Wir selbst - Gerhard Sawatzky - E-Book

Wir selbst E-Book

Gerhard Sawatzky

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Beschreibung

Ein untergegangenes Stück deutscher Geschichte erstmals als Buch: Der von Stalin verbotene große Roman über die Russlanddeutschen, das Epos der autonomen deutschen Wolgarepublik (1918–1941) – »Wir selbst«, das für Jahrzehnte verschollene Lebenswerk von Gerhard Sawatzky. Gerhard Sawatzkys großer Gesellschaftsroman »Wir selbst« erzählt von einer untergegangenen Welt, nämlich der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Diese wurde 1918 – u.a. auf Betreiben Ernst Reuters – gegründet, bis zu ihrem Ende 1941 ein höchst wechselvolles Schicksal erfuhr. Sein Autor, Gerhard Sawatzky, der als wichtigster Literat der Wolgadeutschen galt, wurde verhaftet, zu Zwangsarbeit verurteilt und starb in einem Lager in Sibirien, das Buch wurde verboten und vernichtet. Doch Sawatzkys Witwe gelang es, bei der Deportation nach Sibirien unter dramatischen Umständen das Urmanuskript zu retten. In einer deutschsprachigen Zeitschrift in der Sowjetunion wurden – allerdings bearbeitet und zensiert – in den achtziger Jahren Teile des Buches abgedruckt. Carsten Gansel hat nun das Urmanuskript in Russland aufgespürt. »Wir selbst« erzählt in häufigen Szenenwechseln zwischen Land und Stadt aus der Zeit zwischen 1920 bis 1937 vor allem von einem jungen Liebespaar, Elly Kraus, der Tochter einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie, die als Kind auf der Flucht vor der Roten Armee allein in Russland zurückblieb, und von Heinrich Kempel, dessen Kindheit auf dem Land während des Krieges von Hunger und Entbehrung geprägt ist, und der schließlich Ingenieur wird. Auch wenn Sawatzky schon beim Schreiben die Angst vor stalinistischen Säuberungsaktionen im Nacken saß und er manches unterschlug bzw. beschönigte – sein Buch ist ein höchst bedeutendes Zeitzeugnis, das zudem durch Carsten Gansels umfangreiches Nachwort über Sawatzky, die Geschichte des Manuskripts und die deutsche Wolgarepublik ergänzt und erschlossen wird.

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Seitenzahl: 1763

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Gerhard Sawatzky

Wir selbst

Roman

Wiederentdeckt, herausgegeben und mit einem dokumentarischen Anhang zur deutschen Wolgarepublik und ihrer Literatur versehen von Carsten Gansel

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Gerhard Sawatzky

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

VorsatzabbildungenWir selbstErster BandZweiter BandAnhangI Gerhard Sawatzkys Roman »Wir selbst« (1938) – Das zerstörte und verschollene Hauptwerk der russlanddeutschen LiteraturII Fehlendes GedächtnisIII SpurensucheIV Russlanddeutsche Geschichte oder Wo liegen die Anfänge?V Das beginnende 20. Jahrhundert – Zunehmende RestriktionenVI Verfliegende Hoffnungen der Russlanddeutschen und der BürgerkriegVII Neue Hoffnungen und die Gründung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSR)VIII Gerhard Sawatzky, der I. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller und die deutschen ExilautorenIX Geschönte Wirklichkeit oder Berta Lask und ihre Versuche, von der Wolgadeutschen Republik zu erzählenX Gerhard Sawatzky, die Zeitschrift »Der Kämpfer« und die deutschen ExilautorenXI Die »Säuberungen« in der Sowjetunion der 1930er Jahre, die deutschen Exilanten und die russlanddeutschen IntellektuellenXII Die »Säuberungen« des Jahres 1936, die deutschen Exilautoren und Waltraut SchälikeXIII Gerhard Sawatzky, sein Schreibkonzept und die neuen Stoffe und ThemenXIV Gerhard Sawatzky und »Wir selbst« – Das Romanepos über die deutsche WolgarepublikXV Gerhard Sawatzkys »Wir selbst« – Ein Zeitroman mit doppeltem BodenXVI Gerhard Sawatzky – 1938 und die Zeit des Großen SchweigensXVII Das Ende der Utopie? Auflösung der Wolgadeutschen Republik 1941 und DeportationenXVIII Vom Ende des Zweiten Weltkrieges, Sondersiedlungen und der russlanddeutschen LiteraturXIX Wege vom ›Gegengedächtnis‹ in die Öffentlichkeit – Hugo Wormsbecher und Gerhard Sawatzky im Jahr 1984XX Endlich auch Gerhard Sawatzkys Roman »Wir selbst« – Wiederentdeckung zwischen 1984 und 2015Zu dieser AusgabeDanksagung
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Wir selbst

Erster Band

Ein zufriedenes Grinsen verscheuchte für einige Augenblicke den verdrießlichen Ausdruck von Eduard Benklers Gesicht; irgendetwas berührte ihn angenehm. Anfänglich war dieses Gefühl ziemlich verschwommen, nach und nach aber steigerte es sich, bis ihm schließlich klar wurde, was ihn an diesem ungewöhnlichen Tage erfreute: wie er am Wippen des Schlafwagens merkte, fuhren sie schnell, bedeutend schneller, als er je in seinem Leben gefahren war. Ja, das war es. Was sollte es auch anders sein? Weniger als ein beliebiger Tag seines Lebens war dieser dazu geeignet, seine Daseinsfreude zu steigern. Zeit und Umstände bewirkten es, dass er möglichst schnell vorwärts wollte, möglichst schnell und weit weg von dem Ort, an den sich seine besten Erinnerungen knüpften.

So war es, die schnelle Fahrt, dieser an und für sich geringfügige Umstand machte ihn im Augenblick fast glücklich.

Rechts an der Außenseite des Fensters klirrte vom Wind in nervierender Weise das schmale Schutzblech. Benkler empfand diese unangenehmen Töne wie schönste Musik. – Der Ingenieur Horn ist doch ein tüchtiger Kerl – stellte er mit Wohlwollen für sich fest –, ein Vater hat für ihn nicht umsonst Schulgeld bezahlt. Ein glücklicher Vater: Auch er war es einst gewesen, doch jetzt war ihm der Gedanke daran bitter. Sein Sohn war immer ein fixer Junge, dessen er sich nie zu schämen brauchte. – Wo ist er jetzt? – Nachdem die Geschichte in Petrograd losging, hat er nichts mehr von ihm gehört. Kein Brief, keine Nachricht. Sein Einziger hatte sich damals ohne Zaudern für die in seinen Augen gute Sache eingesetzt und war seither spurlos verschwunden.

In gleichmäßigem Tempo rast der Zug dahin. Die Lokomotive wird von Ingenieur Horn geführt. – Auf den kann man sich verlassen, – denkt Benkler. – Wie gut, wenn man nie auf die Dienste anderer Leute angewiesen wäre! Der Ingenieur aber braucht Arbeiter und die … Nein, denen darf man nicht trauen, besonders jetzt nicht. Die Sorte ist überall dieselbe, wie zu Hause, so auch hier auf der Bahn. Wäre am Morgen nicht der junge Ingenieur dazugekommen und hätte er sich nicht erboten, die Lokomotive zu führen, dann hätte der Zug nicht auslaufen können. Dann wären sie am Ende gezwungen gewesen, die Station zu Fuß zu verlassen. Und dann, was wäre dann gewesen … – Benkler hatte in den letzten zwei Wochen und auch an diesem Tage schon so viel Unannehmlichkeiten gehabt und so viel Bitternis hinunterschlucken müssen, dass er es vorzog, diesen Gedanken nicht zu Ende zu denken, angenehm konnte die Antwort auf diese Frage sowieso nicht ausfallen.

Sich mit der rechten Hand gegen den Fensterrahmen stützend, steht der ältliche Mann jetzt zwischen den beiden Bänken des Kupees vor dem kleinen Tisch und stiert in das trübe Herbstgrau hinaus. Geduckt, wie geprügelte Hunde, schleichen Wolken in dichten Massen über die düstere Landschaft, ganz niedrig, als würden sie von einer Riesenlast herabgedrückt. Das dicke Fensterglas ist von zahllosen feinen Regenspritzern getrübt. Unter den Erschütterungen des Waggons fließen die Tröpfchen langsam nach unten, begegnen sich auf ihrem Wege, vereinigen sich zu mehreren Tropfen, die wie unschlüssig einen Augenblick am Glase kleben und dann plötzlich, als hätten sie sich eines Besseren besonnen, sich vor Eile überstürzend hinter den dünnen Holzrahmen hinabrollen. Es kostet den Mann eine gewisse Willensanstrengung, diese jäh abbrechende und immer wiederkehrende Bewegung nicht fortwährend mit den Augen zu verfolgen. – Kleinigkeiten! – Was kann ihm auch daran liegen? Eigentlich müsste er sehr ernste Gedanken haben, instinktiv aber wehrt er sich dagegen, weil sie ihn ermüden. Nur nützt ihm das Wehren wenig, wie lästige Fliegen kehren sie immer wieder. Er zweifelt nicht daran, die kleine Station, die sie am Morgen nur deshalb verlassen konnten, weil glücklicherweise Ingenieur Horn dazukam, wird sich jetzt bereits in den Händen der Roten befinden. Er weiß auch sehr gut, was das für ihn zu bedeuten hat: – Dorthin dürfen Sie nicht mehr zurück, Herr Eduard Benkler, – sagt er sich mit bitterer Ironie, – wenigstens nicht sobald wieder. – Das »wenigstens nicht sobald wieder« fügt er nach einer kleinen Gedankenpause hinzu, ohne sich einzugestehen, dass das eigentlich ein Suchen nach neuer Hoffnung ist. – Beileibe nicht! – Er ist doch ein erfahrener Mann und hat nicht die Gewohnheit, sich über den wahren Sachverhalt der Dinge hinwegzutäuschen. Was die Ereignisse der letzten Wochen für ihn zu bedeuten haben, darüber ist er sich hinlänglich klar, nur kann er sich damit nicht abfinden. Sein ganzes Wesen empört sich dagegen. Zu seinem größten Verdruss ist er augenblicklich aber absolut machtlos, etwas dagegen zu unternehmen, und deshalb ärgert er sich immer mehr über die Menschen, denen er die Schuld daran zuschiebt. – Gewissenloses Pack! – schimpft er in Gedanken. Zufällig hat er gestern abends den Maschinisten gesehen, der ihren Zug führen sollte. Ein Lokomotivenführer, wie Lokomotivenführer eben sind: Stiefel, Lederhose, schwarzer schmieriger Kittel und, selbstverständlich, ein rußgeschwärztes, verschmitztes Gesicht. So ganz genau hat er sich den Mann nicht angesehen, wer hätte ihm auch so was zugetraut? – Unerhört! – Von dem Gesicht des Mannes ist ihm nur der schwarze zugestutzte Schnurrbart und der ruhige Blick in Erinnerung geblieben. Ein Benehmen trug der Mensch zu Schau, dass er ihn darum ordentlich beneidete, so verdammt ruhig, als ginge ihn das da hinten nichts an. Gegen Morgen, so um vier Uhr, hatte er die Passagiere im Nebenkupee laut schimpfen hören. Viele von ihnen schliefen in dieser Nacht nicht, da das aussichtslose Warten und die Unbestimmtheit die Leute noch nervöser gemacht hatten, als sie ohnehin schon waren. Von böser Ahnung geplagt, hatte Benkler nach der Ursache des Lärms geforscht und sehr bald erfahren, dass der Maschinist in der Nacht verschwunden sei und mit ihm zusammen auch die Aussicht auf eine baldige Abfahrt. Selbstverständlich, kein Mensch hatte ihn weggehen sehen. Nicht einmal der junge Leutnant, der sich vorsichtshalber fortwährend bei und auf der Lokomotive aufgehalten, um den Menschen nicht aus dem Auge zu lassen, konnte etwas Vernünftiges sagen, er hatte geschlafen. – Rotznasen! Große Kokarden tragen, mit klirrenden Sporen an den blitzblanken Stiefeln den Gymnasiastinnen nachlaufen, das können sie, wenn’s aber mal ernstlich Soldat zu sein heißt, dann versagen sie. Sein Oskar hätte den Schuft gewiss nicht entgehen lassen. O nein, sein Oskar nicht! –

Draußen verschwinden alle Gegenstände im feuchten, nebligen Grau. Der Horizont ist verschleiert. Neben dem Bahndamm laufen in endloser Reihe die Telegraphenpfosten her. Wie mit grobem Kohlenstift auf schmutzig grauem Paper lässig hingezeichnete Striche stechen sie kaum merklich vom Himmel ab. In ihrer kalten Gleichgültigkeit liegt etwas Aufreizendes. Näher zu den Pfosten schnellt das Netz der dünnen Drähte in die Höhe, um sich an der andern Seite gerade so schnell wieder zu senken. Heben und Senken, auf und ab. Ununterbrochen folgen diese scharfgerissenen Wellen hintereinander, eine wie die andere. Je länger er darauf schaut, desto weniger empfindet er seine Umgebung als Wirklichkeit, nicht die Drähte, sondern der Waggon selbst scheint ihm diese wellenartige, rhythmische Bewegung zu machen. Wärterhäuschen mit roten Ziegeldächern huschen vorüber. Neben ihnen in gleicher Weise Bäume, Sträucher und Zäune. Bewegungslos und apathisch hängen die entblätterten Äste und Zweige, als ob sie von dem japanischen Holzschnitt, den er zu Hause über seinem Schreibtisch an der Wand zu sehen gewöhnt war, hierher verpflanzt wären. Alles eilt zurück: Wärterhäuschen, Bäume, Sträucher und die gleichgültigen Telegraphenpfosten, zurück dorthin, wohin er nie mehr darf …

Was hat er denn verbrochen, dass er fortgejagt wird wie ein lumpiger Knecht? – Nichts, – antwortet er sich. – Reich gewesen? Ja, reich war er, sehr reich sogar, aber seit wann ist denn das ein Verbrechen? – Er war immer stolz darauf. Man achtete ihn. Und jetzt? – Sonderbare Lebensregeln werden da auf einmal aufgebracht. Proletarier! Bis dahin waren es einfach Arbeiter und jetzt – Proletarier, Proletariat! Wo sie’s nur herhaben? Und was das für ’ne Sprache ist? Russisch heißt es so, und deutsch heißt es so … Bolschewiki! Ob das alles solche Schufte sind wie der Schlosser Hart? Der gerade hat ihm die Arbeiter verdorben … – Das weiß er bestimmt. Den Menschen hat er oft bewundert. Augenblicklich hasst er ihn, obzwar er sich des Gefühls seiner gewissen Achtung vor dessen Tatkraft auch jetzt nicht gut erwehren kann, den hatte die Schwindsucht schon fast aufgezehrt und doch war er stets auf den Beinen. Alle Arbeiter liebten ihn. Mit jedem von ihnen verstand er es zu sprechen, jedem wusste er beizukommen. – Und, weiß der Teufel! wenn der was sagte, das galt. – Nachträglich ärgert Benkler sich jetzt darüber, auf das Treiben des kranken Schlossers so wenig geachtet zu haben. Neunzehnhundertsechzehn, als er auf einer Volksversammlung mal eine patriotische Rede hielt und die Bevölkerung aufforderte, den Landesvater Nikolaus II. und die Regierung in dieser schweren Zeit nach Kräften zu unterstützen, glaubte er schon, einen Erfolg erzielt zu haben. Aber da kam wieder Hart dazwischen. Was machte er? Winschu, der technische Direktor seiner Fabrik, informierte ihn nachher ganz genau. Hart hatte zu zwei Arbeitern, die Spenden für die Verwundeten sammelten, gesagt: »Wenn die Verwundeten unser Geld wirklich bekämen, wäre es vielleicht auch nicht schade darum. Ob nun aber so oder anders, was haben wir davon? Für uns Arbeiter bedeutet ja der Krieg doch weiter nichts als zerschossene Glieder und im besten Fall einen verlängerten Arbeitstag bei verringertem Lohn.« Wie Hart den Arbeitern dies erklärt hatte, wusste Benkler nicht, nur war aus der Spendensammlung nichts geworden. Winschu hatte damals gemeint, man dürfe den Schlosser nach diesem Vorfall nicht länger in der Fabrik dulden und müsse ihn bei der Obrigkeit anzeigen. Benkler aber hatte den Fall nicht so ernst genommen. »Ach, lass doch nur«, hatte er seinem aufgebrachten Direktor geantwortet, »was versteht der Dusel von Politik?« Ihm war der gute Arbeiter schade gewesen und zudem hatte er die Geschichte so schnell wie möglich in Vergessenheit geraten lassen wollen, da er sich mit der Spendensammlung im kleinen Städtchen, wie überhaupt mit dem ganzen Empfang der sogenannten Kaiserstochter, unsterblich blamiert hatte. Er fluchte jetzt noch, wenn er nur daran dachte. – Ja, – sagte er sich jetzt, – auf den hätte ich besser achten, viel besser achten sollen … –

Benkler versucht sich seinen Betrieb vorzustellen, kann derzeit aber nicht über die Schwelle seines Kontors hinauskommen. – Wem wird Winschu heute über Verlauf und Ergebnis des Arbeitstages wohl Bericht erstattet haben? Ach was, schwerlich kann der pflichtgetreue Mann nach dieser Geschichte dort geblieben sein … Ob die Fabrik nicht überhaupt stillgelegt ist? Sehr wahrscheinlich, die Proletarier spielen jetzt selbst Herren und werden schön ruhig zu Hause sitzen. Gewiss, dann kann sie auch keiner ausbeuten, wie es jetzt so heißt. Ausbeuten! Auch wieder so ein Wort! – Fast ein halbes Jahrhundert hat er gelebt und an die dreißig Jahre mit dem Betrieb zu tun gehabt, ohne sich jemals solcher Worte zu bedienen. – Sogar die Sprache ist denen nicht mehr gut genug, alles, alles wollen sie anders haben … – Er glaubt selbst nicht, dass Winschu noch an Ort und Stelle ist, stellt sich aber lebhaft vor, wie er ehrerbietig vor der Tür des Kontors steht und diese verschlossen findet. – »Rekwisirt« wird Hart mit Kreide darauf geschrieben haben. »Rekvisiert« soll das heißen. Pfui, was für abscheuliche Worte die sich für ihre abscheulichen Taten ausdenken! Und keine Kultur, der weiß ja nicht mal, dass hinter dem zweiten i ein e stehen muss und hat an Stelle des v bestimmt ein w geschrieben. Und die wollen jetzt regieren, vertreiben anständige und angesehene Leute! Das Wohnhaus – ach, wie viel hat ihn der Bau gekostet und wie stolz ist er darauf gewesen! – wird auch verschlossen sein. Nein, verschlossen nicht, darin halten die jetzt ihre Versammlungen ab, ihre Meetings, wie sie’s nennen. Na ja, zu tun haben sie ja weiter nichts. Hart, der armselige Hart, wird hinter dem Schreibtisch sitzen und den Vorsitz führen. Das grüne Tuch hat er gewiss auch schon mit Tinte bekleckst. Die schmutzigen Stiefel putzen die neuen Herren draußen selbstverständlich auch nicht ab und die schönen Lauftücher – sie kosteten zu Friedenszeiten 4 Rubel 15 Kopeken die Arschin – werden längst beschmutzt sein … – Benkler meint vor maßloser Wut ersticken zu müssen. Vor kurzer Zeit noch mussten ihm diese Leute aufs Wort gehorchen und jetzt machen sie sich in seinem besten Zimmer breit, wohin sein technischer Direktor nur in Ausnahmefällen zu kommen wagte. Auch werden sie jetzt noch über sein Unglück lachen … –

Er kommt nicht so weit, an die große Zeche mit den neuen englischen Maschinen zu denken, seine Wut verwandelt sich in Traurigkeit und er sackt innerlich zusammen. Er fühlt sich tief unglücklich und auf der Suche nach einem moralischen Halt führen ihn seine Gedanken zurück in die glückliche Zeit seiner Kindheit. – Ach, damals! … Und wenn ihm auch nur der kleinste Unfall zustieß, wurde er liebevoll getröstet und bedauert. Wie gerne lässt sich doch der Mensch bedauern, solange das Leben ihn nicht stolz und hart gemacht hat! Wer mag ihn heute bedauern? Der alte Vetter Ulrich vielleicht? Wie alt der jetzt sein mag? Damals, als er selbst noch ein kleiner Junge war und zusammen mit dem alten Hofknecht oft Fische angeln ging, sah der Mann schon gerade so aus wie vor einigen Tagen. Oder sollte er einfach nicht bemerkt haben, wie der Mann alterte? Kann schon sein, gab es doch stets so viel andere Sorgen, dass er sich um den Alten Jahre lang nicht gekümmert. Ein guter Alter … –

Seine Erinnerung lässt ihn noch einmal eine Szene aus längst entschwundenen Tagen erleben, klar, als wäre es erst gestern gewesen. Sie waren wieder einmal angeln gegangen. Eine steile Uferböschung mit dichtem Gestrüpp am obern Rand war ihr Lieblingsplätzchen. An dem denkwürdigen Tag stand er fiebernd vor Aufregung auf dem schmalen Ufervorsprung knapp am Rande des Wassers und beobachtete unverwandten Blicks den Schwimmer seiner Angel.

»Na, Edy«, hatte der alte Ulrich, der mit dem gewöhnlichen überlegenen Lächeln auf dem runzligen Gesicht neben ihm stand, sich an ihn gewandt, »die wollen heute nicht anbeißen?«

»Nein«, hatte er voller Ungeduld geantwortet.

»Steh nur ganz ruhig. Die werden schon noch kommen, das Wetter ist gerade so recht schön«, hatte der Alte ihn aufzumuntern versucht. – War das damals ein schöner, sonniger Tag! Hell, warm und still, wie seine Kinderjahre. –

Ihm hatte die Geduld schon abreißen wollen, der farbige Kork aber hatte immer noch regungslos auf der Oberfläche des Wassers gelegen. Und da zuckte es, erst einmal, dann wieder und dann dreimal kurz hintereinander, ganz energisch. Gespannt darauf wartend, dass der Schwimmer ganz untertauche, hatte er sich noch etwas weiter vornübergeneigt, um die ersehnte Beute im richtigen Augenblick mit wohlberechnetem Schwung aufs Ufer zu schleudern. Nur an den zappelnden Fisch hatte er noch gedacht und dabei plötzlich das Gleichgewicht verloren. Der Angstschrei war ihm in der Kehle stecken geblieben; Vetter Ulrich hatte ihn noch im letzten Augenblick mit seinem starken Arm gestützt.

»Edy, Edy«, hatte er gutmütig neckend gemeint, »baden werden wir uns gegen Abend und dann nicht in Kleidern.«

Glückliche Kindheit! – seufzte der Mann. Das Verlangen, auch in der jetzigen Lage eine so zuverlässige Stütze zu haben, schwimmt langsam an die Oberfläche seines Bewusstseins und taucht wieder darin unter. Wie die zitternden Ringe auf der Wasseroberfläche, wenn ein Stein hineingefallen ist, bleibt von dem brennenden Verlangen nur ein wehmütig stimmendes Gefühl grenzenloser Verlassenheit zurück. Wie ein verirrtes Kind im dichtesten Jahrmarktsgewühl kommt er sich vor.

Der Zug beschreibt eine scharfe Kurve und die unerwartete Schwankung des federnden Waggons reißt ihn aus seiner Träumerei. Sofort ist er wie völlig verändert. Sein Gesicht nimmt wieder den Ausdruck an, den die letzten Wochen daraufgeprägt haben: etwas Wölfisches, mürrischer Trotz und dahinter die lauernde Angst. Misstrauisch und scharf wird der Blick seiner von buschigen Brauen beschatteten Augen, wie Schadenfreude, wie ein Triumph blitzt es darin auf. Mechanisch streicht er sich mit der Linken über den von der Mitte des Kinns nach beiden Seiten auseinandergekämmten Bart, der an den Seiten schon stark ergraut ist. Diese Geste ist ihm längst zur Gewohnheit geworden. Besonders bedächtig wiederholte er sie stets dann, wenn er seinen Gegner beim Abschluss eines vorteilhaften Geschäfts unerwartet mit seinem letzten und stärksten Trumpf schlug und verdutzt stehen ließ. Dann wirft er über die rechte Schulter einen hastigen und scheuen Blick auf die Schläferin auf der Bank: – ist sie nicht vielleicht aufgewacht? – Nein, wie auch vorhin schläft die junge Frau und Benkler fährt mit Zeigefinger und Daumen blitzschnell hinter seinen weißen Gummikragen und zieht eine helle Seidenschnur hervor. Nur einen kurzen Augenblick schaut er auf den vernickelten, winzigen Schlüssel, der daran hängt, und lässt ihn dann wieder gerade so schnell hinter den Kragen auf seine Brust gleiten – den darf niemand sehen! – Ein Uneingeweihter hätte diesen Schlüssel sehr leicht für ein Kreuz halten können, wie es die Rechtgläubigen auf der Brust tragen. Ihm aber ist der kleine Gegenstand mehr als ein Symbol des Glaubens, viel mehr, für ihn ist es eine Machtquelle, etwas, worauf er sich verlassen kann. Nur er weiß darum, er und sein Oskar. Einige Monate vor den Ereignissen in Petrograd war der Junge auf Urlaub zu Hause gewesen. – Ein strammer Offizier! – Ihm hatte dieser Besuch viel Freude und Trost bereitet. Sein Vaterherz hatte sich mit Stolz erfüllt, wenn der Sohn ihm mit feurigen Worten die Politik der provisorischen Regierung erklärte und so überzeugend von den herrlichen Zeiten sprach, die seiner Ansicht nach im Ergebnis dieser Politik für die Geschäftswelt des russischen Reiches anbrechen würden. – Und dann diese Siegesgewissheit, diese Begeisterung! – Benkler selbst war während der Unterhaltungen mit seinem Sohn noch einmal jung geworden. Klipp und klar hatte Oskar ihm nachgewiesen, dass sich alles wieder ordnen, alles wieder seinen gewohnten Gang gehen werde, so wie ein Fluss, der sich nach der übermütigen Zeit des Hochwassers wieder bescheiden in seine Ufer zurückzieht. »Ordnung wird wieder herrschen!« versicherte der Junge ihn damals. »In der Armee haben wir damit schon angefangen, mit fester Hand, ohne falsch verstandene Menschenliebe und Weichherzigkeit, die gehören nicht in das geistige Gepäck eines Politikers.« Diesen Ausdruck hat er sich gut gemerkt, genau so hat er gesagt: »in das geistige Gepäck eines Politikers«. – Na ja, er hatte ja den Jungen auch studieren lassen, was gar nicht so billig kam. – Die Garantie für den Erfolg hatte Oskar gerade in der Rücksichtslosigkeit der Regierungsmaßnahmen gegen jegliche oppositionellen Elemente gesehen. »Das Volk will die Peitsche spüren«, hatte er wiederholt behauptet und dazu nachdrücklich mit dem Zeigefinger gedroht, »anders verkommt es, geht zugrunde. Die Todesstrafe für Deserteure, Aufwiegler und Meuterer trägt schon jetzt ihre Früchte.« Benkler streichelt wieder seinen Bart und schmunzelt: – Ein Prachtjunge! Die drei Jahre, die Oskar in der Hauptstadt und zum Teil an der Front verbrachte, hatten seinen Gesichtskreis erweitert, aus dem Heißblut einen ernsten Politiker gemacht. Ja, sein Oskar war in diesen Jahren zum Mann herangereift, zu einem Mann, der sich für die Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung im Lande restlos einsetzte. Er war nicht so ein Waschlappen, wie die grünschnäbligen Offizierlein, die sich jetzt hier herumtreiben und nicht schnell genug von den Roten wegkommen können, anstatt zu kämpfen … Während ihrer Unterhaltungen hatte er stets eine Entschlossenheit und Zielsicherheit an den Tag gelegt, die auch bei ihm, dem von Geschäftsschwierigkeiten ermüdeten Mann, neue Hoffnungen weckten, vor Oskars Heimkehr hatte er sich unter den untrüglichen Anzeichen des herannahenden beängstigenden Neuen oft sehr niedergeschlagen gefühlt. Freilich, Oskar hatte nicht mal den Versuch gemacht, ihn über die Gefahr, die für sie und Ihresgleichen in der großen Volksbewegung lag, hinwegzutäuschen: »Was kann man gegen ein sturmgepeitschtes Meer unternehmen?« hatte er mitunter gesagt und war nachdenklich geworden, hatte sich dann aber doch wieder aufgerafft: »Na, wenn alles drunter und drüber gehen sollte, haben wir immer noch starke Verbündete. Frankreich wird uns im Notfall nicht im Stich lassen und England ist an der Erhaltung einer festen Ordnung gleichfalls interessiert.«

Fragen dieser Art hatten sie öfter erörtert und während eines dieser Gespräche, die wirklich Gespräche zwischen ernsten Männern waren und keine gewöhnlichen harmlosen Unterhaltungen zwischen Vater und Sohn, hatte er ihm sein Geheimnis anvertraut, das Geheimnis, zu dem dieser Schlüssel gehörte. Es war ihnen selbst etwas romantisch vorgekommen, aber die Lage der Dinge war so, dass man nicht vorsichtig genug sein konnte. –

Benkler grinst: noch hat er etwas, das ihm Kraft verleiht, das ihm schon noch zu seinem Recht verhelfen wird, wenn vielleicht auch erst nach einigen Jahren. – Sollen sie sich nur nicht einbilden, Eduard Benkler sei schon fertig, endgültig erledigt! Soll nur keiner glauben, dass er nichts, gar nichts mehr kann, wenn … – Er kneift die Augen zusammen, sodass sich in den Winkeln der Augenhöhlen die Haut in unzählige Fältchen zusammenzieht, wiegt seinen Körper sekundenlang auf den Fußspitzen, lässt sich dann hart auf die Absätze nieder und stößt wie erleichtert hörbar die Luft durch die Nase. Ein leises Geräusch auf der Bank nebenan lässt ihn sich umsehen und einen heftigen Blick auf den Lederkoffer werfen, der auf dem Gepäckregal stand. Die Schläferin, die bis jetzt mit dem Gesicht zur Wand gelegen, dreht sich stöhnend auf die andere Seite. Dabei rutscht ihr weißes Tuch vom Kopf und das weiche, schwarze Haar umrahmt in reizender Unordnung ihr vom Fieber erglühtes Gesicht, auf dem die schöngeschwungenen Augenbrauen und die langen Wimpern desto klarer abstechen. Dem alten Mann erscheint die junge Frau in diesem Augenblick schöner denn je zuvor – ein Grund mehr, stolz auf seinen Sohn zu sein. Ihre Mitgift war ja lächerlich klein, aber Oskar bestand darauf, sie zu heiraten. Auch er, Benkler selbst, hatte sich nicht sonderlich gegen diese Verbindung gewehrt, lieber reich erben, oder durch berechneten Wagemut Reichtum erwerben, als sich reichheiraten, hatte er sich gesagt. Reichheiraten? Gewiss, das ist nicht immer zu verachten, aber er hatte damit böse Erfahrung gemacht. Seine liebe Frau, die nun schon seit zehn Jahren auf dem Friedhof unter einem Grabstein lag, auf dem in eingemeißelten, vergoldeten Lettern zu lesen steht:

Hier ruht in Frieden

von ihrem Gatten und Sohn tief betrauert

LUISE BENKLER

geboren 1876, gestorben 1910

hatte diesen Umstand auszunützen gewusst. In den ersten Jahren ihrer Ehe war dieses heikle Thema selten zur Sprache gekommen, auch später nicht sooft, aber Luise hatte sich auf die Tatsache ihrer großen Mitgift gestützt und ihren Willen geltend zu machen versucht. Sie hatte ihn in seinen Geschäften gehindert, obzwar sie nichts davon verstand. Auch hatte sie ihm im Privatleben nicht viel Freiheiten gestattet und bei all dem war sie durchaus keine Schönheit gewesen. Wegen seiner langen, freudearmen Ehe bedauerte Benkler sich selbst, sooft er daran dachte; schließlich macht es nicht das Geld allein … Da hatte Oskar doch mehr Glück gehabt. Er hatte eine schöne, stille und bescheidene Frau, die ihre Häuslichkeit und ihr Kind liebte und sich nicht in Geschäftsangelegenheiten einmischte. – Während der langen Kriegsjahre wohnte die Frau mit ihrem Kind bei ihm und es war ihm immer angenehm gewesen, die schöne, junge Frau mit den dunklen Augen in seinem vereinsamten Hause um sich zu haben.

Das kleine Mädchen, das neben ihr liegt und das die junge Frau auch im Schlaf noch wie besorgt an sich drückt, ist das genaueste Ebenbild der Mutter: die gleiche zarte Gesichtshaut, dasselbe etwas geschwungene Näschen und auch schwarzes weiches Lockenhaar, das, wie auch bei der Mutter, über der linken Seite der Stirn eine kecke Locke bildet. Und, als wäre das schlafende Kind bemüht, seine Ähnlichkeit mit der Mutter noch zu vergrößern, hält es seine Puppe, die aus leblosen Glasaugen auf die Waggondecke starrt, genau so im Arm, wie es selbst von der Mutter gehalten wird. In der Hast des Einsteigens hat es sein Spielzeug fallen lassen und dabei ist der Augenmechanismus kaputtgegangen. Dieses Unglück verdross das Mädchen sehr, doch hat der Schlaf längst wieder wohltuende Sorglosigkeit über das Kindergesicht verbreitet, dessen gesunde Röte sehr vorteilhaft mit der Fieberglut auf den Wangen der Mutter wetteifert.

Minutenlang ruht Benklers Blick auf Schwiegertochter und Enkelin. Der Ausdruck des Trotzes und der Schadenfreude verschwindet aus seinen Augen. Wie unter Gedankenschwere neigt er den Kopf mit dem dunklen, zurückgekämmten Haar und legt die Hände auf dem Rücken ineinander. Seine Erscheinung nimmt dadurch wieder das Pastorale an, das ihr während der letzten Jahre eigen gewesen, während all der Jahre, wo er nie an seiner eigenen Würde und an der Sicherheit seiner Existenz gezweifelt. Dieses Ausdrucks wegen hat er bei Leuten, die nicht scharf zu beobachten pflegen, oder sich vom Äußern leicht irreführen lassen, als gutmütiger Mann gegolten. Andere dagegen, die es mit ihm wiederholt geschäftlich zu tun gehabt, hatten ihn nicht ohne Grund für einen herzlosen Egoisten gehalten.

»Elly«; stöhnte die junge Frau auf einmal, ohne jedoch die Augen zu öffnen, »nicht weglaufen, Elly.«

Das Kind schlief ungestört weiter, denn die Stimme der Mutter war zu schwach, um es zu wecken. Der alte Mann, dagegen, war sogleich ganz Aufmerksamkeit; nach vielen Stunden beängstigenden Schweigens und bedenklicher Gleichgültigkeit ihrer verhängnisvollen Lage gegenüber hatte die junge Frau nun wieder gesprochen. Er hoffte, darin ein Anzeichen von der Besserung ihres Zustandes sehen zu dürfen. Behutsam legte er seine Hand auf ihre Stirn, zog sie aber sofort wieder zurück und schüttelte besorgt den Kopf, die Temperatur war noch gestiegen. Um der Kranken wenigstens etwas Linderung zu verschaffen, faltete er das Handtuch in der Absicht zusammen, ihr einen kalten Umschlag zu machen. Als er sich nach der Wasserflasche bückte, die er unter die Bank gestellt hatte, fand er sie leer in der Ecke liegen; sie war von den Schwankungen des Waggons umgefallen und er, in Gedanken versunken, hatte es nicht bemerkt. Das trockene Handtuch über den Arm gehängt und hilfloses Mitleid im Herzen, stand er unschlüssig da, bis er sich in dieser Lage selbst albern vorkam. Er schämte sich, der Frau nicht einmal diesen kleinen Liebesdienst erweisen zu können. Schließlich kam er auf den Gedanken, ins Nebenkupee zu gehen und irgendjemand von seinen Leidensgefährten um etwas kaltes Wasser zu bitten. Er kehrte schnell wieder zurück. Was er jetzt erblickte, ließ seine geringe Hoffnung auf eine Wendung zum Bessern im Zustand der Kranken wieder ersterben. Die junge Frau lag auf dem Rücken, neigte den Kopf möglichst weit zurück und knüllte mit ihren dünnen, wächsernen Fingern nervös die Decke. Dann rief sie mit angstvoller Stimme:

»Elly, nicht Elly, die werden dich stoßen. Komm her, Kind.«

Schweigend legte Benkler ihr den kalten Umschlag auf die Stirn. Die Kranke seufzte tief auf und wurde wieder ruhig. Eduard Benkler deutete diese rasche Wirkung entsprechend seinem Wunsch, nicht mehr lange Krankenwärter sein zu müssen, wie das an seiner Stelle wohl auch jeder andere getan haben würde.

Benkler fühlte sich jetzt bedeutend besser als vor einer halben Stunde, die Sorge um die Kranke hatte ihn aus dem düsteren Dahinbrüten gerissen. Er kam sich jetzt nicht so absolut überflüssig, nicht so verstoßen vor. Ja, es wunderte ihn sogar etwas, dass er sich vorhin vom Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit hatte so niederdrücken lassen. Ganz überflüssig war er noch nicht, o nein, die Frau bedurfte seiner Hilfe und das Kind auch. Es schmeichelte seiner Eigenliebe, dass die zwei so ganz und gar auf ihn angewiesen waren, und er nahm sich vor, ihnen eine treue Stütze zu sein. In Gedanken malte er sich ihre Zukunft aus. – Noch werden sie lange, lange Tage heimatlos umherirren und jegliche Bequemlichkeiten, ja mitunter vielleicht sogar das Allernotwendigste entbehren müssen, einmal aber werden sie ihr Ziel erreichen. Irgendwo werden sie in fremdem Lande, in einer fremden Stadt und unter fremden Leuten leben. Mögen sie fremd sein, dann werden sie auch weniger gestört … Die junge Frau wird ihm gegenüber Dankbarkeit empfinden, das Kind wird lachen und spielen und so werden sie einen kleinen, engen Kreis für sich bilden, still und zufrieden. Seine Unternehmungslust und Erfahrung in Geschäftssachen werden es ihm schon ermöglichen, für drei Menschen eine sichere Existenz zu schaffen. Zudem hat er ja fürs Erste auch noch die Mittel, um in geregelten Verhältnissen aufzutreiben, was zum Lebensunterhalt erforderlich ist. Wie um die Richtigkeit dieser Schlussfolgerung zu bestätigen, warf Benkler wieder einen Blick auf seinen Koffer. Diese Zukunftsbilder schweben ihm höchst unklar vor, doch aber hat er das bestimmte Vorgefühl, dass es gut gehen wird. Er sehnt sich danach und freut sich auf einmal darauf. Sonderbar, in solchem Alter und mit solcher Vergangenheit noch Luftschlösser zu bauen! Gewiss, viele Jahre wird es nicht andauern, einmal werden sie ja zurückkehren dürfen, wenn Hart und seine Gesellen zu Hause und im ganzen Lande werden abgewirtschaftet haben … Vielleicht lassen sie sich dann in Saratow nieder, oder in einer andern Stadt, je nachdem … –

Benkler rechnet nach: – in einer halben Stunde können sie die nächste Station erreichen. Dort heißt es umsteigen, vorausgesetzt, dass der Zug, den sie brauchen, dort wirklich stehen wird. Noch können sie zur rechten Zeit hinkommen. Aber umsteigen … wie soll er das machen? Mit der kranken Frau und dem kleinen Kind wird es jetzt, zur Nachtzeit, nicht so einfach sein … –

Noch hatte er keinen festen Plan gefasst, da erwachte das Mädchen, rüttelte die Mutter am Arm und rief:

»Mama, trinken!«

»Elly, tsss!« flüsterte der Mann erschrocken und streckte die Arme nach dem Kind aus. »Komm her. Still, schrei nicht so laut, du weckst Mama auf und dann wird ihr der Kopf noch ärger schmerzen.«

Das Kind war jetzt ganz munter geworden und ließ sich vom Großvater auf den Arm nehmen. Der alte Mann setzte sich mit ihr auf die andere Bank und begann die Puppe zu untersuchen, die Elly noch immer im Arm hielt.

»Zeig mal her.«

Er legte die Puppe auf den Rücken und drückte ihr die Augen zu. Elly wartete gespannt auf das Ergebnis seiner Bemühungen. Vor dem Schlafengehen hatte sie sich lange damit abgeplagt, erst die Puppe einzuschläfern, sie hatte sie sogar auf den Kopf gestellt, aber auch das war umsonst gewesen. Voller Verwunderung schaute sie jetzt minutenlang auf die Augenlider ihres Lieblings – die Augen bleiben zu.

»Sie schläft, sie schläft«, rief sie und sah den alten Mann triumphierend an, der Großpapa hatte es fertiggebracht.

Benkler war dieser laute Freudenausbruch über den Erfolg seines ganz mechanisch ausgeführten Untersuchens gar nicht angenehm; die Kranke war erwacht. Zwar hatte er selbst ungeduldig darauf gewartet, hätte diesen Augenblick aber, wenn es in seiner Macht gestanden, doch noch weiter hinausgeschoben, das Erwachen der Kranken musste ihm Klarheit über ihren Zustand verschaffen, musste ihm Gewissheit geben, die Angst vor der Gewissheit aber ist häufig noch größer als das Verlangen danach. – Wie dann, wenn es statt besser, schlechter geworden wäre? –

»Ach Gott«; stöhnt die Kranke, »wie soll das nur werden, ich kann nicht aufstehen? …«

»O doch, es wird schon gehen, ich helfe dir«, sagte Benkler, setzte das Kind neben sich auf die Bank und erhob sich, um die Frau zu stützen. Er hatte nicht daran gezweifelt, dass sie schwer krank ist, freute sich deshalb umso mehr über ihre Worte, denn jetzt hatte sie bestimmt nicht irr geredet. Demnach hatte das Fieber nachgelassen.

Die Lokomotive stieß einen schrillen Pfiff aus und der Zug begann scharf zu bremsen. Was Benkler voller Ungeduld und mit Bangen erwartet hatte, war also eingetreten: sie hatten die Station erreicht. Draußen war längst völlige Dunkelheit eingetreten. Kurz hintereinander huschten zwei blasse Lichter am Fenster vorüber. Dann stand der Zug mit einem kurzen Ruck still. Benkler richtete die junge Frau behutsam auf und half ihr in den Herbstmantel. Sie war sehr entkräftet, viel schwächer, als er gedacht hatte, er sah, wie ihre Hände zitterten, als sie ihr Tuch um Kopf und Schultern schlang.

Elly hatte sich still verhalten. Als sie aber sah, dass sich die Mutter reisefertig machte, wurde sie ungeduldig. Sie war der Fahrt im engen Waggonkupee überdrüssig und meinte, jetzt gehe es nach Hause, zurück in die große, hohe Stube, in der ihr Bett stand, all ihre Spielsachen lagen und vor jedem Fenster ein hoher Pappelbaum wuchs, zurück auf den Hof, auf dem der große, schwarz und weiß gefleckte Hund Wache hielt, der so sehr böse war, wenn ein Fremder kam, sich von ihr aber alles gefallen ließ …

»Anziehen, anziehen!« drängte sie, hielt dem Großvater ihr Mäntelchen hin und trampelte ungeduldig mit den Füßen auf der Bank.

Benkler schien seine Aufgabe jetzt schwieriger als zuvor und zudem verdross ihn der Gedanke daran, wie viel leichter sein Rettungswerk sein könnte, wenn die Frau nicht krank wäre. – Dass das auch gerade jetzt kommen musste! – Er war sehr verstimmt und gereizt, worauf seine hastigen und eckigen Bewegungen schließen ließen, doch sagte er nichts, weil er sich vor der Frau und dem Kinde keine Blöße geben wollte. Ärgerlich über seine missliche Lage, beachtete er nicht das Drängen des Kindes, zog selbst den Mantel an, setzte den schwarzen, weichen Hut auf und stellte seinen gewichtigen Lederkoffer handgerecht. Als Elly sah, dass der Großvater sie überhaupt nicht beachtete, schrie sie aus vollem Halse:

»Ich will auch mit, ich will auch mit!«

Die andern Passagiere waren hastend und lärmend ausgestiegen, alle eilten auf den Zug zu kommen, der sie weiterbringen sollte. Im Korridor des Waggons war es unheimlich still geworden. In dieser Stille klang die Stimme des Kindes besonders laut. Benkler hörte daraus die Verzweiflung, die ihn selbst einigte, war es doch auch sein sehnlichster Wunsch, unbedingt mitzukommen. – Nur nicht zurückblicken! Um keinen Preis, denn die Front des roten Militärs nähert sich sehr rasch. Die Banditen! –

Er steckte den Kopf zur Tür hinaus und sah sich im Korridor um. – So eine Schweinerei, jetzt ist kein Gepäckträger da! Wenn man sie nicht nötig hat, stehen sie einem überall im Wege, braucht man aber mal einen, dann ist keiner zu finden. Ach, sind das Zeiten! – Hastig kleidete er das Mädchen an, half der Frau aufstehen, stützte sie mit der Rechten und nahm den Koffer mit der Linken. Dann stieß er die Tür des Kupees mit dem Fuß weit auf und schritt mühevoll auf den Korridor hinaus. Elly kletterte eiligst von der Bank herunter, packte die Puppe am Arm, sodass ihre Füße auf der Diele schleiften, trippelte den beiden schnell nach und erfasste mit der freien Hand eine Mantelfalte des Großvaters.

Die Kranke stöhnte leise und verstand offensichtlich nicht gut, was um sie vorgeht. Schwer lehnte sie auf dem Arm des alten Mannes, für den die nächste Schwierigkeit darin bestand, mit seinen beiden Begleiterinnen und dem Gepäck die Waggontreppe hinunterzukommen. Ihm blieb weiter nichts übrig, als erst der Kranken hinunterzuhelfen, das Kind neben die Halbohnmächtige auf den Boden zu stellen und dann den Koffer herunterzulangen. Und das war erst der Anfang seines schweren Weges.

Benkler sah sich suchend um. Weiter rechts brannten auf etwa drei Meter hohen Pfosten zwei Laternen, deren Licht gerade so verdrießlich und trübe schien, wie das Wetter war. In ihrem schwachen Lichtschimmer sah er die undeutlichen Umrisse eines einstöckigen Ziegelgebäudes. Es musste das Stationsgebäude sein, denn auf dem Perron, wenn man die kurze, mit Brettern gedielte Erhöhung vor dem Gebäude so nennen konnte, standen viele Menschen. Es regnete nicht mehr, aber die Luft war kalt und feucht. Wahrscheinlich zogen die Wolken ebenso niedrig und dicht wie am Tage, denn auch nicht ein einziger Stern schimmerte durch. Im entblätterten Geäst der hohen Pappeln, die er in der Dunkelheit einige Schritte vor sich eigentlich mehr ahnte, als sah, heulte der Wind.

Am liebsten wäre Benkler in seinen Waggon zurückgekehrt, doch der Gedanke war unsinnig und so schleppte er sich dann, unter seiner Last keuchend, in der Richtung zum Stationsgebäude vorwärts. Der Koffer kam ihm bald ungeheuer schwer vor, er drohte ihm den Arm auszureißen. – Was kann denn nur so Schweres darin sein? – Er stellte sich der Reihe nach alle Gegenstände vor, die darin verpackt waren, und fand keinen, der ein besonderes Gewicht gehabt hätte. – Lauter leichte Sachen. Aber alle zusammen? Na ja, alle zusammen machen sie schon was aus und »die Länge macht die Last«. –

Die kranke Frau musste er mehr tragen als führen. Aber noch nicht genug damit, in der Dunkelheit stolperte die Enkelin über etwas, verlor ihre Puppe und begann zu weinen. Doch er konnte jetzt unmöglich stehen bleiben und das Spielzeug suchen, wenn das eintönige Weinen des Kindes ihm auch eine wahre Qual war.

Trotz des kühlen Wetters wurde ihm sehr heiß. Große Schweißtropfen rollten ihm über Stirn und Wangen. Seit vielen, vielen Jahren war es nun wieder das erste Mal. Der kurze Weg vom Waggon zum Stationsgebäude wollte kein Ende nehmen. Jetzt sah er die Menschengruppe vor dem Gebäude schon deutlicher: es waren Männer, Frauen und Kinder. Alle hatten sie mehr Reisegepäck bei sich, als Passagiere in der Regel mit sich zu führen pflegen. – Regeln: – sagte er sich in Gedanken – ärgerlich, – es gibt keine Regeln mehr. – Dann hörte er durch den verworrenen Lärm, wie dort vor dem Stationsgebäude laut und heftig gestritten wurde.

»Edwin!« rief eine sehr energische Frauenstimme, »und jetzt sagst du dem Mann, dass wir hier nicht bleiben können und sofort fahren wollen.«

Die Worte »nicht« und »sofort« wurden mit ganz besonderem Nachdruck ausgesprochen.

»Ja, ja, Elvira«, antwortete eine schuldbewusste Männerstimme, »ich gehe sofort noch einmal zu ihm. Hab nur noch ein klein wenig Geduld, und fürchten brauchst du dich auch nicht, ich bin ja noch da …«

»Du hast doch selbst Angst«, erwiderte dieselbe Frauenstimme verächtlich.

Das Hasten und Streiten vor dem Stationsgebäude beunruhigte Benkler, er wurde von der allgemeinen Panik ergriffen und begann ernstlich zu fürchten, dass er und seine beiden Schützlinge am Ende doch zurückbleiben könnten. – Aber nein, – sagte er sich, – das geht nicht und so schwach bin ich noch nicht, bin noch lange kein Greis. – Gerade im Begriff, den Koffer hinzustellen, um etwas zu verschnaufen, sah er, wie die Menschen dort vorne ihre Sachen nahmen und eiligst im Dunkeln verschwanden.

»Kommt nur. Dort auf dem dritten Geleis!« hörte er jemand rufen.

Endlich hatte er den Perron erreicht.

»Wo steht der Zug?« wandte er sich an die drei Frauen, die auch auf dem Platze standen. Er wollte sich vergewissern, ob das »dort auf dem dritten Geleis« sich auch tatsächlich auf den erwarteten Zug beziehe. Eigentlich zweifelte er nicht daran, aber er sah wieder andere Menschen um sich und da zwang ihn das quälende Gefühl der Verlassenheit, sie anzureden. Die Frauen aber ließen sich nicht die nötige Zeit, dem Mann Rede und Antwort zu stehen; sie hatten es zu eilig, den andern zu folgen, und dann: – Wer weiß, wer das sein mag, wenn er so langsam angetrottet kommt, wie wenn er auf einer Erholungsreise wäre? –

»Er soll dort stehen«, antwortete eine der Frauen schließlich unbestimmt. »Wird schon eingestiegen?« fragte sie eine der andern.

»Noch nicht«, lautete die Antwort, »der Zug ist noch nicht bereit zur Abfahrt, aber wir stellen uns doch besser dort an, damit wir ein Plätzchen bekommen.«

Die Frauen gingen und Benkler blieb mit der Kranken und dem Kind allein zurück. Nach den Worten der unfreundlichen Reisegefährten zu urteilen, hatte er noch etwas Zeit. Das kam ihm sehr gelegen, vor Erschöpfung zitterte die Kranke so stark, dass er befürchtete, sie könne plötzlich ohnmächtig umsinken. Um dies zu verhüten, schaute Benkler sich nach einem geeigneten Ruheplatz für die junge Frau um. Der Eingang in das Stationsgebäude führte durch einen kleinen Vorbau. Im Winkel zwischen diesem und der Außenwand des Gebäudes war es windstill und im Lichtschein der einen Laterne stand hier eine alte Gartenbank. Bis zu der Bank waren es nur einige Schritte. Benkler führte die Kranke hin und sie ließ sich darauf nieder. Elly war ihnen gefolgt. Müde gegen die Bank gelehnt, folgte das Kind mit träumerischem Blick aus nassen Augen dem Flug eines Nachtfalters, der ziellos um die Laterne schwirrte und oft gegen das Glas stieß. Das Kind gähnte. »Wo hast du deine Puppe verloren?« fragte Benkler, bückte sich und streichelte ihr das Haar. »Na, weine nur nicht, ich kauf dir wieder eine, eine viel schönere. Nicht weinen, bald sind wir zu Hause.«

Kaum hatte er das Mädchen neben die Mutter auf die Bank gehoben, als es auch schon den Kopf auf ihren Schoß legte und sofort einschlief. Benkler schöpfte tief Atem und trocknete sich den Schweiß von der Stirn ab. Dann warf er einen unruhigen Blick in die Richtung, wo der Zug stand. Zu sehen war dort nicht viel: einige schwankende Lichter, die Eisenbahner schritten mit ihren Laternen gerade den Zug ab, und weiter vorne im Schein einer Fackel zwei dunkle Gestalten, die an einer Lokomotive herumhantierten. Wenn die Fackel emporgehoben wurde, sah er ganz deutlich die Umrisse der riesigen Maschine. Bei dieser flackernden Beleuchtung erschien sie ihm auf dem dunklen Hintergrund der Herbstnacht wie ein phantastisches Ungeheuer, das funkensprühend fauchte und weiß-gelblich schimmernde Dampfwolken in den Schein der leckenden Flamme stieß. Beklemmendes Grauen und trostlose Einsamkeit krochen aus dem Dunkel der Nacht an ihn heran. Es erging Benkler in diesen Minuten so, wie es bei dunkler Nacht während eines ungewöhnlichen Ereignisses den meisten Menschen ergeht: es zog ihn fast unwiderstehlich zu der Menge hin. Zwar hatte er dort am Zuge niemanden, der an seinem Schicksal besonders Anteil genommen hätte, aber dort waren es doch viele in der gleichen Lage, dort konnten sie wenigstens miteinander darüber sprechen, er dagegen stand hier allein mit zwei hilfsbedürftigen Wesen, deren Schlaf er jetzt hütete.

Benkler hatte während der langen Fahrt über seine Lage mehr und ernster nachgedacht als je in seinem Leben. Das Ergebnis war nicht erfreulich: wenn auch nur unklar, so empfand er dennoch, dass er nicht mehr der Mann sei, für den er sich bisher gehalten. Früher waren seine Wünsche Gesetze für die Menschen, mit denen er es zu tun hatte, jetzt kümmerte sich niemand um ihn. Manch einer von denen, die dort am Zuge lärmten, hätte in den früheren Zeiten vor dem reichen Benkler die tiefsten Bücklinge gemacht. In der jetzigen Situation aber, wo sich keiner davor fürchtete, der reiche Mann könnte sein persönliches Schicksal nachteilig beeinflussen, und wo auch keiner auf Bereicherung durch seine Gunst rechnen konnte, kannte ihn einfach niemand. Benkler wusste haargenau, was sein Koffer alles enthielt, und er wollte es nicht verstehen, warum dieser Inhalt nicht mehr die Kraft- und Machtquelle darstellte, die er in andern Verhältnissen bestimmt dargestellt haben würde. – Wart nur, – drohte er allen in Gedanken, – es kommen wieder andere Zeiten! – Wie er sich rächen wollte, war ihm jetzt noch nicht klar und nach einigen Sekunden stummen Nachdenkens war er sich nicht mal mehr sicher, ob er dazu überhaupt imstande sein würde. Die ungewohnte körperliche Anstrengung hatte ihn ermüdet und die moralische Zerrüttung hatte seine geistige Spannkraft gelähmt. Sein ganzes bisheriges Leben hatte er gelebt, um Reichtum zu erwerben, und nun hatten sich mit einem Schlage alle seine Schätze in Asche verwandelt, wie im alten Märchen. Nüchtern geurteilt, war es aus mit ihm, und dennoch sehnte er sich nach Glück, hier auf der einsamen Station kam es ihm besonders klar zu Bewusstsein, dass er doch nie recht glücklich gewesen war. Schwer ließ er seinen Kopf auf die Brust sinken. Dann nahm er seinen Koffer und trat damit vor die Frau und das Kind, die regungslos auf der Bank saßen.

Die junge Frau hatte den Kopf zurückgelehnt. Über ihr strahlte die Laterne fahles Licht aus und auf den glühenden Wangen der Kranken lag der Schatten ihrer langen Wimpern.

»Wie schön, wie schön sie ist!« murmelte Benkler vor sich hin. An Oskar dachte er jetzt nicht, auch daran nicht, dass die junge Frau seines Sohnes Weib sei. Er geriet immer mehr in den Bann des Bewusstseins, dass das schöne jugendliche Wesen ganz und gar auf ihn angewiesen war. Und er war eigennützig genug, an die Tragweite dieser Tatsache zu denken. – Ich werde sie retten, versicherte er sich, ja, um jeden Preis. Sie ist zu jung und viel zu kräftig, um dieser Krankheit zu unterliegen, sie muss gesund werden! – Er vergaß für kurze Zeit das Ungewisse und Beängstigende seiner Lage und malte sich immer klarer die Zukunftsbilder aus, die aus nebliger Ferne lockten und derer er sich vor Kurzem noch geschämt hätte. –

Die blassen Hände der jungen Frau ruhten schlaff in ihrem Schoß. Ihr war das Kopftuch von der rechten Schulter gerutscht. Benkler meinte, sie sei, gleich ihrem Kinde, fest eingeschlafen. Behutsam, um sie nicht aufzuwecken, zog er das Tuch wieder zurecht und strich ihr klopfenden Herzens verstohlen über die Wange. Die Kranke rührte sich nicht, öffnete aber die Augen, sah ihn verständnislos an und bat mit schwacher Stimme um Wasser. Erst war Benkler sehr erschrocken, er hatte den fragenden Blick der jungen Frau gefürchtet, doch als sich diese seine Befürchtung als grundlos erwies, wurde er unsäglich froh.

»Gleich, Kind, gleich bringe ich dir Wasser.«

Er versteckte den Koffer unter der Bank, sodass die Füße der Frau und des Kindes ihn verdecken, und rannte wie ein Dreißigjähriger hinter den Vorbau, wo er vorhin ein Wassergefäß aus Weißblech gesehen hatte. Der Kran war aufgedreht und – das Gefäß stand leer. An der dünnen, langen Kette hing ein verrosteter und zerbeulter Blechkrug. In der Eile hatte Benkler kein Glas mitgenommen, drehte deshalb mit einigen kräftigen Bewegungen die Kette ab und lief mit dem Blechkrug zur Wasserbude, füllte ihn mit kaltem Wasser und eilte zurück.

Benkler war nicht lange fort gewesen, überhaupt waren seit dem Aussteigen vielleicht zehn Minuten verflossen, ihm aber dünkte es eine Ewigkeit. Die Kranke wurde jetzt wieder von heftigem Fieberfrost geschüttelt und Benkler fragte sich, ob es nicht doch besser sein würde, sie in den Wartesaal zu bringen. Viel wärmer als hier im Freien konnte es drinnen zwar nicht sein, weil fast alle Fensterscheiben zerschlagen waren, Benkler hatte es im Vorbeilaufen gesehen, doch die Frau hüllte sich immer fester in ihr Kopftuch und er meinte, unbedingt etwas für sie tun zu müssen.

»Geht es dir noch nicht besser?« fragte er besorgt.

»Ich weiß nicht … sehen Sie doch mal nach, ob wir nicht bald einsteigen können.«

Die Antwort auf seine Frage nach ihrem Befinden war für ihn nicht sehr tröstlich, doch ihre Bitte ließ auf klares Verständnis für ihre Lage schließen.

»Ich gehe mal schnell nachsehen und werde sofort wiederkommen. Schläft Elly?«

Wozu er diese Frage gestellt hatte, war ihm selbst nicht klar, sah er doch das Kind schlafen und um die Antwort war ihm auch nicht zu tun, denn ohne diese erst abzuwarten, verschwand er im Dunkeln. »Es wird schon alles gut werden, es muss gut werden!« sagte er sich.

Benkler kam nicht bis zu dem Zug. Kaum aus dem Lichtkreis der Laterne getreten, begegnete ihm eine Gruppe Passagiere, die ihr Gepäck wieder zurück zum Stationsgebäude schleppten. Unter ihnen war auch die Frau, die ihrem Mann so energisch anbefohlen hatte, die Abfahrt zu beschleunigen. Benkler erkannte sie an der Stimme. Sie heulte jetzt und zankte mit ihrem ratlosen Begleiter.

»Und ihr wollt Männer sein? Memmen seid ihr! Glaubt dem Kerl wirklich, dass die Lokomotive nicht in Ordnung ist. Das ist wieder so einer, der nur nicht fahren will, und ihr könnt ihn dazu nicht zwingen. Statt ihm mal den Revolver auf die Brust zu setzen, lamentiert ihr hier herum. Die Roten werden uns hier noch fangen und dann …«

Die letzten Worte waren schlecht zu verstehen, da die Frau jetzt noch lauter zu weinen anfing.

»Aber Elvira!« versuchte ihr Mann sie zu beschwichtigen. »Ingenieur Horn ist doch selbst dabei, wie kannst du nur so sprechen? Es ist doch besser, die Lokomotive hier auf der Station zu reparieren, als nachher bei dunkler Nacht irgendwo mitten in der Steppe stecken zu bleiben. In einer Stunde ist die Sache erledigt und wir holen rasch nach, was wir hier versäumen. Die Bahnlinie soll hier weiter ganz zuverlässig sein, wie man sagt …«

»Wie man sagt, wie man sagt«, fiel sie ihm nachäffend ins Wort, »immer kommst du mit deinem ›wie man sagt‹, selbst aber weißt du nichts bestimmt. Und ich kann mich hier mit dem Gepäck abschleppen, als ob ich eine Dienstmagd wäre. Da nimm!«

Bei diesen Worten stellte sie ihrem Mann, der schon in jeder Hand einen schweren Koffer trug, ihre umfangreiche Reisetasche und ihre große Hutschachtel vor die Füße und schritt, ganz und gar gekränkte Würde, erhobenen Hauptes auf das Stationsgebäude zu. Der Mann wagte nicht zu widersprechen, lud die Reisetasche und die Hutschachtel auch noch auf sich und folgte seiner erzürnten Gattin.

»Der arme Teufel!« flüsterte Benkler belustigt, »der hat gewiss auch eine große Mitgift geheiratet und hätte jetzt auch an vier Händen noch nicht genug, um den Launen seiner lieben Frau gerecht zu werden.«

Eine ganze Stunde sollte der Zug also noch stehen. Demnach war die Gefahr des Zurückbleibens vorüber und die Kranke konnte noch ein Weilchen ruhig sitzen. Benkler strich sich mit gewohnter Handbewegung über den Bart und machte kehrt, um seiner Schwiegertochter Bescheid zu sagen. Die Neugierde zwang ihn aber, sich nach dem Mann umzusehen, der mit nach innen gekehrten Fußspitzen und unter seiner übermäßigen Fracht ächzend gerade in den Lichtkreis der ersten Laterne trat. Benkler war die Stimme des Menschen bekannt vorgekommen. Nun blieb auch der Mann stehen, um Atem zu schöpfen.

»Ach Eduard Karlowitsch!« rief er übertrieben viel zu freundlich, sobald er Benklers ansichtig wurde. »Eduard Benkler, wenn ich nicht irre?«

»Ja, ja«, erwiderte der Angeredete und fühlte, wie etwas vom verloren gegangenen Ansehen ihn umwehte. Das berührte ihn wie die angenehme Wärme, die den Körper nach einem guten Schluck Wein durchrieselt. – Ich weiß wohl, warum du so freundlich bist, mein Lieber – dachte er schmunzelnd, – vier Gepäckstücke sind für zwei Hände immerhin etwas zu viel … –

Jetzt entsann er sich, den jungen Mann vor einigen Jahren bei einem Geschäft flüchtig kennengelernt zu haben. Der Name des Mannes war ihm entfallen und deshalb schmeichelte es seiner Eigenliebe umso mehr, dass dieser nicht nur seinen Vornamen, sondern auch seinen Vaternamen behalten hatte und ihn so anredete, wie er in guten Zeiten angeredet worden war.

»Sie sind also auch hier?« fuhr der junge Mann fort. »Ja, ja, so sind die Zeiten … Wer hätte das damals gedacht, als wir uns kennenlernten? Schade, schade, die Geschäfte fingen an, ganz gut zu gehen …«

Benkler ärgerte sich über diesen familiären Ton. – Da sieh mal einer an: ›damals, als wir uns kennenlernten‹! Als ob wir zusammen Kälber gehütet, oder Äpfel gestohlen hätten? – Damals war der junge Mann viel bescheidener gewesen. Er hatte sich sichtlich gefreut, mit dem »reichen Benkler« in Berührung zu kommen, und ihn sogar um einen Rat fragen dürfen. – Und jetzt redet der in einem Ton, der zwischen guten Bekannten und vor allem zwischen Menschen gleichen Schlages angebracht wäre! – Benkler war jetzt wieder der alte Benkler und empörte sich über das Benehmen des Grünhorns, gleichzeitig lachte er aber schadenfroh über den jungen Nimmersatt, der womöglich noch tiefer in der Patsche steckte als er selbst. Das freute den alten Fabrikanten, denn er wusste, dass dieser Mann, der von seiner Frau wie ein Laufbursche behandelt wurde und von den übrigen Mitgliedern der Familie für etwas einfältig gehalten wurde, weil er kein besonders geistreiches Aussehen und viel zu große, abstehende Ohren hatte, bei all seinen Geschäften Glück gehabt und einen beneidenswerten Spürsinn für vorteilhafte Spekulationen besaß. Hätte der Krieg noch einige Jahre angedauert, dieser junge Mann wäre zweifelsohne mehrfacher Millionär geworden. Jetzt befand er sich aber auch unter den Ausgestoßenen, seine Karriere hatte also auch einen sehr bedenklichen Knick bekommen. Das freute den Alten, als würde seine eigene Lage durch das Unglück des andern irgendwie gebessert.

»Ja, wie Sie sehen«, antwortete er würdevoll. »Ich ziehe es vor, so lange im Auslande zu leben, bis der Schlamassel hier vorbei ist. Na«, fügte er nach bedeutungsvoller Pause hinzu, »’s wird sich schon wieder legen; so schwach sind wir noch nicht, wie manche Leute vielleicht meinen.«

Eigentlich schaute Benkler gar nicht so zuversichtlich in die Zukunft, vor dem jungen Reisegefährten aber wollte er der große Mann bleiben, der, reif und lebenserfahren, die Situation vollkommen beherrscht und etwas weiter sieht als die meisten. Diesen Schein wenigstens musste er wahren, das war er seiner Vergangenheit und auch seiner Zukunft schuldig.

»Das meine ich eben auch«, pflichtete der junge Mann ihm bei, »man sagt doch …«

»Wie man sagt, wie man sagt«, äffte Benkler ihn jetzt in Gedanken nach, wie er’s vorhin von der Frau gehört hatte, und unterbrach ihn:

»Gestatten Sie, dass ich Ihnen etwas helfe!« O ja, Benkler konnte manchmal auch den gutmütigen Mann spielen! Er nahm dem Gepäckträger seiner eigenen Frau, wie er ihn für sich taufte, die Reisetasche und die Hutschachtel ab; – wer weiß, vielleicht ist er später selbst auf seine Hilfe angewiesen. – Der junge Mann nahm die Gefälligkeit dankend an.

Vor der Bank, auf der Benklers Schwiegertochter und Enkelin saßen, stand die Frau des jungen Mannes mit noch zwei weiblichen Passagieren. Benkler trat zu der Kranken und rief sie halblaut beim Namen. Sie antwortete nicht. Die Frau des jungen Unternehmers weinte nicht mehr und war jetzt ganz Dame. »Ihre Tochter?« fragte sie mit höflichem Kopfneigen.

»Nein, meine Schwiegertochter.«

»Und der Mann, Ihr Sohn, ist nicht hier?« – Das sieht ja fast aus wie ein Verhör – dachte Benkler gereizt. Die junge Dame machte ein überaus mitleidiges Gesicht und fügte hinzu, ohne Benklers Antwort auf ihre Frage abzuwarten: »Die Ärmste! Sie hat hohes Fieber und kann sich hier leicht erkälten … Edwin«, wandte sie sich dann an ihren Mann, der die Koffer kaum auf die Erde gestellt hatte und mit wahrer Duldermiene auf dem Gesicht seine ermüdeten Arme bog und streckte, um das Blut wieder in Bewegung zu bringen, »Edwin, hilf doch mal die Frau in den Wartesaal bringen, vielleicht erwärmt sie sich noch, bis der Zug endlich mal abgeht.«

Benkler hörte diesen aus aufdringlicher Liebenswürdigkeit geborenen Vorschlag mit sehr gemischten Gefühlen an, denn er konnte nicht den Verdacht loswerden, dass Frau Elvira es mit ihrer Besorgtheit lediglich auf die in Aussicht stehende Bank, auf eine bequeme Sitzgelegenheit abgesehen hatte. Er erwiderte jedoch nichts, sondern brachte die Kranke mit Hilfe des jungen Mannes in den Warteraum, wo er sie auf einer breiten Bank bettete. Als er wieder herauskam, um das schlafende Kind auch zu holen, hatten die drei Frauen die Bank schon besetzt. Er nahm Elly auf den Arm und trug sie hinein. Der junge Mann folgte ihm mit seinem Lederkoffer. Und dann war Benkler mit seinen Begleiterinnen allein im kleinen Wartesaal. Er stellte sich neben seinen Koffer ans offene Fenster, von wo er den Schein der Fackel bei der Lokomotive sehen konnte.

Draußen führten die drei Frauen flüsternd ein Gespräch, das er nicht verstehen konnte und das ihn auch nicht interessierte. Der junge Mann war nicht mehr bei ihnen, seine Frau hatte ihn bereits wieder nach Erkundigungen über die Abfahrtsbereitschaft des Zuges ausgeschickt.

Benkler horchte in die Nacht hinaus. Die Laute draußen hatten sich wenig geändert: hin und wieder hörte er den gedämpften Lärm der Wartenden, das Fauchen der Lokomotive und das Heulen des Windes im Geäst der Bäume. Die Kranke schlief, atmete aber viel zu rasch, als dass sie den Eindruck hätte erwecken können, ihr Zustand habe sich wesentlich gebessert. Benkler stierte unverwandt auf den nachtschwarzen Himmel. Alle Geräusche flossen ihm in eins zusammen und erschienen ihm wie ein unheimliches Raunen der Nacht, mehr rätselhaft als beängstigend. Er geriet in die sonderbare Geistesverfassung, wo der Mensch die Realität der Wirklichkeit minutenlang nicht empfindet und sich mit der Hand übers Gesicht streicht, oder sich in den Arm kneift, um sich von seiner eigenen Existenz zu überzeugen. Mag es nun die Folge der Müdigkeit, oder die Wirkung des nahen weiblichen Wesens gewesen sein, Benkler begann wachend zu träumen, was bei ihm sonst nicht vorkam. Er sah seine Schwiegertochter wieder gesund und lustig. Irgendwo in einem schönen Landhaus bei Berlin, oder Paris lebten sie zu dritt: sie, Elly und er. Die sinkende Sonne wirft schräge Strahlen durch das üppige Laub gepflegter Linden und färbt den geschorenen Rasen im Park mit blassgelbem Schimmer. Er selbst sitzt sommerlich gekleidet in einem geflochtenen Schaukelstuhl und liest die Abendzeitung. Besonders interessant sind die letzten Nachrichten aus Russland, wo längst wieder Ruhe und Ordnung herrschen, wohin er aber noch nicht zurück will, denn Winschu schickt ihm regelmäßig Berichte und überweist die Gelder nach seinen Anordnungen an verschiedene Adressen. Das Geschäft blüht … Sie hat eine weiße Schürze mit über den Schultern gekreuzten Trägern vorgebunden, in der sie so mädchenhaft aussieht, deckt den Tisch auf der Veranda und trillert dabei ein lustiges Liedchen. Mitten auf dem Tisch steht in himmelblauer Porzellanvase ein frischer Blumenstrauß. Elly, ebenfalls hell gekleidet, spielt vor der Veranda. Immer klarer und schöner werden die Bilder seiner Vorstellung … Und da bemerkt er auf einmal auf der heilgebliebenen Scheibe des gegen die Wand des Vorbaus gelehnten Fensterflügels den Widerschein purpurner Glut. Blitzschnell richtet er seinen alarmierten Blick auf eine bestimmte Stelle des nachtverschleierten Horizonts. Draußen springen die drei Frauen erschrocken von der Bank, auch sie haben den Schein der fernen Feuersbrunst bemerkt.

»Da brennt wieder ein Dorf!« kreischt eine von ihnen. Sie packen ihre Sachen und laufen, so schnell sie können, zum Zug, wo sich der Lärm sehr verstärkt. Markerschütternd heult die Lokomotive auf und Benkler weiß: jetzt ist es so weit. Verschwunden sind die Zukunftsbilder, zurückgeblieben ist nur die graue Wirklichkeit und er ist wieder ganz er selbst – der fliehende Fabrikant Eduard Benkler, der den Verlust seines Reichtums immer noch nicht richtig fassen kann. Wie viel Zeit hat er noch?

»Du, Anna!« ruft er und steht mit zwei langen Schritten neben der Bank. »Anna, wir müssen sofort einsteigen!«

»Wasser«, stöhnt die Kranke, »Wasser!«

Jetzt fiebert Benkler; im Koffer liegen die Papiere, die ihm die Türen und Geldschränke ausländischer Banken öffnen werden, im Koffer liegen auch feste Werte. – Wie jetzt? Wenn er die Kranke und das Kind erst zum Zug bringt, kann der Koffer gestohlen werden und gleich mitnehmen kann er ihn nicht; die Kranke ist zu schwach und das Kind schläft. Den Koffer stehen lassen? Nein, das geht nicht. Hier ist zwar nirgends ein Mensch zu sehen, aber die können sich versteckt haben und irgendwo in der Nähe auf der Lauer liegen. – Mit »die« meint er alle, die er als Menschen niederen Schlages zu betrachten gewohnt ist. Vorhin hatte er drüben in einem kleinen Fenster Licht gesehen, am Telegraphenapparat einen blassen Bengel, der sich um all den Lärm nicht im Geringsten kümmerte. – Wer weiß, wohin und was der zu telegraphieren hatte? – Er denkt an die verflossene Nacht und den Maschinisten. Dann handelt er mit sich selbst: – Noch war nur ein Signal; ich laufe schnell mit dem Koffer zum Zug, übergebe ihn der Obhut des jungen Mannes und hole die Frau und das Kind. Vielleicht hilft er mir sogar, gewiss wird er mir helfen. – Diese Gedanken sind ihm durch den Kopf gerast, während die Kranke zweimal das Wort »Wasser« ausgesprochen. Er ist schon entschlossen, ohne es selbst zu glauben.

»Gleich, Anna«, sagt er und nimmt schon den Koffer, »halte dich bereit, gleich komme ich« und stürzt zur Tür hinaus.

Der Koffer ist jetzt federleicht. Er wundert sich selbst, woher er die Kraft hat. Ja, er wird noch zur Zeit kommen. Wird er? Nein, er lügt,