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Christiane Wünsche

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Beschreibung

Vom Reisen im eigenen Land - und vom Ankommen bei sich selbst Ein paar vergilbte Fotos. Das ist alles, was Anne an persönlichen Erinnerungen und Dokumenten ihres Mannes Peter gefunden hat. Anne fährt an die Orte, an denen sie aufgenommen wurden - auf einer Wohnmobiltour, die sie zusammen hatten machen wollen. Jetzt wird sie zur Reise durch Peters Leben, bevor er Annes Ehemann und Alinas Vater wurde.  Bei ihrem Aufbruch vom Niederrhein nach Rügen und Thüringen erfährt Anne mehr über den Mann, in den sie sich vor dreißig Jahren verliebt hatte.  Vor allem lernt sie sich aber selbst neu kennen - zum Erstaunen ihrer Tochter, die zu Hause auf sie wartet.  Der neue Roman von Christiane Wünsche, Autorin der Spiegel-Bestseller »Aber Töchter sind wir für immer« und »Heldinnen werden wir dennoch sein« 

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Seitenzahl: 469

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Christiane Wünsche

Wir sehen uns zu Hause

Roman

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Vom Reisen im eigenen Land - und vom Ankommen bei sich selbst

 

Ein paar vergilbte Fotos. Das ist alles, was Anne an persönlichen Erinnerungen und Dokumenten ihres Mannes Peter gefunden hat. Anne fährt an die Orte, an denen sie aufgenommen wurden - auf einer Wohnmobiltour, die sie zusammen hatten machen wollen. Jetzt wird sie zur Reise durch Peters Leben, bevor er Annes Ehemann und Alinas Vater wurde. Bei ihrem Aufbruch vom Niederrhein nach Rügen und Thüringen erfährt Anne mehr über den Mann, in den sie sich vor dreißig Jahren verliebt hatte. Vor allem lernt sie sich aber selbst neu kennen - zum Erstaunen ihrer Tochter, die zu Hause auf sie wartet.

Der neue Roman von Christiane Wünsche, Autorin der Spiegel-Bestseller »Aber Töchter sind wir für immer« und »Heldinnen werden wir dennoch sein«

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Christiane Wünsche wurde 1966 in Lengerich in Westfalen geboren, aber schon kurze Zeit später zog die Familie nach Kaarst am Niederrhein. Mit zwanzig begann Christiane Wünsche ihr Studium in der Großstadt, dennoch blieb sie der Heimat eng verbunden. Seit 1991 wohnt sie wieder in Kaarst, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Sie hat eine erwachsene Tochter, der Familie genauso wichtig ist wie ihr. Mit ihren Romanen »Aber Töcher sind wir für immer« und »Heldinnen werden wir dennoch sein« gelang Christiane Wünsche auf Anhieb der Einstieg auf die Bestseller-Liste.

Für Fabiane, allerbeste Tochter und Reisegefährtin

»Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen.«

Johann Wolfgang von Goethe

»All unsere Gedanken wurden schon früher gedacht, jede Leidenschaft schon durchlebt, jeder Schmerz, jedes Glück schon empfunden. Nichts ist neu in dieser Welt.«

Namenloser Kutscher in Weimar

Prolog

Die Sonne brach durch die Wolken. Ihr helles Licht fiel auf Annes Wangen, war wie eine sanfte Berührung, und plötzlich schien es Anne immens wichtig, den Rundweg um den See zu Ende zu wandern. Sie konnte nicht sagen, warum. Vielleicht, um sich klarzumachen, dass das hier eben nicht Schweden war, sondern die Uckermark. Dieser Ort gehörte nur ihr!

Später würde sie sich immer daran erinnern, dass sie ganz allein diesen verwunschenen See in dieser entlegenen, so wunderschönen Gegend besucht und dass es mit einem Mal keine Rolle mehr gespielt hatte, wo der Westen endete und der Osten anfing, ja, dass sie sich längst tief im Osten aufhielt. Heimat hin, Heimat her – das hier war ihr Ort, ihre Gegenwart, ihre Reise. Und dieser Gedanke tat ihr unendlich gut.

Während sie schneller ausschritt, atmete sie tief durch, spürte das Leben in sich pulsieren und eine unbändige Freude darüber, auf der Welt zu sein. Sie würde ihr Leben meistern. Das begriff sie in genau jenem Augenblick.

Null Kilometer

Anne

Juni 2019

Es war früh am Morgen und ziemlich kühl. Noch versteckte sich die Sonne hinter dem Horizont, aber am dämmrigen, durchscheinenden Himmel stand keine Wolke. Laut Wettervorhersage würde es ein schöner, warmer Frühsommertag werden.

Während Anne den Motor des alten Wohnmobils anließ und ihr das wohlbekannte Scheppern des Dieselmotors ein sehnsüchtiges Ziehen im Bauch verursachte, lächelte sie ihrer vierundzwanzigjährigen Tochter Alina zu, die fröstelnd neben der heruntergelassenen Scheibe stand. In Gedanken vergewisserte sie sich noch einmal, dass sie nichts vergessen hatte. In der Handtasche auf dem Beifahrersitz befanden sich ihr Handy, das Portemonnaie mit den Ausweispapieren, der Girokarte, Euros und jeder Menge dänischen Kronen. In einem Extra-Umschlag steckte das Fährticket. In den Getränkehalter hatte sie eine Wasserflasche geklemmt. Die mit Proviant gefüllte Kühltasche stand im Fußraum.

Es konnte losgehen.

Plötzlich wurde Anne nervös, denn so souverän, wie sie vorgab, fühlte sie sich bei weitem nicht.

»Hast du das Navi schon eingestellt?« Alina schob sich mit einer für sie typischen Geste das lange blonde Haar hinter die Ohren und beugte sich vor.

»Klar.« Anne wies auf das in die Jahre gekommene Gerät, das mittels eines Saugnapfs an der Windschutzscheibe befestigt war. »Ich melde mich, sobald ich auf Rügen angekommen bin. Und egal, wie lange ich brauchen werde, verhungern kann ich nicht. Die belegten Brote und das Obst reichen vermutlich für Wochen.«

Alina lachte. »Sehr gut. Früher hatten wir auch immer viel zu viel mit, weißt du noch? Wenn wir am Ziel waren, haben wir erst mal haufenweise zerdrückte und durchweichte Butterbrote verputzt, damit wir die nicht wegschmeißen mussten.« Dann zögerte sie. »Mama …?« Sie streichelte Anne über den nackten Arm. Dabei hatten sie sich doch schon vorhin mit einer festen Umarmung voneinander verabschiedet.

»Ja?«

»Fahr vorsichtig. Ich hab dich lieb.«

Anne schluckte gerührt. »Ich dich auch, meine Kleine.«

 

Schon nach zwei Stunden Fahrt über die inzwischen stark frequentierte Autobahn wurden Anne die Arme steif, ihre Finger schmerzten vor Anstrengung. Sonst war meist Peter gefahren, wenn sie mit dem Wohnmobil unterwegs waren. Nur in kurzen Intervallen hatte er sie hinters Steuer gelassen, und das auch bloß, bevor ihn die Erschöpfung übermannte.

Anne war es recht gewesen. Sie hatte liebend gern die vorbeiziehende Landschaft betrachtet und ihrem Mann ab und an den Thermobecher mit heißem Kaffee oder etwas zu essen gereicht.

Heute nahm sie vom Umland fast nichts wahr, so sehr musste sie sich auf den Verkehr konzentrieren. Sie fühlte sich als Fahrerin unsicher wie nie zuvor. Was, wenn sie eine Panne hatte, fragte sie sich, oder einen Unfall baute? Kein Peter wäre da, der aus dem Effeff wusste, was zu tun war. Der notfalls einen Reifen wechseln oder Kleinigkeiten reparieren konnte. Bei dem sie sich sicher und geborgen fühlte.

Sie stöhnte auf, umklammerte das Lenkrad noch fester und warf einen Blick in den Rückspiegel.

Neben den Pendlern waren heute zahllose Lkws unterwegs, außerdem etliche Reisemobile und Gespanne. Glänzende Karossen reihten sich schier endlos aneinander.

Als die Sonne grell ins Fahrerhaus schien, klappte Anne die Blende herunter und öffnete das Fenster einen Spaltbreit. Lärm und Zugluft rauschten herein. Immer noch war ihr heiß. Aus der Wasserflasche, die inzwischen griffbereit auf dem Beifahrersitz lag, trank sie durstig. Infolgedessen wurde irgendwann der Druck auf ihre Blase übermächtig. Sie setzte den Blinker, um auf den nächsten Rastplatz abzubiegen.

Dass sie einen Fehler begangen hatte, begriff sie erst, als es schon zu spät war und sie über die Ausfahrt rollte, denn sowohl die Tankstelle, an der sie vorbeifuhr, als auch der Parkplatz, den sie anvisierte, waren rappelvoll. Vor allem Lastwagen und Reisebusse verstopften die Parkbuchten.

Sofort hatte sie Peters Stimme im Ohr: »Wenn wir nicht tanken müssen, nehmen wir einen der kleinen Rastplätze, einen mit Klohäuschen und sonst nichts. Schlange stehen kenne ich noch aus der DDR. Darauf kann ich verzichten.«

Anne beugte sich vor, fuhr im Schritttempo an den dicht an dicht stehenden Fahrzeugen vorbei und war erleichtert, als sie tatsächlich noch einen Parkplatz zwischen zwei Sattelschleppern ergatterte. Sie atmete auf, stellte den Motor aus, griff nach ihrer Handtasche und kletterte aus dem Fahrerhaus. Erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle Türen verriegelt waren – eine Zentralverriegelung besaß das alte Gefährt nicht –, machte sie sich auf den Weg zum Rasthaus. Um sie herum waren Motorengeräusche, Stimmengewirr, Türenschlagen und Hundegebell aufgebrandet; das Morgenlicht streichelte ihre Wangen.

Vor der Damentoilette im Untergeschoss hatte sich eine lange Schlange gebildet, die nur langsam vorrückte. Anne war heilfroh, als endlich eine Kabine für sie frei wurde. Anschließend kaufte sie sich oben im überfüllten Café mit leisem Trotz und schlechtem Gewissen einen Latte Macchiato to go. Peter hätte das nie gutgeheißen. »Viel zu teuer, das Zeug!«

Der Latte Macchiato war heiß und stark, der Milchschaum perfekt. Er war sein Geld wert, fand Anne. Sie schlenderte durch die Sonne zum Parkplatz zurück und genoss den Windstoß, der durch ihr T-Shirt fuhr.

Gerade hatte sie die schwere Fahrertür geöffnet, um sich auf den Sitz zu schwingen, als eine männliche Stimme sie zurückhielt.

»Entschuldigen Sie …?«

Sie drehte sich um. Die braunen Augen des etwa dreißigjährigen Mannes, der mit einer großen Umhängetasche über der Schulter dastand und ein selbst gemaltes Schild mit der Aufschrift »Hamburg« in Händen hielt, guckten treuherzig. »Entschuldigen Sie? Nehmen Sie mich ein Stück mit? Sie fahren doch Richtung Norden, oder?« Der Mann entblößte beim Sprechen eine Zahnlücke.

Anne schüttelte den Kopf. »Ich nehme keine Anhalter mit, tut mir leid.« Noch so ein Prinzip, das von Peter stammte. Aber in dem Fall eines, das sinnvoll war, sofern man nicht überfallen und ausgeraubt werden wollte.

»Aber Sie sitzen doch in Ihrem Camper ganz allein, oder?« Sein Tonfall wurde schmeichelnder. »Kommen Sie, ich tu Ihnen schon nichts.«

»Trotzdem …« Anne wollte an dem Mann vorbei, um in den Wagen zu steigen. Er machte einen Schritt zur Seite und ließ sie durch. Sie atmete auf, stockte jedoch, als sie sein flehendes »Bitte« in ihrem Rücken vernahm.

»Bitte, ich will zu meiner Frau und meinem Sohn nach Hamburg.«

Sie drehte sich zu ihm um. »Und warum fahren Sie nicht mit dem Zug?«

»Keine Kohle. Und von den Brummifahrern will mich keiner mitnehmen.«

Nun betrachtete sie ihn genauer: seine kurzen dunkelblonden Haare, die abgewetzte Jeans, das Kapuzenshirt, die dilettantisch gestochenen Tätowierungen, die unter den hochgeschobenen Ärmeln hervorlugten und bis auf die Handrücken reichten – alles nicht gerade vertrauenerweckend.

»Aber ich als allein reisende Frau soll Sie einsteigen lassen? Ganz ohne Angst?«

»Angst ist ein schlechter Begleiter.« Er grinste entwaffnend und sah dabei aus wie ein Lausbub. »Ich habe gesagt, dass ich Ihnen nichts tue. Ich bin übrigens der Maik. Und ich halte während der Fahrt die Klappe, versprochen. Ich will echt nur nach Hamburg zu meiner Tanja und meinem Jungen.«

Vielleicht war es die erneute Erwähnung seiner Familie, vielleicht die Sehnsucht in seinen Worten, die sie letzten Endes weich werden ließen. Eventuell hatte es aber auch damit zu tun, dass sie sich unvermittelt an ihre eigene Jugend erinnert fühlte. Mit ihrer Freundin Steffi war sie als knapp Zwanzigjährige auch einmal getrampt. Damals wollten sie zu einem Konzert ihrer Lieblingsband nach Frankfurt. An einem Rastplatz wie diesem hatten sie lange im prasselnden Regen gestanden, bis sich jemand ihrer erbarmt und sie weiter mitgenommen hatte. Das nette Ehepaar war etwa in dem Alter gewesen wie sie jetzt. Noch heute dachte sie voller Dankbarkeit an die beiden zurück.

Was es auch war, jedenfalls saß dieser Maik nun auf ihrem Beifahrersitz, und Anne beschlich ein mulmiges Gefühl.

Du bist einfach zu gut für diese Welt, rügte Peter sie in ihrem Kopf.

Verstohlen musterte sie den jungen Mann. Kurz nachdem sie vom Rastplatz losgefahren waren, war er fest eingeschlafen. Sein Kopf lehnte an der Scheibe und wackelte sacht mit jeder Unebenheit im Asphalt. Blass war er, stellte sie fest, die fahle Haut und die dunklen Ringe unter den Augen zeugten von einer ungesunden Lebensführung. Nachdenklich ruhte ihr Blick auf seinen abgekauten Fingernägeln. Wie hatte sie sich bloß darauf einlassen können, diese windige Gestalt mitzunehmen? Es überlief sie heiß und kalt, als sie sich ausmalte, was ihr alles passieren konnte.

Mühsam kämpfte sie die aufkommende Panik nieder. Die Uhr im Armaturenbrett sagte ihr, dass sie noch zwei Stunden bis Hamburg brauchen würde. Dann wäre sie den Typen los. Und außerdem: War es nicht ein gutes Zeichen, dass er in aller Seelenruhe schlief? Sie versuchte, sich zu entspannen, trank den Rest aus dem Kaffeebecher und aß einen Apfel.

Nach einer halben Stunde regte sich der Fremde neben ihr. »Wieso sind Sie eigentlich allein unterwegs?« Seine Stimme klang schläfrig. »Muss doch langweilig sein. Haben Sie keinen Mann?«

Anne packte das Lenkrad fester und beäugte ihn misstrauisch. Was ging diesen Typen ihr Leben an? »Doch«, sagte sie zögerlich und beschloss, sich sicherheitshalber keine Blöße zu geben. »Aber Peter … konnte leider nicht mit. Ist etwas dazwischengekommen.« Das war ja nicht mal gelogen. »Wir … wir wollten acht Monate lang durch Nordeuropa touren, beginnend mit Bornholm. Mein Mann ist Rentner, und ich habe mir als Grundschullehrerin ein Sabbatjahr genommen.«

Ihr Mitfahrer schnalzte mit der Zunge. »Und jetzt ziehen Sie das allein durch? Alle Achtung!«

Sie nickte nur, sah dabei aber wohl so elend aus, dass er sie mitfühlend anblickte.

»Sie wären lieber mit ihm gemeinsam gefahren, oder? Hat er Sie etwa verlassen?«

So konnte man es nennen. Wieder nickte sie; der Kloß in ihrem Hals verhinderte eine Antwort.

»Ein Scheißgefühl.« Maik seufzte. »Kenne ich gut. Meine Mum ist abgehauen, als ich sechs Jahre alt war. Sie hat uns Kinder allein in der Wohnung zurückgelassen und sich nie wieder gemeldet. Ich habe lange nicht geschnallt, dass sie nicht zurückkommt. Auch nicht, nachdem sie mich längst ins Heim gesteckt hatten und meine Schwestern bei einer Pflegefamilie untergekommen waren. Ich hab monatelang im Schlaf nach Mama gerufen, haben die Erzieher gesagt.«

Seine Stimme hatte einen so abgrundtief traurigen Beiklang, dass Anne sofort Mitleid bekam. Ihr eigenes Elend verblasste angesichts seiner furchtbaren Geschichte. Armer Maik.

»Irgendwann habe ich mich damit abgefunden«, erzählte er etwas munterer weiter. »Die Einsamkeit wurde weniger, wie ein Eiswürfel, der im Glas schmilzt. Jahre später haben die vom Amt rausgefunden, dass Mama nach Holland zu irgendeinem Typen gezogen ist, der sie mit Stoff versorgt hat. Sie war ein Junkie und ist früh gestorben.«

Annes Herz zog sich zusammen.

»Was war denn mit Ihrem Vater?« Schon während sie die Frage stellte, ahnte sie die Antwort.

»Keine Ahnung.« Maik hob gleichmütig die Schultern. »Den habe ich nie kennengelernt. Aber jetzt ist Schluss mit den alten Geschichten.« Er lächelte sie so entwaffnend an, dass der Rest ihres Misstrauens verflog. »Soll ich Ihnen vielleicht Ihre Wasserflasche reichen? Bei der Hitze muss man viel trinken.«

Später aßen sie beide von ihren Vorräten aus der Kühltasche. Maik verputzte mit Heißhunger zwei Äpfel und drei Käsebrote. Sie beobachtete amüsiert, wie er sich die Krümel aus den Mundwinkeln wischte und dabei zufrieden aufseufzte. Er kam ihr immer jünger vor.

Nach dem Essen fummelte er so lange am Radio herum, bis er einen Sender fand, der die aktuellen Charts hoch und runter spielte. Dann klopfte er im Takt mit den Händen auf seine Knie und pfiff einige Melodien mit. Als irgendein amerikanischer Sänger schmalzig »I miss you« intonierte, drehte Maik den Lautstärkeregler herunter und wandte sich Anne zu.

»Ich vermisse meine Frau auch«, sagte er wehmütig. »Und den Kleinen. Ich habe sie beide ewig nicht mehr gesehen. Wenn Tanja mit mir Schluss machen würde … Das wäre voll der Horror!«

»Aber warum sollte sie das denn tun?«, fragte Anne verwundert.

Er kaute auf seiner Unterlippe herum, bevor er leise antwortete: »Ich weiß nicht, ob sie sich freuen wird, mich zu sehen. Kann sein, dass ich sie schon verloren habe.«

»Hm.« Anne wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie setzte zum Überholen eines langsamen Gespanns an, als Maik wie beiläufig ergänzte: »Ich war acht Jahre im Knast, und sie hat mich nur viermal besucht.«

Beinahe hätte Anne im Reflex auf die Bremse getreten. Mit zitternden Armen und pochendem Herzen brachte sie den Überholvorgang hinter sich, um dann wieder zu Maik hinüberzulinsen. »Sie kommen gerade aus dem Gefängnis?«

Er schien nicht zu bemerken, wie sehr sie das beunruhigte. »Ja, JVA Werl. War nicht die beste Idee von meinem Kumpel und mir, damals die Sparkasse in Essen zu überfallen.«

Sie schnappte erschrocken nach Luft.

»Zwar natürlich nur mit Spielzeugpistolen«, fuhr er fort, so, als sei das Ehrensache, »aber Raub bleibt eben Raub. Und der Schalterbeamte hatte natürlich Schiss.« Er zog geräuschvoll die Nase hoch. »Ich hab mich vor Gericht bei ihm entschuldigt, und ich hab’s auch so gemeint. Trotzdem gab’s das volle Strafmaß. Hatte ich wohl verdient. Meine Tanja war tierisch sauer und unser Kleiner erst ein Jahr alt … Und dann habe ich meine Haftstrafe ohne Bewährung verbüßt, und die Menschen, die mir am liebsten sind, sind gleich mitbestraft worden, weil ich eine Ewigkeit nicht für sie da sein konnte.«

»Aber Sie müssen doch vorher gewusst haben, dass so was nicht gutgehen kann und außerdem grundverkehrt ist. Warum haben Sie überhaupt diese Bank überfallen?« Anne war fassungslos; alle Angst war mit einem Schlag verschwunden. Sie fühlte nur noch mit der armen Ehefrau, die von heute auf morgen allein mit einem Kleinkind dastand und noch dazu mit der Schmach leben musste, dass ihr Mann im Gefängnis saß.

»Schlechte Freunde, Drogen, Spielschulden, keine Arbeit …«, zählte er an seinen Fingern auf. »Es war ’ne Scheißidee. Ich mach so was nie wieder. Versprochen! Ich bleib sauber.«

Plötzlich wurde sie misstrauisch. »Wie oft haben Sie diesen Satz in Ihrem Leben schon gesagt?«

Er lachte verlegen. »Einige Male. Aber jetzt wird alles anders. Wenn Tanja mich nur wieder aufnimmt …«

Erneut konnte sie die Sehnsucht in seinen Worten hören, das unbändige Verlangen nach Liebe und einem ganz normalen Leben mit Frau und Kind. Anne war überzeugt davon, dass er meinte, was er sagte. Aber hatte dieser Mann überhaupt eine Chance auf eine glückliche Zukunft, mit der verkorksten Kindheit, den Heimaufenthalten und seinem kriminellen Werdegang? Er wirkte so verloren, wie er da auf dem Beifahrersitz hockte, doch er trug auch einen Keim Hoffnung in sich.

Welches Recht hatte sie, ihm einen Neuanfang abzusprechen? Sie war Grundschullehrerin geworden, weil sie Kinder liebte und ihnen zu einem möglichst guten Start ins Leben verhelfen wollte, ganz unabhängig von ihrer Herkunft. Jedes Kind musste auf seine Weise gefördert werden, egal, wie hoffnungslos das aufgrund der familiären Voraussetzungen manchmal erschien und wie viel Mühe es kostete. Anne hatte vor Jahren sogar eine Zusatzausbildung absolviert, um verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler besser unterstützen zu können. Außerdem war sie immer noch Mutter mit Leib und Seele. Als Alina klein gewesen war und auch später in der schwierigen Phase der Pubertät hatte sie ihre Tochter immer wieder aufgebaut, wenn diese glaubte, versagt zu haben, bei einer schlechten Schulnote oder bei Liebeskummer. Der Mann neben ihr wirkte so kindlich, dass sie unversehens nach den alten Mustern antwortete.

»Ich wünsche Ihnen, dass alles gut geht und Sie Ihr Leben meistern«, sagte sie mit Inbrunst. »Bleiben Sie dran. Sie schaffen das!«

»Hm …« Er biss sich auf die Unterlippe. »Wenn Tanja mich nicht mehr haben will, haue ich ab und wandere aus.«

Unwillkürlich runzelte sie die Stirn. »Aber Ihr Sohn braucht Sie doch sicherlich …«

»Ich weiß nicht, er kennt mich doch so gut wie gar nicht«, wandte er kläglich ein. Dann räusperte er sich. »Von wo aus geht denn eigentlich die Fähre nach Bornholm?«

»Von Sassnitz, auf Rügen.«

»Ostdeutschland?« Maik schnaubte. »Da trauen Sie sich allein hin? Zu den Glatzen?«

»Na, hören Sie mal. Mein Mann war ursprünglich auch aus Ostdeutschland. Ende der Achtziger kam er über die Grenze …«

Maik warf ihr einen überraschten Blick zu und schnalzte mit der Zunge. »Flucht? Cool! In der DDR waren sie ja alle eingesperrt, fast so wie ich.«

Anne wusste nicht, was sie zu dem hanebüchenen Vergleich sagen sollte. Die Reisebeschränkungen in der DDR hatten schließlich allgemein gegolten, ohne dass die Menschen ein Verbrechen begangen hatten.

Doch Maik redete schon weiter. »Ich sag ja immer: Zwei Dinge treiben uns an: Freiheit und Sehnsucht.« Er nickte nachdenklich. »Und ich sehne mich so nach meiner Tanja und dem Kleinen.«

Auch Annes Herz wurde schwer. Sie sehnte sich mit jeder Faser nach Peter, aber im Gegensatz zu Maiks lief ihr Wunschtraum in jedem Fall ins Leere. Maik konnte immerhin noch hoffen.

An einer Raststätte bei Hamburg ließ Anne den jungen Mann aussteigen und wollte sich gerade von ihm verabschieden, als plötzlich hinter ihr ein weißer Transporter auftauchte, dessen Fahrer auf die Hupe drückte und aufgebracht mit den Händen gestikulierte. Obschon sie fand, dass eigentlich mehr als genug Platz vorhanden war, um an ihr vorbeizukommen, beeilte sie sich loszufahren und würgte den Motor dabei aus Versehen ab. Daraufhin zeigte der Mann ihr mit hochrotem Gesicht den Mittelfinger. Anne erblasste. Was für ein Arschloch!

Mit klopfendem Herzen wollte sie den Wagen neu starten, als Maik, der alles beobachtet hatte, ihr mit einer Handbewegung bedeutete innezuhalten. Mit der schweren Reisetasche über der Schulter ging er wiegenden Schrittes zu dem wartenden Transporter hinüber und klopfte gegen das Fahrerfenster, woraufhin die Scheibe heruntergelassen wurde.

Anne konnte nicht hören, was die beiden miteinander beredeten, aber am Ende zog der Fahrer den Kopf ein, gab Maik etwas und kurvte anschließend um Annes Wohnmobil herum, ohne sie noch einmal eines Blickes zu würdigen.

Maik sah ihm grinsend nach, bevor er zu ihr ans offene Fenster ging. »Können Sie noch einen Moment warten? Bin gleich wieder da.«

Er verschwand hinter der Glasschiebetür des Gebäudes und ließ sie verwundert zurück. Kurz darauf kam er mit einem Kaffeebecher und einem Eis am Stiel wieder. Feierlich überreichte er ihr die Sachen samt einem Fünfeuroschein. Anne nahm alles verblüfft entgegen.

»Eine Entschuldigung von dem Ekelpaket gerade«, erklärte Maik leichthin. »Mehr als einen Zehner hatte er leider nicht dabei. Als ich ihn darauf hingewiesen habe, dass er für den Stinkefinger eine fette Anzeige kassieren kann, weil ich ein Zeuge bin, hat er den Schwanz eingezogen.«

Anne musste lachen und schüttelte den Kopf. »Danke, aber das war echt nicht nötig.«

Unvermittelt wurde er ganz ernst. »Nein, vielleicht nicht, aber wer so nett wie Sie ist, verdient es einfach nicht, mies behandelt zu werden. Wenn Sie nicht gewesen wären …« Er hielt inne, war sichtlich gerührt. »Danke für alles. Und nehmen Sie lieber keine Anhalter mehr mit. Sie könnten leicht mal an einen Verbrecher geraten.«

Verblüfft blickte sie ihm nach, wie er winkend davonging.

Auf der Weiterfahrt kam ihr in den Sinn, dass sie diese denkwürdige Begegnung im Beisein von Peter niemals gemacht hätte. Fast gleichzeitig schnürten ihr Schuldgefühle die Kehle zu. Sie hätte alles dafür gegeben, ihn neben sich zu wissen, und dafür liebend gern darauf verzichtet, einen Typen wie Maik kennenzulernen.

Hinter Hamburg geriet sie in einen Stau. Nichts ging mehr voran, außerdem brannte die Frühsommersonne heiß auf das Blechdach der Fahrerkabine. Im Inneren wurde es stickig. Anne kurbelte das Seitenfenster ganz herunter und legte den Ellbogen auf den Rahmen. Die abgasgeschwängerte Luft flimmerte, Motoren brummten. Im Radio hieß es, der Stau, dessen Ursache eine Baustelle war, sei inzwischen zwanzig Kilometer lang. Anne stöhnte und machte sich daran, ein Kaugummipäckchen zu öffnen, da klingelte ihr Smartphone.

Alina

Alina saß mit Kater Janosch auf dem Schoß auf dem Balkon ihrer Düsseldorfer Altbauwohnung, auf dessen Brüstung ihre mit üppigen Sommerblumen bepflanzten Kästen standen, guckte in den Hinterhof, in dem hohe Buchen standen, Efeu über die Ziegelsteinmauern zu den Nachbarn wucherte, und wartete darauf, dass ihre Mutter ans Handy ging.

Dass es mitten in der Großstadt solche grünen Oasen gab, war Alina vor ihrem Umzug nicht klar gewesen. In ihrer kleinstädtischen Naivität hatte sie bei ihren Ausflügen in die Landeshauptstadt lediglich die asphaltierten, verstopften Straßen und die abschreckenden grauen Häuserfassaden registriert, ohne zu verstehen, dass die nur die Kulissen für das Leben dahinter darstellten. Seit sie hier mit Felix wohnte, betrachtete sie die urbane Welt mit anderen Augen. Düsseldorfs belebte Straßen glichen pulsierenden Adern. Lokale, Theater, Kinos, Museen, Geschäfte luden zum Ausgehen ein. Wer sich Erholung in der Natur verschaffen wollte, setzte sich in einen der Parks, ans Rheinufer oder – wie sie – auf den eigenen Balkon, von dem aus man die Vögel in den Baumwipfeln und Büschen singen hörte.

Alina strich Janosch über das grau gestromte Fell, während sie sich das Smartphone ans Ohr hielt.

»Mama? Da bist du ja!«, stieß sie erleichtert aus, nachdem ihre Mutter sich mit einem atemlosen »Ja, Liebes?« gemeldet hatte.

»Na klar. Was ist denn los?«

»Ich wollte nur wissen, ob du schon auf Rügen angekommen bist.«

»Nö, ich stehe leider mitten im Stau hinter Hamburg. Dieses Stop-and-go zerrt an den Nerven. Ich krieg zu viel.«

Alina hörte die Anspannung in der Stimme ihrer Mutter und machte sich sofort Sorgen. Mama hatte keine Übung darin, lange Strecken zu fahren. Janosch sprang maunzend von Alinas Schoß, als habe er ihre Unruhe bemerkt, und schlängelte sich auf leisen Pfoten durch den Türspalt der Balkontür in die Kühle der Küche.

»Kind, selbst wenn ich geflogen wäre, könnte ich noch nicht auf dem Campingplatz angekommen sein«, beruhigte ihre Mutter sie. »Ich melde mich, sobald ich dort bin, aber das kann noch ein paar Stunden dauern. Ich bin schon froh, wenn ich die ehemalige innerdeutsche Grenze hinter mir habe.«

Alina betrachtete ihre Fingernägel, von denen der am Daumen abgebrochen war und dringend gefeilt werden musste. Ihr war klar, wie albern sie sich anstellte. Andererseits war es noch nicht lange her, dass Papa … Ihr Herz pochte nervös in ihrer Brust. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, fand Alina es eine Schnapsidee von Mama, allein durch Nordeuropa zu gondeln. Gerade jetzt.

»Und ich fahre vorsichtig«, beschwichtigte ihre Mutter sie mit sanfter Stimme, als habe sie ihre Gedanken gelesen. »Inzwischen habe ich mich dran gewöhnt.«

»Na gut. Aber du rufst an, sobald du da bist. Egal, wie spät es ist.«

»Versprochen!« Mama lachte. »Man könnte meinen, wir hätten die Rollen getauscht. Weißt du noch, wie ich dir früher hinterhertelefoniert habe, wenn du am Wochenende unterwegs warst? Papa fand das immer übertrieben. Schließlich seist du volljährig und mit deinen Freunden zusammen.« Schlagartig wurde sie ernst. »Und er hatte natürlich recht.«

»Aber du auch! Dass du dir Sorgen gemacht hast, fand ich zwar nervig, aber ich konnte es auch verstehen. Und jetzt ist es eben umgekehrt. Ich will doch, dass es dir gut geht.«

Ihre Mutter räusperte sich. Das tat sie immer, wenn sie die Kontrolle über ihre Gefühle zurückgewinnen wollte. »Das tut es, glaub mir bitte. Kind, wenn du zu Hause die Blumen gießt, guckst du bitte auch … bei deinem Vater … nach dem Rechten? Es ist so trocken zurzeit …«

»Mache ich.« Alina schluckte und überlegte, ob sie ihrer Mutter anvertrauen sollte, was sie umtrieb. Mit der neuen Situation irgendwie zurechtzukommen war schwierig genug, und jetzt auch noch das! Dann entschied sie sich fürs Erste dagegen. Noch war nichts sicher und Mama viel zu durcheinander, so dass sie sie nicht unnötig aufscheuchen wollte.

»Und denk dran, immer mal den Briefkasten zu leeren. Ich erwarte Post von der Rentenversicherung.«

»Weiß ich doch.«

»Oh! Es geht weiter.« Es raschelte, dann hörte Alina Motorengeräusche. »Kind, ich muss Schluss machen. Melde mich später!« Sie schmatzte ein Küsschen in den Lautsprecher, dann klickte es, und die Verbindung brach ab.

Alina blieb noch lange auf dem Balkon sitzen und starrte versonnen in den sich langsam rosa färbenden Himmel über den Dächern, Satellitenschüsseln und Schornsteinen. Auf einer Gaube gegenüber kuschelten sich zwei Tauben aneinander und gurrten leise. In Alinas Ohren klang es zärtlich, als seien die beiden ineinander verliebt. So wie sie und Felix, dachte sie dankbar. Sie war so froh, dass es ihn gab und dass er ihr durch die schwere Zeit der vergangenen Monate geholfen hatte.

Erst als sie den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür und anschließend Schritte im Flur hörte, verließ sie ihren lauschigen Platz in der Abendsonne, um ihm entgegenzugehen.

Anne

Zwei Monate zuvor

Der vollgepackte Wäschekorb zerrte schwer an Annes Armen, als sie ihn die Marmortreppe hinunter ins Erdgeschoss trug. Vor Anstrengung schnaufend, trat sie durch die weit geöffnete Haustür auf die gepflasterte Einfahrt und ging zu dem alten Wohnmobil, das die Fläche vor der Garage beinahe ausfüllte. Im Innern des Fahrzeugs werkelte Peter an der Lampe über der Küchenzeile und versperrte ihr den Weg zu den Schrankfächern. Kurzerhand stellte sie ihre Last draußen neben dem Tritt ab. Dann eilte sie zurück ins Haus – diesmal ins Bad. Waschzeug und Hygieneartikel mussten noch eingepackt werden. Als sie mit den prallgefüllten Kulturbeuteln wieder beim Wohnmobil ankam, hatte sich der Himmel verdunkelt, Wind kam auf, und die ersten Regentropfen fielen. Typisches Aprilwetter.

»Peter, bist du fertig? Unsere Klamotten werden nass«, rief sie ihrem Mann zu.

Mit der Lesebrille auf der Nase und einem Schraubenzieher in der Hand spähte er stirnrunzelnd aus der schmalen Türöffnung heraus. »Noch nicht.«

Anne musste lächeln, weil sein ergrautes Haar in wilden Flusen vom Kopf abstand. Er hatte die Angewohnheit, es zu raufen, wenn er angestrengt an etwas arbeitete. Mit der Frisur erinnerte er sie immer an den verrückten Professor aus Zurück in die Zukunft. Dabei war Peter kein genialer Chaot, sondern ein pingeliger Ordnungsfanatiker. Aber er war mindestens so liebenswert wie jener Doc Brown, fand Anne, dazu unerschütterlich zuverlässig und immer hilfsbereit. Ihr Fels in der Brandung, egal wie hoch die Wellen schlugen. »Ich muss das Kabel isolieren. Es dauert bestimmt noch zehn Minuten.«

»Bis dahin ist alles durchgeweicht.« Anne wies wortlos auf den Wäschekorb, dann in den Himmel.

Peter kletterte widerstrebend aus dem Camper. »Du weißt, ich mag es nicht …«

»… bei einer Arbeit unterbrochen zu werden«, führte Anne seinen Satz zu Ende, warf die Kulturbeutel auf den Wäschestapel und stieg mit dem Korb ins Fahrzeug. »Ich beeile mich«, rief sie nach draußen. »Dann kannst du hier weitermachen.«

Während sie Hosen, Röcke, T-Shirts und Pullover in den angestammten Fächern verstaute, wurde ihr wieder einmal bewusst, wie sehr sie die Urlaube im »Willi«, wie ihre Tochter Alina als kleines Mädchen das Wohnmobil getauft hatte, liebte. Seit sie sich den voll integrierten Camper 1991 von Tante Traudels Erbe geleistet hatten, waren Peter und sie als Paar damit auf Reisen gegangen. Jahre später, nach Alinas Geburt, zu dritt.

Statt Naturcampingplätze ohne viel Komfort, aber mit umso schönerem Ausblick in Spanien oder Portugal anzusteuern, wie sie es zuvor gehalten hatten, besuchten sie fortan kindgerechte weitläufige Campingparks, am liebsten in Schweden, Norwegen oder Dänemark. Auf Bornholm hatte es ihnen besonders gefallen. Etliche Male waren sie mit der Fähre zu der dänischen Ostseeinsel hinübergefahren, um entspannte Sommerferien an der Südküste bei Dueodde zu verbringen. Dann aalten sie sich am feinen Sandstrand in der Sonne, badeten im kühlen Meer, schleckten fettes Softeis mit bunten Streuseln oder erkundeten radelnd die Insel.

In Annes Erinnerung schien tatsächlich meistens die Sonne, aber sie hatten auch den einen oder anderen Regentag in der gepolsterten Sitzecke verbracht, wo sie Mensch-ärgere-Dich-nicht, Uno oder Stadt-Land-Fluss spielten, während die Tropfen rhythmisch aufs Dach prasselten.

Es war so gemütlich hier drinnen. Die Holzmöbel strahlten Behaglichkeit aus. Gleichzeitig ließen Fenster und Luken genügend Licht herein, so dass man sich immer noch als Teil der Natur fühlte. Anne strich gedankenverloren über die Tischplatte mit den abgestoßenen Kanten. Schmunzelnd betrachtete sie den dunklen Ring, den vor vielen Jahren Alinas Glas mit Kirschsaft in die Fläche gegerbt hatte. Wie Peter geschimpft hatte, als er ihn bemerkte!

Anne hatte es ganze zwei Tage hingekriegt, das Malheur mit einem Tischset oder einer Zeitschrift abzudecken. Ihr Mann konnte sehr ungehalten werden, wenn allzu nachlässig mit Dingen umgegangen wurde. Der Haussegen hätte schief gehangen, wäre ihm der Schaden sofort aufgefallen, und Alina hätte Schimpfe bekommen. Dank Annes Geschick bemerkte Peter den Ring erst, als nicht mehr auszumachen war, wer ihn wann verursacht hatte.

»Vielleicht ist es ein Rand von deinem Rotweinglas«, spekulierte Anne frech.

Woraufhin Peter im Ton der Entrüstung dagegenhielt, dass ihm so etwas nie passiere, weil er sich immer vorsehe, im Gegensatz zu gewissen weiblichen Familienmitgliedern. Anne und Alina schwiegen wohlweislich, und Peter grummelte schließlich etwas von seiner gut sortierten Garage zu Hause, von Schleifpapier und Lasur. Doch trotz aller Mühe hatte er den Abdruck nie ganz herausbekommen. Für Anne glich der inzwischen einer lieb gewordenen Narbe, die man sich als Kind am Knie beim Spielen zugezogen hatte und die auch in gesetzterem Alter noch davon erzählte, wie jung und ungestüm man früher einmal gewesen war.

Apropos früher. Früher hatten die Wagners wegen Peters Arbeit und Alinas Ferien nur wenige Wochen Urlaub am Stück machen können. Heute war alles anders. Peter war mit dreiundsechzig in Rente gegangen und sie, die zehn Jahre jünger war, gönnte sich eine einjährige Auszeit.

Knapp acht Monate wollten sie beide durch Dänemark, Schweden und Finnland touren und erst im Dezember zurück sein, pünktlich zu Alinas fünfundzwanzigstem Geburtstag. Anne seufzte vor Glück auf.

»Ich bin so weit«, rief sie und sprang aus dem Wohnmobil. Sie wunderte sich, dass ihr Mann nicht antwortete.

 

Im ersten Moment begriff sie nicht, dass das reglose Bündel, das dort auf den Steinplatten vor der Haustür lag, ihr geliebter Mann war. Dann rannte sie erschrocken zu ihm. Seine Augen waren geschlossen, in der rechten Hand hatte er immer noch den Schraubenzieher.

»Peter!«, rief sie und rüttelte an seinen Schultern, aber er zeigte keine Reaktion. »Peter, wach auf. Wir wollen doch in den Urlaub fahren!«

Sogleich wurde ihr klar, wie unsinnig ihre Worte waren, und sie verspürte eine tiefe Scham. Es musste ihm sehr schlecht gehen, wenn er mit geschlossenen Augen dalag wie eine weggeworfene Puppe, während der Regen erbarmungslos auf ihn niederging.

Gerade überlegte sie, wie sie es bewerkstelligen sollte, ihn ins Trockene zu befördern, als Frau Schröder aus dem Reihenhaus von nebenan mit einem Schirm über dem Kopf in ihrem Vorgarten erschien.

»Um Gottes willen, Frau Wagner!«, stieß sie entsetzt aus. »Habe ich doch richtig gesehen! Moment, ich rufe einen Krankenwagen! Schaffen Sie es, Ihren Mann in die stabile Seitenlage zu bringen?«

Anne nickte benommen und bat die Nachbarin noch um ihren Schirm, den sie schützend über Peters Kopf hielt, während es wie aus Eimern goss, harte Tropfen mit Wucht auf den Steinplatten aufschlugen und auf das Dach des Wohnmobils trommelten.

Der Notarzt, der nach wenigen Minuten ankam, konnte nur noch Peters Tod feststellen. »Vermutlich Herzinfarkt oder Schlaganfall«, konstatierte er mit hilfloser Geste und sah Anne bedauernd an. »Gab es Vorerkrankungen?«

Anne schüttelte nur wie betäubt den Kopf. »Nein«, hauchte sie. »Er ist fit wie ein Turnschuh. Ich meine, er war …« Sie brach in Tränen aus. Dann wählte sie mit zitternden Fingern die Nummer ihrer jüngeren Schwester Eva, um ihr mit stockender Stimme zu berichten, was passiert war. Die versprach, von Neuss aus sofort zu kommen. Es waren nur ein paar Kilometer.

Inzwischen breitete sich in Annes Kopf eine dumpfe Leere aus, die verhinderte, dass sie zusammenbrach, und ihr überhaupt ermöglichte, auch ihre Tochter zu verständigen.

Alina und ihr Freund Felix machten sich von Düsseldorf aus auf den Weg.

 

»Wo ist Papa denn jetzt?«, fragte Alina mit dünnem Stimmchen und nahm einen Schluck Mineralwasser, während Felix ihr den schmalen Rücken streichelte. Alle vier saßen sie zusammen im Wohnzimmer in der Couchecke. Draußen brach die Sonne durch die Wolken und goss ihr verschwenderisches Licht über den Garten.

»Beim Bestatter«, flüsterte Anne tonlos, »bis sie ihn ins Krematorium bringen.« In der vergangenen Stunde hatte sie sich so oft auf die Unterlippe gebissen, dass diese geschwollen und aufgesprungen war.

Eva nahm ihre Hand. »Soll ich dir nicht doch einen Arzt rufen?«, fragte sie zum zigsten Mal. »Damit er dir etwas zur Beruhigung verschreibt?«

Anne schüttelte so störrisch den Kopf, dass ihr gelocktes, kinnlanges Haar mit den grauen Strähnen nur so flog. »Es geht schon. Wirklich.«

Aber natürlich ging es nicht. Dass Peter tot sein sollte, war dermaßen ungeheuerlich, dass sie kaum mehr atmen konnte. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein! Ihr ganzer Körper kribbelte wie bei einem Krampf; sie fühlte sich wie ferngesteuert. So lange waren sie ein Paar gewesen, eine erprobte Einheit, zusammengeschweißt durch fast dreißig gemeinsame Jahre, eine sechsundzwanzigjährige Ehe und ihre Liebe, die sie nie infrage gestellt hatten. Wäre die Situation nicht dermaßen surreal gewesen, wäre Anne schlichtweg durchgedreht. So dachte sie abwechselnd, dass es sich bloß um einen Albtraum handeln konnte, aus dem sie im nächsten Augenblick erwachen würde, und dann wieder, dass sie Peter später, wenn er heimkam, unbedingt erzählen musste, was ihr heute Verrücktes widerfahren war.

Eva fuhr irgendwann notgedrungen nach Hause, um sich als alleinerziehende Mutter um die Kinder zu kümmern – Frida war erst zehn, Bjarne zwölf Jahre alt.

Alina und Felix übernachteten in Alinas altem Kinderzimmer, Anne auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie hätte es nicht übers Herz gebracht, sich in ihr Ehebett zu legen, in dem Peters Seite leer blieb.

Die nächsten Tage waren gottlob angefüllt mit einer Flut von Dingen, die es zu erledigen galt. Funktionieren zu müssen half Anne, den Schmerz auszuhalten. Dabei erwachte sie langsam aus der Erstarrung, die Peters plötzlicher Tod in ihr bewirkt hatte. Dass es ihn nicht mehr gab, war aber immer noch unvorstellbar. Peter war der zuverlässigste Mensch gewesen, den sie je gekannt hatte. Wie hatte er einfach sterben können? Jedes Mal, wenn sie daran zurückdachte, wie sie ihn bewusstlos vorgefunden hatte, musste sie weinen. Ihr Gehirn mit etwas anderem zu beschäftigen war daher das Allerwichtigste.

Anne informierte Peters ehemalige Arbeitskollegen in der Versicherungsagentur und seine Tennispartner über seinen Tod. Sie formulierte eine Traueranzeige für die Zeitung, entschied sich gemeinsam mit Alina für eine schlichte Urne aus Eichenholz, und beide überlegten, wen sie zur Bestattung einladen sollten.

Die Liste von Annes Familienangehörigen wurde immer länger. Ihre Eltern, ihre beiden Cousins aus Ostfriesland mit Familien, ihre Cousine aus Berlin, Eva, Frida, Bjarne, Evas Ex-Mann Enno.

»Warum hat Papa eigentlich keine Verwandten?«, wollte Alina wissen. Anne und sie saßen am Esszimmertisch, vor sich die halb leeren Kaffeebecher, in der Tischmitte ein Haufen von Papieren und einige übrig gebliebene Schokoladeneier von Ostern.

Anne betrachtete über den Rand ihrer Lesebrille hinweg ihre Tochter. Wie froh war sie, dass Alina mit dem Verlust des Vaters leidlich zurechtzukommen schien. Anne schob es auch darauf, dass sie in Felix einen treuen, liebevollen Partner hatte.

»Du weißt doch, dein Vater ist am Tag der Maueröffnung von Ost- nach Westberlin gekommen. Dort haben wir uns kennengelernt, im Trubel jener verrückten Tage …« Sie deutete auf den alten Schnappschuss, der in einem einfachen Glasrahmen auf dem Sideboard stand und sie beide inmitten des Tumults zeigte.

Alina stand auf, nahm das Bild an sich und betrachtete es, als sähe sie es heute zum ersten Mal. »Wie ihr da ausseht. Wie Freaks!«, sagte sie und lächelte zaghaft.

Anne folgte ihrem Blick. Peter und sie hielten sich in den Armen, sie strahlte selig, er grinste wie ein Honigkuchenpferd in die Kamera. Im Hintergrund war eine ausgelassen feiernde Menschenmenge auszumachen. Das Foto hatte ihre Cousine Tina geschossen, bei der Anne in jenen geschichtsträchtigen Tagen zu Besuch gewesen war.

Die Brille, die Peter auf der langen Nase balancierte, war ein riesiges, kantiges Ungetüm aus dunklem Horn, das Ende der Achtziger garantiert keiner mehr im Westen getragen hätte. Das Haar hing ihm lockig bis auf die Schultern einer unmöglichen senffarbenen Kunstlederjacke, unter der ein Hemd in grellem Blau hervorlugte. Es war bis zur Brust aufgeknöpft und entblößte den Ansatz dichter Brustbehaarung. Sie selbst trug das dicke brünette Haar schon damals in wilden Locken. Ihren Pony über buschigen Augenbrauen, denen noch nie mit einer Pinzette zu Leibe gerückt worden war, hatte sie nach außen geföhnt – sonst hätte er ihr in die Augen gehangen. Ihre Wangen wirkten rund, fast schon pausbäckig. Sie trug eine dunkle Jacke mit Schulterpolstern, in der Hand hielt sie eine Flasche Asti Spumante.

Wenn Bilder sprechen könnten

Peter

Peter Wagner war so glücklich wie noch nie in seinem Leben. So also fühlte sich Freiheit an. Er lachte dem ausgeflippten Mädchen mit den zu verfilzten Würsten gedrehten Haaren zu, das das Foto knipste, und spürte Anne dicht neben sich, deren Wärme intensiv auf ihn abstrahlte. Das Chaos und den Lärm der feiernden Menschen um sie herum nahm er kaum noch wahr. Was zählte, war die schöne junge Frau in seinem Arm, die ihn vor einer Stunde in dieser verrückten Nacht überschwänglich am Checkpoint Charlie mit einer Umarmung und einem »Herzlich Willkommen im Westen!« begrüßt und ihm ihre Sektflasche in die Hand gedrückt hatte.

Dabei glaubte er zunächst, als er am Abend in der »Aktuellen Kamera« erfahren hatte, dass Ausreisen aus der DDR ab sofort ohne weiteres möglich seien, sich verhört zu haben. Aus reiner Neugier und um sich von dem abzulenken, was ihn umtrieb, lief er später zu der GÜSt, die seinem Zimmer am nächsten lag, und starrte verwundert auf die Menschenmassen hüben wie drüben.

»Lasst uns rein«, brüllten die Westler jenseits der Grenze, »Lasst uns raus!«, die Ostberliner. Es war eine völlig absurde Situation, in der überforderte Grenzer krampfhaft versuchten, die Kontrolle zu behalten.

Er vermutete, dass dem Geschehen bald mit Gewalt ein Ende gesetzt werden würde, wie er es von den Bütteln des Überwachungsstaats gewöhnt war. Für die SED galt die Berliner Mauer immerhin als antifaschistischer Schutzwall, als Bollwerk gegen den kapitalistischen Westen. Dass diese Mauer löchrig wurde, würde niemals genehmigt werden, glaubte er.

Dennoch blieb er stehen und ließ sich bald von der Euphorie der Leute anstecken. Zusammen mit Hunderten skandierte er: »Tor auf! Tor auf!«, wunderte sich, wie friedlich alle blieben, und konnte es nicht fassen, als eine durch das Megaphon verzerrte blecherne Stimme verkündete, dass ab sofort »geflutet« werden würde.

Zusammen mit unzähligen anderen DDR-Bürgern drängte er auf die andere Seite und wurde dort von ausgelassenen Westberlinern freudig begrüßt. So auch von diesem hübschen Mädchen, das sich ihm als Anne vorstellte.

Er setzte die angebotene Flasche an die Lippen und trank. Das Zeug war zuckersüß – ein trockener Rotkäppchensekt wäre ihm lieber gewesen –, aber es schmeckte wie alle Verheißungen des Westens auf einmal. Und irgendwie blieb er an dem Mädchen, von dem das klebrige Getränk stammte, hängen. Sie himmelte ihn an, als sei er ihr Held. Und er war bezaubert von ihrem schönen Gesicht und ihrer naiven, überschäumenden Art. Wie süß sie war!

In seinem versteinerten Herzen rührte sich plötzlich etwas. Es begann stolpernd gegen seine Rippen zu schlagen und pochte bald wie wild. Kurz fragte er sich, ob er noch bei Sinnen war, doch in dieser Nacht schien jedes Wunder möglich zu sein, sogar eine Liebe zwischen einer Westlerin und einem Ostler.

Als sie froren wie die Schneider – es war weit nach Mitternacht –, schmiegten sie sich aneinander, und irgendwann wagte er es, sie zu küssen, erst ganz vorsichtig, dann, als er begriff, dass sie es ebenso wollte wie er, drängender. Sie hatte die weichsten Lippen, die er je geküsst hatte, und er verlor sich in diesem Kuss.

»Dein Gesicht und deine Hände sind ganz kalt«, flüsterte er ihr schließlich ins Ohr.

»Das spür ich überhaupt nicht«, gab sie wispernd zurück.

»Hey, ihr zwei Turteltäubchen!«, rief da plötzlich diese Tina, die mit ihrer Frisur wie Medusa aussah. Sie war Annes Cousine, wie er inzwischen wusste, und Anne übernachtete während ihres Berlintrips bei ihr. »Mir ist arschkalt, und ich will langsam nach Hause. Anne, findest du den Weg allein?«

Von einer Sekunde auf die andere wurde die selbstbewusste junge Frau in seinen Armen zum unsicheren kleinen Mädchen. »Nee, ich weiß nicht … Ich kenn mich doch nicht so gut aus …«, stammelte sie. »Kannst du nicht noch wenigstens eine halbe Stunde bleiben?«

»Nimm den Typen doch einfach mit«, schlug Tina achselzuckend vor. »Oder musst du wieder rüber nach Ostberlin?«, wandte sie sich direkt an ihn.

Er schüttelte benommen den Kopf. Mit schlechtem Gewissen dachte er an sein Leben drüben und an den Barkas des VEBs, der vollgepackt vor der Wohnung der Kundin stand. Morgen sollte er in ihrer Küche einen Wandschrank einbauen. Er räusperte sich und rückte die Brille auf der eiskalten Nase gerade. »Nein, drüben hält mich nichts mehr.«

Anne

»Muss cool gewesen sein, damals in Berlin«, sagte Alina und stellte den Bilderrahmen auf dem Tisch ab. Dann runzelte sie die Stirn. »Aber nur, weil Papa an dem Tag in den Westen kam, heißt das doch nicht, dass er keine Familie im Osten hatte. Vater, Mutter, Geschwister …«

Anne schüttelte den Kopf. »Seine Eltern waren schon verstorben, und mit der Schwester hatte er sich überworfen. Zu linientreu, hat er gesagt. Mit der wollte er nichts mehr zu tun haben. Also ist er einfach bei mir geblieben und nie wieder zurückgegangen.« Sie schluckte. »Wir haben sofort gespürt, dass wir zusammengehören, wie zwei Pole, die sich magnetisch anziehen. Er war so süß, irgendwie unbeholfen und gleichzeitig wesentlich lebenserfahrener als ich. Ich konnte mich an seiner starken Schulter anlehnen, und doch habe ich gemerkt, dass er auch mich brauchte: meine Energie und meinen Glauben an das Gute. Plötzlich schien einfach alles zu passen und einen Sinn zu ergeben.«

Sie sah träumerisch aus dem Fenster in den Vorgarten, wo die Zierkirsche so kitschig rosa blühte, dass ihr ganz weh im Herzen wurde. »Später hat er dann noch ein paar Klamotten aus seinem Zimmer in Ostberlin und dem Lieferwagen geholt und den Schlüssel bei dem Betrieb, für den er gearbeitet hatte, eingeworfen. Und das war’s. Von der DDR wollte er nichts mehr wissen, und schon gar nichts von seiner Familie.«

»Fandst du das nicht irgendwie seltsam?« Alina heftete ihre großen braunen Augen auf Annes.

»Nö.« Sie hob die Schultern. Gleichzeitig regten sich Zweifel in ihr. Ja, es war seltsam, aber für sie auch außerordentlich bequem gewesen: eine große Liebe, die wie vom Himmel gefallen war. »Eher romantisch. Ich hätte ihn gar nicht mehr fortgelassen, selbst wenn er es gewollt hätte.« Sie hielt Alinas fragendem Blick stand. »Du verstehst das nicht, Liebes. Es waren andere Zeiten. Zeiten des Aufbruchs und der Veränderung. Ich war ja damals zu Besuch bei deiner Tante Tina. Die war ein richtiger Öko, ging zu jeder Friedensdemo und lebte in einer Studenten-WG, im Hinterhof, mit Klo auf dem Flur und so. Sie hatte kein Problem damit, dass Peter mitkam.«

»Hat Tante Tina damals schon gekifft?«, fragte Alina süffisant, und Anne zog die Augenbrauen zusammen. Es passte ihr nicht, dass Alina von Tinas Cannabiskonsum wusste, doch ihre Cousine hatte nie mit ihrer Lebensführung hinterm Berg gehalten, was sicher einen Teil ihres Charmes ausmachte.

»Ja, hat sie … aber ich nie. Das musst du mir glauben …«

Alina zwinkerte ihr zu. »Ja, ja.«

Dann wurden sie beide schlagartig traurig. Wie konnten sie hier herumalbern, während Peter mausetot in seinem Sarg lag und darauf wartete, ins Krematorium geschoben zu werden?

Anne biss sich auf die schmerzende Unterlippe und atmete tief durch. »Jedenfalls durfte auch Peter bei ihr unterkommen. Wir schliefen zusammen in einer kleinen Kammer und waren überglücklich, uns gefunden zu haben. Und obwohl dein Vater zehn Jahre älter war als ich und schon fest im Beruf stand, während ich noch studierte, wusste ich sofort, dass er der Mann meines Lebens ist. Und er war sich ebenso sicher, dass ich seine Traumfrau bin. Da fragt man nicht nach der buckligen Verwandtschaft.«

Alina nickte versonnen und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Trotzdem müssen wir jetzt Papas Schwester finden. Sie hat ein Recht zu erfahren, dass ihr Bruder tot ist. Wir sollten sie zur Beerdigung einladen. Wie heißt sie denn eigentlich?«

»Katrin, Karen, Karin oder so. Weiß ich nicht mehr so genau.« Verdutzt fragte Anne sich, warum sie sich nicht mal den Namen richtig hatte merken können. Wie sollten sie Peters Schwester unter den Umständen finden?

Doch plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie lief hoch ins Schlafzimmer, griff zielsicher in die Ecke von Peters Kleiderschrank, bekam zu fassen, was sie gesucht hatte, und trug es zu Alina.

In dem verbeulten Schuhkarton mit der Aufschrift Zeha, dessen Pappe im Laufe der Jahrzehnte weich geworden war, lagen einige Fotos, Briefe und zerknickte Papiere.

»Darin ist alles verstaut, was von seiner DDR-Vergangenheit übrig ist«, sagte Anne. »Die Sachen, die er damals im Lieferwagen dabeihatte, und ein paar amtliche Schreiben, die später mit der Post kamen.«

»Komisch«, murmelte Alina. »Papa war doch sonst so ordentlich. Alles in dieses olle Ding zu schmeißen passt überhaupt nicht zu ihm. Ich hätte eher Fotoalben mit sauber eingeklebten Bildern – wie von unseren Urlauben – und eine Dokumentenmappe erwartet.«

»Keine Ahnung, das kann ich dir auch nicht erklären.« Anne starrte ratlos auf das Durcheinander in dem offenen Karton. »Aber hier muss auch ein Foto von seiner Schwester drin sein. Weil ich mal lange gequengelt habe, hat er es mir gezeigt. Nicht gerne, glaube ich. Ich meine, sie wäre auf der Aufnahme blond gewesen. Eine ganz Hübsche, etwas älter als Peter.« Sie hob entschuldigend die Schultern.

»Na, dann mal los.«

Bald stapelten sich alle Fotos, die sie in Peters Schuhkarton gefunden hatten, säuberlich auf der einen Seite des Esstischs und auf der anderen Seite die Papiere. Alina versuchte, Ordnung in die Bilder zu bekommen, und legte sie zu kleinen Gruppen zusammen. Ein paar zeigten ihren Vater als Soldaten mit seinen Kameraden, drei waren von irgendeiner Hochzeitsfeier am Wasser. Dann gab es noch einige Schwarz-Weiß-Fotos, die wesentlich älter schienen: eins mit einem Pärchen vor irgendeinem imposanten Gebäude und verwackelte Aufnahmen von spielenden Kindern im Garten eines spitzgiebligen Hauses. Übrig blieben ein paar Passfotos von Peter, auf denen er sehr jung und ernst aussah, und ein Foto, auf der eine Frau mit Kind abgelichtet war.

Anne deutete zögernd auf das Bild. »Das hier ist sie mit ihrem Sohn, glaube ich. Peter hat erzählt, dass sie zwei Kinder hat. Einen Sohn und eine Tochter.« Beide beugten sie sich über das Foto mit der Blondine im orangefarbenen, eng anliegenden Rolli, die einen kleinen Jungen auf dem Schoß hielt. Es war offenbar in einem Fotostudio entstanden, denn der Hintergrund changierte in verschwommenen Blautönen, die Beleuchtung wirkte professionell, beide lächelten steril.

Alina drehte das Bild um. »Photographie Friedrichroda«, entzifferte sie den verblassten Stempelaufdruck.

Anne nickte. »Eine Stadt in Thüringen. In der Nähe ist Peter aufgewachsen. Etwas außerhalb, in einem kleinen Dorf am Rennsteig. Das Bild nützt uns wenig.«

Sie legte es beiseite und griff nach den Aufnahmen von der Hochzeitsfeier. Das Gesicht der Braut war jedes Mal nur im Profil zu sehen, sie schaute aufs Wasser. Auch der Bräutigam in Uniform, der ein Sektglas hielt, sagte Anne nichts. Im Hintergrund der Bilder war ein schlaksiger und ziemlich mürrisch dreinblickender Peter auszumachen. Neben ihm stand seine Schwester. Warum um alles in der Welt hatte er diese dilettantischen Schnappschüsse aufbewahrt? Was bedeuteten sie ihm? Auf der Rückseite eines dieser Fotos hatte jemand das Datum 1984 und den Ort »Hotel Havelstrand« vermerkt. Anne sagte das gar nichts, und da es keinen Hinweis auf eine der Personen gab, legte sie die Reihe zur Seite.

Sie schüttelte den Kopf und nahm sich die vergilbten Schwarz-Weiß-Fotografien vor. Wie sie es erwartet hatte, waren sie ebenso wenig aufschlussreich. Die verwackelten Aufnahmen von den spielenden Kindern waren auf 1963 datiert. Wieder keine Namen. Auf die Rückseite des zerknickten Fotos mit dem jungen Paar, das einen weißen, gewellten Rand aufwies, hatte jemand »1943« sowie ein Wort gekritzelt, das weder Anne noch Alina entziffern konnte.

»Ist auch egal, was da steht«, meinte Alina enttäuscht. »Zu dem Zeitpunkt war Papa noch nicht mal geboren. Das hilft uns nicht weiter.«

Anne nickte. »Ich vermute, dass das seine Eltern sind. Aber die sind ja schon lange tot.«

Die Durchsicht der Dokumente war ebenso frustrierend. Sie fanden lediglich Peters Schulzeugnisse, Entlassungspapiere aus dem Wehrdienst und einige Sportabzeichen.

»Warte, hier ist ein Briefumschlag, der im Mai 1990 abgestempelt wurde«, stieß Alina plötzlich aus. »Absender ist ein M. Kröger in Berlin. Da habt ihr schon zusammengewohnt.« Dann zog sie eine Schnute. »Shit, der ist leer.«

»M. Kröger sagt mir auch überhaupt nichts. Vielleicht ein alter Freund von Peter.« Anne zuckte genervt die Schultern. »Liebes, so kommen wir nicht weiter. Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass Papas Vergangenheit im Dunkeln bleibt. Ihm wäre es vielleicht auch gar nicht recht, wenn wir seine Verwandten aufstöbern würden. Nach immerhin fast drei Jahrzehnten …«

»Stimmt. Der Mauerfall ist in diesem November genau dreißig Jahre her. Das wäre ein tolles Jubiläum für euch geworden …« Alina stockte. »Und ihr hattet nicht vielleicht geplant, auf eurer Tour mit Willi an dem Tag nach Berlin zu fahren und an derselben Stelle einen Sekt zu trinken wie damals?«

»Nein.« Anne schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hatte es deinem Vater zwar vorgeschlagen, aber er wollte partout nicht. Ich weiß auch nicht, wieso.«

 

Am Tag der Beerdigung war der Himmel von einem bleiernen Grau, das sämtliche Frühlingsfarben zu trüben schien. Das Blau der Traubenhyazinthen auf den Gräbern wirkte blass, das Gelb der Forsythien und Narzissen schien all seine Leuchtkraft verloren zu haben, und die vermoosten Rasenflächen sahen bräunlich matschig aus.

Angestrengt setzte Anne auf dem Kiesweg durch die Grabreihen einen Fuß vor den anderen und heftete ihre Augen auf die Urne, die Peters Tennisfreunde trugen. Sie hörte Alina neben sich schluchzen, griff automatisch nach ihrer Hand und beschwor sich, selbst tapfer zu bleiben. Gerade so wie in den letzten Tagen. Während des Beerdigungsgottesdienstes in der Friedhofskapelle hatte sie sich immer wieder gesagt, dass sie für Alina stark sein musste, auch wenn sie sich wie im freien Fall fühlte. Sie unterdrückte ihre Tränen während der Andacht, so gut es ging, versuchte, den Worten der Pfarrerin zuzuhören, und hielt dabei ihre Tochter im Arm, die hemmungslos weinte.

Nun konzentrierte sie sich auf jeden nächsten Schritt, der sie dem lächerlich kleinen quadratischen Loch im Boden, in das man Peters Urne absenken würde, näher brachte. Sie riss sich eisern zusammen, damit ihr die Beine nicht versagten. Erst als am Grab die Leute kondolierten, bemerkte sie, wie viele gekommen waren. Bestimmt an die siebzig Menschen gaben Peter Wagner das letzte Geleit, darunter Annes Verwandte, Peters Arbeitskollegen und Freunde, gemeinsame Bekannte und Mitglieder der Kirchengemeinde, in deren Bauausschuss Peter mitgewirkt hatte. Es war Qual und Trost zugleich, ihnen allen die Hand zu schütteln und ihre gemurmelten, gutgemeinten Worte mit Dank zu quittieren, ohne zusammenzubrechen. Sie war bloß heilfroh, Eva, Alina und Felix neben sich zu wissen.

Trotzdem glitt ihr Blick immer wieder hoch zum wolkenverhangenen Himmel, in den der Wind inzwischen ein paar Löcher gerissen hatte, so dass ein unglaublich leuchtendes Blau hervorblitzte. Die Farbe erinnerte sie an den Himmel über Bornholm, und der Anblick tröstete sie seltsamerweise mehr als jede Beileidsbekundung. Unweigerlich stellte sie sich vor, Hand in Hand mit Peter über den feinen Sandstrand von Dueodde zu wandern, über ihr die strahlend blaue Kuppel des Firmaments, neben ihr das bis zum Horizont glitzernde Salzwasser, das in flachen Wellen anbrandete und an ihren nackten Füßen leckte, und sie spürte förmlich seine warme, große Hand in ihrer. So etwas wie Frieden senkte sich über sie, bis sie sich dem nächsten Trauergast widmen musste, der mit bedauernder Miene vor ihr stand.

 

Zum Beerdigungskaffee hatten Alina und sie nur die Familie und enge Freunde eingeladen. In dem hellen Raum mit der Kaffeetafel und der freundlichen Bedienung schwenkte die Stimmung mit einem Mal um. Die Leute deckten sich mit Kaffee und Kuchen ein, alle redeten durcheinander, und sie hörte auch den ein oder anderen lachen. Anne merkte, dass auch sie begann, sich zu entspannen. Sie beobachtete, wie Felix Alina ein Stück Bienenstich auftischte, und dass die Wangen ihrer Tochter wieder rosiger aussahen. Ihre Augen waren zwar noch verquollen vom Weinen, aber immerhin lächelte sie ihrem Lebensgefährten zu.

»Die Pfarrerin hat passende Worte gefunden«, sagte eine weibliche Stimme direkt neben Annes Ohr. Sie schreckte aus ihrer Versunkenheit auf und drehte den Kopf. Ihre alte Schulfreundin Steffi, Alinas Patentante, stand neben ihr. »Sie hat Peter genauso beschrieben, wie er war, stimmt’s?«

Anne nickte. »Ja, Alina und ich haben lange mit ihr zusammengesessen und ihr von ihm erzählt. Stell dir vor, sie wusste gar nicht, dass Peter ursprünglich aus dem Osten kam. Obwohl die beiden sich durch sein ehrenamtliches Engagement in der Gemeinde super verstanden haben.«

»Er hat halt nie davon geredet.« Steffi zuckte mit den Achseln. »War wohl keine schöne Zeit für ihn. Ach, es ist ein Jammer, dass er nicht mehr lebt. Sag bitte Bescheid, wenn ich dir irgendwie helfen kann.« Sie strich Anne über den Rücken.

»Mach ich.« Anne nickte halbherzig. Wer konnte ihr schon helfen? Alle Formalien waren erledigt, mit dem Ende dieses Tages würde sie auch unter die Organisation der Bestattungsfeier einen Strich machen, und ihre Trauer konnte ihr sowieso keiner nehmen. Sie fürchtete sich schrecklich vor der Leere, die nun nach der eisernen Disziplin, die sie aufgebracht hatte, drohte.

Völlig unvermittelt tauchte wieder das Bild des Ostseestrands vor ihr auf. Helle Lichtreflexe tanzten auf der blaugrünen Meeresoberfläche, die sich endlos bis zum Horizont erstreckte. Die Szene in ihrem Kopf war täuschend echt. Anne hörte sogar Möwen kreischen und die Stimmen von spielenden Kindern, die an einer Sandburg bauten. Auf ihrer Haut spürte sie die dänische Sommersonne und einen warmen Windhauch, der ihr sanft eine Locke ins Gesicht blies. Zwischen den Zehen kitzelte Sand. Erneut fühlte sie die Anwesenheit ihres Mannes. Ein Hauch von Leichtigkeit stahl sich in ihr todtrauriges Herz.

»Eigentlich wären Peter und ich gerade im Urlaub«, hörte sie sich sagen und kassierte einen verblüfften Blick von Steffi.

In dem Moment stand Eva neben ihr und drückte ihr ein volles Wasserglas in die Hand. »Hier, Liebes. Du siehst aus, als würdest du gleich umfallen.«

Anne nahm dankbar einen tiefen Schluck von dem eiskalten Getränk. Ihre Lebensgeister kehrten zurück, das idyllische Bild von Bornholms Südküste verblasste. Bevor es sich ganz verflüchtigen konnte, wandte sie sich versonnen an ihre Schwester. »Es wäre so schön, jetzt in Dänemark zu sein. Stattdessen steht der gute alte Willi fertig gepackt in der Auffahrt. Vielleicht sollte ich, wenn das alles hier vorüber ist«, sagte sie, und ihr Blick glitt über Kaffeetassen, Kuchenreste und die Köpfe der Gäste hinweg zum Fenster, »unsere geplante Reise allein machen. Was meinst du, Eva?«