sozialer Phantasie, damit die gegenwärtige Welt nicht einfach nur naiv in die Zukunft verlängert wird.

Zeitlebens arbeite ich zwischen Empirie und Phantasie. Pointiert formuliert: Aus 49 Prozent fundierter Zahlenkenntnis und 51 Prozent lebendiger Vorstellungskraft entstehen meine Visionen für die Zukunft. Für manche Kritiker schwingt dabei immer auch ein Stück Sozialromantik mit, einer Suchbewegung zwischen Aufbruchstimmung und Neuanfang vergleichbar. So gesehen kann meine Vision auch eine Mission mit anderen Mitteln sein – keineswegs blauäugig und unpolitisch, sie schließt vielmehr Gesellschaftskritik und Protesthaltung mit ein. Was alle Sozialromantiker – ob prosaische, poetische oder politische – eint, ist ihre Begeisterung für die »Ferne der Zukunft [3]. Wenn wir eine lebenswerte Zukunft haben wollen, brauchen wir beides: die Leidenschaft und soziale Phantasie des Romantischen und die Vernunft und reale Nüchternheit des Politischen. Das sorgt für Spannung, die ausgehalten werden muss.

Auf den empirischen Prüfstand kann ich als Forscher nicht ganz verzichten. Das Buch ist frei von Grafiken, Tabellen und Statistiken, nicht aber frei vom Wissenschaftsanspruch der Überprüfbarkeit. Am Anfang jedes Kapitels stimmen aktuelle Daten in die Thematik und Problematik ein. Diese Daten – basierend auf Repräsentativerhebungen der BAT Stiftung für Zukunftsfragen – sind ein Spiegelbild des Wertewandels in unserer Gesellschaft. Sie regen zu Fragen an und markieren die Richtung, wohin wir uns bewegen.

Die Welt im Wandel – der Mensch im Mittelpunkt: Dies ist das Grundanliegen meiner Forschungsarbeit seit 40 Jahren. Struktur- und Wertewandel eröffnen seit jeher die Chance, die Frage nach dem Lebenssinn neu zu stellen. Bei aller Problematisierung der gesellschaftlichen Entwicklung spiegeln meine Studien immer auch eine positive Sichtweise wider, zeigen praktikable Lösungsansätze auf und machen Mut zur Zukunft. Ich verstehe mich als Anwalt von Vision und Verantwortung. Das ist meine Bringschuld. Und ich habe mich auch nie gescheut, Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an ihre Annahmepflicht zu erinnern. Die Deutsche Presseagentur (dpa) brachte es in einer Meldung auf den Punkt: »Dem Volk schaut er auf’s Maul, der Regierung klopft er auf die Finger.« So soll es bleiben!

Die folgenden Ausführungen sind auch ein Spiegelbild des Spannungsfeldes zwischen Ich und Wir. Als Autor verkünde ich das Ende der Ichlinge, als Person aber wähle ich eine Darstellungsform mit autobiografischen Bezügen, in der das Ich bewusst zum Tragen kommt. Der vermeintliche Widerspruch ist leicht auflösbar: Ich wende mich vehement gegen das maßlose Ich und das übersättigte Selbst, weil beides in Egoismus und Narzissmus endet. Aber auf Selbst-Bewusstsein und Ich-Stärke können wir weiterhin nicht verzichten. Auch in Zukunft leben wir nicht in einer ich-losen Welt. Ganz im Gegenteil: Das Wir braucht, um sich zu entwickeln, ein starkes Ich.

Die den Texten zugrundeliegenden Daten und Prozentzahlen basieren – sofern nicht anders ausgewiesen und belegt – auf Repräsentativerhebungen der STIFTUNG FÜR ZUKUNFTSFRAGEN – eine Initiative von British American Tobacco (im Folgenden »Stiftung für Zukunftsfragen« genannt). Umfrageergebnisse, Tabellen und Grafiken stehen allen interessierten Lesern unterwww.stiftungfuerzukunftsfragen.de zur Verfügung [email protected]).

Horst W. Opaschowski

Vom Ich zum Wir

Wertewandel in Deutschland

»Die neue Bindung: Sich eng verbunden fühlen und gleichzeitig frei sein.«

Erich Fromm

Gesellschaft im Wandel

Ein stetig wachsender Anteil der Bevölkerung in Deutschland sieht »Geborgenheit als besonders wichtigen Wert« an (2003: 44 Prozent; 2007: 49 Prozent; 2010: 55 Prozent).

Signale in Zahlen

Anteil der Bevölkerung, dem soziales Engagement »keinen Spaß« macht: 5 Prozent

Anteil der Bevölkerung, dem soziales Engagement »wirklich Spaß« macht: 36 Prozent

Anteil der Bevölkerung, der 1998 der Auffassung ist, dass »Kontakte im Netz oberflächlich bleiben«: 41 Prozent

Anteil der Bevölkerung, der 2010 der Auffassung ist, dass »Kontakte im Netz oberflächlich bleiben«: 58 Prozent

Anteil der Bevölkerung, der bei Wohlstand an »viel Geld haben« denkt: 34 Prozent

Anteil der Bevölkerung, der bei Wohlstand an »gute Freunde haben« denkt: 57 Prozent

Die sozialen Folgen des wachsenden Ich-Kults in den 1990er Jahren waren für mich aus Forschungsperspektive schon früh absehbar. Entgegen der Prophezeiung vieler Trendforscher, die das hybride »Super-Ego [4] hochjubelten, sah ich eben genau nicht das ersehnte Paradies am Ende einer narzisstischen Konsumkultur stehen, sondern eher eine inszenierte Gameshow kinderloser Egomanen, die in ihrem Leben nichts verpassen wollten. Der genussfähige Egoist drohte den sozialfähigen Mitmenschen zu verdrängen. Ein weiter wachsender Ich-Kult würde eher ein Nullwachstum der Bevölkerung zur Folge haben. Genauso ist es gekommen.

Es ist es kein Zufall, dass unser Grundgesetz – als Reflex auf unsere Vorgeschichte, vor allem individuelle Grundrechte kennt, aber nur wenige soziale Pflichten nennt wie zum Beispiel »Eigentum verpflichtet«. Jeder Einzelne soll zunächst einmal sein ICH und seine Persönlichkeit frei entfalten können. Das WIR wird nicht so privilegiert behandelt, weshalb auch die soziale Gerechtigkeit in den letzten Jahren auf der Strecke zu bleiben droht.

Die Deutsche Presseagentur (dpa) hat mich einmal als »Mann der Thesen und Prognosen« bezeichnet, der dem Einstellungs-, Bewusstseins- und Wertewandel der Deutschen immer ganz nah auf der Spur sei. Und tatsächlich wirken die Schlüsselwörter und Leitthemen der von mir in der Stiftung für Zukunftsfragen regelmäßig herausgegebenen Veröffentlichung Forschung aktuell der letzten 20 Jahre von heute aus gesehen wie ein sensibler Seismograph des jeweiligen Lebensgefühls in Deutschland:

1990: Reisehunger

1991: Freizeitspaß

1992: Überfluss

1993: Hektik

1994: Wohlstandsgeneration

1995: Informationsflut

1996: Internetsurfer

1997: Konsumgesellschaft

1998: Erlebniskultur

1999: Generation @

2000: Mega-Events

2001: Ende der Spaßgesellschaft

2002: Bescheidenheit

2003: Beständigkeit

2004: Zeitwohlstand

2005: Lebensqualität

2006: Glück

2007: Aufbruchstimmung

2008: Familie

2009: Vorbilder

2010: WIR! Ende der Ichlinge

Am 10. April 2001 veröffentlichte ich unter dem damals ziemlich provokanten Titel: »Schafft die Spaßgesellschaft ab!« eine Kritik des Turbo-Kapitalismus der Konsumgesellschaft und der Schnelllebigkeit der Nonstopp-Gesellschaft. Ich wies darauf hin, dass sich die Spaßgesellschaft schon bald von selbst erledigen könnte dadurch, dass die Menschen wieder auf das Beständige einer neuen Leistungsgesellschaft setzen würden. Genau an diesem Punkt stehen wir aus meiner Sicht heute. Wir haben eine Erlebnisinflation hinter uns, die von maßlosen Konsumsteigerungen getrieben war, von Freizeitspaß und Reisehunger, Erlebniskultur und Mega-Events. Im Zirkel von Konsum- und Neugier gefangen war eine »Born-to-Shop-Generation« drauf und dran, in die Wohlstandsfalle zu geraten, weil sie über ihre Verhältnisse lebte.

Die Erfahrungen vom 11. September 2001 bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise brachten die Zäsur im Denken und in den Lebenseinstellungen der Menschen:

Die überdrehte Spaßkultur begann einer neuen Ernsthaftigkeit zu weichen.

Hedonisten, hemmungslose Ichlinge passen nicht ins Bild von Krisenzeiten, auch und gerade im zwischenmenschlichen Bereich werden Prinzipien wie Verlässlichkeit und Beständigkeit wieder Bedeutung zugeschrieben. Dem entspricht die Überwindung der verengten narzisstischen Nabelschau zugunsten des wiedergefundenen Blicks auf das Wir und auf Wertorientierung. In den letzten Jahren ist eine grundlegende Änderung in den Lebenseinstellungen der Deutschen feststellbar.

Die Menschen rücken wieder enger zusammen und vertrauen einander mehr.

Immerhin 88 Prozent der Bundesbürger (Männer: 85 Prozent; Frauen: 90 Prozent) sagen, dass für Egoismus in der Gesellschaft immer weniger Platz ist und sie den Zusammenhalt suchen. Quer durch alle Berufs-, Alters- und Sozialschichten nimmt die Überzeugung und der Wunsch zu, dass man sich – zumal in schwierigen Zeiten – aufeinander verlassen können muss. In Zeiten des Wohllebens ist es einfach, hauptsächlich für sich selbst zu leben, sein Ego auszuleben. Wenn aber der Wohlstand auf breiter Ebene stagniert oder gar sinkt, dann treten andere Bedürfnisse in den Vordergrund. Die Menschen wünschen sich im Umgang miteinander wieder mehr menschliche Wärme und Zusammenhalt.

Wie schon immer in Zeiten ökonomischer und sozialer Krisen verdrängt das Zusammenrücken das Auseinanderdriften und verlieren Super-Egos in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft an Glaubwürdigkeit, wenn sie keine Verantwortung übernehmen für das, was sie sagen und tun. Maßstab für verantwortliches Handeln ist die Übereinstimmung zwischen öffentlicher Präsentation und persönlicher Lebensführung. Diese Authentizität verlangt Ich-Stärke – das Gegenteil von Ego-Manie –, also die konsequente Verwirklichung von Selbst- und Sozialansprüchen, von Selbst- und Verantwortungsbewusstsein. Dies schließt das Eingeständnis persönlicher Fehler und Schwächen mit ein. Dieses Ich im Wir setzt auf Vertrauen, Verantwortung und Verlässlichkeit und verzichtet auf Gier und Maßlosigkeit. Die westliche Konsumkultur hat im 21. Jahrhundert ihren Zenit überschritten. In dem Maße, in dem sich der wirtschaftliche Spielraum für den Einzelnen wieder verringert, in dem Maße steigt die Bedeutung der Gemeinschaft, nicht nur im materiell-fürsorglichen Bereich, sondern auch im ideellen: Wiederentdeckt wird der Wert der Gemeinsamkeit und die Verständigung darüber, was uns verbindet und zusammenhält.

Auch wenn der Materialismus als Heilsversprechen bislang hauptsächlich im Westen fragwürdig geworden ist – in Indien, China und im Rest der Welt sind die vermeintlich segensreichen Wirkungen noch in vollem Gange, scheint das »amerikanische Jahrhundert«[5] doch bald zu Ende zu gehen. Vorbei sind jedenfalls die Zeiten von Kaufrausch und Konsumkarneval. Selbst amerikanische Kultautoren wie Douglas Coupland (Generation X) arrangieren sich mittlerweile mit dem sozialen Wandel und verabschieden sich von Popkultur und Castingshows: »Mir gefällt, dass diese Welt zu Ende geht.« Die Rolle des Konsumpioniers sollen andere spielen, auf seiner Homepage findet sich der Vermerk: »Douglas Coupland besitzt keine Facebook- oder MySpace-Seite. So viel Old School muss sein«[6]. Statt nur abhängig zu konsumieren, fängt er –wie viele andere Menschen auch – wieder eigenständig zu leben an.

Stehen wir am Beginn eines neuen Zeitalters – jenseits von Egomanie und Wachstumseuphorie? Haben Strukturwandel, Wertewandel und demografischer Wandel eine grundlegende Veränderung unserer Lebensziele und Lebensstile zur Folge? Oder handelt es sich nur um ein Strohfeuer, das vorübergehend soziale Geborgenheit höher einschätzt als individuelle Freiheit? Deutsche Sozialforschungsinstitute – vom Allensbach-Institut über die BAT-Stiftung bis zu den Shell-Jugendstudien – weisen nach: Der Familiensinn wächst, Gemeinsinn bürgert sich wieder ein, soziale Verantwortung kehrt zurück. Und eine neue Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit entwickelt sich.

Optimismus als Pflicht

Leben in Krisenzeiten

»Die große Mode ist jetzt pessimistischer Optimismus: Es ist zwar alles heilbar, aber nichts heil.«

Ludwig Marcuse

Gesellschaft im Wandel

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung (81 Prozent) blickt optimistisch in die Zukunft: »Bei mir überwiegt die positive Einstellung zum Leben.«

Signale in Zahlen

Anteil der 14- bis 29-Jährigen, der mit Angst an die Zukunft denkt: 30 Prozent

Anteil der 14- bis 29-Jährigen, der mit Hoffnung an die Zukunft denkt: 51 Prozent

Anteil der 14- bis 29-Jährigen, der Konflikte zwischen Jung und Alt befürchtet: 11 Prozent

Anteil der 14- bis 29-Jährigen, der trotz Wirtschafts-, Umwelt- und Bildungskrisen das Beste aus seinem Leben machen will: 56 Prozent

Anteil der Hauptschulabsolventen, der Optimismus für ein besonders wichtiges Erziehungsziel hält: 46 Prozent

Anteil der Hochschulabsolventen, der Optimismus für ein besonders wichtiges Erziehungsziel hält: 58 Prozent

Der Kinderglaube ist vielleicht der reinste Glaube, der Berge im Leben versetzen kann und dem nichts unmöglich zu sein scheint. In meiner Kindheit, im Frühjahr 1950, kam es zu einem kleinen Glaubenswunder, von dem ich zeitlebens geträumt und gezehrt habe. In der katholischen Stadtkirche zu Amberg in der Oberpfalz läuteten die Glocken. Der Bischof war zu Gast, und in der Kirche herrschte drangvolle Enge. Eltern, Großeltern und Familienangehörige hatten sich zur Firmung ihrer Kinder eingefunden. Jeder Firmling hatte einen Firmpaten, der ihm beim Gang zum Altar zur Seite stand und seine Hand zur Stärkung auf die rechte Schulter legte. Nur ich – ich kam allein, hatte niemanden bei mir, der mich begleiten wollte. Nach einer angstvoll schlaflosen Nacht war ich morgens vom Kinderheim oben auf dem Berg zu meiner Firmung nach unten in die Stadtkirche gelaufen. Hier stand ich dann – einsam unter lauter fremden Menschen.

Gegen Ende des Pontifikalamtes wurden die Firmkinder aufgerufen. Sie gingen an der Hand des Paten stolz zum Altar. Als mein Name fiel, war es mit meiner Fassung vorbei. Weinend ging ich nach vorne – den Blick auf den thronenden Bischof gerichtet und leise vor mich hersagend: »Lieber Gott, hilf mir!« Ich kniete vor dem Bischof nieder und sah in sein entsetztes Gesicht. Doch plötzlich blitzten seine Augen auf und begannen zu leuchten. Ein mir bis heute unbekannter Gottesdienstbesucher war zum Altar gekommen und legte seine Hand auf meine Schulter. Ich war gerettet. Mit dem überwältigenden Glücksgefühl kam gleichzeitig die Überzeugung in mir auf: Mein Glaube hat mir geholfen. Bis zur letzten Minute hatte ich die Hoffnung auf (Gottes) Hilfe nicht aufgegeben. Und nun war er da – mein Pate. Der Bischof lächelte. Dann gab er mir ein Zeichen, wieder aufzustehen. Als ich mich umdrehte, um zu meinem Platz zurückzugehen, bemerkte ich, dass mein Firmenpate schon nicht mehr da war. Ich habe ihn auch danach nie wieder gesehen.

Vielleicht ist die Firmung für mich eine Art Geburtsstunde meines positiven Denkens und Glaubens gewesen. Der Glaube und die Überzeugung im Sinne Bertolt Brechts: »Es muss einen guten Schluss geben – muss, muss, muss«, war und ist für mich wie ein Lebenselixier. Es ersetzt die Lebensangst durch Selbstvertrauen und die Zweifel durch die positive Selbstgewissheit, dass es immer wieder weitergeht. Ich glaube, dass eine gute Portion gefühlter und gelebter Sozialromantik – auf dem Boden harter Realität – auch noch im 21. Jahrhundert hilfreich ist, das eigene Leben immer wieder voranzutreiben und sich selbst anzuspornen. Diese Art der Antriebskraft habe ich mir immer bewahrt und offensichtlich hat sich dies auch in meinen Büchern vermittelt: »Ein Buch von Opaschowski ist wie eine Achterbahnfahrt. Man liest sich zunächst in freie, luftige Höhen und saust dann mit Blick auf die Realität wieder in die Tiefen gesellschaftlicher Verwerfungen. Dennoch löst man bei Opaschowski immer wieder eine Fahrkarte«[7].

Im Jahr 1972, in der heißen Nach-68er-Zeit, bewarb ich mich als Wissenschaftlicher Assistent für Erziehungswissenschaft um eine Professorenstelle für Sozialpädagogik. Der Bericht an den Club of Rome über die »Grenzen des Wachstums« war gerade veröffentlicht, der »Radikalenerlass« über die Fernhaltung politischer Extremisten aus dem öffentlichen Dienst verabschiedet. Zugleich setzte die größte Fahndungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik nach den RAF-Mitgliedern Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe ein. Stichworte wie »Verelendung der Gesellschaft« und »antikapitalistische Sozialarbeit« beherrschten die Diskussionen in den Sozialwissenschaften jener unruhigen Zeit.

Jede Probevorlesung, die Bestandteil einer Bewerbung um eine Professur ist, hatte damals mit einem emanzipatorischen und gesellschaftskritischen Glaubensbekenntnis zu beginnen. Dem Zeitgeist entsprechend hielt ich in meiner Vorlesung ein flammendes Plädoyer gegen die »asoziale Gesellschaft« und listete einen ganzen Katalog sozialer Nöte auf. Bevor ich entsprechende Konsequenzen zum politischen Handeln formulierte, beendete ich meine Gesellschaftsanalyse mit den Worten: »Die gegenwärtige Sozialmisere ist durch Caritas und Philanthropie allein nicht mehr zu beseitigen.«

Ich verwies auf den Paragraphen 330 c des Strafgesetzbuches, der jeden von uns verpflichtet, »bei Unglücksfällen, gemeiner Gefahr oder Not« helfend einzugreifen. Tun wir es nicht, so droht uns eine Freiheitsstrafe. Wie viele Parlamentarier und Politiker, so fragte ich damals, verstoßen Tag für Tag durch unterlassene Hilfeleistung gegen das Gesetz, weil sie weder persönlich noch gesetzlich in Notfälle eingreifen? Entsprechend konsequent sahen meine Maßnahmenvorschläge zur »Resozialisierung der asozialen Gesellschaft« aus – vom systematischen Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen bis zur vorrangigen Förderung von Mehrfamilienhäusern anstelle von Altersheimen. (Fast vier Jahrzehnte später würde ich den Maßnahmenkatalog genauso formulieren).

Ich war damals gerade 31 Jahre alt, hatte die Thesen beherzt und engagiert vorgetragen, aber ein etwas konsterniertes und ratloses Berufungsgremium zurückgelassen. Ich bekam die Professorenstelle natürlich nicht. Nach Abschluss des Berufungsverfahrens fragte ich nach den Gründen für die Ablehnung und erfuhr, dass die Berufungskommission meine Vorlesung in ihrer Aussage für viel zu positiv hielt. Auf meinen Einwand, dass ich 45 Minuten lang doch nur über Probleme geredet hätte, meinte mein Gesprächspartner: »Ja, das schon. Sie haben aber alle Probleme gelöst.«

Inzwischen sind fast 40 Jahre vergangen. Jetzt bin ich Zukunftsforscher. Die Kraft des positiven Denkens beherrscht mehr als je zuvor meine Forschungsarbeit. Ich betreibe von Berufs wegen eine Wissenschaft gegen Zukunftsangst und mache Immanuel Kants berühmte Fragen »Was können wir wissen?, Was sollen wir tun?, Was dürfen wir hoffen?« zum Ausgangspunkt meiner empirischen Arbeit und zu Leitprinzipien meines Handelns: Zukunft ist für mich nur ein anderes Wort für Hoffnung. Und:

Vision, Mission und Profession gehören für mich zusammen.

In meiner beruflichen Tätigkeit muss ich auch ein (Sozial-)Romantiker sein, ohne die Schnittmengen mit der Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren. Konservative Familienromantik und linke Konsumkritik sind keine Gegensätze für mich. Zeitlebens agiere ich in der Doppelrolle des Schwarzsehers und Weichzeichners. Als Schwarzseher sorge ich mich um das Schicksal der Verlierer, und als Weichzeichner befasse ich mich mit den Gewinnern dieser Gesellschaft. So gesehen haben beide Rollen ihr Recht. Als Pessimist werde ich oft zurückgeworfen, als Optimist geht es für mich immer wieder weiter.

Als Pessimist rede ich von Krise und Katastrophe, als Optimist von Wandel und Chance.

Meine Rolle wurde einmal – in durchaus freundlicher Absicht – als die eines »Gewissensbissers« gekennzeichnet. Tatsächlich forsche und schreibe ich, wie man sagt, nach bestem Wissen und Gewissen – was eben nicht ausschließt, dass ich Einzelnen oder Gruppen ins Gewissen reden, das heißt an ihre soziale Pflicht erinnern muss, auch an andere und nicht nur an sich selbst zu denken.

Das gute Leben und eine lebenswerte Zukunft beginnen im Kopf – beides setzt die Bereitschaft voraus, das Neue zu denken und das Wünschbare offensiv anzugehen. Das meinte der Philosoph Karl Popper mit seiner Aussage: »Es ist unsere Pflicht, optimistisch zu sein«, die er in einem Interview im Juli 1994 machte. Ein Zukunftsforscher, der den Menschen als frei handelndes Wesen, das etwas aus sich selbst macht oder machen kann (Kant), in den Mittelpunkt stellt, muss zwangläufig von einem grundsätzlich positiven Menschenbild geprägt sein. In meiner ersten wissenschaftlichen Publikation in einer germanistischen Fachzeitschrift 1970 diskutierte ich denn auch sicher nicht ganz zufällig den »Fortschrittsbegriff im sozialen Wandel«[8]. Ausgangspunkt hierfür waren die Schriften des jungen Jean-Jacques Rousseau zur Kulturkritik, seine Thesen von der Entwicklung vom »l‘homme naturel« zum »l’homme corrumpu« und seine Feststellung, dass die Fortschritte von Erziehung, Wissenschaft und Kunst kaum etwas zur Glückseligkeit des Menschen beigetragen haben. Rousseau stand wie Fontanelle, Montesquieu, Voltaire und Condorcet im Banne einer Zeit, in der der Gedanke der Vervollkommnungsfähigkeit (»perfectibilité«) leidenschaftlich diskutiert wurde.

Über Rousseau hinaus entwickelte insbesondere Condorcet seine Idee vom »esprit humain« und von der fortschreitenden Befreiung des Individuums. Er formulierte die These von der unendlichen Vervollkommnungsfähigkeit (»perfectibilité indéfinie«). Ausdruck des Strebens nach religiöser, geistiger und politischer Befreiung war auch die Verbreitung von Begriffen aus der Zeit der Französischen Revolution wie zum Beispiel Menschenrechte (les droits de l’homme), Brüderlichkeit (fraternité), öffentliche Meinung (l’opinion publique) und insbesondere Freiheit, Fortschritt und Entwicklung. An diesen letzten drei Begriffen habe ich meine Forschung immer ausgerichtet.

Positives Lebensgefühl als beste Lebensversicherung

Mit dem positiven Menschenbild unmittelbar verbunden ist die Anerkennung der Unvollkommenheit des Menschen. Dies schließt die Chance des Gelingens ebenso ein wie das Risiko des Scheiterns. Zuversichtlich sein, um Mut machen zu können, einfühlend sein, um anregen und fördern zu können, aber auch kritisch hinterfragen, selbstkritisch sein und Enttäuschungen und Rückschläge ertragen können, dies alles gehört zum positiven Denken.

Die praktische Seite des positiven Denkens zeigt sich unter anderem in der Fähigkeit, aus Sachzwängen Chancen zu machen: Schwierigkeiten im Lebensalltag müssen nicht notgedrungen als Grund für den persönlichen Verlust von Zeit und Nerven, sondern können ebenso gut oder sogar besser als kreative Herausforderung gesehen werden, als Ausgangspunkt für neue Problemlösungen und Handlungsmöglichkeiten. Daraus ergibt sich fast automatisch, dass die immer wieder auftauchenden Gründe für Resignation umgedacht und umgelenkt werden in neue Handlungsmodelle und über Problemlösungen neue Ideen, Impulse und Initiativen für ein lebenswertes Leben entwickelt werden. Positives Denken wird so zum einflussreichen Faktor, der umso stärker wird, je weiter sich diese Art zu erleben und wahrzunehmen verbreitet, je mehr Menschen für die Entwicklung und Verbesserung der eigenen Person und ihrer sozialen Umwelt gewonnen werden.

Mit der Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist von Anfang an das Wunschdenken, der Glaube an ein besseres Leben, auch und gerade in krisenhaften Zeiten verbunden. Wenn das Leben in Gefahr ist oder die Lebensqualität spürbar schlechter wird, setzt der menschliche Wille zum Leben, wenn man so will zum Überleben ein: der Abschluss einer Lebensversicherung, die Teilnahme am Glücksspiel, die Begeisterung für eine neue Idee oder Religion, die Hoffnung auf Gesundheit, die Zuversicht, das gute Gefühl und der positive Glaube daran, dass es besser wird.

Im biblisch-lutherischen Sinne noch am Vorabend des Weltuntergangs einen Baum zu pflanzen, ist bildhafter Ausdruck des positiven Impulses im Menschen. Selbst hochaltrige Menschen haben Zukunftserwartungen, die sie als erwünscht, vorteilhaft oder genussvoll empfinden. Solange sie in der Lage sind, sich eine rosige Zukunft auszumalen, solange ist ihr Lebenswille ungebrochen. Der spanische Cellist Pablo Casals soll auf die Frage, warum er mit 92 Jahren immer noch täglich Cello übe, geantwortet haben: »Ich glaube, ich mache Fortschritte.«

Ein positives Lebensgefühl erweist sich als eine der besten Voraussetzungen für ein gesundes und langes Leben.

Eine rundweg lebensbejahende Einstellung geht erfahrungsgemäß mit größerer Selbstsicherheit einher, entsprechend gering ist die Anfälligkeit für Depressionen[9]. Selbst mit schwierigen oder unangenehmen Situationen haben positiv Gestimmte weniger Probleme. Sie beherrschen Lebenstechniken, die eine aktive Auseinandersetzung mit Problemsituationen, wie zum Beispiel Partnerverlust, Pensionierung, Ausbruch einer Krankheit, begünstigen.

Meist handelt es sich um Personen, die von Geburt an ein positives Selbsterleben haben beziehungsweise in einer solchen Atmosphäre aufgewachsen sind. Erbanlagen und Elternhaus, Erziehung und Bildung beeinflussen die positive Einstellung zum Leben am stärksten. Sie sind die beste Vorbereitung auf das Alter. Aus den Biografien von über 100-jährigen Menschen geht beispielsweise eine durchgehend positive und humorvolle Einstellung zum Leben hervor. Die Vergnügtheit und Fröhlichkeit dieser Menschen half ihnen, sehr alt zu werden[10]. Lachen als Lebensprinzip baut Konfliktstress ab und steigert die Lebensfreude.

Potenziale einer neuen Krisenkultur

Dass in Deutschland der als Versager gilt, der scheitert, sollte Grund genug sein, auch bei uns eine positive Krisenkultur zu entwickeln, ja eine Kultur des Scheiterns. Veränderungen und belastende Situationen gehören zum täglichen Leben. Sie müssen als Herausforderungen angenommen werden, bevor sie zum Notfall werden. In Japan gibt es ein Sprichwort, wonach die Menschen wenig von ihren Siegen, aber viel von ihren Niederlagen lernen. Daher gilt die letztlich einfache Devise: Turbulenzen im Leben standhalten, Krisen, bei denen man viel über sich selbst erfahren kann, als Chancen wahrnehmen sowie aktiv und offensiv nach Lösungen und Perspektiven Ausschau halten.