Wir sind die Roboter - Uwe Schütte - E-Book

Wir sind die Roboter E-Book

Uwe Schütte

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Beschreibung

Zum 50. Jahrestag des bahnbrechenden Albums »Autobahn« - die unverzichtbare Werkbiografie der einflussreichsten deutschen Popband aller Zeiten

»Wir sind die Roboter.« Mit diesem gegen die Konventionen und Traditionen des Rock gerichteten Schlachtruf sind Kraftwerk ausgezogen, um von Düsseldorf aus die Welt zu erobern. Mit ihrem revolutionären Konzept einer elektronischen Popmusik waren die vier Mensch-Maschinen-Musiker vermutlich noch einflussreicher als die Beatles. Im Werk der Formation verschmolzen Klang und Technologie, Grafikdesign und Performance, Autobahn und Roboter, modernistische Bauhaus-Ästhetik und rheinische Industriekultur, um so der modernen Popmusik eine elektronische Richtung vorzugeben. Ihr avantgardistisches Konzept einer »industriellen Volksmusik« aus deutschen Landen schuf den tanzbaren Soundtrack zu unserem digitalen Zeitalter. In der Ära der Künstlichen Intelligenz sind die bis heute aktiv den Globus tourenden Kraftwerk daher so aktuell wie nie.

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Seitenzahl: 443

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

»Wir sind die Roboter.« Mit diesem gegen die Konventionen und Traditionen des Rock gerichteten Schlachtruf sind Kraftwerk ausgezogen, um von Düsseldorf aus die Welt zu erobern. Mit ihrem revolutionären Konzept einer elektronischen Popmusik waren die vier Mensch-Maschinen-Musiker vermutlich noch einflussreicher als die Beatles. Im Werk der Formation verschmolzen Klang und Technologie, Grafikdesign und Performance, Autobahn und Roboter, modernistische Bauhaus-Ästhetik und rheinische Industriekultur, um so der Popmusik eine elektronische Richtung vorzugeben. Ihr avantgardistisches Konzept einer »industriellen Volksmusik« aus deutschen Landen schuf den tanzbaren Soundtrack zu unserem digitalen Zeitalter. In der Ära der Künstlichen Intelligenz sind die bis heute aktiv den Globus tourenden Kraftwerk daher so aktuell wie nie.

Autor

UWESCHÜTTE, geboren 1967 in NRW, studierte Germanistik bei W. G. Sebald an der University of East Anglia, Norwich, UK und lehrte als Reader in German bis zum Brexit an einer englischen Universität. Er lebt nun als freier Autor, Kulturessayist und Musikjournalist in Berlin. Schütte hat über 30 Bücher geschrieben bzw. herausgegeben, seine Schwerpunkte sind die Gegenwartsliteratur und avancierte Pop-Musik, insbesondere das Werk von Sebald und Kraftwerk.

Uwe Schütte

Wir sind die Roboter

Kraftwerk und die Erfindung der elektronischen Popmusik

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe November 2024

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © by Uwe Schütte 2024

Covergestaltung: Semper Smile nach einem Entwurf von Terese Moe Leiner

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mn · Herstellung: han

ISBN 978-3-641-28476-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Inhalt

Vorwort oder: Ein halbes Jahrhundert

1. Düsseldorf

2. Geschwindigkeit

3. Ambivalenz und Retro-Futurismus

4. Mensch-Maschinen-Musik

5. Digitalisierung

6. Konzerte

7. Design

8. Einfluss und Vermächtnis

Nachwort

Danksagung

Quellenverzeichnis

Vorwort oder: Ein halbes Jahrhundert

Die Revolution, sie blieb zunächst unbemerkt. Erst nach mehr als einem Jahr begann man in Deutschland langsam zu erkennen, dass sich im November 1974 nicht weniger als die Initialzündung der heimischen Popmusik ereignet hatte. Mehr noch: die Geburt der elektronischen Popmusik aus dem Geiste einer »industriellen Volksmusik«. Kraftwerk und Autobahn. Was für ein Album! Danach war nichts mehr wie zuvor: Menschen machten Musik mit Maschinen. Zukunftsmusik, zu hören im Hier und Jetzt der Bundesrepublik zur Mitte der siebziger Jahre. Klänge, die eine neue Welt hörbar machten, welche erst allmählich als Vorschein unserer Gegenwart sichtbar wurde.

Mit ihrer Konzeptkunstidee einer elektronischen Klangerzeugung zu Unterhaltungszwecken lösten Ralf Hütter und Florian Schneider den wohl gewichtigsten Paradigmenwechsel in der Geschichte der populären Musik des 20. Jahrhunderts aus: Kraftwerk ersetzten Gitarren und Drums durch technische Apparaturen. Sie stylten sich als roboterhafte Mensch-Maschine-Zwitter, irgendwo in der Grauzone »halb Wesen und halb Ding«. Statt Gesang waren plötzlich künstliche Vocals und Computerstimmen zu hören, was ihnen dann die halbe Popwelt nachmachte. Von Depeche Mode bis Detroit Techno, von David Bowie bis Daft Punk, von HipHop bis K-Pop sind die kompositorischen Ideen, künstlerischen Entwürfe und technischen Lösungen, die Kraftwerk in ihrem kleinen Kling-Klang-Studio im Düsseldorfer Bahnhofsviertel ausheckten, zur DNA der Popmusik des 21. Jahrhunderts avanciert.

Die Revolution des Pop durch elektronische Klangerzeugung, sie begann mit Autobahn: Eine Autotür schlägt zu, der Motor wird angelassen, und los geht die Fahrt von links nach rechts durchs Stereospektrum. »Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn …« Nicht wenige Hörer hielten das Stück, das sich über eine gesamte Schallplattenseite erstreckt, zunächst für eine Art Schlager oder Kinderlied – eines der vielen Missverständnisse, die den Werdegang von Kraftwerk begleiteten.

In Wirklichkeit ist das Titelstück »Autobahn« ein avantgardistisches Klangexperiment im Feld der Popmusik: Mit knapp 23 Minuten Spieldauer ahmt es eine Fahrt irgendwo im dichten Autobahnnetzwerk der Rhein-Ruhr-Region nach, die technischen Geräusche schaffen den konzeptuellen Rahmen für eine maschinelle Ästhetik, die die Monotonie des Autofahrens in der musikalischen Motorik spiegelt. Die postmoderne Sequenz, in der das Autoradio angestellt wird, aus dem dann parodistisch der Refrain des Stückes erklingt, ist ein Beweis für den Humor Kraftwerks, der so oft übersehen wird. Der bewusst minimalistisch angelegte Text wiederum liefert eine genaue Bildbeschreibung des Covers. Es zeigt ein Gemälde mit einer lieblichen Naturlandschaft samt Strommasten, durch die eine Autobahn verläuft, die sich im Horizont verliert:

Vor uns liegt ein weites Tal

Die Sonne scheint mit Glitzerstrahl

Die Fahrbahn ist ein graues Band

Weiße Streifen, grüner Rand

Das elektronische Musikstück »Autobahn« ist ein popkulturelles Kunstwerk, ein multimediales Konstrukt aus Konzeptkunst, Klang, Text und Bild. Es fügt sich ästhetisch stimmig zu etwas zusammen, das man in der Tat mit einem Begriff bezeichnen kann, den Ralf Hütter geprägt hat: ein »Musikgemälde«. Dass aus populärer Musik dergestalt Kunst wurde, war etwas grundlegend Neues in Deutschland, genauso revolutionär wie die von Kraftwerk betriebene Verschiebung elektronischer Klangexperimente aus dem Bereich der Neuen Musik in den Bereich des Pop. Die Popmusik wurde erwachsen. Und elektrifiziert, was sich später als unverzichtbare Grundlage ihrer heutigen Digitalisierung erwies.

Fünfzig Jahre ist das nun her. Ein halbes Jahrhundert. Kraftwerk gibt es immer noch. Zwar ist vom Kernteam aus Ralf Hütter und Florian Schneider nur noch Ersterer übrig, doch mit wechselnden Mitspielern tourt Hütter weiter unbeirrt um die Welt, um atemberaubende Live-Performances auf Musikfestivals, in Symphoniehäusern und Kunstmuseen abzuliefern. Es sind Konzerte voll visueller Opulenz, in modernster Mehrkanalakustik und auf der Basis einer kompletten Digitalisierung ihres Werkkatalogs, der live auf der Bühne abgemischt wird, was eine laufende Aktualisierung der Musik zulässt. Oder wie es in »Techno Pop« heißt:

Elektroklänge überall

Dezibel im Ultraschall

Es wird immer weiter geh’n

Musik als Träger von Ideen

Kraftwerk spielen eine Musik, die mehr als fünfzig Jahre alt ist und live dennoch ganz heutig klingt. Der Urgrund der elektronischen Musik. Deren Siegeszug verdankte sich ganz wesentlich dem Bestreben zweier nordrhein-westfälischer Bürgersöhne, in Anbetracht des unbeschreiblichen Horrors der nicht lange zurückliegenden deutschen Vergangenheit eine neuartige Form der »Heimatmusik aus der Rhein-Ruhr-Gegend«, wie Florian Schneider es einmal nannte, zu schaffen.

Das war damals. Den neuen Ton in der deutschsprachigen Musik unserer traurigen, von Krieg in Europa, einer ökologischen Doppelkatastrophe aus Klimawandel und Artensterben, Pandemien und ökonomischen Verwerfungen bedrohten Welt geben mittlerweile andere Gruppen an: Rammstein, Frei.Wild, Andreas Gabalier, Bushido und Konsorten. Bands und Musiker, die entweder mittels faschistischer Ikonografie ein Spiel mit dem Feuer betreiben, scheinheilig mit nationalistischen Positionen kokettieren oder in einer Pop-Variante der sogenannten volkstümlichen Musik rechte bis reaktionäre Botschaften verbreiten, ganz zu schweigen von den im Rap offen sexistischen, homophoben und antisemitischen Parolen. Es ist der Soundtrack des Populismus, der wie ein Gift die Demokratie zerstört.

Ist es angesichts solch deprimierender »Heimatmusik« nicht mehr als gerechtfertigt, den Werdegang einer Musikgruppe zu betrachten, die sich von einer prototypisch deutschen zu einer paradigmatisch europäisch-kosmopolitischen Band entwickelte? Eine Überwindung des Nationalistischen also, was früher einmal, so muss man heute sagen, ein achtenswerter deutscher Charakterzug war. Mit ihrer elektrifizierten Hymne an das deutsche Nationalsymbol Autobahn lösten sich Kraftwerk aus dem Kontext des Krautrock, um danach im Verlauf von nur sieben Jahren ein epochales Konzeptalbum nach dem anderen zu veröffentlichen, auf denen neben ihrer Muttersprache noch Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und Japanisch zu hören waren.

Mit der Deutschtümelei jener Bands, die national wie international erfolgreich sind und somit als kulturelle Botschafter unseres Landes eine eher traurige Rolle abgeben, haben Kraftwerk allein schon deshalb nichts zu tun, weil sie nur in die deutsche Kulturgeschichte zurückblicken – also auf Stationen wie das Bauhaus oder den Expressionismus –, um gewappnet mit den Energien von damals besser in die Zukunft sehen zu können. Wie unglaublich futuristisch Kraftwerk gegen Ende der siebziger Jahre klangen, können wir heute kaum noch erfassen, hat doch ihr Sound die gegenwärtige Musik mehr als nachhaltig geprägt. Was retrospektiv hingegen klar erkennbar ist und unverändert beeindruckt, ist die evident prophetische Qualität ihres Werks. Zwar betonten Kraftwerk eher die vorteilhafte Seite kommender Technologien, übersahen aber keineswegs die dystopischen Aspekte unserer Computerwelt, als diese zu Beginn der achtziger Jahre anbrach.

Internet oder Mobiltelefone kommen zwar nicht vor in ihrem Werk, man findet aber sehr wohl Ausblicke auf die Digitalisierung aller Lebensbereiche sowie den schleichenden Prozess, den wir gerade durchlaufen und bei dem aus uns Menschen in kleinen und daher kaum merklichen, aber letztendlich unaufhaltsamen Schritten ein posthumanistisches Wesen wird. »Wir sind die Roboter« war 1978 eine innovative Form künstlerischer Selbstinszenierung im Rahmen einer popkulturellen Mensch-Maschine-Ästhetik, die sich von den Klischees der Rockmusik abzugrenzen suchte – heute darf man die Feststellung durchaus wörtlich als trauriges Resümee verstehen, wie weit es für uns alle gekommen ist. Im Kontext der gerade stattfindenden vierten industriellen Revolution, bei der von Künstlicher Intelligenz gesteuerte Maschinen den nächsten evolutionären Sprung vollziehen, werden wir Kraftwerks Optimismus noch dringend benötigen, geben wir das Heft des Handelns doch freiwillig aus der Hand, indem wir uns den denkenden Maschinen anpassen und uns ihnen so untertan machen.

Kraftwerks konzeptionelle Überlegungen und praktische Experimente, wie im Bereich der elektronischen Musik eine erfolgreiche Symbiose zwischen Mensch und Maschine aussehen könnte, haben uns mithin unverändert eine Menge zu sagen. Genügend Gründe, so denke ich, auf eine Entdeckungsreise durch das Werk der künstlerisch bedeutendsten Musikgruppe aus Deutschland zu gehen.

***

Was ist auf den folgenden Seiten zu erwarten? Vielleicht ist es angebracht, im Sinne des Verbraucherschutzes an dieser Stelle klipp und klar zu deklarieren, was das Buch nicht darstellt: Es ist kein Fanbuch und betreibt keinen Musikjournalismus, es liefert keine Bandbiografie und kolportiert auch keine Fakten oder Anekdoten aus dem Privatleben von Hütter und Schneider. Wer einen der genannten Zugänge zu Kraftwerk sucht, sei verwiesen auf die Vielzahl der existierenden Bücher, Broschüren und Ressourcen im Internet.

Obwohl ich hier Fußnoten, oder präziser gesagt: Endnoten verwende und in einem früheren Leben über zwei Jahrzehnte als Universitätsdozent tätig war – der übrigens in Birmingham die erste akademische Konferenz über Kraftwerk organisiert hat –, ist dieses Buch keine kulturwissenschaftliche Studie. Nichts nämlich liegt mir ferner, als hier mit dem hochtrabenden Nimbus meiner germanistischen Kollegen aufzutreten, die ihr Konglomerat aus Musikjournalismus und Fantum unter dem Etikettenschwindel einer promovierten, habilitierten, professoralen Wissenschaftlichkeit verbreiten.

Wir sind die Roboter ist schlichtweg ein weiterer Versuch, Kraftwerk für mich selbst zu begreifen und meine Ansichten und Einsichten mit anderen zu teilen. Deshalb achte ich auf gute Lesbarkeit; so wenig Jargon wie nötig, alle Zitate wurden übersetzt und falls erforderlich mit kleinen Eingriffen verständlicher gemacht. Aus denselben Gründen erspare ich mir zu gendern, bei Bezeichnungen wie »Musikkritiker« sind natürlich alle Geschlechter gemeint. Im Übrigen möchte ich Leser wie Leserinnen nicht durch geschlechtergerechte Sprache irreführen, denn der Kraftwerk-Kosmos ist ein reiner Männerverein, nicht nur was das Bandpersonal betrifft; unter all den Produzenten, Technikern, Designern, Assistenten, Fotografen, Tourmanagern und sonstigen Kooperationspartnern sucht man Frauen bis heute vergeblich. (Auf die einzige Ausnahme, Rebecca Allen, kommen wir natürlich zu sprechen.)

Diversität ist mir wichtig. Je vielfältiger meine Leserschaft, desto besser. Mögen das nun Kraftwerk-Nerds sein, die mehr über die Band wissen als ich und dieses Buch vornehmlich lesen, um zu sehen, wie viele Fehler mir unterlaufen; mögen es Kraftwerk-Fans sein, die sich bereits im Werk der Düsseldorfer auskennen, aber mehr Details erfahren möchten; oder mögen es jene Leser sein, die ich mir am meisten wünsche: Hörer und Hörerinnen, die ein eher vages Wissen über Kraftwerk haben und erstaunt sein werden, wie viel es im Kling-Klang-Kunstwerk der Band zu entdecken gibt.

Was also hat meine Kraftwerk-Einführung zu bieten? Ich behandle die Mensch-Maschinen-Musik hier als kulturelles Phänomen von transnationaler Reichweite, als modernistisches Kunstprojekt im Bereich der Performance und insbesondere als schrittweise Ausformulierung eines auf den Prinzipien Minimalismus und Retro-Futurismus beruhenden Netzwerks von Konzeptalben; eine multimediale Kombination aus Klang und Bild, Image und Styling, Grafikdesign und Aufführungspraxis. Oder weniger langwierig formuliert: als ein popkulturelles Gesamtkunstwerk. Dieses steht in einem vielschichtigen, vielfältigen kulturhistorischen Kontext, den ich zu erläutern und zu entwirren versuche.

Wir sind die Roboter ist thematisch gegliedert, um die verschiedenen Stränge, die sich durch das Œuvre von Kraftwerk ziehen, besser verstehen zu können. Auf diese Weise kann ich im Gegensatz zu bisherigen Publikationen, die die Geschichte der Gruppe chronologisch nacherzählen, dezidiert auf deren visuelle Seite eingehen, die bisher kaum Beachtung gefunden hat, obgleich Elemente wie Grafikdesign und Videoprojektionen ein zentraler Bestandteil des audiovisuellen Gesamtkunstwerks sind. Immerhin erstreckt sich dieser Designaspekt, der den visuellen Gegenpart zur musikalischen Ästhetik liefert, im Sinne einer corporate identity bis in feinste Verästelungen, also beispielsweise in die minimalisierte Designsprache, die Verwendung retro-futuristischer Typografie, die simplistische Website oder die grafische Repräsentation der Bandmitglieder durch ein animiertes Logo.

Ebenso wird hier erstmals die Evolution ihrer Bühnenpräsenz isoliert in den Blick genommen – von den ersten Konzerten als Lokalband in Düsseldorfer Galerien im Umfeld der berühmten Kunstakademie bis zu den Werkretrospektiven im New Yorker MoMA, der Londoner Tate Modern und anderen internationalen Bastionen der Hochkultur. Geschildert wird der weite Weg von den frühen Konzerten mit selbstgebastelten Musikmaschinen, die bei schwankenden Temperaturen gerne mal den Dienst verweigerten, über die Computerwelt-Welttournee von 1981, auf die man die gesamte Studioausstattung mitnahm, bis schließlich zum heutigen Stand technischer Entwicklung, bei dem die Musiker mit vier identischen Konsolen auf der Bühne stehen, auf denen – fürs Publikum unsichtbar – Tablets und Keyboards verbaut sind.

Bei meinem thematischen Werkdurchgang gehe ich zwar weitgehend chronologisch vor, gruppiere die Alben aber entlang konzeptueller oder stilistischer Zusammengehörigkeit, weshalb etwa das nahezu dreißig Jahre umspannende Trio aus Autobahn (1974), Trans Europa Express (1977) und Tour de France (2003) als Block verhandelt wird, da die Platten durch das Motivgeflecht Kinetik – Geschwindigkeit – Propulsion miteinander verbunden sind, das dabei auf jeweils andere Weise in eine vorwärtstreibende, maschinell-motorische Musik übersetzt wird. So unterschiedliche Alben wie Radio-Aktivität (1975) und Computerwelt (1981) ergeben wiederum ein Paar, da beide das Kraftwerk’sche Stilprinzip der Ambivalenz exponieren, während Die Mensch-Maschine (1978) als zentrales Konzept-Statement ein eigenes Kapitel verdient.

Wie kaum zu übersehen, zerfällt das mehr als fünf Jahrzehnte umspannende Werk in zwei Teile bzw. drei unterschiedliche Werkphasen, wobei die Bruchstellen bzw. der Wendepunkt nicht immer klar festgemacht werden können. Da wäre zunächst der Übergang von der (später verleugneten) Frühphase der ersten drei Platten zum Beginn des offiziellen Werks mit Autobahn. Ebenso der Wechsel von analoger zu digitaler Produktionsweise. Oder die Kehrtwende, die von der Kreation der acht Konzeptalben zur Kuratierung des Katalogs führte, bei der die visuelle Komponente, die (Selbst-)Kanonisierung Kraftwerks als ein für das Museum prädestiniertes Konzeptkunstwerk stärker im Vordergrund stehen. Wenn ich in Wir sind die Roboter die Digitalisierung als Wasserscheide im Werk behandle, so ist das wohlweislich nur eine der möglichen Optionen. Obgleich es sich lohnt, auch anhand von The Mix, Techno Pop oder der Expo 2000-EP einige unterschätzte Veröffentlichungen neu in den Blick zu nehmen.

Das letzte der acht Kapitel nimmt sich die unverzichtbare Pflichtübung jedes Kraftwerk-Buches vor, nämlich dem immensen, in seinen Auswirkungen kaum überschaubaren Einfluss der Gruppe nachzugehen. Dabei sind für gewöhnlich Geschichten zu erzählen wie die von David Bowie, der sich dank Kraftwerk in Berlin neu erfand, während sein Schöneberger WG-Genosse Iggy Pop mit Florian Schneider zum Spargelkauf auf den Markt am Carlsplatz ging. Oder warum solche Bands wie Depeche Mode, Human League, New Order und Orchestral Manoeuvres in the Dark ohne Kraftwerk nie geworden wären, was sie sind. Wie Afrika Bambaataa in New York dank »Nummern« und »Trans Europa Express« den Electro erfand, oder warum Kraftwerk bis heute in Detroit wie halbe Götter verehrt werden. Und so weiter.

Doch diese Geschichten sind schon sehr oft erzählt worden, auch von mir in anderen Büchern, weshalb ich mich diesmal kurzfassen werde. Stattdessen soll hier grundsätzlicher nachgezeichnet werden, wie sich die Kraftwerk’sche Konzeptidee eines popkulturellen Gesamtkunstwerks als international anschlussfähiges Modell in der Popmusik erwies, wie Kraftwerk solch ungleiche deutsche Figuren wie Klaus Nomi, DJ Hell oder Rammstein beeinflussten. Inwieweit Florian Schneiders Experimente mit synthetischer Spracherzeugung bahnbrechend für die gegenwärtige Popmusik waren, versuche ich ebenso zu skizzieren. Zu guter Letzt soll darüber spekuliert werden, wie es mit Kraftwerk im 21. Jahrhundert weitergehen könnte, angesichts der zunehmenden Bemächtigung von Popmusik wie Kultur insgesamt durch Künstliche Intelligenz.

Hierzu noch ein Gewährleistungsausschluss: Ich bin weder Musiker noch Musikologe, daher kann ich mich zu kompositorischen Aspekten allenfalls laienhaft äußern. Auch was die praktische, technische Seite des Musikmachens mit Maschinen betrifft – also diese ganzen technischen Kisten, Gerätschaften, Apparaturen, Kompositionsprogramme, Plug-ins und sonstige Software –, bin ich nicht kompetent, sondern stütze mich zwangsweise auf jene, die es sind.

Dabei sind zwei Herren hervorzuheben: Zunächst Karl Bartos, Kraftwerk-Mitglied der »klassischen Phase« von Radio-Aktivität bis Electric Cafe. Seine Autobiografie Der Klang der Maschine (2017) sei nicht nur jenen empfohlen, die sich dafür interessieren, auf welche Weise und womit die Musik auf den zentralen Alben gemacht wurde, sondern ebenso allen, die glauben, Hütter und Schneider hätten ihn und Wolfgang Flür als vollwertige Bandpartner betrachtet und entsprechend angemessen behandelt. »Wir waren die ganze Zeit ein Duo, wir hatten lediglich verschiedene Studiomusiker«,[1] behauptete Hütter noch 2009.

Unverzichtbar für alle, die ein musikologisches Interesse an dem Wechselverhältnis zwischen Kompositionsprinzipien und Technologie bei Kraftwerk haben, ist Carsten Brockers tiefschürfende Dissertation Kraftwerk. Die Mensch-Maschine (2023), die alle einschlägigen Fragen kompetent beantwortet. Sollte ich aus den Büchern von Bartos und Brocker übernommene Sachverhalte unzutreffend oder ungenau darstellen, so ist das allein mein Versagen.

Florian Schneider on stage 1971 (Foto: Ellen Poppinga – K & K/Redferns)

1. Düsseldorf

Wir komponieren die Melodien, indem wir in unserem Studio summen, und der Rhythmus kommt von den Geräuschen der Maschinen.

(Ralf Hütter)

»Wo bleibt das Äquivalent zu Kraftwerk im 21. Jahrhundert?«,[2] fragte ein ratloser Mark Fisher – und zwar zu Recht. Es gibt heutzutage keine Band mehr, die uns den Weg in die Zukunft der Popmusik weisen könnte.

Kraftwerk aber haben dieses visionäre Kunststück vollbracht. Mit einer Musik ganz ohne Gitarren, ohne Anleihen beim Blues, ohne sonderlichen Bezug auf all das, was Pop und Rock für gewöhnlich umtreibt, also Liebe und Rebellion, und ohne das dazugehörige Brimborium: ohne eitlen Frontmann, der zu Identifikation oder Anbetung einladen würde, ohne schweißtreibendes Rumgehopse auf der Bühne, ohne Skandale sexueller oder sonstiger Natur, die die Aufmerksamkeit der Musikpresse auf sich ziehen.

Der störrischen Frage von Fisher könnte man mit dem Hinweis entgegnen, dass es in der heutigen Musiklandschaft kein Äquivalent zu Kraftwerk geben muss, weil ihr Sound allgegenwärtig ist. Bei kommerziellen Größen wie Coldplay, Jay-Z, Kylie Minogue oder Miley Cyrus oder auch bei anspruchsvollerer Hörkost wie dem Kunstkollektiv Laibach und musikalischen Experimentallaboren wie Boards of Canada und Aphex Twin.

Aber darauf zielte seine Frage nicht ab. Was Fisher wissen wollte: Warum gibt es keine Bands oder Künstler mehr, die innovative Musik machen, welche völlig mit den Regeln, Konventionen und Mustern bricht, die die Popmusik, wie wir sie kennen, bestimmen? Musik, die – weil sie radikal unerhört klingt – ein Beweis dafür wäre, dass noch das Potenzial für etwas wirklich Neues existiert, in gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Hinsicht. Stattdessen werden uns nur Wiederholung, Variation und Nachbeten des Bestehenden verkauft, eine neu verpackte Version der musikalischen Vergangenheit, was Simon Reynolds zu Recht als »Retromania« bezeichnet.

Es gibt heute keine Zukunftsmusik, so müssen wir einsehen, weil es so etwas wie »Zukunft« nicht mehr gibt. Die Zukunft, so Fisher, wurde abgeschafft. Der derzeitige Zustand des »Futuristischen« in der Kunst zeugt davon: »Futuristisch« ist zu einer Leerformel geworden, die sich eben nicht mehr auf eine Zukunft bezieht, von der wir erwarten, dass sie sich deutlich unterscheidet und sich als verbesserte Version unserer Gegenwart von der gegenwärtigen Misere abhebt.

Bedauerlicherweise hat sich die strahlende Vision, welche die Musik von Kraftwerk seinerzeit versprach, nie materialisiert. Ja, wir leben in einer Computerwelt, wie ihr gleichnamiges Album von 1981 voraussagte; aber die Behörden missbrauchen die Digitalisierung, um in unsere Privatsphäre einzudringen und unsere Bürgerrechte zu beschneiden. Repressive Diktaturen führen einen verdeckten Cyberkrieg gegen unsere Ökonomie, versuchen mit ihren Trollfabriken durch Anheizen des Populismus in den sozialen Medien die Demokratie zu untergraben.

Ebenso gibt es heute kein »Europa Endlos« mehr, wie es im Eröffnungsstück von Kraftwerks Trans Europa Express (1977) besungen wird, sondern nationalistisches Kleinstaatsdenken, wie mustergültig im Brexit zu besichtigen, sowie beständig neue Mauern und Schranken, innerhalb wie außerhalb eines sich zur Festung ausbauenden Europa. Ganz zu schweigen davon, dass wir fälschlich glaubten, es werde nie wieder Krieg auf unserem Kontinent geben. Was für eine Illusion. Auch die desaströsen Folgen der ökologischen Katastrophen und ökonomischen Verwerfungen für unsere bedrohte Welt verleugnen wir, weil es bequemer ist, einfach so weiterzumachen wie gehabt. Vielleicht ist unsere Gegenwartsmusik gerade deshalb so langweilig, weil mit der abgesagten Zukunft die Basis für jede Form aktueller Zukunftsmusik entfallen ist?

Was mithin dringend nötig erscheint, vielleicht sogar überlebensnotwendig, wäre ein Anzapfen utopischer Ideen, eine Revitalisierung des futuristischen Potenzials, das unverändert musikalisch kodiert in Kraftwerks Musik schlummert. Blenden wir über in den Juli 2018, als sich auf dem Stuttgarter Jazzopen-Festival kaum weniger als eine wortwörtliche »Sternstunde« der deutschen Popmusik ereignete: Kraftwerk spielten zunächst ihr bewährtes Set. Als das Instrumental »Spacelab« an die Reihe kam, gab es jedoch eine Überraschung, nämlich eine Live-Schalte durch die ESA (European Space Agency) zur Internationalen Raumstation (ISS), dem heutigen Nachfolger des von Wernher von Braun ersonnenen Spacelab.

Im Erdorbit umkreiste darin der deutsche Astronaut Alexander Gerst unseren Planeten. Schwerelos schwebend im Columbus-Labor der Raumstation war Gerst auf der riesigen Leinwand von Kraftwerk zu sehen und zu hören: »Ich befinde mich gerade als einer von nur sechs Menschen im Weltraum, auf dem Außenposten der Menschheit, der Internationalen Raumstation, in vierhundert Kilometer Höhe im absoluten Vakuum des Weltraums. Die ISS ist eine Mensch-Maschine – die komplexeste und wertvollste Maschine, die die Menschheit je gebaut hat. Über einhundert verschiedene Nationen arbeiten hier friedlich zusammen und erforschen Technologie, um in Zukunft über unsere Horizonte hinauszuwachsen«, erklärte Gerst.

Ralf Hütter lud den Kraftwerk-Fan ein, die Band live aus dem Weltraum zu begleiten, indem er sagte: »Lasst uns zusammen Zukunftsmusik machen.« Auf einem Tablet spielte Gerst eine elektronische Melodie, die aus dem Film Unheimliche Begegnung der dritten Art (1977) stammt. Darin landet ein außerirdisches Raumschiff auf der Erde, dessen Insassen just die aus fünf Tönen bestehende Melodie als interplanetarisches Friedenszeichen spielen. Gersts Musik ging dann nahtlos in Kraftwerks »Spacelab« über. Nach dem Ende des Tracks verabschiedete sich der Raumfahrer schließlich in Richtung Erde.

Kritiker mögen die Live-Schalte als reinen Publicity-Stunt brandmarken, aber nichtsdestotrotz war es eine starke Inszenierung, da Hütter das gemeinsame Musizieren zwischen Himmel und Erde unter den pathetischen Begriff der »Zukunftsmusik« stellte. Es erinnerte daran, wie prophetisch und innovativ Kraftwerks Loslösung von den Normen und Konventionen der Rockmusik einst war, also die Abkehr von einer »handgemachten« und daher vermeintlich »authentischen« Musik mit Gitarren und Drums. Der Wechsel zum Synthesizer und den anderen Musikmaschinen war nämlich für Hütter und Schneider keine Frage des Geschmacks, sondern der historischen Notwendigkeit.

Wie Hütter einst pointiert in einem Interview erklärte: »Für uns ist völlig klar, dass die Musik des 20. Jahrhunderts, der Neuzeit, nur auf einem Instrumentarium des 20. Jahrhunderts, der Neuzeit, gespielt werden kann. Man kann die Neuzeit nicht auf Gitarre darstellen. Die Gitarre ist ein Instrument aus dem Mittelalter. Die ganze Rockmusik ist für uns ganz archaisch. Die Musik der technisierten Welt lässt sich nur auf einem Instrumentarium der technisierten Welt darstellen.«[3] Kraftwerks Musik, so Hütter weiter, sei daher insofern »politisch«, als sie im Aufzeigen kommender Entwicklungen die Zukunft musikalisch antizipiere. Zukunftsmusik mithin.

Kaum entgangen wird dem Bürgersohn sein, dass dieser Begriff zugleich auf Richard Wagner verweist, der einmal erklärte, es sei nicht ausreichend, wenn Musik nur zeitgenössisch sei. Sie müsse vielmehr sich selbst und ihrer Zeit voraus sein. Die Aufgabe des Komponisten besteht daher nach Wagner darin, aus der Zukunft jene ästhetischen Formen abzurufen, die in der Gegenwart im Keim bereits vorhanden sind, aber noch nicht hörbar gemacht wurden. Darüber hinaus verstand Wagner seine Überlegungen zur Zukunft der Musik ebenso als politisch: Nur eine neue, befreite Gesellschaft kann die gänzlich neue, ungehörte, »unerhörte« Musik hervorbringen, als im Hier und Jetzt hörbare Vorboten kommender Dinge, die erst schrittweise sichtbar werden.

Derselbe antizipierende Gedanke findet sich in der Philosophie von Ernst Bloch. In Der Geist der Utopie (1923) betrachtet er Musik als einen Werkzeugkasten für utopisches Denken. Dementsprechend argumentiert Bloch, Musik dürfe nicht »auf die Vergangenheit bezogen, sondern muss von der Zukunft her beleuchtet werden: als Geist utopischen Grades«.[4] Bestimmte Musik kann daher, so Bloch, eine Art Heimweh nach einer besseren Zukunft wecken. Beschreibt dies nun nicht erstaunlich genau das Futuristische an der Soundästhetik von Kraftwerk? Analog zu ihren Krautrock-Zeitgenossen, aber mit anderen musikalischen Mitteln, gelang es ihnen, das die 68er-Generation kennzeichnende Bedürfnis nach Aufbruch in eine bessere Welt künstlerisch zu artikulieren.

In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre war eine derartige utopische Sehnsucht noch virulent in einer Gesellschaft, die von der politischen Aufbruchstimmung der späten 1960er geprägt war. Gemeinsam mit anderen Krautrock-Bands schafften es Kraftwerk, den Gefühlen der Befreiung, emanzipativen Hoffnungen und politischen Erwartungen, welche die zeitgenössischen Hörer hegten, eine neue musikalische Sprache zu verleihen. Wie die Langlebigkeit ihrer Musik beweist, ist ihr scheinbar zeitloser Klang heute noch in der Lage, diese utopische Wirkung zu erzielen. Ein künstlerischer Protest gegen die Schwere der Verhältnisse, aus denen wir nicht entkommen können.

Eine gewichtige Veränderung sollte dennoch nicht übersehen werden: Es kann kein Heimweh mehr geben nach einer Zukunft, die abgesagt wurde – nur noch Trauer und Nostalgie über deren Verlust. Wir sind Gefangene einer gnadenlosen Gegenwart, eines beständigen Jetzt-Gerade-Hier, das kein Außen, kein Anderes, kein tröstendes Kommendes mehr kennt.

»Wir sind aus Deutschland«

Ohne den immensen Erfolg in der englischsprachigen Welt und die oftmals fanatische Bewunderung, die Kraftwerk bis heute im Vereinigten Königreich und in den USA entgegengebracht wird – wie ich in meinen dreißig Jahren als Fremder unter Engländern immer wieder erleben durfte –, wäre die Gruppe nie zu dem geworden, was sie ist. Popularität erlangten Kraftwerk im anglophonen Raum insbesondere dadurch, dass sie ironisch mit ihrer deutschen Identität, oder vielmehr: teutonischen Klischees spielten. Dass sie prototypisch »deutsch« seien, wurde ihnen gleichfalls von heimischen Journalisten und Musikerkollegen bescheinigt. Nehmen wir etwa Michael Karoli, den Gitarristen von Can: »Kraftwerk waren sehr deutsch. Ich glaube, wir waren offener.«[5] Er bezieht sich hier zu Recht auf die Bereitschaft von Can, musikalische Inspirationen aus aller Herren Länder aufzunehmen.

Kraftwerk hingegen mieden weltmusikalische Einflüsse wie afrikanische Rhythmen oder ähnliche Inspirationsquellen, aus denen Can sich reichlich bedienten. Privat waren die Kraftwerker zwar begeisterte Anhänger der Beach Boys, von James Brown, Iggy and The Stooges oder The Doors, aber in ihrer Musik ging es nicht um die Imitation solcher Heroen. Im Gegenteil: »Wir haben einen teutonischen Rhythmus, richtig germanisch«,[6] behauptete Ralf Hütter einmal. Aber was soll das sein, ein »teutonischer Rhythmus«? Im Grunde ist es nicht mehr als ein Flirt mit Klischees, ein kalkuliertes Propaganda-Statement, mit dem man eine bestimmte Wahrnehmungsweise nahelegen wollte. Das gaben Hütter und Schneider sogar offen zu: »Wir kommen aus einem Land, das eine bestimmte Art von Vorstellungen hervorruft, eine Menge Klischees, also spielten wir dieses Spiel mit, verwandelten uns in diese Stereotypen.«[7]

Heute nennt man diese popmusikalische Strategie subversive Überidentifikation (man denke nur an Gangsta-Rap). Wie und inwiefern Kraftwerk also »typisch deutsch« sind, ist eine komplexe, kaum zu entwirrende Angelegenheit. In Interviews mit englischsprachigen Journalisten, vor allem zu Beginn ihrer Karriere, spielten sie gezielt auf das ihnen zugeschriebene Deutschtum an und luden damit wiederum zu Beschreibungen ein, die ihre Wahrnehmung als stereotypisch deutsch verstärkten. Der Journalist Christoph Dallach zum Beispiel bemerkte 2003 Hütter gegenüber: »Kraftwerk, mit Verlaub, gilt im Ausland als eine typisch deutsche Band: distanziert, kalt, perfektionistisch und hocheffektiv.« Hütter konterte elegant mit den Worten: »Sicher sind wir ein Produkt der Bundesrepublik Deutschland und der Nachkriegskultur, aber eigentlich hat das eher mit einer europäischen Identität zu tun.«[8]

In der deutschen Presse wird die Band bis heute mit Begriffen wie »minimal emotional, gefühllos und bürokratisch«[9] beschrieben, mit den Merkmalen »cool« und »kalt«[10] versehen. Oder man zieht gar militärische Vergleiche wie »der Mensch als Rakete, als teutonische Maschine«, weshalb Kraftwerk vermeintlich »entrückt und motorisiert«[11] daherkommen sollen. Britische und amerikanische Journalisten sind seit jeher ohnehin auf Stereotypen geeicht und nennen alle möglichen Eigenschaften, die ihnen als typisch deutsch gelten: »Der Sound von Kraftwerk ist präzise, effizient, emotional kalt und technologisch fortschrittlich«,[12] schreibt Alexis Petridis etwa. Mark Richardson weist in seiner Rezension des Livealbums Minimum-Maximum darauf hin, dass Kraftwerks Musik von einer »präzisen, ökonomischen Ästhetik«[13] geprägt ist. Und so weiter.

Kraftwerk haben immer betont, aus Deutschland zu kommen – jedoch nicht, weil sie Nationalisten wären. Weit gefehlt. Ihre Betonung des Deutschtums resultierte aus dem, nun ja, sehr deutschen Problem nationaler Identität nach der Nazi-Zeit. 1976 erklärte Hütter: »Es gibt eine ganze Generation in Deutschland, zwischen 30 und 50, die ihre eigene Identität verlor und die nie eine hatte.«[14] Er meinte selbstredend seine eigene: »Nach dem Krieg gab es eigentlich keine deutsche Kultur. Alle bauten ihre Häuser wieder auf und kauften sich ihre VWs. In den Clubs, als wir anfingen zu spielen, hörte man nie eine deutsche Platte, man schaltete das Radio ein und hörte nur angloamerikanische Musik, man ging ins Kino, und alle Filme waren italienisch und französisch. Das ist in Ordnung, aber wir brauchten unsere eigene kulturelle Identität.«[15]

Als Kraftwerk beschlossen, auf »Autobahn« in deutscher Sprache zu singen, kam diese Entscheidung einer politischen Geste gleich: Hütter und Schneider machten »aus ihrer Nationalität eine Tugend, anstatt sie unter einem angloamerikanischen Deckmantel zu verbergen«.[16] Anders als die Mehrheit ihrer krautrockenden Zeitgenossen, die sich entweder für einen englischen Bandnamen entschieden (wie Tangerine Dream), nicht-deutsche Sänger einsetzten (wie Can), auf Texte komplett verzichteten (wie Popol Vuh) oder einfach angloamerikanische Popmusik nachahmten, indem sie auf Englisch sangen. Indem Kraftwerk ihre eigene Sprache benutzten und ihre nationale Identität betonten, artikulierten sie »die Stimmung der deutschen Nachkriegsgeneration – es war an der Zeit, die deutsche Kultur aus den dunklen Schatten der jüngeren Geschichte herauszuholen und nach vorne zu gehen«.[17] Vorwärts, in eine unweigerlich bessere Zukunft, indem man die vielen Schrecken der jüngsten Vergangenheit hinter sich ließ.

Nationale Identität ist bis heute ein schwieriges Thema in Deutschland. Abgesehen von den historischen Erblasten Hitler und Holocaust, die zunehmend im Nebel der Geschichte verschwinden, scheint sich die Kluft zwischen West- und Ostdeutschen im Laufe der Jahrzehnte seit dem Mauerfall eher zu vertiefen. Der Aufschwung des Populismus rückt das Land weiter nach rechts, die neoliberale Ordnung lässt die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgehen, beständige Krisen spalten die Gesellschaft. Nationalismus ist dabei stets die einfachste Antwort auf komplexe Fragen.

Bornierte Linke wiederum wittern simplifizierend in allen, die ein differenziertes Verhältnis zu ihrer nationalen Herkunft haben, angebliche »Nazis«. Das gilt vor allem für die sogenannten »Antideutschen«, die bei der intellektuell ambitionierteren Auseinandersetzung mit Popmusik häufig vertreten sind. Kraftwerk gelten ihnen oft als Verkörperung all dessen, was an deutscher Musik falsch ist. Nehmen wir zum Beispiel Deutschpop halt’s Maul! von Frank Apunkt Schneider. Er vermutet, dass Kraftwerk heute nur deshalb als international einflussreiche Band anerkannt werden, weil damit in kolonialer Manier deutsche Anteile an der Popmusik Schwarzamerikas reklamiert werden konnten: »Mit Kraftwerk lassen sich endlich deutsche Popkolonien bilden: HipHop, Techno und House, die ohne UNS wahrscheinlich noch immer auf der Stufe von Dixieland wären.«[18]

In eine ähnliche Stoßrichtung, allerdings erheblich differenzierter argumentierend, geht die Forderung von Johannes Ullmaier, »der zunehmenden Vereinseitigung des Kraftwerk-Mythos zum germanischen Pop-Monument entgegenzuwirken«. Zumal er konstatiert, dass bei Kraftwerk »weder dem realen Deutschland noch einer dezidiert deutschen Identität oder Kulturtradition tragende Bedeutung zukommt – nicht den Schwarzwaldzwergen, Rheinschiffern oder Husumer Krabbenfischern, nicht Mannesmann, VW oder Krauss-Maffei Wegmann, und auch nicht Karl dem Großen, Leibniz, Goethe, Humboldt, Joseph Goebbels, der deutschen Teilung, der Gruppe 47, Willy Brandt oder Pegida«.[19]

Ullmaiers gegen den Strich gebürstete These, dass das Deutsche bei Kraftwerk keine Rolle spielt, vermag ein auffälliges Kuriosum zu erklären, nämlich dass die Band in vielen Darstellungen der Geschichte der (deutschen) Popmusik nicht vorkommt. So etwa bei Peter Wicke, ehemals Professor für populäre Musik an der Humboldt-Universität zu Berlin. In seiner Einführung Rock und Pop. Von Elvis Presley bis Lady Gaga (2011) finden Kraftwerk keine weitere Erwähnung außer dem Hinweis, dass die Gruppe in gewissem Maße die Entwicklung der Techno-Musik inspiriert habe. Oder nehmen wir die Musikwissenschaftlerin Friederike Wißmann: Mit akademischer Gründlichkeit seziert sie in ihrer Studie Deutsche Musik (2015) den Begriff einer spezifisch »deutschen Musik« und zeigt eine Traditionslinie von Bach bis Karlheinz Stockhausen und darüber hinaus auf. Popmusik interessiert sie nur am Rande. Zwar geht sie auf Rammstein ein, aber Kraftwerk werden auf mehr als 500 Seiten mit keinem Wort erwähnt.

Wie passt das zusammen mit der verbreiteten Wahrnehmung bzw. Selbstzuschreibung von Kraftwerk als spezifisch und dezidiert deutsch? Und wie deutsch, wenn überhaupt, sind Kraftwerk denn nun? Auch darauf lässt sich eine Antwort geben, die wieder auf etwas typisch Deutsches abhebt: Deutschsein nämlich bedeutet, zumindest unter den etwas gebildeteren Schichten, sich zugleich als Europäer zu fühlen. Deutsche und europäische Identität stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig. Kraftwerk sind ein perfektes Beispiel dafür: Trans Europa Express liefert den offensichtlichsten Anhaltspunkt für den inhärenten Kosmopolitismus, der das Werk und die Haltung von Hütter und Schneider bestimmt.

Aber es steckt mehr dahinter. Beim Übergang von Autobahn zum bislang letzten Studioalbum, Tour de France von 2003, vollzieht sich ein schrittweises Verschwinden der deutschen Sprache. Sie wird durch Idiome von Französisch über Spanisch bis hin zu Russisch ersetzt. Kraftwerk sind, eigentlich und immer schon, eine europäische Band. Oder sollte man nicht gleich sagen: eine kosmopolitische Band? Ihr Kosmopolitismus spiegelt sich nämlich in den bedeutenden Einflüssen von außerhalb des deutschen Kulturraums: russischer Suprematismus, US-amerikanische Pop Art, italienischer Futurismus, französische Fahrradkultur und so weiter.

Ihre Kombination unterschiedlicher künstlerischer Traditionen findet eine Parallele in der Synthese verschiedener Kunstformen im popkulturellen Gesamtkunstwerk, das die Band darstellt. Das Konzept des Gesamtkunstwerks ist wiederum genuin deutsch, von Richard Wagners Revolutionierung der Opernform bis zur Reformierung des Theaters während der Weimarer Zeit durch den Theaterintendanten und Regisseur Erwin Piscator und andere, von deren Bühnenkonzeptionen Kraftwerk sich unverkennbar inspirieren ließen. Doch dazu später mehr. Hören wir abschließend Ralf Hütter, der 2006 betonte: »Die Ideen, die sich in unserer Arbeit widerspiegeln, sind sowohl Internationalität als auch die Vermischung verschiedener Kunstformen. Es ist die Idee, dass man nicht zwischen Tanz hier und Architektur dort und Malerei dort trennt. Wir machen alles, und die Verbindung von Kunst und Technik war von Anfang an das Kraftwerk.«[20]

In Düsseldorf am Rhein

Die Identifikation mit der politischen Vision eines friedlich vereinten Europas war eine Möglichkeit, mit dem Problem des Deutschseins nach dem Faschismus umzugehen. Eine Identifikation mit den lokalen Traditionen war ein weiterer Weg. Sowohl Hütter als auch Schneider haben sich zu ihren regionalen Wurzeln im Rheinland bekannt und sind nie aus ihrer Heimatregion weggezogen.

Aufgrund der Kohlevorkommen war das Rhein-Ruhr-Gebiet im 20. Jahrhundert stark industrialisiert und wurde besonders für die schwere Stahlindustrie bekannt, die die Region zu einem Motor deutscher Wirtschaftsmacht machte. Wie kaum eine andere Gegend Deutschlands stand das Rhein-Ruhr-Gebiet für das sogenannte »Wirtschaftswunder« eines schnellen ökonomischen Aufstiegs nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs.

Amerikanische und britische Bomberangriffe hatten Köln bis zum Kriegsende im Grunde ausradiert und Düsseldorf weitgehend zerstört. Als Deutschland in vier Zonen aufgeteilt wurde, fiel das Rheinland unter britische Militärbesatzung. Im Jahr 1949 wurde als neue (provisorische) Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland Bonn am Rhein mit seinen gut 100 000 Einwohnern, nur etwa dreißig Kilometer von Köln entfernt, ausgewählt. Zum ersten deutschen Bundeskanzler der BRD wurde der konservative und strikt katholische Konrad Adenauer gewählt, der bis zu seiner Absetzung durch die Nazis im Jahr 1933 Oberbürgermeister von Köln gewesen war.

Köln repräsentierte in mancher Hinsicht das geistige und kulturelle Zentrum des neu gegründeten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen (NRW), mit dem beeindruckenden Kölner Dom als architektonische Machtzentrale des rheinischen Katholizismus (der sich in den letzten Jahren aufgrund seiner indiskutablen Vertuschung des massenhaften sexuellen Missbrauchs durch Priester desavouiert hat), dem kollektiven Wahnsinn des Kölner Karnevals als markanteste Ausprägung des anarchistischen Zuges rheinischer Volksseele und dem Hauptsitz des Westdeutschen Rundfunks (WDR) als mediales Zentrum. Zur Landeshauptstadt aber wurde der Regionalrivale Düsseldorf ernannt, weshalb die beiden Metropolen auch heute noch in einem (mehr oder weniger freundschaftlichen) Wettbewerb zueinander stehen.

Das zeigt sich exemplarisch an dem Streit über die Frage, welche Gruppe für den Krautrock am wichtigsten war: Can oder Kraftwerk? (Wie mein Urteil dazu lautet, muss hier wohl nicht eigens betont werden.) Zwar kann Köln mit einer Band wie BAP oder dem grandiosen Electronica-Label Kompakt punkten. Aber wenn es um den Aufschwung der deutschen Popmusik ab den siebziger Jahren geht, kommt die Domstadt nicht an Düsseldorf heran. Die Geburtsstätte der Maschinen-Musik avancierte durch diesen von Kraftwerk ausgelösten Impuls zur »Hauptstadt der elektronischen Musik« in Deutschland. Wie und warum es dazu kam, hat der Musiker Rudi Esch, ehemals Bassist der Düsseldorfer Industrial-Band Die Krupps, überzeugend in seiner Oral History Electri_City. Elektronische Musik aus Düsseldorf (2014) dargelegt.

Neben Kraftwerk samt deren Ablegern Neu! und La Düsseldorf haben Bands wie Deutsch Amerikanische Freundschaft (DAF), Der Plan, Die Krupps, Propaganda oder Rheingold die Stadt in den achtziger Jahren zum Mekka der elektronischen Klänge gemacht.

Dass Düsseldorf zur Landeshauptstadt wurde, kam nicht von ungefähr. Die Stadt verkörperte Kommerz, Geld, Macht. Bereits im Kaiserreich entwickelte sie sich im Zuge der Hochindustrialisierung zu dem Ort, an dem die wirtschaftlichen Gewinne des Ruhrgebiets mithilfe der Banken und der Börse verwaltet wurden. Nach dem Krieg setzte sich diese Entwicklung durch den Aufschwung im Wirtschaftswunder fort, wobei die Messestadt Düsseldorf zum Sitz vieler börsennotierter Unternehmen sowie zum umsatzstärksten deutschen Standort für Werbung, Wirtschaftsprüfung und Mode wurde.

Hütter und Schneider kamen somit aus einer Region, die dank florierenden Gewerbes und prosperierender Industrie zum neuen politischen Machtzentrum Deutschlands aufgestiegen war. Die wohlhabenden Verhältnisse, in denen beide aufwuchsen, waren darauf zurückzuführen, dass ihre Eltern von dieser wirtschaftlichen Entwicklung profitieren konnten. Ohne den großbürgerlichen Bildungshintergrund von Hütter und Schneider und ohne ihre beträchtlichen Finanzmittel zur Anschaffung der teuren elektronischen Musikgeräte wären Kraftwerk also nie zu der Band geworden, die wir heute kennen. Oder nehmen wir die Infrastruktur: Nordrhein-Westfalen war bei seiner Gründung eines der größten und bevölkerungsreichsten Bundesländer mit einem dichten Netz von Autobahnen, das Städte wie Dortmund, Essen, Bochum oder Duisburg miteinander verband. »Autobahn« war auch in diesem Sinne eine Form von Heimatmusik.

In seinem überdrehten Drehbuch Am Diskö mit Kraftwerk aus dem Jahr 1978 dichtet der britische Autor und Filmemacher Chris Petit dem Kraftwerk-Duo die Aussage an: »Wir sind völlig isoliert, weil Düsseldorf eine Stadt der Büros ist, das bürokratische Zentrum der deutschen Industrie.«[21] Nun, ganz so war es nicht, aber es stimmt völlig, dass Düsseldorf eher eine Stadt der Büros, Agenturen und Geschäfte ist als ein Ort voller Fabriken und Zechen. In einer seiner vielen mit Vorsicht zu genießenden Aussagen behauptete Hütter einmal: »Wir arbeiten viel. Wir improvisieren und schaffen neue Stücke. Die sehr saubere Atmosphäre der Stadt regt uns immer noch an.«[22]

Düsseldorf diente außerdem als Verwaltungsstützpunkt der britischen Armee. Die langfristige Präsenz britischer Truppen hinterließ zwangsläufig Spuren in der Kultur der Stadt, da die Armee ihre eigene Infrastruktur für die Soldaten mitbrachte. Englische Geschäfte in Düsseldorf versorgten die Truppen, deren Familien und Besucher aus Großbritannien mit Ale und Stout. Wichtiger aber war, dass die Armee über einen eigenen Radiosender verfügte: Im British Forces Broadcasting Service (BFBS) spielten britische DJs die ganze Zeit Musik, die nicht unbedingt in Plattenläden erhältlich, geschweige denn in deutschen Radioprogrammen zu hören war.

Für eine junge deutsche Generation, die sich gegen die konservativen Werte der Adenauer-Regierung und die herrschende Elite wandte, welche regelmäßig ein Auge zudrückte, wenn ehemalige Nazis ihre Karrieren in führenden Positionen der Gesellschaft unbehelligt fortsetzten, wurde englischsprachige Popmusik zu einem Mittel des Protests und der Rebellion. Es genügte, Elvis zu hören, um Eltern, Lehrer und Nachbarn zu provozieren, die konservativer, um nicht zu sagen reaktionärer Musik wie dem Schlager anhingen. Das Eintauchen in angloamerikanische Popmusik schien ein geeignetes Mittel zu sein, um sich gegen ein System aufzulehnen, in dem nationalsozialistisches Gedankengut bei Polizei, Justiz und Bildungseinrichtungen fortleben konnte. Popmusik als eine Form der Entnazifizierung.

Hütter und Schneider gehörten allerdings zu der Gruppe von Jugendlichen, die damit unzufrieden waren, dass die Nachkriegsgeneration keine eigene Kultur besaß, sondern angloamerikanische Vorbilder imitierte. Sie wollten vielmehr eine eigenständige Musik, um eine neue Nationalidentität auszudrücken, die die von den ehemaligen Nazis und vom christlichen Konservatismus propagierten Werte ablehnte. Eine solche Kultur musste zwangsläufig von Grund auf neu geschaffen werden, gleichsam als nachträglicher Anschluss an die große Tradition der Moderne im Deutschland der Weimarer Republik. Und so wurde der Krautrock geboren …

Offizielles Bühnenfoto. (Phonogram/Archiv Rüdiger Ladwig)

Anders als viele Mitstreiter sahen Hütter und Schneider die Notwendigkeit, ihre Vision einer authentischen deutschen Musik in ihrem regionalen Umfeld und ihren Traditionen zu verankern. »Volksmusik aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet«,[23] wie Florian Schneider es formulierte. Hütter präzisiert: »Country-Musik zum Beispiel steht für ein Lebensgefühl, das nach Texas gehört. Diese Musik hat aber nichts mit uns in Düsseldorf zu tun. Wir haben unsere Musik immer als spezifisch industrielle Musik verstanden. Und damit auch als Volksmusik.«[24] Als »Heimatklänge« also, wie der Titel eines Stücks auf dem Album Ralf & Florian aus dem Jahr 1973 lautet.

Wie sich wohl von selbst versteht, darf der Begriff »Volksmusik« keinesfalls nationalistisch verstanden werden. Es ist entscheidend, dass er angewandt auf die Musik von Kraftwerk eine vielschichtige Identität widerspiegelte. Auf der ersten Ebene stand der Begriff für eine starke regionale Identität: Düsseldorf und die industrialisierte Rhein-Ruhr-Region als ihre unmittelbare Heimat. Auf der nächsten Ebene repräsentierte er ihre nationale Identität als Deutsche (die das abgelehnte historische Erbe des Faschismus inkludierte). Schließlich verwies er auf ihre europäische und in einem erweiterten Sinne internationalistische Identität, also das, was man früher »Weltbürgertum« nannte.

»Industrielle Volksmusik«

Wir kennen ihn schon, den eigentümlichen Konzeptbegriff, den Hütter und Schneider verwenden, um ihre musikalische Vision zu beschreiben: »Unsere Musik ist elektronisch, aber wir betrachten sie als eine Form der Volksmusik aus dem deutschen Industriegebiet – industrielle Volksmusik. Wir sind fasziniert von dem, was wir um uns herum sehen, und wir versuchen, die industrielle Umgebung in unsere Musik einzubeziehen.«[25] So prägnant der Begriff ist, so leicht gibt er aus heutiger Perspektive Anlass zu Missverständnissen, nicht zuletzt, da er sich keineswegs auf die etablierten Genres des Industrial und der Volksmusik bezieht.

Einen guten Einblick in das, was damit gemeint ist, vermittelt Wolfgang Flürs Erklärung: »Wir wollten einen sehr deutschen Stil moderner Popmusik schaffen, der auf unsere romantischen Wurzeln und volkstümlichen Traditionen zurückgreift. Das alles in starker Wechselwirkung mit technischen Themen, modernen Instrumenten und unserer unverwechselbaren, selbstbewussten Haltung. Das war unser Credo.«[26] Gemeint sind Stücke wie »Tanzmusik«, »Morgenspaziergang« oder »Franz Schubert«, in denen Kraftwerk romantische Melodien sowie die deutsche Tradition der Programmmusik mit (meist) elektronischen Mitteln neu interpretieren.

Wichtiger als Bezüge zur deutschen Tradition ist jedoch, was Kraftwerks »industrielle Volksmusik« ausschließt: Sie verweigerte sich den damals vorherrschenden amerikanischen Traditionen von Blues, Jazz und Rock. Hören wir nochmals Hütter dazu, was genau mit »industriell« gemeint ist: »Es hat uns immer interessiert, industrielle Musik zu machen. Fließbandmusik. Produktionsprozesse, die uns in der industriellen Welt überall umgeben.«[27] Diese Definition verbindet die Düsseldorfer Musik von Kraftwerk augenscheinlich mit der Musiktradition von Detroit: eine weitere Stadt, die durch die starke Industrialisierung geprägt war und deren Musikstile – von Motown bis Techno – als künstlerische Ableitungen von technologischen Prozessen entstanden. »Industriell« bezieht sich bei Kraftwerk also zunächst auf den metallisch-repetitiven Lärm, der die industrielle Produktion am Fließband begleitet (nicht dass die Bürgersöhne Hütter und Schneider von dieser proletarischen Realität eine Ahnung gehabt hätten). Oder genereller gesagt: auf eine Zivilisation, die auf Technologie und dem Einsatz von Maschinen basiert, weshalb Kraftwerk solche massenkulturellen Technologien wie Radio oder massenproduzierte Konsumprodukte wie Automobile und Computer thematisierten. Mensch-Maschinen-Musik eben.

Durchaus impliziert dabei ist die modernistische Vorstellung einer zeitgenössischen Musikästhetik, der zufolge Lärm und monotone Repetition schön sein können. Insofern bestehen gewisse Brücken zum frühen Industrial, wie ihn Throbbing Gristle im heruntergekommenen Londoner Stadtteil Hackney oder Cabaret Voltaire im postindustriellen Sheffield entwickelten. Man sollte diese Verbindungen aber nicht überbetonen; Kraftwerk kamen nicht nur deutlich zuerst, ihre Zielvorstellung war zudem das (typisch deutsche?) Ideal von Klangflächen, die glatt, sauber, poliert waren. Ganz im Gegensatz zu britischem Industrial, der Maschinen benutzte, um dem Abstoßenden, Konfrontativen ein dezidiert hässliches Klanggesicht zu geben. Ein, um es so zu sagen, organischer Sound, der Gestank, Verwesung, eklige Körperflüssigkeiten zu evozieren suchte.

Ebenso ist bei Kraftwerk der Volksmusik-Begriff keineswegs kurzschlüssig mit »volkstümlicher Musik« zu verwechseln. Zwar gibt es durchaus Anklänge an musikalische Traditionslinien, wie von Flür erläutert. Doch geht es Kraftwerk weder um jene Musik, für die Lieder wie »Ännchen von Tharau« oder »Am Brunnen vor dem Tore« stehen, noch um populäre Schlager wie »Lili Marleen« oder gar um die unerträgliche Musik aus dem Musikantenstadl. Ich möchte vielmehr vorschlagen, den Begriff in seine beiden Teile zu zerlegen und kurz die unselige Begriffsgeschichte des V-Worts zu ignorieren: Volksmusik, das ist die Musik des Volkes, vom Volk, für das Volk. Populäre Musik also. Oder um den in den sechziger und siebziger Jahren etablierten Begriff zu verwenden: Popmusik.

Ersetzen wir zudem, wie Hütter das in einigen Statements selbst getan hat – sei es aus Versehen, sei es aus Kalkül –, »industriell« mit »elektronisch«, dann landen wir bei einer Übersetzung, die aus »industrielle Volksmusik« die ungleich geläufigere Fügung »populäre elektronische Musik« macht. So weit, so gut. Aber drehen wir das Rädchen der Begriffsinterpretation noch etwas weiter: »Industrielle Volksmusik« meint Kraftwerks originäre Art, eine regionale Musiktradition in Deutschland neu zu entwickeln, deren Originalität sie von den dominierenden angloamerikanischen Kultureinflüssen unterschied, welche das Nachkriegsdeutschland prägten. Damit nicht genug: Der Begriff sollte außerdem ein künstlerisches Territorium für die elektronische Popmusik abstecken, die sich als Gegenstück zur akademischen Musik mit elektronischen Mitteln verstand, die Karlheinz Stockhausen oder andere »ernste« Komponisten entwickelt hatten.

Und nicht zuletzt wollten Kraftwerk in Anlehnung an die ursprüngliche demokratische Natur der populären Musik (bevor sie konformistisch wurde und sich in ein Werkzeug der globalisierten Kulturindustrie verwandelte) mit ihrer »industriellen Volksmusik« ein künstlerisches Vehikel zur politischen Emanzipation sein. Zukunftsmusik, utopische Musik, das musikalische Versprechen, dass alles auch anders, besser sein könnte. »Tomorrow belongs to those who can hear it coming«, lautete der plakatierte Werbespruch für David Bowies Album Heroes. Bei Kraftwerk wiederum heißt es im italienischen Textteil von »Electric Cafe« kurz und prägnant: »Musica elettronica / Arte politica«.

Musik als Kunstkonzept

Beginnend mit Autobahn veröffentlichten Kraftwerk ab 1974 ausschließlich Konzeptalben – vielleicht ein offensichtlicher Punkt, aber durchaus entscheidend, um die künstlerische Absicht der Band zu verstehen. Hier ist noch eines der programmatischen Statements von Hütter, die Kraftwerk eine einzigartige Identität im Kontext der Popmusik sichern wollen: »Wir sind keine Musiker, wir sind eher Wissenschaftler«, behauptet er. »Kraftwerk sind keine Akkorde und Zahlen, sondern ein Konzept, um Ideen maximal zu verwirklichen. Die Ideen kommen uns, während wir arbeiten.«[28] Definiert sich die Gruppe aber selbst als Konzept, dann ist es wenig überraschend, dass das Format des Konzeptalbums zur Hauptform des künstlerischen Schaffens wird.

Der Konzeptkunst-Ansatz von Kraftwerk galt nicht nur für ihre Alben, sondern im Grunde für alles. Und das war in der Tat einzigartig. Es fing bereits mit der konzeptionellen Entscheidung an, Kraftwerk nach außen als einheitliche, anonyme Gruppe von »Musikarbeitern« zu präsentieren. »Der ganze Ego-Aspekt der Popmusik ist langweilig«, erklärt Hütter dazu, »das interessiert uns nicht.«[29] Anonyme Gruppenidentität ersetzte das Konzept des Rock, in dem sich Individuen als Identifikationsflächen anbieten: der sexy Frontmann, der intellektuelle Bassist, der verträumte Keyboarder, der wilde Drummer.

Der erste Schritt dazu war, radikal mit den Konventionen des Rock zu brechen. Karl Bartos erinnert sich so: »Das ursprüngliche Image kam in der Tat von Ralf. Er wollte verdeutlichen, dass sich Kraftwerk von jeder anderen Pop- oder Rockgruppe unterscheidet, und er wollte dieses Image eines Streicherensembles.«[30] In Anzug und Krawatte und mit einer ironischen Brosche, die das seriöse Styling untergräbt, wie etwa auf dem Cover von Trans Europa Express zu besichtigen, schufen Hütter und Schneider eine künstlerische Persona, die sich deutlich vom Standard-Image einer Popgruppe abhob. Zugleich war das Konzept auch ein Deckmantel, hinter dem die Bandmitglieder sich und ihr Privatleben verstecken konnten.

Denn im Gegensatz zu den meisten Rockstars wollten Hütter und Schneider nicht, wie es im Text von »Spiegelsaal« heißt, »ihr Leben im Spiegelglas« der Medien leben. Der vielschichtige Song über Identitätsverlust und -wiedergewinnung aus dem Jahr 1977 bezieht sich unter anderem auf den Narziss-Mythos, ist aber zugleich eine Reflexion über den Popstar-Status. Der »größte Star«, von dem immer wieder die Rede ist, kann kaum ein anderer sein als David Bowie:

Er schuf die Person, die er sein wollte

Und wechselte in eine neue Persönlichkeit

Im Gegensatz zu ihm scheuten sich Kraftwerk davor, zu einem Objekt des öffentlichen Interesses zu werden. Bowies Fatum erschien als abschreckendes Beispiel:

Der Künstler lebt im Spiegel

Mit dem Echo seiner selbst

Sogar die größten Stars

Verändern sich im Spiegelglas

Hütter und Schneider wollten sich offenkundig selbst treu bleiben. Wohl auch aus diesem Grund begannen sie, die Roboter-Attrappen als Doppelgänger einzusetzen, um ihre Privatsphäre zu schützen. Außerdem entkamen sie so der lästigen Pflicht, für Pressefotos zu posieren. Das letzte Foto, das von der Band gemacht wurde, war das Gruppenporträt für das Cover von Die Mensch-Maschine aus dem Jahr 1978, auf dem sie schon verfremdet wie humanoide Roboter aussahen. Ab Computerwelt von 1981 ersetzten sich Kraftwerk durch ihre Roboter-Doppelgänger-Puppen (und noch später durch eine nostalgisch wirkende Grafik, eine animierte Gruppe von Pixeln).

Obwohl als Ralf, Karl, Wolfgang und Florian (bzw. Hütter, Bartos, Flür und Schneider) erkennbar, projizierten die Roboter-Attrappen in konzeptioneller Hinsicht die corporate identity der Gruppe. Dieses Vorgehen besaß mehrere Vorteile: Es »enthumanisierte« die Musiker und lenkte die Neugier der Fans weg von den Privatmenschen, errichtete eine Mauer der Mystifikation und erleichterte nicht zuletzt den Austausch der Mitglieder, nachdem 1987 mit Flür und dann 1991 mit Bartos erst die Hälfte der »klassischen Besetzung« und mit Florian Schneider (offiziell 2009) noch die Hälfte der Originalbesetzung ausgestiegen war. Gestern wie heute, seit Autobahn und also fünfzig Jahren, sind Kraftwerk schlichtweg vier »Musikarbeiter«, deren Aufgabe es ist, die Musikmaschinen zu bedienen. Diese Band ist mehr als die Summe ihrer Teile, denn sie existiert als Konzept. Einfach, genial.

Wobei die Praxis meist schwieriger ist als die Theorie. Natürlich steht und fällt alles mit Ralf Hütter, der das Konzeptkunstwerk Kraftwerk nach dem Ausstieg von Schneider allein weitergeführt hat. Nicht anders als bei den Rolling Stones, U2 oder sonst einer klassischen Rockband ist er der unverzichtbare Frontmann und Sänger, Stimme und Gesicht der Band. Ohne ihn kein Kraftwerk. Aber vergessen wir schnell wieder die dröge Realität, ist doch der ganze Punkt von Kunst die Überschreitung der Wirklichkeit, um eine symbolische Ordnung, ein künstlerisches Konstrukt an deren Stelle zu setzen, weil just dies uns inspiriert, die Beschränkungen des Alltäglichen zu überwinden.

Eigentlich wissen es alle: Popmusik ist Lug und Betrug. Multimillionäre verkaufen ihren Fans die hanebüchensten Schwindelgeschichten. Dass sie unverändert in der working class verwurzelt sind (Springsteen, Lennon u. a.), Inkarnationen des Satans darstellen (Marilyn Manson) oder gefährliche Verbrecher (alle Gangsta-Rapper) bzw. moralisch integre Welterlöser (Bono) sind und so weiter. Authentisch eben.

Dann doch lieber Kraftwerk, die ein konzeptuell nahezu wasserdichtes Image als Mensch-Maschinen anbieten, wie wir noch sehen werden. Wobei zugleich stets unübersehbar bleibt, dass sie ihr Roboter-Sein selbstredend nur spielen. Auch das verbindet Kraftwerk mit Bowie: Niemand hat geglaubt, dass Ziggy Stardust tatsächlich ein Außerirdischer ist, der seine Fans durch Glamrock von den Fährnissen der restriktiven sozialen Vorschriften der englischen Gesellschaft seiner Zeit zu erlösen trachtete. Das Emanzipationsangebot von Bowies Persona war so zugkräftig, weil er etwas Authentisches im Kleide, oder sagen wir besser: im Kostüm ausgestellter Inauthentizität präsentierte. Bewies doch die Existenz von Ziggy Stardust schlagkräftig, dass jeder werden konnte, was man selbst sein wollte – anstatt zu dem, was Gesellschaft, Eltern, Schule von einem erwarteten.

Alltagsmusik, Minimalismus, Männlichkeit

»Die Welt um uns herum ist für uns ein komplettes Orchester«, so Hütter. »Die Geräusche von Autos, Kaffeemaschinen und Staubsaugern können wir für unsere Musik verwenden. Das ist wie ein Film. Wir sind die Drehbuchautoren, die mit ihren Ohren alles aufnehmen und neue Bilder einbringen. Ich höre keine Musik von anderen Bands mehr. Zu Hause mache ich keine Musik mehr an. Das brauche ich nicht. Ich kann meine Musik denken.«[31] Solche Aussagen, und es werden noch viele dieser gezierten Manier folgen, verraten das ausgeprägte Bemühen, ein originelles Image für Kraftwerk zu konstruieren. Eine einzigartige Identität, einen weitererzählbaren Mythos.

Ein zentraler Gedanke dabei ist das Konzept der Alltagsmusik: »Wir möchten in unserer Musik die Dinge darstellen, die wir tagtäglich tun, also alltägliche Technik, wie Autos, Züge und andere von Menschen gesteuerte Maschinen.«[32] Der avantgardistische Anspruch, das Triviale und bislang Vernachlässigte sowie Übersehene zur Kunst zu erheben, bildet mithin den Hintergrund für das Konzept der Alltagsmusik. »Schriftsteller und Dichter spielen mit Worten und Sätzen, Maler mit Farben und Blickwinkeln und Kraftwerk mit Geräuschen«,[33] lautet eine andere künstlerische Selbstdefinition Hütters.

In vielen Fällen beziehen sich die Klänge und Geräusche auf Kraftwerk-Platten in der Tat direkt auf alltägliche Quellen wie die Hupe eines Autos, das schwere Atmen eines Menschen, das Wählgeräusch eines analogen Telefonapparats, das Surren einer Fahrradkette oder auch das Aufeinanderprallen von Metall auf Metall. Solche Geräusche entsprechen der musikalischen Onomatopoesie in der klassischen Musik. Man denke etwa an das nachgeahmte Glucksen der Moldau in der 1875 uraufgeführten gleichnamigen sinfonischen Dichtung von Bedřich Smetana. Kraftwerk spielen insofern eine Musik, die dem (post-)industriellen Zeitalter des 20. und dem digitalen Zeitalter des 21. Jahrhunderts angemessen ist.

Andere gern wiederholte Zitate zur Erklärung ihres künstlerischen Ziels und ihrer musikalischen Ambitionen besagen, dass Kraftwerk »Mensch und Maschine in einer freundschaftlichen Partnerschaft des musikalischen Schaffens zusammenbringen« wollen. Oder prägnanter: »Wir sind weder Künstler noch Musiker. Wir sind Arbeiter.«[34] Wie wahr. Denn der Begriff der Mensch-Maschine und das Selbstverständnis als Musikarbeiter repräsentieren den wichtigsten Aspekt der Kraftwerk’schen Konzeptkunst. Sie bedürfen einer breiteren Diskussion, die im vierten Kapitel folgen wird.



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