Wir und die Flüchtlinge - Gerald Knaus - E-Book

Wir und die Flüchtlinge E-Book

Gerald Knaus

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Beschreibung

Während Migration immer öfter als politisches Druckmittel eingesetzt wird – etwa bei der russischen Invasion der Ukraine oder im Syrien-Krieg – wird bei größeren Fluchtbewegungen in Europa rasch die Frage aufgeworfen: Gefährdet irreguläre Migration die Demokratie? Der Migrationsexperte Gerald Knaus zeigt, wie sehr Flucht auch unsere Werte infrage stellt: Ist es moralisch, zwischen Flüchtlingen und anderen Migranten zu unterscheiden? Oder unmoralisch, es nicht zu tun? Sind wir besonders empathisch, weil Europa in den letzten Jahren weltweit am meisten Geflüchtete aufgenommen hat? Oder Heuchler, weil an Europas Grenzen mehr Menschen sterben als irgendwo anders? Über Flucht zu sprechen heißt, auch über Moral, Politik und die Natur des Menschen zu sprechen. Zugleich zeigt Knaus auf, wie Lösungen für humane Grenzen und mehr Schutz für Flüchtende aussehen.

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Gerald Knaus

Wir und die Flüchtlinge

Aus der Reihe »Auf dem Punkt«

Herausgegeben von Hannes Androsch

Vorwort des Herausgebers

1Das Ende der Scham

2Österreich als Vorbild?

3Zypern, Deutschland, Afrika

4Eine realistische Utopie

Annex

Endnoten

Der Autor

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Wien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Binnen 50 Jahren vervierfachte sich die Bevölkerung, als Menschen aus allen Teilen der Habsburgermonarchie in die Hauptstadt des Reiches kamen. Hintergrund war der Prozess der Industrialisierung, der in ganz Europa große Wanderungsbewegungen auslöste. Beispiel also einer massiven Migration.

Migrations- bzw. große Bevölkerungsbewegungen kennzeichnen die Menschheitsgeschichte. Wenngleich die Gründe hierfür vielfältig waren, gehen Forscher heute davon aus, dass sie häufig auch durch massive Veränderungen des Klimas ausgelöst wurden.

Die heutigen Debatten um Migration, Flucht und Asyl werden demnach in einem zu engen Rahmen geführt: Es geht mehrheitlich um Grenzschutz, Schlepperwesen, Abschiebungen und Gewalt an den Grenzen, und dramatische Berichte bereiten eine Stimmungslage auf, aus der rechte und rechtsextreme Parteien politisches Kapital schlagen und mit Schlagwörtern wie »Bevölkerungsaustausch« oder »Umvolkung« Ängste schüren.

Grundsätzlich ist zwischen freiwilliger Bevölkerungsbewegung, wie sie immer schon vorkam – und die wir mit entsprechenden Maßnahmen zur Integration aus wirtschaftlichen Gründen auch brauchen – und den aus Not geflüchteten und folglich nach Asyl suchenden Menschen, die Hilfe brauchen, zu unterscheiden. Zu vermeiden gilt unkontrollierte Migration – eine Herausforderung. Dies eröffnet politischem Opportunismus und Populismus Tür und Tor. Inzwischen ist offensichtlich, dass die Schließung der Balkanroute nie stattgefunden hat und es an entsprechenden Maßnahmen fehlt. Große Worte und keine Taten!

Europa braucht eine grundlegende Neuausrichtung seiner Flüchtlingspolitik. Dazu gehört die Schaffung legaler Fluchtwege, aber auch die Formulierung von Angeboten zur Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern – Angebote, die es bis jetzt nicht gegeben hat.

Und Europa braucht endlich eine sinnvolle und geordnete Zuwanderungs- und humanitäre Flüchtlingspolitik mit hinreichenden Integrationsmaßnahmen anstelle populistischmartialischer Ankündigungen und praktischer Untätigkeit.

Dr. Hannes Androsch

1

Das Ende der Scham

Innenminister versprechen mehr Abschiebungen. Flüchtlingsorganisationen fordern mehr legale Aufnahme von Flüchtlingen. Europäische Gerichte verurteilen Menschenrechtsverletzungen an Europas Grenzen. Europäische Regierungen ignorieren diese Urteile. Seenotretterinnen und -retter suchen einen sicheren Hafen. Migranten ertrinken in großer Zahl im Mittelmeer.

Seit Jahren sind dies vertraute Nachrichten in der öffentlichen Diskussion über Migration, Asyl und Grenzen. Seit Jahren wird in der EU ergebnislos über einen neuen, großen Wurf in der Migrations- und Asylpolitik diskutiert. Seit Jahren drehen sich Debatten über Flucht scheinbar im Kreis.

Gleichzeitig ist in den letzten beiden Jahren Dramatisches passiert. Künftige Historikerinnen und Historiker könnten das Jahr 2021 als den Moment beschreiben, an dem sich Europas Demokratien von der Genfer Flüchtlingskonvention abwandten: Das internationale System des Flüchtlingsschutzes in Europa brach 70 Jahre, nachdem es in Genf entstanden war, in sich zusammen, ohne dass der europäischen Öffentlichkeit die Tragweite bewusst wurde. Und ohne, dass diejenigen, die das als Tragödie sahen, eine Antwort auf die Frage fanden, wie darauf zu reagieren sei.

Beginnen wir mit der Bestandsaufnahme. In den letzten Jahren sind unzählige Zeitungsartikel über Gewalt an den Grenzen der Europäischen Union in Kroatien, Griechenland und Polen erschienen. Seit 2021 erschienen unzählige Berichte in Qualitätsmedien über dramatische Ereignisse in und um Europa. Dabei geht es um schwere Menschenrechtsverletzungen und um das Verletzen der Menschenwürde als systematische Politik europäischer Demokratien.

So schrieb Der Spiegel im Oktober 2021 über Gewalt an der kroatischen Grenze:

»Durch das grüne Dickicht an der kroatisch-bosnischen Grenze dringt das Geräusch von harten Gegenständen, die auf Arme, Beine und Rücken knallen. Menschen schreien vor Schmerzen, sie stöhnen und wimmern.

Kräftige Männer in dunkler Uniform stehen an diesem heißen Junitag [2021] auf der kroatischen Seite der Grenzlinie. Sie prügeln auf Afghanen und Pakistaner ein, die gekommen sind, um in Europa um Asyl zu bitten …

Auf den Videos ist zu sehen, wie diese maskierten Männer 22 Flüchtlinge aus der EU hinausjagen. Sie treiben die Menschen zurück nach Bosnien und Herzegowina. Einer der Vermummten holt immer wieder mit seinem Schlagstock aus, lässt ihn auf die Beine der Menschen sausen, damit sie in den Grenzfluss stolpern, in dem das Wasser brusthoch steht. Zum Schluss hebt er drohend seinen Arm und ruft: ›Go! Go to Bosnia!‹«1

Im Dezember 2021 schrieb die New York Times über die Abschiebung eines Frontex-Übersetzers in die Türkei:

»Ein Dolmetscher der Europäischen Union behauptet, dass griechische Grenzschutzbeamte ihn im September [2021] für einen Asylbewerber hielten, ihn angriffen und ihn dann zusammen mit Dutzenden von Migranten über die Grenze in die Türkei zwangen.

Seine Behauptung ist für die griechischen Behörden besonders problematisch, weil er ein EU-Bürger ist, der von der EU-Grenzschutzagentur Frontex beschäftigt wird. Nach Angaben europäischer Beamter, die mit seinem Fall befasst sind, hat er der Agentur Beweise vorgelegt, die seine Behauptungen über Misshandlungen untermauern.

Die Europäische Union, die bei Misshandlungen von Migranten meist weggeschaut hat, sieht sich nun gezwungen, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. Er sagte, dass er und viele der Migranten, mit denen er festgenommen wurde, geschlagen und entkleidet wurden und dass die Polizei ihre Telefone, ihr Geld und ihre Dokumente beschlagnahmte. Seine Versuche, der Polizei mitzuteilen, wer er sei, seien mit Gelächter und Schlägen beantwortet worden, sagte er. Er sagte, er sei in ein abgelegenes Lagerhaus gebracht worden, wo er mit mindestens 100 anderen Personen, darunter Frauen und Kinder, festgehalten wurde. Dann wurden sie auf Schlauchboote gesetzt und über den Fluss Evros auf türkisches Gebiet gebracht.«2

Im Juni 2022 schrieb Der Spiegel über Söldner und Gewalt an der griechisch-türkischen Grenze:

»Die Wache von Neo Chimonio [in Griechenland], nur wenige Kilometer vom Evros [Grenzfluss zur Türkei] entfernt, ist unter Geflüchteten besonders berüchtigt. Ein Syrer, der auf den Tarnnamen ›Mike‹ hört, ist hier für die Rekrutierung neuer Gehilfen verantwortlich. Mike war in seiner Heimatstadt Homs in Schmuggel und Drogenhandel verstrickt, berichten mehrere Quellen, die Einsicht in die Polizeidatenbank nehmen konnten. Nun wirbt er Schutzsuchende für Pushbacks an. So berichten es drei von ihnen, die in Neo Chimonio unter ihm gearbeitet haben. Sie zahlten nach eigener Aussage bei einem Vermittlungsbüro in Istanbul rund 5000 Euro ein – dafür erhielten sie das Versprechen, nur kurz in der griechischen Polizeistation festgehalten zu werden … Die Geflüchteten beschreiben Mike als gewalttätig. ›Er schlug die Flüchtlinge vor den Pushbacks‹, sagt ein junger Syrer, der 45 Tage unter ihm arbeitete. ›Und er sagte uns, dass wir dasselbe tun sollen, damit die Griechen mit unserer Arbeit zufrieden sind.‹«3

Es sind schockierende Berichte, aus Kroatien und Griechenland, aus Polen und Libyen. Beamte in Uniform, die Migranten verprügeln. Grenzschützer, die Kinder ohne warme Kleider in die Kälte des letzten europäischen Urwaldes nach Belarus drängen. Behörden, die Verbrecher dafür bezahlen, Asylsuchenden Gewalt anzutun. Es sind aber auch schockierend vertraute Berichte. Jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, weiß, dass heute an den Außengrenzen der EU systematisch EU-Recht gebrochen und Menschenrechte verletzt werden.

Die europäische Öffentlichkeit ist im Begriff, sich an diese Nachrichten zu gewöhnen. So wie sich die Öffentlichkeit an regelmäßige Berichte über die vielen Toten auf dem Weg nach Europa zu gewöhnen scheint. Im Jahr 2021 starben oder verschwanden allein im Mittelmeer laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehr als 2.000 Menschen auf dem Weg nach Europa. Die europäische Außengrenze bleibt, von den Kanarischen Inseln im Atlantik über das zentrale Mittelmeer bis zum Urwald von Białowieża in Polen, die tödlichste Grenze der Welt. Doch Initiativen, das zu beenden, wurden in den letzten Jahren in der Europäischen Union keine mehr ergriffen.

Medien und blutige Grenzen – ein Drehbuch

Im April 2019 verbrachte die Journalistin Nicole Vögele einige Wochen in den Feldern an der bosnisch-kroatischen Grenze, um eine »lückenlose Beweisführung« der Pushbacks, der illegalen Rückführungen von Migranten, zu liefern und mit Opfern von Gewalt zu sprechen.4 Im Mai 2019 berichteten viele europäische Medien über Pushbacks an der kroatischen Grenze. Das Innenministerium in Zagreb wies alle Vorwürfe zurück, die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović erklärte, die kroatische Polizei habe mit Brutalität gegenüber Migranten nichts zu tun. Am 10. Juli 2019 sagte sie allerdings im Schweizer Fernsehen: »Illegale Pushbacks? Weshalb denken Sie, dass sie illegal sind? Wir reden über illegale Migranten, Leute, die illegal nach Kroatien kommen wollen. Die Polizei schickt sie zurück nach Bosnien-Herzegowina.«5 Dies waren die beiden häufigsten Reaktionen auf solche Berichte in den letzten Jahren: Es gibt keine Gewalt. Oder: Es gibt sie, aber sie ist im Namen der Grenzkontrolle alternativlos und daher gerechtfertigt.

Die europäische Außengrenze bleibt, von den Kanarischen Inseln im Atlantik über das zentrale Mittelmeer bis zum Urwald von Białowieża in Polen, die tödlichste Grenze der Welt.

Dass Gewalt und Rechtsverletzungen an Europas Grenzen so gut belegt sind, ist nicht selbstverständlich, sondern das Ergebnis einer enormen Anstrengung. In den letzten Jahren haben Medien aus ganz Europa zusammengearbeitet, um Gewalt an den EU-Außengrenzen zu dokumentieren. Im Oktober 2021 schrieb Der Spiegel, seine Journalisten hätten »mehr als acht Monate lang an den EU-Außengrenzen in Griechenland und Kroatien recherchiert – gemeinsam mit den europäischen Partnermedien Lighthouse Reports, SRF-Rundschau, ARD-Studio Wien, dem ARD-Magazin Monitor, Libération, Novosti, RTL Kroatien und Pointer.« Berichte dazu lesen sich wie das Drehbuch für einen Film:

»Die beteiligten Reporterinnen und Reporter legten sich selbst auf die Lauer, als Fischer verkleidet. Sie steuerten Drohnen über die Grenzgebiete und werteten Satellitenaufnahmen und Hunderte weitere Videos aus, die ihnen zugespielt wurden. Sie sprachen mit mehr als einem Dutzend Quellen in den Sicherheitsbehörden und verfolgten die digitalen Spuren der Männer, die mit ihren Masken und Schlagstöcken auf Instagram und Facebook posieren.«6

Tatsächlich sollten sich ein Drehbuchschreiber und eine Regisseurin dieser Geschichte annehmen und einen Film über Tatorte, dunkle Geheimnisse und über die Verantwortung, die Macht und die Grenze des Einflusses freier Medien drehen. Es wäre eine Erzählung über Journalistinnen und Journalisten, die angesichts der Geschichten, die sie aufdecken, immer fassungsloser werden. Und die sich zunehmend machtlos fühlen, als sie bemerken, dass selbst schockierende Berichte an der beschriebenen Politik nichts ändern.

Ein Film, basierend nur auf wahren Ereignissen.

Szene 1: Ayşes Flucht

Wir sind an der griechisch-türkischen Grenze, mit einem Blick von oben auf den oft unterschätzten, lebensgefährlichen Grenzfluss, den Evros. Dazu eingeblendet ein Datum: Mai 2019.

Wir sehen die 28-jährige Mathematiklehrerin Ayşe Erdoğan und ihre zwei Begleiter, die sich eines Morgens in der Nähe eines griechischen Dorfs verstecken. Die drei haben gerade erst den Fluss überwunden, sind aus der Türkei, wo Ayşe zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war, nach Griechenland geflohen. Der Spiegel recherchierte und beschrieb ihre Geschichte:

»Ayşe Erdoğan durfte bis zum Beginn ihrer Revisionsverhandlung das Gefängnis verlassen, allerdings nur unter der Auflage, im Land zu bleiben … Ayşe Erdoğan möchte einen Asylantrag stellen. Die Türkin will das Recht in Anspruch nehmen, das die Europäische Union jedem Menschen gewährt, der europäischen Boden erreicht. Zumindest in der Theorie.

›Wir sind politische Asylbewerber‹, sagt Ayşe Erdoğan in die Kamera. ›Wir fliehen vor türkischer Verfolgung. Wir verstecken uns in Nea Vyssa und haben Angst vor einem Pushback.‹ Sie schickt die Videos an ihren Bruder Ihsan, der zu diesem Zeitpunkt bereits in Athen ist. Ein Journalist wird sie später auf Twitter veröffentlichen, die griechische Zeitung Kathimerini über ihren Fall berichten. Ayşe Erdoğan schickt ihrem Bruder ihren Standort per WhatsApp. Außerdem schreibt sie E-Mails an griechische Menschenrechtsanwälte und an den Chef des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR … Noch am selben Tag wird Ayşe Erdoğan über den Evros zurück in die Türkei gebracht. Türkische Grenzbeamte greifen sie am nächsten Morgen um 8.10 Uhr auf, sperren sie ins Gefängnis. Am Tag darauf wird sie verurteilt, weil sie das Land illegal verlassen hat.«7

In Griechenland regierte damals noch der linke Premierminister Alexis Tsipras. Es folgen Originalaufnahmen: Wir sehen ihn, wie er im Parlament darüber spricht, wie wichtig es ist, Flüchtlinge menschlich zu behandeln. Wir sehen auch den Parteichef der damals wichtigsten Oppositionspartei, Kyriakos Mitsotakis, der der Regierung Tsipras Menschenrechtsverletzungen vorwirft und die Behandlung von Flüchtlingen in griechischen Aufnahmelagern kritisiert. Dann sehen wir, wie sich Mitsotakis im Juli 2019 über seinen Wahlsieg freut. Und nun, als neuer Premierminister, vor der Frage steht: Wie sollen sich griechische Grenzschützer verhalten?

Szene 2: Rechte auf dem Papier