Wir waren die Bunkerkinder - Walter Sohns - E-Book

Wir waren die Bunkerkinder E-Book

Walter Sohns

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Beschreibung

Walter Sohns erzählt in seiner Autobiografie aus dem Blickwinkel und in der Sprache eines Kindes das Leben seiner Familie im Aachen der Vorkriegszeit. Er schildert die allmählichen Veränderungen in den Lebensumständen durch den Einfluss der nationalsozialistischen Politik und dem sich entwickelnden Kriegsgeschehen. Vor den Augen des Kindes verändert sich das Gesicht seiner Heimatstadt. Stellvertretend für das, was viele Menschen in jener Zeit erleben mussten, steht die hier aufgezeichnete Kindheit, der früh die Unbekümmertheit genommen wurde, eine Kindheit im Zeichen von Bombenterror, von durchwachten Nächten im Bunker, Angst um die Angehörigen und schließlich dem Verlust all dessen, was Zuhause und Sicherheit bedeutet.

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Seitenzahl: 294

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Walter Sohns

Wir waren die Bunkerkinder

Erinnerungen an meine Kindheit im Zweiten Weltkrieg - Eine Autobiografie

Meyer & Meyer Fachverlag & Buchhandel GmbH

Inhaltsübersicht

... VORWORT ...... 1937 …... 1938 ...... 1939 ...... 1940 ...... 1941 ...... 1942 ...... 1943 ...... 1944 ...... 1945 ...... 1946 bis 1948 ...... Quellenangaben ...... Bildnachweis ...

Danksagung

Bedanken möchte ich mich bei all denjenigen, die mir Ermutigung und Unterstützung bei der Arbeit an meinem Buch zukommen ließen. Ohne sie wäre ich den manchmal schmerzhaften Weg der Erinnerung vielleicht nicht zu Ende gegangen.

Ich bedanke mich bei meiner Frau für ihre Geduld mit mir, bei den Mitarbeiterinnen des Stadtarchivs für ihre Unterstützung, bei Ricarda fürs Korrekturlesen und bei meiner Tochter Martina vor dem Esche für die liebevolle Überarbeitung meiner Textvorlage.

Walter Sohns

... VORWORT ...

Dieses Buch möchte ich meinen Kindern und Enkelkindern widmen. Ich habe versucht, aus dem Blickwinkel und in der Sprache eines Kindes, das ich einmal gewesen bin, viele der Ereignisse und Erlebnisse jener Zeit wiederaufleben zu lassen. Ohne schriftstellerische Ambitionen habe ich mich bemüht, den Alltag in einer Zeit zu beschreiben, die eigentlich unbeschreiblich ist. Es ist eine sehr persönliche Geschichte daraus geworden, ein Stück Familiengeschichte und eine Aufarbeitung meiner eigenen Erinnerungen. Ich würde mir wünschen, auf diese Weise dazu beitragen zu können, die Schrecken dieser Zeit nicht verblassen und in Vergessenheit geraten zu lassen. Nur wenn man Geschichte lebendig erhält, hat man vielleicht die Chance, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Dies ist es, was ich der nachfolgenden Generation wünsche: dass sich solche Zeiten niemals wiederholen mögen!

Aachen, im September 1995

... 1937 …

Meine Geschichte beginnt im Frühjahr des Jahres 1937. Von diesem Zeitpunkt an haben sich viele gute und schlechte Erinnerungen aus meiner Kindheit fest in mein Gedächtnis eingeprägt. Diese Erinnerungen sind bestimmt von den Ereignissen, die ich während der Zeit des Nationalsozialismus und des folgenschweren Zweiten Weltkriegs erlebte, der Zeit meiner Kindheit.

Erst vor wenigen Tagen, am Dienstag, den 23. März 1937, bin ich drei Jahre alt geworden. Wegen der schönen Geschenke finde ich Geburtstag und Weihnachten wunderbar. Die drei Kerzen auf der Geburtstagstorte habe ich noch mühelos mit einem Puster zum Erlöschen gebracht. Wir wohnen in einem großen Haus am Friedrich-Wilhelm-Platz 4, auf der dritten Etage und über Aachens größtem Filmtheater, dem UFA-Palast. Vom Fenster aus schaut man auf den Elisenbrunnen gleich gegenüber. So mitten im Herzen der Stadt ist immer etwas los, da genügt schon ein Blick aus dem Fenster, und es wird nie langweilig.

Zunächst will ich aber etwas über meine Familie erzählen. Allem vo­rangestellt muss ich sagen, dass ich ganz liebe und wundervolle Eltern habe. Mutti ist immer zu Hause, sie ist für den Haushalt und uns Kinder zuständig. Dass ich auch schon einen großen, zehnjährigen Bruder habe, – er heißt Gerhard – finde ich schön. Leider kann ich nicht allzu viel Zeit mit ihm verbringen, denn meistens ist er unterwegs. Morgens geht er zur Schule und nachmittags macht er Hausaufgaben. Danach verschwindet er sofort wieder zu seinen Freunden. Na ja, der Altersunterschied ist auch ziemlich groß, so kann er noch nicht viel mit mir anfangen. Außerdem ist Gerhard für mich auch etwas zu rau und wild. Bei seinen Aktivitäten, die meine Eltern immer wieder von Neuem überraschen, muss er schon mal öfters gebremst werden. Durch seine Unruhe und sein Temperament sind meine Eltern sogar zu einem Wohnungswechsel genötigt worden. Trotzdem ist mein Bruder ein lieber Kerl, und ich bin froh, dass ich ihn habe. Die Erwachsenen behaupten, ich sei das genaue Gegenteil von ihm. Das „Oberhaupt“ der Familie, unser lieber Vater, ist Beamter bei der Stadtsparkasse. Sein Vorname ist Fritz, und im November wird er 44 Jahre alt. Unsere Mutter heißt Elfriede, aber sie wird von allen „Friedchen“ genannt. Sie wird im September 34 Jahre alt.

Beide sind keine „Öcher“, doch das Schicksal hat sie hier in der schönen alten Kaiserstadt zusammengeführt. Vater kommt aus der kleinen Stadt Wevelinghoven bei Grevenbroich-Neuss. Dort leben auch seine Eltern und die beiden unverheirateten Schwestern Kätchen und Leni.

In der kleinen Stadt Elze bei Hannover steht das Elternhaus unserer Mutter. Sie hat noch sechs Geschwister, fünf Schwestern und einen Bruder. Zwei ihrer Schwestern leben aber in Aachen. Zunächst ist da unsere Tante Annemarie. Sie ist vor zwei Jahren schon Witwe geworden, als ihr Mann, ein bekannter Aachener Apotheker, plötzlich verstarb. Sie hat zwei siebzehnjährige Kinder, das Zwillingspaar Liselotte und Karl-Heinz. Sie haben in der Ursulinerstraße eine schöne Wohnung, in der Tante Annemarie aber zurzeit nur mit Sohn Karl-Heinz wohnt, der in der Familie auch „Bübchen“ genannt wird. Ihre Tochter Liselotte lebt schon seit einigen Jahren bei ihren Großeltern in Elze, wo sie auch berufstätig ist.

Mutters zweite, in Aachen lebende Schwester heißt Charlotte. Aus unerklärlichen Gründen wird sie aber in der ganzen Familie nur „Minna“ genannt. Für uns Kinder ist sie also unsere Tante Minna. Verheiratet ist sie mit Onkel Gerhard, der wie unser Vater als Beamter bei der Stadtsparkasse tätig ist. Vater und Onkel Gerhard sind somit nicht nur verschwägert, sie sind auch noch Arbeitskollegen. Leider können Tante Minna und Onkel Gerhard keine eigenen Kinder bekommen, was zur Folge hat, dass sich Tante Minna besonders viel um mich kümmert. Ich bin ihr erklärter „Lieblingsneffe“, weil ich angeblich so ein lieber Junge bin. Oft holt sie mich von zu Hause zu einem Stadtbummel ab, wobei sie mir unterwegs etwas Leckeres spendiert, oder wir gehen zusammen Eis essen. Manchmal darf ich auch bei ihr übernachten, was für mich immer eine willkommene Abwechslung ist. Aber auch Tante Annemarie nimmt mich hin und wieder mit in die Stadt oder zu sich nach Hause, wo mein Vetter Bübchen sich dann mit mir beschäftigt. Er besitzt eine elektrische Eisenbahn, mit der ich besonders gern spiele. Bübchen liest auch sehr gern dicke Bücher, wobei er stundenlang am Daumen lutscht. Das sieht bei einem so großen Jungen schon komisch aus, wie ich finde.

Wenn es sommerlich warm wird, herrscht in der Stadt ein reges und buntes Treiben. In der Rotunde des Elisenbrunnens spielen regelmäßig Musikkapellen. Manchmal sind es Militärorchester mit schmissiger Marschmusik.

Auch Ausstellungen gibt es dort schon mal, wobei ich die berühmten Rennwagen von Bernd Rosemeier und Rudolf Caraciola am interessantesten fand.

Jetzt, zur Sommerzeit, wird der Vorplatz des Elisenbrunnens zu einem großen Freiluft-Café, wo die Menschen bei einem Bier oder einem Kaffee gemütlich in der Sonne sitzen. Von Zeit zu Zeit fährt die Straßenbahn vorbei. Wenn sie aus der Adalbertstraße kommt und in die Kurve geht, quietscht es in den Schienen ganz fürchterlich. Man sieht nicht allzu viele Autos, dafür aber Omnibusse, Motorräder, Pferdegespanne, die Bierwagen ziehen, Pferdekutschen und eine Menge Leute auf Fahrrädern. Ein ähnliches Bild bietet sich in der ganzen Innenstadt. Also, ich finde es schön in Aachen!

Wie es in der Zeitung heißt, soll heute Mittag der „Zeppelin“ über unsere Stadt fliegen. Das ist schon ein Ereignis. Unser Haus hat ein großes Flachdach, das man über eine schmale Holztreppe und nach dem Öffnen einer Luke begehen kann. Zu einem solch einmaligen Ereignis nutzen auch fast alle Mieter diese Möglichkeit und finden sich rechtzeitig auf dem Dach ein. Tatsächlich schwebt dann plötzlich auch das riesige Luftschiff „Graf Zeppelin“ ganz tief über uns hinweg. Wir können sogar noch die Menschen erkennen, die in den unter dem Luftschiff hängenden Gondeln sitzen, und winken ihnen zu. Das ist für mich alles sehr aufregend. Bevor sich alle wieder anschicken, vorsichtig die schmale Holztreppe hinunterzuklettern, unterhalten sich meine Eltern noch mit der Familie Kerschgens und der Familie Stern, die unter uns in der zweiten Etage wohnen.

Die Familie Stern ist ein jüdisches Ehepaar. Sie haben erst vor ein paar Monaten ein Baby bekommen. Mutter findet sie sehr nett und spricht oft mit ihnen über alles Mögliche, wenn sie sich im Treppenhaus oder auf der Straße begegnen.

Interessant finde ich auch den Herrn Kerschgens. Er steht immer unten im Foyer des Kinos in einer schicken blauen Uniform mit goldenen Knöpfen und Verzierungen. Auf seiner Schirmmütze steht „UFA-Palast“. Mit seinem schwarzen Schnurrbart sieht er sehr streng aus. Zuerst habe ich immer ein wenig Angst vor ihm gehabt, doch dann habe ich gemerkt, dass er eigentlich sehr nett ist. Das lag wohl vor allem an dem Riegel Schokolade oder den Bonbons, die er mir schon mal zugesteckt hat. Das schafft natürlich Vertrauen.

In diesen Tagen spricht man in Deutschland immer noch viel von den XI. Olympischen Sommerspielen in Berlin, die im vergangenen Jahr am I. August von Reichskanzler Adolf Hitler eröffnet wurden. Für die Machthaber des Dritten Reiches war diese Veranstaltung eine willkommene Gelegenheit, eine durch Massenorganisationen zur Schau gestellte Geschlossenheit von Volk und Führung zu demonstrieren. Das Olympiastadion, mit der von Albert Speer neu erbauten Fassade, war für Hitler aber auch eine geeignete Plattform, den Völkern der Welt seine politischen Erfolge, seinen Einsatz für den sozialen Fortschritt, aber auch seinen angeblichen Friedenswillen darzustellen.

Jetzt, im Jahr 1937, haben die zunächst zurückgestellten Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes gegen politische Gegner und besonders gegen das Judentum wieder drastisch zugenommen. Auch Vertreter der Kirchen, die sich den Zumutungen der Nazis nicht beugen wollen, geraten in die Fänge der Gestapo und werden in Konzentrationslager verschleppt.

Niemand im Haus hat wohl damit gerechnet, dass nun auch das Ehepaar Stern mit seinem Baby plötzlich von der Gestapo abgeholt wird. Ohne jede Vorankündigung werden sie aus ihrer Wohnung geholt und dürfen nur wenige Sachen mitnehmen. Unsere Mutter, die sich zufällig im Treppenhaus aufhält, kann nur erfahren, dass die Familie Stern vorübergehend in ein Arbeitslager gebracht werden soll. Die Wohnung werde man bis zu ihrer Rückkehr versiegeln.

Der Elisenbrunnen in Aachen im Jahr 1937 (Entnommen dem Band „Aachen - so wie es war“ von Helmut A. Crous, Droste Verlag GmbH, Düsseldorf)

Meine Eltern und auch die anderen Hausbewohner zeigen sich über diesen brutalen Vorgang sehr betroffen. Jeder fragt sich, was diese netten Leute wohl getan haben könnten, dass man so mit ihnen umgeht. Alle diskutieren miteinander, doch dies führt nur zu der Einsicht, dass man der Sache recht hilflos gegenübersteht. Mittlerweile ist jedem klar, dass es höchst gefährlich werden kann, sich in irgendeiner Form öffentlich gegen die Nazis zu äußern. Man muss jederzeit damit rechnen, selbst wegen irgendwelcher Äußerungen denunziert zu werden. Ich selbst bin noch zu klein, um etwas davon zu verstehen, doch ich merke wohl, dass hier etwas sehr Bedrückendes vor sich gegangen ist, denn meiner Mutter stehen die Tränen in den Augen.

Im Oktober 1937 ziehen wir in die Franzstraße Nr. 74. Die Wohnung liegt in der zweiten Etage und hat drei große Räume: Wohnküche, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Eigentümer des dreigeschossigen Hauses sind Frau und Herr Meier, ein älteres Ehepaar. Sie führen im Erdgeschoss ein Korb- und Spielwarengeschäft. Wie man hört, haben sie einen Sohn, der als höherer Parteifunktionär der NSDAP in Köln lebt. Wenn man in den Laden der beiden fast achtzigjährigen, alten Leute kommt, so grüßen sie nicht mit „Guten Tag!“, sondern sie heben stolz den rechten Arm und sagen „Heil Hitler!“ Meine Eltern haben damit wohl etwas Schwierigkeiten, doch an diese Form der Begrüßung werden sich bald alle gewöhnen müssen, die nicht in Verdacht geraten wollen, Gegner des Nazi-Regimes zu sein.

Vater will mit dem ganzen Quatsch, wie er es nennt, nichts zu tun haben. Das liegt wohl an den schlechten Erfahrungen, die er als Soldat im Ersten Weltkrieg 1914-1918 gemacht hat. Damals ist er an der Front in Flandern durch eine Granate verwundet worden. Einige Splitter sitzen noch in seinem Kopf; es wäre zu gefährlich gewesen, sie herauszuoperieren. Mittlerweile haben sie sich aber verkapselt und bereiten ihm weiter keine Beschwerden, wie er sagt.

In unserer neuen Wohnung haben wir uns alle schnell eingelebt. Hier, in der oberen Franzstraße, gleich vor dem Marschiertor, sehe ich vom Fenster aus viele spielende Kinder auf der Straße. Gleich um die Ecke, am Boxgraben, sind große Grünanlagen und Tante Minna wohnt dort in einem Haus gegenüber dem Polizeipräsidium. Daher ist es wohl auch nicht verwunderlich, dass ich auch auf die Straße möchte, um mit den Kindern zu spielen. Leider ist meine Mutter der Meinung, dass ich damit wenigstens noch bis zu meinem vierten Geburtstag warten soll. So muss ich mich wohl oder übel noch in Geduld fassen und alles vom Fenster aus beobachten.

Nur ein paar Häuser weiter ist der Durchgang zur Volksschule, die jetzt im Dritten Reich den Namen „Lettow-Vorbeck-Schule“ trägt. Sie ist in einem großen, alten Gebäude aus dem 19. Jahrhundert zwischen Franzstraße und Boxgraben untergebracht, das von beiden Straßen aus durch eine Toreinfahrt zugänglich ist. An jeder Seite befindet sich ein großer Schulhof mit Toilettenanlagen. Außerdem liegt noch die Städtische Höhere Mädchenschule „St. Leonhard“ an der Franzstraße sowie eine Turnhalle, die von beiden Schulen genutzt wird.

Der kleine Walter, 3 Jahre, 1937

An das erste Weihnachtsfest in der neuen Wohnung habe ich eine ganz besondere Erinnerung. Am Heiligen Abend, als Vater uns zur Bescherung ins Wohnzimmer ruft, wartet eine große Überraschung auf mich. Weil ich Musik so liebe, hat mir das Christkind ein grünes Koffergrammofon mit vielen Schallplatten gebracht. Von nun an bin natürlich ich für die musikalische Unterhaltung der Familie zuständig. Vater möchte gern noch ein Familienfoto vor dem Tannenbaum schießen. Das ist auch ziemlich aufregend. Er hat im Zimmer von einer Wand zur anderen eine Schnur gespannt, woran ein kleiner Blitzlichtbeutel aufgehängt ist, der durch eine Zündschnur zum Blitzen gebracht wird. Er kann sich selbst noch schnell zu uns hinstellen, bevor der Auslöser am Fotoapparat klickt. Natürlich interessiert es mich auch sehr, was mein großer Bruder alles bekommen hat. Die reichlich gefüllten Weihnachtsteller finden dann schließlich unsere verstärkte Beachtung. Es werden recht gemütliche Festtage. Mutter macht uns immer etwas Gutes zu essen, in der Wohnung ist es angenehm warm, und pünktlich am ersten Weihnachtstag fängt es auch noch an zu schneien. Der nun beginnende Winter hält, was man sich von einem richtigen Winter verspricht.

... 1938 ...

Das neue Jahr 1938 bringt mir nun endlich die lang ersehnte Freiheit, allein auf die Straße gehen zu dürfen. Ich bin jetzt vier Jahre alt. Vom Fenster aus habe ich mir schon seit einiger Zeit einen Jungen ausgeguckt, der genau gegenüber wohnt, in der Franzstraße 109. Er heißt Klaus, hat wie ich einen älteren Bruder, und mit ihm würde ich mich gerne anfreunden. Tatsächlich spielen wir nun jeden Tag zusammen, und bald kommen noch eine ganze Reihe Jungen und Mädchen hinzu. Dies ist der Anfang eines kleinen Abschnitts glücklicher Kinderzeit.

Als es Mai geworden ist, beginnt für uns Kinder das große Maikäfersuchen. Zunächst müssen wir uns alle eine Zigarrenkiste besorgen. Ich habe das Glück, dass mein Onkel Gerhard Zigarrenraucher ist, und ich mir bei ihm eine schöne Zigarrenkiste holen kann. Ich bin jetzt ja schon groß genug, um allein bis zum Boxgraben Nr. 36 zu laufen und Tante Minna und Onkel Gerhard zu besuchen. Bevor die Maikäfersuche losgehen kann, werden mit einer Schere einige Luftlöcher in den Deckel der Kiste gebohrt und einige grüne Blätter als Futter für die Käfer hineingelegt. Dann kommt das Spannendste. Wir klettern in die Bäume und schütteln die Äste so lange, bis die Tierchen herunterfallen. Einer muss immer „Schmiere stehen“, damit wir nicht von einem Schutzmann bei unserem verbotenen Treiben in den Grünanlagen erwischt werden. Tatsächlich ist schon öfters ein Schutzmann hinter uns hergelaufen, wenn wir in den Anlagen gespielt haben, aber schnell und wendig wie wir sind, sind wir immer noch davongekommen.

Es dauert nur wenige Tage, bis wir alle eine stattliche Anzahl von Maikäfern in unseren Kisten gesammelt haben. Jetzt beginnt das große Handeln. Besonders schöne Exemplare werden getauscht oder für zwei Pfennig pro Stück an andere Kinder verkauft.

Für Spatzen, oder wie der „Öcher sätt, för de Möche“, ist der Maikäfer ein Leckerbissen. Wir machen uns deshalb einen Spaß daraus, ab und zu ein Tierchen fliegen zu lassen und dabei auf „Öcher Platt“ zu rufen: „Möch, Möch, Möch ene Keäferleng!“ Tatsächlich stürzen sich die Vögel aus der Luft auf die Käfer und vollführen regelrechte Zickzack-Kunstflüge, um sie zu erwischen.

Bei schönem Wetter kommt auch morgens der Herr Turchetti mit seinem Eiswagen vom Krugenofen aus die Burtscheider Straße und dann, durch das Marschiertor, die Franzstraße herunter. Er platziert sich zwischen die großen Bäume an der Ecke Karmeliterstraße. Schnell rennen wir nach Hause, um uns 20 Pfennige zu holen. Dafür bekommt man ein Hörnchen oder eine Waffel mit drei Eissorten geschmiert.

Am späten Nachmittag, wenn Herr Turchetti Feierabend macht, dürfen wir Kinder immer helfen, den schweren Eiswagen wieder den Berg hi­naufzuschieben. Wenn er dann den Wagen in seinem Haus am Krugenofen abgestellt hat, bekommen wir alle zur Belohnung noch ein dickes Eis. Auf dem Rückweg schauen wir uns noch von der Burtscheider Brücke aus die darunter herfahrenden Züge an. Ganz gemütlich schlecken wir unser Eis zu Ende, bevor wir wieder zur Franzstraße laufen.

So gibt es immer viel Abwechslung, Spaß und Spiel für uns. Natürlich hecken wir auch manchmal dumme Streiche aus, die uns und auch unseren Eltern, wenn wir uns erwischen lassen, etwas Ärger einhandeln. Da war zum Beispiel die Geschichte mit dem Kohlenhändler, die uns Kindern sehr lustig erschien.

Der Kohlenhändler zieht mit Pferd und Wagen von Haus zu Haus und bringt den Leuten die bestellten Kohlen und Briketts, zentnerweise in Jutesäcke verpackt, in die Keller. Wir beobachteten aus einiger Entfernung, wie er immer wieder einen Sack von seinem hochbeladenen Wagen auf seinen Rücken nahm und damit in einem Hausflur verschwand. Diese Gelegenheit nahmen wir wahr, um schnell zu seinem Pferd zu laufen, am Zügel zu ziehen und „Hü, hü!“ zu rufen. Der Gaul setzte sich tatsächlich in Bewegung und wir ließen ihn zwei Häuser weiter ziehen. Auf das Kommando „Brrr!“ blieb er wieder stehen. Schnell liefen wir weg und stellten aus sicherem Versteck die Reaktion des Händlers fest. Als er aus dem Haus kam, schaute er recht verdutzt, lief wütend zu seinem Wagen und schimpfte wie ein Rohrspatz auf Öcher Platt auf sein Pferd ein. Mühsam dirigierte er den schweren Wagen wieder rückwärts über das Kopfsteinpflaster der Franzstraße, wobei das arme Pferd etwas ins Rutschen kam.

Die obere Franzstraße vor etwa 50 Jahren. Keines der Häuser auf der rechten Seite hat den Krieg überstanden. Auch das alte St.-Leonhard-Kloster mit dem kleinen Türmchen fiel Bomben zum Opfer.

Die obere Franzstraße mit Marschiertor um 1910. (aus: Ansichtskarten-Album von Heinrich Gandelheid, Aachener Zeitungsverlag.)

Im Juli, wenn das meiste Obst reif ist, fahren wir immer mal für ein paar Tage nach Wevelinghoven und besuchen dort meine Oma, Tante Kätchen und Tante Leni. Die etwa drei Stunden dauernde Zugfahrt ist für mich jedes Mal ein großes Erlebnis. Wir sitzen im 3. Klasse-Abteil, dessen Innenausstattung aus zwei langen, gegenüberliegenden Holzbänken und einer Tür an jeder Seite besteht. Im Dürener Hauptbahnhof müssen wir umsteigen. Dort gibt es zwischen den Bahnsteigen ein „Drehkarussell“, wo die großen Dampflokomotiven herumgedreht werden, um auf ein anderes Gleis zu kommen. Da könnte ich stundenlang zuschauen. Aber es geht bald weiter, und wir steigen in den Zug nach Neuss. In Grevenbroich müssen wir aussteigen und das letzte Stück bis Wevelinghoven noch mit der „Rheinbahn“, einem Düsseldorfer Busunternehmen, fahren. Die Haltestelle liegt genau vor dem elterlichen Haus meines Vaters, an der Grevenbroicher Straße 1.

Das große Doppelhaus hat in der Mitte eine Toreinfahrt, und der dahinterliegende Hof führt zu einer 110 qm großen Werkstatt, in der mein verstorbener Großvater eine Möbelschreinerei unterhielt. Das Haus ist umgeben von einem großen Gartengelände mit vielen Obstbäumen, Sträuchern und den verschiedensten Gemüsearten. Die Attraktion für uns Kinder aber ist der große Kirschbaum gleich hinter der Werkstatt, mitten im Hühner-Freigehege. Er ist bestimmt acht Meter hoch, mit einem Stamm von einem halben Meter Durchmesser. Seine dicken, gelbroten Speckkirschen sind so lecker, dass man erst aufhört zu essen, wenn die Bauchschmerzen anfangen.

Für uns Großstadtkinder ist es eine willkommene Abwechslung, etwas Landluft zu schnuppern, die Tiere auf den Wiesen zu sehen und ungestört herumtollen zu können. Leider hat das Landleben aber auch seine Schattenseiten, und eine davon, die mich ganz besonders stört, ist die Sache mit dem „Stillen Örtchen“. Es gibt in Wevelinghoven noch keine Kanalisation, und so muss man ein „Plumpsklo“ benutzen. Nicht nur, dass man beim Heben der Abdeckplatte in schaudererregend tiefe, besudelte Abgründe blickt, im Sommer ist dieses „Örtchen“ auch noch immer schwarz vor Fliegen. Das alles nötigt mich zum Verzicht oder zu einem Besuch in der freien Natur.

Mutter ist immer froh, wenn die paar Tage Landurlaub vorbei sind. Sie versteht sich offensichtlich nicht besonders gut mit ihrer Schwiegermutter, noch weniger aber mit Schwägerin Leni. Mit Tante Kätchen kommt sie dagegen gut zurecht. Vater, der seine beiden Schwestern und seine Frau Mutter gut genug kennt, steht den Dingen gelassener gegenüber. Nach ein paar Tagen freue aber auch ich mich wieder sehr auf meine Freunde zu Hause und die geliebte Franzstraße.

Ende 1938 spitzt sich die politische Lage in Deutschland zu. Immer drastischer gehen die Nazis gegen die Juden vor. In der Nacht vom 9. auf den 10. November kommt es im ganzen Reichsgebiet zu fürchterlichen Ausschreitungen gegenüber jüdischen Bürgern. Ihre Geschäfte werden zerstört und geplündert. Verhaftungen und Misshandlungen sind an der Tagesordnung. Die Synagogen werden verwüstet und in Brand gesteckt. Auch in Aachen geht das jüdische Gotteshaus in der Promenadenstraße in Flammen auf. Der amtierende Polizeipräsident und die Feuerwehr machen aus ihrer Mittäterschaft kein Hehl. Als die sogenannte „Reichskristallnacht“ geht der 9. November 1938 in die Geschichte ein.

Einige Tage nach diesen Ereignissen haben wir abends Besuch von Tante Minna und Onkel Gerhard. Im Gegensatz zu Vater ist mein Onkel ein überzeugter Nationalsozialist. Zwangsläufig führt dies zu Spannungen zwischen den beiden, sobald das Gespräch auf Politik kommt. So wird es dann auch an diesem Abend zwischen den beiden Männern erschreckend laut, sodass Mutter und Tante Minna schlichtend eingreifen müssen. Im Grunde ist Onkel Gerhard ein ganz lieber, gutmütiger Mensch, doch er kann mitunter sehr dickköpfig und rechthaberisch sein. Außerdem ist er sehr bestrebt, Karriere zu machen und rechnet sich bei den Nazis Chancen aus. Mein Vater, der schon als Soldat einen Weltkrieg erlebt hat und außerdem zehn Jahre älter ist, sieht durch seine Lebenserfahrungen viele Dinge anders und lässt sich deshalb auch nicht gern von seinem Schwager belehren.

Ich wünschte, ich könnte etwas von dem Sinn dieser Wortgefechte begreifen, doch niemand mag mir erklären, worum es geht. Ich mache mir auch Gedanken darüber, warum meine Mutter in der letzten Zeit so dick geworden ist. Als ich sie danach frage, bekomme ich jedoch nur die Antwort von meinem Vater: „Deine Mutter hat wohl in der letzten Zeit zu viel gegessen!“ Daran muss es wohl liegen, denke ich mir, aber schön finde ich das nicht.

... 1939 ...

Es ist Mitte Januar 1939, und seit Tagen fällt der Schnee. Es gibt für uns Kinder jetzt kein größeres Vergnügen, als uns draußen im Schnee zu tummeln. Auf der abschüssigen Straße werden lange Rutschbahnen angelegt und so manche Schneeballschlacht geschlagen. Die Kinder holen ihre Schlitten aus den Kellern, und auch Gerhard und ich, die wir seit Weihnachten stolze Besitzer eines zweisitzigen Schlittens sind, mischen fröhlich mit. Die meisten Kinder rodeln auf den Wiesen am Boxgraben, doch auch rund um das Marschiertor gibt es viele Möglichkeiten, weil es überall bergab geht.

Eine Rodelaktion ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. Ein paar größere Jungen haben die Idee, alle Kinder, die einen Schlitten dabeihaben, zusammenzurufen und alle Schlitten oben am Berg der Burtscheider Brücke zusammenzubinden. Es ist geplant, dann von der Brücke hinunter durch die Burtscheider Straße, mitten durch das Marschiertor und so weit, wie der Schwung noch reicht, die Franzstraße hinunterzurodeln. Nachdem wir gemeinsam noch eine Schneespur unter dem Torbogen angelegt haben und einige Jungen abgestellt sind, um die Kreuzung am Boxgraben zu sichern, kann es losgehen. Mindestens zehn Schlitten und ungefähr zwanzig Kinder sausen jetzt, miteinander verbunden, die steile Straße hinunter. Vorn auf dem ersten Schlitten sitzen größere Jungen und lenken das ganze Gespann. Ich sitze irgendwo in der Mitte. Unsere Geschwindigkeit wird auf der Strecke so groß, dass wir fast bis zum Eden-Palast in der unteren Franzstraße rodeln. Das war die schönste Rodeltour, die ich je gemacht habe.

Zu dieser Zeit bahnt sich bei uns zu Hause ein Ereignis an, das mich sehr überrascht. Gelegentlich besucht uns eine gute Freundin meiner Mutter, die wir Tante Greta nennen. Sie gehört schon fast zur Familie, kann gut mit Kindern umgehen und war uns schon oft eine große Hilfe bei besonderen Anlässen. Auch im Haushalt von Tante Annemarie hat sie schon gearbeitet und die Kinder Liselotte und Karl-Heinz versorgt. Tante Greta ist Kriegerwitwe und wohnt in der Schloßstraße, wo sie sich mit der Familie ihres Bruders eine große Wohnung teilt. Diese Freundin sitzt nun also mit meiner Mutter bei einer Tasse Kaffee zu einem Plauderstündchen zusammen. Sie unterhalten sich über alles Mögliche, und Tante Greta zündet sich dabei genüsslich eine Zigarette an. Es ist für mich schon allein recht außergewöhnlich, eine Frau rauchen zu sehen, aber dann macht Mutter mir obendrein noch eine erstaunliche Mitteilung. Sie sagt: „Es wird nun Zeit, dass du erfährst, dass wir bald noch ein Baby bekommen und ich dann für ein paar Tage ins Krankenhaus muss. Wenn es soweit ist, wird Tante Greta solange bei euch bleiben!“ Beide lachen herzlich über mein verdutztes Gesicht. Tante Greta fragt mich, ob ich denn lieber ein Brüderchen oder ein Schwesterchen hätte. Nach kurzer Überlegung erkläre ich ihr, dass mir das eigentlich egal wäre. Ob dieses Ereignis wohl der Grund dafür ist, dass Mutter so dick geworden ist? Von nun an frage ich alle paar Tage, wann das Baby denn nun endlich kommt. „Ein bisschen wird's wohl noch dauern!“, ist immer Mutters Antwort. So vergehen auch noch mehrere Wochen.

Es ist der 9. März 1939, als ich morgens erwache und nicht meine Mutter, sondern Tante Minna ins Schlafzimmer kommt. Von meinen Eltern ist nichts zu sehen.

Tante Minna erklärt mir dann, dass Vater in der Nacht die Mutter mit einem Taxi ins Marienhospital gebracht hat, damit sie dort das Baby bekommen kann.

Gegen Mittag kommen Vater und Tante Greta nach Hause. Endlich erfahre ich, dass ich ein Schwesterchen bekommen habe. Besonders Vater ist überglücklich, dass es diesmal ein Mädchen geworden ist und Mutter und Kind wohlauf sind. Auch mein Bruder Gerhard ist freudig überrascht, als er aus der Schule nach Hause kommt. „Nun haben wir also das Schwesterchen Karin!“, sagt er. Wir freuen uns jetzt alle sehr darauf, endlich Mutter im Krankenhaus besuchen zu können. Tante Greta bleibt zu unserer Freude für ein paar Tage unsere Ersatzmutter.

Mein stolzer Vater erledigt nun die Behördengänge. Auf dem Standesamt lässt er den Namen Karin-Marita in die Geburtsurkunde eintragen. Der Rufname unseres Schwesterchens soll Karin sein. Als er später zu Hause in aller Ruhe noch einmal die Unterlagen durchsieht, stellt er zu seinem Entsetzen fest, dass der Standesbeamte in der Urkunde den Namen falsch geschrieben hat. Anstelle von „Karin-Marita“ steht dort „Karin-Marietta“. Obwohl ihn das ziemlich ärgert, hat er nun keine Lust mehr, noch einmal alles ändern zu lassen, und so bleibt es wohl für immer bei „Karin-Marietta“.

Vater Fritz und Mutter Elfriede auf dem Standesamt in Aachen am 10. August 1926

Eine Woche später ist es dann endlich soweit, dass wir Mutter und das kleine Schwesterlein abholen können. Vater bestellt ein Taxi, und ich darf mitfahren. Tante Greta hat in der Zwischenzeit zu Hause alles vorbereitet. Wir sind alle sehr froh, endlich wieder zusammen zu sein.

Ab jetzt dreht sich erst mal alles um das Baby. Mit der Ruhe ist es auch vorbei. Die „Neue“ hat eine kräftige Stimme und die stellt sie auch nachts unter Beweis. Für unsere Mutter bedeutet das Baby natürlich eine Menge zusätzlicher Arbeit, sodass sie fast rund um die Uhr im Einsatz ist und oft mit nur wenigen Stunden Schlaf auskommen muss. Wir haben ja noch keine Waschmaschine und auch kein Badezimmer. Im Augenblick haben wir auch viel Besuch. Alle Verwandten und Bekannten möchten das Baby sehen.

Im Laufe der nächsten Zeit nimmt Vater mich manchmal mit, wenn er sonntags morgens zum Frühschoppen geht. Das gefällt mir sehr. Wir gehen zum „Spindläger“ in der Franzstraße, zu „Limpens“ in der Burtscheider Straße, zu „Rösener“ in der Theaterstraße oder auch hin und wieder zu „Thönnessen“ in der Wirichsbongardstraße, wo es besonders leckere Fritten gibt, die in Pferdefett frittiert werden. Zum Mittagessen müssen wir pünktlich wieder zu Hause sein, sonst gibt es Ärger. Sonntags nachmittags gehen wir bei schönem Wetter spazieren. Auf dem Hangeweiher kann man Kahnfahren, was Vater und ich manchmal tun, während Mutter mit dem Kinderwagen um den Weiher herumspaziert und uns zuwinkt. Nach zwanzig Minuten ist die Ruderpartie wieder beendet. Dann ruft der Mann im Bootshaus durch ein Megafon, man nennt es auch „Flüstertüte“, die jeweilige Nummer des Kahns auf, der zur Anlegestelle zurückrudern muss. Manchmal gehen wir auch in den Westpark, zum Aachener Zoo. Die größte Freude für uns Kinder ist aber ein Besuch auf dem „Sommer-Bend“ oder auch im Zirkus, wenn gerade einer in Aachen gastiert.

So vergeht dieser schöne Sommer, und ich kann es nicht nachvollziehen, ob nicht schon viele Menschen ahnen, dass es der letzte Sommer ist, den wir alle noch unbeschwert genießen können. Vater kommt eines Tages in der Mittagspause mit einem Radio nach Hause. Es ist der sogenannte „Volksempfänger“ zum Einheitspreis von 76 Reichsmark. Eine große Überraschung für die ganze Familie. So ein Gerät schaffen sich jetzt die meisten Leute an. Damit man die Sender gut empfangen kann, muss man eine Antenne und eine Erdleitung anschließen. Es gibt auch schon größere Radios, die sind natürlich wesentlich teurer. Onkel Gerhard hat sich so einen Apparat schon vor längerer Zeit angeschafft, damit er immer auf dem neuesten Stand der politischen Entwicklungen ist. Neuerdings hängt außerdem in seinem Wohnzimmer ein großes Hitlerbild an der Wand. Derartige Bilder in unterschiedlichen Größen sieht man jetzt öfter in den Wohnungen vieler Volksgenossen.

Für mich ist es wunderbar, jetzt auch aus dem Radio schöne Musik hören zu können und nicht nur auf mein Grammofon angewiesen zu sein. Hin und wieder bekomme ich neue Schallplatten geschenkt. Man muss sehr vorsichtig mit ihnen umgehen, denn wenn sie einem aus der Hand fallen, sind sie kaputt. So ist mein großer Bruder einmal unglücklich gegen das kleine Tischchen gefallen, auf dem das Koffergrammofon steht. Die ganzen Platten, die in der Zwischenlage übereinanderlagen, sind dabei herausgerutscht und auf den Boden gefallen. Eine ganze Reihe sind dadurch zu Bruch gegangen. Das war für mich natürlich ein Schock, und ich habe fürchterlich geheult. Die Eltern hatten viel Mühe, mich wieder zu beruhigen.

Meine liebe Tante Minna ist seit längerer Zeit viel allein, deshalb besuche ich sie öfters in ihrer Wohnung um die Ecke am Boxgraben und bleibe manchmal auch über Nacht bei ihr. Sie erzählt mir viel von Onkel Gerhard, der zur Wehrmacht gegangen ist. Vorher war er schon SA-Mann, aber da kam er abends immer nach Hause. Die Zusammenhänge verstehe ich noch nicht so ganz, aber ich denke mir, dass das wohl alles so seine Richtigkeit hat und auch so sein muss.

Was Tante Minna mir nicht erzählt, ist, dass mein Onkel sich freiwillig gemeldet hat, und dass sie nun sehr unter dem Alleinsein leidet.

Zu dieser Zeit kann ich nicht ahnen, dass ich viele Jahre später im Nachlass meiner Tante einige seiner Briefe finden werde, die er ihr genau zu dieser Zeit schreibt. Sie spiegeln deutlich, wie ein „gläubiger Nationalsozialist“ die Geschehnisse seiner Zeit sieht und deutet. Deshalb möchte ich hier einige Ausschnitte anfügen.

So schreibt er in einem Brief vom 27. September 1938 von Hohenrötherhof, wo er sich auf einem militärischen Lehrgang befindet:

„ ... Wenn auch dieser Tage Alarmmeldungen durchgegeben werden, so ist das weiter nicht schlimm. Es war nötig, dass der Welt mal in krassester Form die Wahrheit vorgehalten wurde. England und Frankreich haben darauf vor Angst zum Teil mobil gemacht, wie ich höre, lass sie nur. Je mehr man vom Krieg spricht, desto weniger kommt er in Frage. Die Gemüter sind dadurch so aufgerüttelt wie noch nie. Mit der beschaulichen Ruhe der ausländischen Staatsmänner ist es vorbei, sie eilen und hasten nun, um schnell noch den Weg zum Frieden zu finden, und sie werden ihn wohl oder übel aufgrund der Rede des Führers schnellstens finden müssen. Deshalb nur ruhig Blut, wir wollen ebenso wenig den Krieg wie andere Länder. Unsere Truppen sind nur eingezogen, um die Forderung unseres Führers zu unterstreichen.“

In diesem Brief bedauert Onkel Gerhard, dass er sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hat, weil die arme Minna jetzt so viel allein sein muss, und er nur an bestimmten Wochenenden Urlaub bekommt. In einem Brief vom 7. Januar 1939 aus Bielefeld schreibt er:

„ ... Aus gewissen Vorbereitungen zu schließen, ist im Februar-März tatsächlich etwas zu erwarten. Deshalb ist es gut, wenn Du dann bei mir bist. England und Frankreich beabsichtigen wohl, in der Türkei und oben in Skandinavien anzufangen. Wir werden aber vorsichtshalber früher losschlagen und so den andern die Kriegshandlungen diktieren, ob sie wollen oder nicht. Damit wird der Kampf vom Südosten, d.h. von Ölquellen in Russland usw. weggezogen.“

In einem Schreiben aus Köln-Ossendorf vom Juli 1939 teilt er seiner Frau überglücklich seine Beförderung mit. Er ist nun Gefreiter der Reserve, 11. Flakregiment 14, 8. Batterie.

Am 22. August 1939 bekommt Tante Minna einen weiteren aufschlussreichen Brief von ihrem Mann:

„ ... Das, was Daladier am Sonntag sagte, ist gestern schon eingetroffen, und heute kommt der Abschluss eines Nichtangriffspaktes mit Russland hinzu. Man möchte es beinahe nicht glauben. Jetzt haben wir also den Rücken frei. Unsere gesamte Wehrmacht kann jetzt gegen Frankreich und England marschieren, wenn die den Polen zu Hilfe kommen wollen. Also wird Frankreich und England sich hüten, uns anzugreifen. Jetzt wird Polen aufgeteilt, und damit ist die Sache erledigt. Russland bekommt ebenfalls seinen Anteil von Polen.

Heute morgen sind ein Teil Reservisten vom Flakregiment Ossendorf nach Westhofen, hier bei Köln, eingezogen. Die haben heute Morgen in aller Frühe Alarmbefehle bekommen. Spreche aber nicht darüber! Auch sonst werden hier allerhand Vorbereitungen getroffen. Habe aber keine Sorge, Du siehst ja, wie unsere Regierung arbeitet. Sie sichert sich in jeder Beziehung ab. Was England in monatelanger Arbeit nicht erreicht hat, das haben wir still und leise gemacht. Jetzt haben wir Russland nicht mehr als Feind, sondern nur noch England und Frankreich, und die werden uns jetzt, nach diesem Erfolg mit Russland, bestimmt nicht angreifen. Wir können also in aller Seelenruhe Polen zusammen mit Russland aufteilen.“

Aus diesem Brief geht weiter hervor, dass mein Onkel nun endlich wieder eine Beförderung mitteilen kann. Nun ist er Unteroffizier und hat, als er davon erfuhr, einen Freudensprung gemacht. Er wird, so schreibt er weiter, voraussichtlich am 11. September für ein paar Tage nach Hause kommen, und dann müsse er unbedingt mit Fritz, also meinem Vater, reden.

Nach diesem Brief vergehen noch acht Tage, dann schlägt Hitler los. In den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 wird Polen von deutschen Truppen überfallen.

So beginnt der Zweite Weltkrieg.

Niemand kann sich zu diesem Zeitpunkt im Entferntesten ausmalen, wie viel Leid und Elend über die Menschen hereinbricht, und in welche Katastrophe nicht zuletzt auch wir geführt werden.