Wir werden Helden sein - Ann Stowasser - E-Book
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Wir werden Helden sein E-Book

Ann Stowasser

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Beschreibung

West-Berlin, 1980: Zwischen Musik und Liebe sucht eine junge Frau ihren Weg 

Als ihr Freund Robert aus der Münsterländer Provinz nach West-Berlin geht, wirft die behütete Jenny ihre Pläne fürs Lehramtsstudium über Bord und folgt ihm. Statt der großen Liebe erlebt sie jedoch einen Berliner Alltag mit Klo auf halber Treppe, Punks und einem rauen Ton, der bald auch zwischen ihr und Robert herrscht. Aber dann beginnt sie, die Freiheit der Kreuzberger Nächte zu entdecken und den neuen Sound, der überall zu hören ist. Und sie merkt, dass sie genau am richtigen Ort ist, um das zu machen, was sie schon immer wollte – Musik.

Der Roman über die schillernde Musikszene der Mauerstadt in den 80ern – aufregend, wild und lebendig. Mit dem Sound von David Bowie und Inga Humpe.

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Seitenzahl: 417

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Über das Buch

Die wohlerzogene Jenny wächst behütet in einem Dorf im Münsterland auf. Abitur, Klarinettenunterricht, anstehendes Lehramtsstudium. Auf ihrem Plattenspieler hört sie Nina Hagen und David Bowie und träumt dabei von mehr Freiheit – und von Robert, ihrem Freund und angehenden Rockmusiker. Als er nach West-Berlin geht, folgt ihm Jenny kurzerhand – zum großen Ärger ihrer Eltern. Anfangs fühlt sie sich fremd in der Mauerstadt, in der man noch mit Kohle heizt und Demos und Straßenschlachten Alltag sind. Und mit ihr und Robert läuft auch alles anders, als sie es sich ausgemalt hat. Jenny ist am Boden zerstört. Doch dann findet sie Unterstützung bei ihren neuen Freunden, mit denen sie schon bald in das Berliner Nachtleben eintaucht. Fasziniert vom neuen Sound, der überall zu hören ist, merkt Jenny, dass sie genau am richtigen Ort ist, um das zu machen, was sie schon immer wollte – Musik.

Über Ann Stowasser

Ann Stowasser wurde in einem beschaulichen, aber wenig spektakulären Ort der westdeutschen Provinz geboren und begeisterte sich von klein auf für Musik in all ihren Spielarten. Bei einer Klassenfahrt in den Achtzigern in die Mauerstadt West-Berlin sah sie dann zum ersten Mal echte Punks und entdeckte die legendären Kneipen von Kreuzberg, wo New Wave und David Bowie gespielt wurden, und sie beschloss zu bleiben. Ann Stowasser lebt bis heute in Berlin. „Wir werden Helden sein“ ist ihr erster Roman.

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Ann Stowasser

Wir werden Helden sein

Roman

Übersicht

Cover

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1 — Münsterland, Spätsommer 1980

Kapitel 2 — Drei Wochen später

Kapitel 3 — West-Berlin, Oktober 1980

Kapitel 4 — Hochschule der Künste, Bundesallee

Kapitel 5 — Zwei Wochen später

Kapitel 6 — Weihnachten in Berlin

Kapitel 7 — Januar 1981

Kapitel 8 — Zwei Monate später

Kapitel 9 — Sommer in Berlin

Kapitel 10

Kapitel 11 — Ostberlin, Oktober 1981

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14 — Dezember 1981

Kapitel 15 — Ostberlin, zwei Wochen später

Kapitel 16 — Transitstrecke, April 1982

Playlist

Nachbemerkung

Impressum

1

Münsterland, Spätsommer 1980

Als das Schreiben von der Universität im Briefkasten lag, dachte Jenny zuallererst an Robert. Ein riesiges Siegel prangte neben der Briefmarke, darunter das Wappen mit der lateinischen Inschrift. Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Es ging um ihren Studienplatz, das war klar. Hier entschied sich, ob sie endlich auf eigenen Beinen stehen und von ihren kontrollsüchtigen Eltern wegkommen würde. Sie hätte außer sich sein müssen vor Aufregung, dass sie den Brief nun in Händen hielt. Trotzdem dachte sie nur an Robert. Denn die große Frage war: Würde er mitkommen? Würden sie zusammen fortgehen, wie sie es geplant hatten?

Robert wollte ja auch weg aus diesem Kaff. Ab in die nächste Großstadt, wo es, wie er meinte, Luft zum Atmen gebe. Und die nächste Stadt, das war eben Münster. Er kannte Leute, die wohnten in einem besetzten Haus in der Frauenstraße, von dem ständig in der Zeitung berichtet wurde und dessen bloße Erwähnung schon ausreichte, um ihren Vater mit hochrotem Kopf über Arbeitslager für das dort lebende »Gesocks« wettern zu lassen. Vielleicht, meinte Robert, könne man fürs Erste da unterkommen. Oder am Hafen, in einem der leer stehenden Fabrikgebäude, wo sich im Moment eine alternative Szene bildete. Er hatte eine Menge Ideen, und sie hörten sich alle traumhaft an.

Doch andererseits wusste man bei Robert nie so genau. Er legte sich ungern fest. Solange die Sache nicht fest beschlossen war, konnte Jenny sich kaum freuen. Sie wollte auf keinen Fall allein gehen, und vor allem wollte sie mit ihm zusammen sein.

Unentschlossen spähte sie durch den Briefschlitz. Doch außer dem Schreiben war keine weitere Post im Kasten. Eilig stopfte sie den Brief in die Tasche ihrer weißen, flauschigen Strickjacke (genau so eine hatte Natassja Kinski mal bei einem Fotoshooting getragen) und schlüpfte durch die Haustür, in der Hoffnung, ihre Mutter würde sie nicht hören. Aus der Küche drangen Bratenduft und das Surren der nagelneuen Dunstabzugshaube. Jenny streifte ihre Stiefeletten ab und stellte sie lautlos neben die Garderobe, überprüfte im Spiegel schnell ihre aufwendig zu einer voluminösen Scheitelfrisur geföhnten Haare, die sie, wie sie fand, ein bisschen wie Jill aus Drei Engel für Charlie aussehen ließ, und schlich dann die Treppe hoch zu ihrem Zimmer.

»Jennifer?«, drang es aus der Küche. »Bist du das?«

»Ja, Mama. Ich bring nur schnell mein Zeug nach oben.«

»Warst du am Briefkasten? Ich habe noch gar nicht nachgesehen.«

Sie zögerte. »Er war leer. Keine Post heute.«

»Morgen kommt bestimmt dein Brief aus Münster. Es ist doch höchste Zeit, dass du eine Antwort bekommst.«

»Ja, Mama. Ganz sicher.«

»Du könntest auch mit dem Bus nach Münster pendeln, wenn du da studierst. Dann musst du nicht in der Stadt wohnen. Ich habe mit deinem Vater darüber gesprochen. Er hält das für eine gute Idee.«

»Ich weiß doch noch gar nichts«, rief sie genervt.

»Denkst du daran, dass du gleich Orchesterprobe hast?«

»Ja, tue ich«, antwortete sie mit einem Stöhnen. Ihre Mutter liebte es, ihr quer durchs Haus Gespräche aufzudrängen.

»Aber nicht, dass du wieder mit leerem Magen losgehst. In einer Viertelstunde sind die Rouladen fertig.«

»Alles klar, Mama.«

Sie lief nach oben, ging in ihr Zimmer und schloss die Tür. Dann setzte sie sich aufs gemachte Bett und atmete tief durch, zog den Brief hervor und riss den Umschlag auf. Eilig überflog sie den Inhalt. Treffer. Sie hatte den Studienplatz bekommen. Lehramt für die Primarstufe, mit den Fächern Musik und Deutsch, beginnend im kommenden Wintersemester. Es war ihre Eintrittskarte für ein freieres Leben, für eine eigene und selbstbestimmte Zukunft. Und sie würde Musik machen, ganz offiziell. Es würde nicht mehr nur ihr Hobby sein, sondern im Zentrum ihres Lebens stehen. Die Sache mit der Primarstufe war dabei eher eine Verlegenheitslösung. Da sie nicht gut genug war, um Berufsmusikerin zu werden, aber sehr gut mit Kindern klarkam, hatte sich Unterrichten als vernünftige Alternative angeboten.

Sie legte das Schreiben aufs Bett und strich es glatt. Obwohl sie allen Grund zum Feiern hatte, fühlte sie sich seltsam leer. Wenn sie doch nur wüsste, ob Robert mitkommen würde.

Sie trat ans Fenster, von dem aus sich der Garten überblicken ließ. Ihr Vater hantierte mal wieder an den Kaninchenställen herum, brachte seine Zuchtviecher für den nächsten Wettbewerb auf Vordermann, wechselte Heu und stopfte Kohl in die Ställe, alles mit der grimmigen Entschlossenheit, mit der er alle Freizeitaktivitäten ausführte. Wenn der wüsste, wie wichtig ihr Robert bei dieser Sache war. Er würde ihr ein paar passende Takte dazu sagen. Seine Tochter und der langhaarige Bombenleger, das war immer ein beliebtes Thema bei ihm.

Ihre Zimmertür schob sich auf.

»Jenny? Bist du da?«

Ihr kleiner Bruder Basti tauchte auf, mit seiner dicken Brille, die seine Augen riesengroß wirken ließ, und mit der er, wenn er an seinem Klavier saß, immer ein bisschen aussah wie Rolf, der Hund aus der Muppet Show. Nur dass Basti viel besser spielen konnte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

Basti würde es sofort durchschauen, wenn sie ihn anlog. Es hatte keinen Zweck, das überhaupt zu versuchen. Also reichte sie ihm den Brief. Er nahm ihn entgegen und las mit wachsender Begeisterung.

»Du hast die Aufnahmeprüfung bestanden! Mensch, Jenny, das ist der Wahnsinn. Ich hab dir doch gesagt, du sollst Schubert spielen. Der Hirt auf dem Felsen, das beste Solo für Klarinette. Die fanden dich super, oder? Ach, ich wäre so gern dabei gewesen. Du warst bestimmt die Beste.«

Sie lächelte. Wenigstens einer von ihnen freute sich.

»Eines Tages wirst du besser sein als ich, Basti. Davon bin ich überzeugt. Nicht nur auf dem Klavier.«

Ein halb verlegenes, halb stolzes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Doch etwas schien ihm klar zu werden, und seine Miene verdunkelte sich etwas.

»Dann ziehst du jetzt aus, oder?«

Sie nickte. »Das weißt du doch.«

»Schon. Aber …«

»Ich komme oft zu Besuch, versprochen. Und in vier Jahren ziehst du nach. Du studierst dann Musik im Hauptfach, nicht wie ich als Primi-Maus.«

»Ich wünschte, es wäre jetzt schon so weit.«

Er wollte ebenfalls raus aus dem Dorf. Obwohl er erst vierzehn war.

»Wenn du nachkommst, werden wir uns ständig in der Musikhochschule sehen. Und mittags gehen wir zusammen in die Mensa. Warte ab, das wird lustig. Dann gehöre ich zu den Abschlussstudentinnen, und du bist der Ersti.« Sie bemühte sich um ein sorgloses Lächeln.

Er legte den Kopf schief, betrachtete sie.

»Du scheinst dich gar nicht zu freuen«, sagte er.

Noch so eine Sache, die sie nicht vor ihm geheim halten konnte. Sie stieß einen Seufzer aus.

»Ich weiß nicht, ob Robert mitkommt.«

»Aber der will doch auch nach Münster, oder?«

»Ja, für den Zivildienst. Wenn alles klappt.«

»Ist er denn inzwischen gemustert worden?«

Nein, war er nicht. Seit Monaten überlegte Robert, welches Theater er im Kreiswehrersatzamt vorspielen sollte, um dem Bund zu entgehen. Bedingungsloser Pazifismus stand hoch im Kurs, wenn man verweigern wollte. Robert trainierte die Antworten auf alle Fragen, die sie ihm stellen könnten, zum Beispiel, was wäre, wenn fünf Männer Jenny vergewaltigen wollten und er ein Maschinengewehr in der Hand hielte. Roberts Antwort wäre dann, sich nicht entscheiden zu können, schießen oder nicht schießen, gequält zu sein und innerlich zerrissen und dann gar nichts zu tun. Das würde ihn völlig untauglich erscheinen lassen für die Armee, die ein Mindestmaß an Tatkraft brauchte. Wider besseren Wissens versetzte es Jenny jedes Mal einen Stich, wenn Robert diese Antwort probte.

»Nein, er war noch nicht da«, sagte sie matt. »Keine Ahnung, aber der Musterungsbescheid muss jeden Tag kommen.«

»Hast du denn Schiss davor, alleine nach Münster zu gehen? In die Großstadt?«

Sie zögerte. Dann entschied sie sich für die Wahrheit.

»Darum geht es nicht. Ich will einfach da sein, wo Robert ist.«

Das wusste sie schon, seit sie ihn das erste Mal mit seiner Schulband in der Aula spielen gesehen hatte. Wie er lässig auf der Bühne stand und harten Rock sang, sehr zum Missfallen der Lehrer, die lieber deutsche Volkslieder oder doch wenigstens Hotel California gehört hätten, und wie er mit seiner Ausdruckskraft die ganze Schülerschaft mitriss. Das war der Moment gewesen, in dem sie sich unsterblich in ihn verliebt hatte.

»Ich will, dass er mich mitnimmt, wenn er weggeht«, sagte sie. »Egal, wohin. Alles, was zählt, ist, dass er und ich zusammen sind. Der Rest ist mir nicht so wichtig.«

Es wäre einfacher gewesen, wenn bei Robert zuerst die Entscheidung gefallen wäre. Wenn er gesagt hätte, komm, Jenny, wir gehen nach Münster, ich hab da meine Zivistelle, bist du dabei? Sie hätte Ja gesagt, und danach käme, wie passend, die Zusage von der Uni. Dass es umgekehrt lief, dass sie es war, die Fakten schuf, machte es kompliziert. Aber sie konnte auch nicht so tun, als habe sie den Brief noch nicht bekommen, denn sie musste sich ja einschreiben.

»Sollte er nicht da hingehen wollen, wo du bist?«

Sie sah irritiert auf. »Wie meinst du das?«

»Na, wenn du meine Freundin wärst, und du würdest weggehen, dann würde ich versuchen, nachzukommen, weil ich mit dir zusammen sein möchte.«

»Doch nicht Robert. Daran sieht man, dass du noch grün hinter den Ohren bist.«

Damit hatte sie ihn getroffen. Seine Wangen begannen zu glühen, er wirkte verunsichert. »Aber wieso? Ich würde überall hingehen, wo meine Freundin ist.«

»Und das ist total süß von dir«, versuchte sie einzulenken. »Aber Robert, weißt du … er ist ein Rocker. Er macht sein eigenes Ding. Das ist es ja, was ich so toll an ihm finde. Manche Männer sind so, da kannst du nicht einfach Entscheidungen für sie treffen. Sie lieben ihre Freiheit, und das ist was Gutes. Ich will ja genau so einen Mann.«

Sie hörte selbst, wie bescheuert das klang, aber sie wusste nicht, wie sie es besser ausdrücken sollte. Oder hatte sie einfach Schiss, dass Robert sie nicht so sehr liebte wie sie ihn? Dass es ihm egal war, ob sie dabei sein würde oder nicht, wenn er von hier abhaute? Schwafelte sie deshalb was von Männern und Freiheit und Rockmusik? Nein, so war es ganz sicher nicht. Und besser, sie dachte nicht länger darüber nach. Schließlich war sie nicht so wie ihre Mutter, die immer das tat, was der Mann wollte. Und so würde sie auch nie werden.

»Eines Tages wirst du das verstehen«, fügte sie ihren wirren Ausführungen noch hinzu. »Wenn du älter bist.«

Ein Totschlagargument. Aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Sie schwiegen, beide nicht sonderlich zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs. Jenny wechselte das Thema.

»Wollen wir ein bisschen Musik anmachen?«

Denn das war es, was sie beide am liebsten taten: Zusammensitzen, Musik hören und lange darüber diskutieren. Und Jennys Plattensammlung war legendär. In ihrer freien Zeit machte sie jeden Job, den sie gerade ergattern konnte, arbeitete im Supermarkt, in der Fabrik, als Kindermädchen, alles, womit sich Geld verdienen ließ, das sie anschließend in Schallplatten investierte. Da war über die Jahre einiges zusammengekommen. Allerdings durfte nicht jeder Einblick nehmen in die Platten, die bei ihr rumstanden, denn ihr Musikgeschmack machte vor nichts halt. Es waren schon manche Entsetzensschreie durchs Haus geschallt, wenn ihre Freundinnen zu Besuch kamen und sich durch die Plattenstapel arbeiteten. Nicht jedem war zum Beispiel verständlich zu machen, wieso sie haufenweise Schlagerplatten besaß. Vor allem Robert sollte besser nicht wissen, wie vielfältig ihre Sammlung war. Er konnte ziemlich engstirnig sein, wenn es um Genres außerhalb der Rockmusik ging. Und ABBA wäre da noch das Harmloseste, auf das er stoßen könnte. Trotzdem. Sie war mächtig stolz auf ihre Platten, auch auf die Schlagermusik, und vor Basti brauchte sie nichts verstecken. Der wusste Bescheid.

Ihr Bruder hockte sich freudig vor ihren Plattenspieler und beobachtete, wie Jenny den Stapel durchging.

»Worauf hast du denn Lust?«, fragte er.

»Warte es ab. Ich hab da schon eine Idee.«

»Aber keine Schlager! Sonst gehe ich sofort.«

»Auch nicht Vicky Leandros?«, fragte sie scheinheilig.

Er jaulte gequält, was sie zum Lachen brachte.

»Ich hasse Schlager«, meinte er inbrünstig. »Ich bin Musiker. Das ist eine Beleidigung für mich.«

»Oha, du bist Musiker. Weißt du, was Mozart in deinem Alter schon alles komponiert hatte?«

»Ja, ja. Mach dich ruhig lustig über mich. Du lenkst nur davon ab, dass du dich schämen solltest, weil du Schlager hörst. Du bist doch auch Musikerin. Du müsstest es echt besser wissen.«

Dabei war es ja gar nicht so, dass sie vorrangig Schlager hörte. Es war eher ihre heimliche Leidenschaft, für bestimmte Stimmungslagen. Schlager hören, fand sie, das war wie Kirschlikör trinken. Es war warm und klebrig, lullte sie ein, war wie nach Hause kommen, in Watte gepackt und geliebt werden, in einer Welt, in der alles gut war, und dann konnte man noch dazu tanzen. Nein, wenn sie darüber nachdachte, war Schlager hören sogar besser als Kirschlikör trinken.

»Weiß Robert eigentlich, dass du Schlager hörst?«

»Bist du wahnsinnig? Das darf er niemals erfahren.«

»Ich werde schweigen wie ein Grab.«

»Das will ich dir auch geraten haben.«

Sie zog eine Schallplatte hervor, die sie sich von ihrer Freundin Birgit geliehen hatte. Nina Hagen Band. Das Album der Stunde, das im Moment jeder kaufte, der etwas Taschengeld übrig hatte. Jenny würde sich die auch noch zulegen, aber im Moment herrschte Ebbe in ihrer Kasse.

»Guck mal, die hat mir Birgit geborgt.«

»Nina Hagen … Ist das die mit TV-Glotzer?«

»Genau die«, sagte Jenny und ließ die Vinylscheibe vorsichtig in ihre Hand gleiten. »Was meinst du? Hast du Lust?«

Und ob Basti Lust hatte. Jenny legte die Scheibe auf den Plattenteller und drehte die Boxen auf. Ihre Mutter schimpfte zwar gerne, wenn sie zu laut Musik hörten, aber eigentlich war von ihr nichts zu befürchten. Am Ende konnte die sich eh nicht durchsetzen. Deshalb nahmen sie keine Rücksicht und drehten die Lautstärke auf. Denn nur so machte Punkrock richtig Spaß.

Blöderweise hatte Jenny völlig vergessen, dass sie ihren Vater bei den Kaninchenställen gesehen hatte. Sie hätte besser daran gedacht, dass er heute zu Hause war, denn es dauerte nicht lange, da flog die Tür auf und er stürmte mit hochrotem Kopf herein. Ausgerechnet bei Nina Hagen. Ungläubig starrte er seine Kinder an, während es laut und rotzig aus den Boxen dröhnte: »Ich bin nicht deine Fickmaschine, spritz, spritz, das is’n Witz.«

Jenny versuchte noch, zum Lautstärkeregler zu hechten, doch es war zu spät. Entschlossen schritt er durch den Raum und zog brachial die Nadel vom Plattenteller, was ein schreckliches Kreischen in den Boxen verursachte, bevor es totenstill im Zimmer wurde. Birgits Platte, dachte sie geschockt. Hoffentlich hatte die keinen Kratzer abgekriegt. Das würde Birgit ihr nie verzeihen.

»Jenny!«, polterte der Vater drauflos, während er die Platte hochhob. »Bist du verrückt geworden? Was ist denn das für ein Dreck? Dein Bruder ist noch ein Kind, und du …«

»Papa, bitte, die Platte …«

»Ist die von diesem Gammler? Von Robert? Hast du die Schallplatte daher?«

Er wedelte gefährlich unsanft mit der Vinylscheibe herum, seine dicken Finger in die Rillen gedrückt.

»Nein, die ist … Papa, vorsichtig!«

»Das habe ich mir doch gedacht. Dieser Nichtsnutz. Den sollte man ins Straflager stecken.«

»Die gehört nicht Robert«, schrie Jenny und sprang auf.

Sie stellte sich wie eine Schlangenbeschwörerin vor ihren Vater, bereit, das wertvolle und zerbrechliche Stück Vinyl aus seinen Pranken entgegenzunehmen.

»Das ist Nina Hagen«, warf Basti verunsichert ein.

Das hätte er besser nicht gesagt. Denn seit die Sängerin vor ein paar Monaten in einer Talkshow im ORF vor laufender Kamera vorgemacht hatte, wie Frauen am besten onanieren, war ein Sturm der Entrüstung durch die Republik gefegt, ganz besonders durch das elterliche Wohnzimmer.

Ihr Vater starrte Jenny jetzt an wie einen fleischgewordenen Dämon.

»Diese … diese Schlampe? Der werft ihr euer Geld hinterher?«

»Es ist doch gar nicht meine Scheibe. Bitte, Papa. Die gehört …«

»Ich dulde so einen Mist nicht in meinem Haus.«

Er wurde immer wütender, blickte sich um, als suche er nach jemandem, der ihm sagen konnte, was zu tun sei, dann trat er plötzlich und ohne Vorwarnung an ihren Schreibtisch und zerschmetterte die Platte mit einem finalen Ausruf der Empörung (»Nina Hagen!«) an der Stuhllehne.

Die Bruchstücke segelten zu Boden, und Jennys Herz setzte einen Schlag aus. Birgits Platte. Ihr Kopf war wie leergefegt. Wie sollte sie das nur wiedergutmachen?

»Und du«, brüllte der Vater weiter, jetzt an Basti gewandt. »Ab in dein Zimmer, und zwar sofort! Wir reden später.«

Jenny kroch zu ihrem Schreibtischstuhl und sammelte wie betäubt die Scherben auf, als wäre noch irgendetwas zu retten, während Basti den Kopf einzog und davonschlich.

»Diesen Kommunisten siehst du nicht mehr wieder, hörst du?«, schimpfte ihr Vater weiter. »Jetzt ist Schluss. Ein für alle Mal.«

»Aber Robert hat gar nichts mit der Platte zu tun.«

»Ich warne dich, Fräulein.« Er trat mit erhobenem Zeigefinger auf sie zu. »Du willst Musik studieren? Kinder unterrichten? Dann werde erwachsen. So einen Mist kannst du nicht hören, wenn du Pädagogin bist.«

Jetzt kochte Wut in Jenny hoch. Schallplatten waren heilig, so konnte er nicht mit ihnen umgehen, nicht mit Jennys und schon gar nicht mit denen ihrer Freundinnen.

»Ich ziehe eh bald aus. Und weißt du was? Ich bin froh darüber. Dann kann ich machen, was ich will.«

»Ach ja? Dann pass mal auf, Fräuleinchen. Du willst doch mit unserer finanziellen Unterstützung studieren? Dann machst du besser, was ich sage. Dieser Junge ist nicht gut genug für dich. Du gehst alleine nach Münster. Und da wirst du dich endlich mal ein bisschen zusammenreißen.«

»Ich werde da hingehen, wo Robert ist.«

Die Ohrfeige kam so plötzlich, dass sie den Schmerz kaum spürte. Nur die Fassungslosigkeit. Scham und Wut und Demütigung stiegen in ihr auf. Sie kam nicht einmal dazu, ihn hasserfüllt anzustarren. Denn ehe sie reagieren konnte, stapfte ihr Vater aus dem Zimmer und ließ sie allein zurück. Sie hörte ihn auf der Treppe, dann verschwand er nach draußen, sicher wieder zu seinen bescheuerten Kaninchen.

Jenny hatte Tränen in den Augen. Auf keinen Fall würde sie jetzt flennen. Das wäre ja das Letzte. Dieser Idiot hatte sie doch nicht mehr alle.

Wütend stopfte sie den Brief von der Universität zurück in ihre Strickjacke. Sie zog ihre schneeweiße Karottenhose an, die mit der Bundfalte, von der sie wusste, dass Robert sie wahnsinnig gern mochte, und dazu das enge Oberteil. Er liebte ihren makellosen Look, ihre schicken Stiefeletten, die flauschigen Pullover, die blonde Fönfrisur und den Apfelgeruch ihres Shampoos, obwohl er selbst ein Freak war und am liebsten Nietenhosen und Palästinensertücher trug. Und da sie ihn nach der Orchesterprobe am Dorfbrunnen sehen würde, putzte sie sich heraus, so gut es ging. Dass es ihren Vater fürchterlich ärgern würde, war noch ein Bonus. Dann nahm sie ihren Klarinettenkoffer, packte die Noten ein und marschierte lautstark stampfend nach unten.

Vor der Garderobe hockte sie sich hin und zog ihre Stiefeletten an. Ihre Mutter tauchte in der Küchentür auf, brachte eine Wolke von Rouladenduft mit sich und blickte Jenny mit den Augen eines angeschossenen Rehs an.

»Willst du schon los? Du hast doch gar nichts gegessen.«

»Mir ist der Appetit vergangen.«

»Aber ich hab Rouladen gemacht. Ich kann dir schnell einen kleinen Teller befüllen, bevor du zum Orchester gehst. Oder wenigstens einen Kloß und ein bisschen Soße?«

Jenny wurde laut. »Papa hat Birgits Platte kaputt gemacht. Und mir eine gescheuert.«

Ihre Mutter wirkte hilflos. Und untröstlich. Das kannte Jenny schon. Sie würde niemals etwas gegen ihren Ehemann sagen. Sie war ganz groß darin, eine kummervolle Schnute zu ziehen, aber am Ende gab sie Jennys Vater in allem recht. Sagte zu allem Ja und Amen, was der Herr des Hauses befahl.

»Musst du denn die Musik auch so laut machen?«, fragte sie sanft. »Und dann dieses hässliche Zeug. Warum hörst du nicht Roland Kaiser? Den magst du doch auch?«

Jenny stand auf, nahm ihren Klarinettenkoffer.

»Robert bleibt mein Freund, ob ihr wollt oder nicht.«

Damit wandte sie sich ab und spazierte durch die Haustür davon. Ihre Mutter war offenbar zu verdattert, um ihr etwas Passendes hinterherzurufen, doch die Diskussion war für Jenny eh beendet.

Sie marschierte wütend ins Dorf, wo die Musikschule in einem alten Bau aus der Kaiserzeit untergebracht war. Seit ihrem siebten Lebensjahr war das Gebäude so etwas wie ihr zweites Zuhause. Erst die musikalische Früherziehung, dann der Klarinetten- und später der Klavierunterricht, und schließlich das Jugend-Blasorchester, in dem das halbe Dorf mitspielte, und das regelmäßig auf Wettbewerben durch ganz Nordrhein-Westfalen tourte.

Das hohe Portal rückte in ihr Blickfeld und damit auch die anderen, die gerade zur Probe eintrudelten. Teils mit Fahrrädern, teils zu Fuß, schleppten sie ihre Instrumentenkoffer, in denen Posaunen, Saxophone, Tuben und Klarinetten verstaut waren, plauderten, tratschten und verschwanden nach und nach in dem düsteren Gebäude. Jenny entdeckte Birgit, die mit geglätteten Haaren und orangenen Cordhosen über den Platz spazierte. Instinktiv blieb sie stehen, um nicht von ihr gesehen zu werden. Wie sollte sie ihr nur das mit der Nina-Hagen-Platte beibringen? Birgit würde sie umbringen.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Erschrocken wirbelte sie herum. Es war Robert. Er stand einfach da und grinste schief, eine selbstgedrehte Zigarette im Mundwinkel und sichtlich zufrieden damit, sie überrascht zu haben. Der ganze Ärger, den sie gegenüber ihren Eltern verspürte, verflog augenblicklich.

»Robert. Was machst du denn hier?«

»Ich habe Neuigkeiten für dich, Jenny.«

Am liebsten hätte sie ihn geküsst, aber auf dem Parkplatz hinter ihm stand ein Opel Manta mit laufendem Motor, in dem seine Freunde hockten und herübersahen, als wären sie im Autokino. Sie grinsten breit und gafften. Irgendwas lief hier, aber sie hatte keine Ahnung, was.

»Neuigkeiten?«, fragte sie. »Was denn für welche?«

Als wäre er ein Magier auf der Bühne, zog er einen zerknitterten Brief aus seiner Gesäßtasche, faltete ihn auseinander und hielt ihn ihr entgegen. Es war ein Schreiben vom Kreiswehrersatzamt.

»Hier. Was sagst du jetzt?«

»Ist das dein Musterungsbescheid? Hast du ihn endlich?«

Damit wäre die Frage mit Münster hoffentlich geklärt. Er würde diese bescheuerte Musterung hinter sich bringen und seinen Zivildienst antreten.

»Wann musst du denn zum Kreiswehrersatzamt? Denkst du, du schaffst das? Hast du Schiss?«

»Nein, ich hab keinen Schiss. Im Gegenteil.« Er strahlte sie an. »Ich habe es mir nämlich anders überlegt.«

Er sah ihren Gesichtsausdruck und lachte, überaus zufrieden mit sich. Einer seiner Kumpel drückte auf die Hupe, als wäre es der Tusch bei einer Büttenrede an Karneval. Alle schienen sich königlich zu amüsieren.

»Mach schon, Robert!«, rief einer.

»Ja, leg los!«, ein anderer.

Jenny verstand gar nichts mehr. Robert tat zwar so, als würde er wollen, dass seine Freunde ihn in Ruhe ließen, indem er ihnen einen genervten Blick zuwarf. Insgeheim schien er die Aufmerksamkeit jedoch zu genießen, denn er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Womit sollst du loslegen?«, wollte Jenny wissen. »Was geht denn hier ab?«

Er antwortete nicht, sondern zog sein silbernes Benzinfeuerzeug aus der Tasche, hielt es unter das Schreiben und entzündete die Flamme.

»Robert, dein Bescheid. Spinnst du? Hör auf damit!«

Schon hielt er das Feuerzeug an den Zettel, der sofort in Flammen aufging. Er ließ ihn eilig los, und das lodernde Papier segelte brennend zu Boden, begleitet von Jubel aus dem Manta. Die Jungs ließen Bierdosen zischen, prosteten und gratulierten.

»Was soll das alles, Robert?«

»Ich gehe nicht zur Musterung.«

»Aber … die stecken dich ins Gefängnis.«

»Nur, wenn ich als Staatsbürger die Pflicht habe, den Wehrdienst zu leisten.«

»Die hast du ja auch. Was denn sonst?«

»Tja. Ich sage ja, ich habe Neuigkeiten.«

Der Motor heulte, eine Abgaswolke stob auf. Jenny warf einen genervten Blick zu Roberts Freunden hinüber. Konnten diese Idioten sich nicht verziehen?

»Es ist doch offensichtlich, oder? Ich gehe weg.«

»Du gehst …? Aber wohin?«

»Nach Berlin natürlich.«

Jenny blieb der Mund offen stehen. Sie fühlte sich völlig überrumpelt. Bruchstückhaft setzte das Begreifen ein. Wer in der Mauerstadt lebte, musste nicht zum Militärdienst. Das war eine Sonderregel für Berlin aufgrund des Viermächte-Status. Ihr Vater konnte stundenlang auf die »Vaterlandsverräter« schimpfen, auf die »ehrlosen« jungen Männer, die nach Berlin zogen, um dem Bund zu entgehen. Berlin. Das war das Zweite, was zu ihr durchdrang. Er wollte gar nicht mehr mit ihr nach Münster.

»Ist das nicht abgefahren, Jenny? Was sagst du jetzt?«

Als wenn sie in der Lage wäre, irgendwas zu sagen.

»Du müsstest dein Gesicht sehen!«

Er packte sie an den Schultern, drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Zuerst nur flüchtig und mit einem Grinsen im Gesicht, aber dann wurden seine Lippen weich und die Berührungen zärtlich. In ihrer Brust begann alles zu flattern, wie jedes Mal, wenn er ihr das Gefühl gab, dass es nur sie gab, dass sie beide plötzlich ganz allein auf der Welt waren. Sie vergaß, was um sie herum passierte, und gab sich ganz dem Kuss hin. Bis der Motor des Mantas wieder aufjaulte.

»Komm, Robert, wir wollen los!«, rief einer der Jungs.

Es sah aus, als brauchte Robert ebenfalls einen Moment, um wieder zu sich zu kommen. Als würde auch sein Herz wild klopfen und seine Brust voller Schmetterlinge sein.

»Ja, gleich«, antwortete er, ohne sich umzusehen. »Komm später zum Brunnen, Jenny, da besprechen wir alles.«

»Aber was ist denn mit Münster? Du wolltest doch …«

Weiter kam sie nicht. Der Manta rollte an ihnen vorbei, die Tür wurde aufgehalten, und Robert wandte sich ab, um seinen Freunden hinterherzujagen und sich ins Wageninnere zu schwingen.

»Komm zum Brunnen«, rief er, winkte noch kurz durchs offene Fenster, dann knatterten sie davon. Und alles, was Jenny von ihm blieb, war der verbrannte Musterungsbescheid zu ihren Füßen und damit ihre gesamten Zukunftspläne, die von einem Augenblick auf den anderen zu Asche zerfallen waren.

2

Drei Wochen später

Diesmal war ihre Mutter zuerst am Briefkasten gewesen, das war wirklich blöd gelaufen. Jenny hatte nicht die Chance gehabt, den Brief rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Als sie in die Küche spazierte, entdeckte sie den Umschlag mitten auf dem Tisch, demonstrativ an den Salzstreuer gelehnt. Das Wappen der Freien Universität Berlin war nicht zu übersehen. Jenny schluckte. Ihre Eltern wussten nichts von ihrer Bewerbung.

»Hast du den Brief aufgemacht?«, fragte sie alarmiert.

»Der ist an dich adressiert«, entgegnete ihre Mutter beleidigt. »Denkst du etwa, ich öffne deine Post?«

Mist. Jenny nahm das Schreiben auf. Dabei hatte sie sich solche Mühe gegeben, jeden Tag die Post abzupassen. Jetzt war es raus. Sie warf ihrer Mutter einen Seitenblick zu. Die hatte sich demonstrativ den Töpfen zugewandt und wischte theatralisch mit dem Handrücken eine Träne weg.

»Der ist aus Berlin«, stellte ihre Mutter mit erstickter Stimme fest. »Von der Universität. Ich dachte zuerst, das sei Einbildung.«

Jetzt bitte kein Drama, dachte Jenny. Sie wollte am liebsten in ihr Zimmer abhauen, um den Umschlag aufzureißen und nachzusehen, was drinstand. Doch ihre Mutter war noch nicht fertig mit ihr.

»Warum schreiben die dir, Jennifer? Kannst du mir das bitte erklären?«

»Wie soll ich das wissen? Ich hab ihn ja noch gar nicht aufgemacht.«

»Hör auf damit. Du weißt genau, was ich meine. Jetzt sag schon.«

Sie seufzte. »Na gut, ich hab mich halt beworben. Aber nur so zum Test, mehr nicht. Ich wollte mal meine Chancen ausloten.«

»Aber weshalb hast du das gemacht? Du willst doch nicht etwa nach … Berlin?«

Das letzte Wort ließ sie wie ein Schimpfwort klingen. Natürlich. Die Stadt war das Schreckgespenst aller Eltern in der Provinz. Sie stand für Anarchie, für Studentenproteste, Hausbesetzer und Drogenabhängige. Für alles, was ihre spießige Welt erschüttern konnte. Es war der letzte Ort auf der Welt, an dem man das eigene Kind wissen mochte.

»Ich verstehe das nicht«, klagte ihre Mutter. »Du gehst nach Münster. Es ist alles unter Dach und Fach. Was soll denn das plötzlich? Wieso hast du das gemacht?«

»Ich habe mich nur beworben, Mama. Mehr nicht.«

»Du willst zu Robert.«

»Mama …«

»Ich wusste es doch! Jennifer, er ist nicht der, für den du ihn hältst. Glaub mir, ich kenne mich da aus. Das wird böse enden.«

»Mama, bitte. Ich habe doch noch gar nicht …«

»Willst du etwa drogensüchtig werden?« Ihre Stimme überschlug sich. »Ist es das? Willst du dein ganzes Leben wegwerfen?«

Ihre Mutter bezog sich dabei auf das Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, den großen Bestseller, den fast jeder verschlungen hatte, den Jenny kannte. Seit ihre Mutter ihn gelesen hatte, war Berlin in ihrem Kopf vollends zur Horrorvorstellung verkommen. Im echten Leben könnte sie wahrscheinlich einen Joint nicht von einer Heroinspritze unterscheiden, doch nach der Lektüre dieses Buches gab sie sich als Expertin und sah sofort rot, wenn es um irgendeine Art Rauschmittel ging. Und dass der Grund, weshalb so viele in Jennys Alter dieses Buch liebten, aus dem Drang heraus rührte, der erdrückenden Atmosphäre in den spießigen Wohnzimmern der Elterngeneration zu entkommen, begriff sie einfach nicht.

»Mama, nur weil ich nach Berlin gehe, heißt das nicht, dass ich heroinabhängig werde. Man kann dort genauso studieren wie überall sonst. Die Uni hat einen sehr guten Ruf.«

»Das heißt, du gehst wirklich nach Berlin.« Ihre Mutter erbleichte. »Willst du mir das damit sagen?«

»Nein. Ja. Ich weiß nicht. Ich habe das noch nicht entschieden.«

Mehr konnte sie nicht sagen. Sie wusste ohnehin noch nicht, was in dem Brief stand. Außerdem musste sie erst darüber nachdenken. Sie hatte ja selbst ein bisschen Schiss vor Berlin, obwohl ihr Bild von der Stadt ein anderes war als das ihrer Mutter. Auch sie war ein bisschen überfordert bei der Vorstellung, in diese eingemauerte Stadt mit ihren durchgeknallten Bewohnern, dem schmutzigen Glamour, den Straßenkämpfen und Drogentoten, in den permanenten Ausnahmezustand zu ziehen. Sie bekam Angst vor ihrer eigenen Courage, wenn sie darüber nachdachte. Und jetzt auch noch ihre Mutter. Das letzte, was sie brauchen konnte, war jemand, der komplett am Rad drehte, wenn es um so eine Entscheidung ging.

»Tu mir das nicht an, Kind. Das würde mich umbringen. Ich habe doch so schon Probleme mit dem Herzen. Mein Blutdruck, das weißt du. Willst du dafür verantwortlich sein, wenn ich einen Herzinfarkt bekomme?«

»Mama, ich weiß doch noch gar nicht …«

»Du kommst unter die Räder, Jennifer. Das nimmt kein gutes Ende mit dir. Robert hat einen schlechten Einfluss auf dich. Man weiß ja, wie das läuft.«

»Mama, ich will doch nur …«

»Er wird dich zu Sachen überreden, die nicht gut für dich sind. Jenny, ich kenne dich. Du kannst nicht Nein sagen. Du willst, dass Robert dich cool findet. Und dann machst du alles mit. Du wirst untergehen, schneller, als du glaubst.«

»Jetzt hör schon auf. Wenn du mich kennst, dann solltest du wissen, dass ich sehr wohl Nein sagen kann.«

»Aber Berlin ist einfach kein Ort für dich, Jennifer. Sei bitte vernünftig. Du willst doch nicht wirklich dahin.«

Jenny wurde plötzlich laut. »Ich weiß es nicht!«

Du liebe Güte. Sie wollte doch erst mal den Brief lesen und in Ruhe nachdenken.

»Ich habe das noch nicht entschieden.«

Ihre Mutter presste die Lippen aufeinander. Wie ein geprügelter Hund wandte sie sich zum Herd. Leise murmelte sie: »Da wird dein Vater noch ein Wörtchen mitreden.«

Jenny stöhnte auf, schnappte sich den Brief und verließ die Küche. Es hatte ja doch keinen Zweck, sich mit ihrer Mutter darüber zu unterhalten. Sie stürmte hoch in ihr Zimmer, schloss die Tür und riss den Umschlag auf. Sie holte das Schreiben heraus und überflog es. Wieder eine Zusage. Sie würde in Berlin Primarstufe studieren können, wenn sie das wollte. Die Aufnahmeprüfung für Musik sei noch nachzuholen, an der Hochschule der Künste, wo der musikalische Teil des Studiums stattfinden würde, aber alles andere stand ihr schon offen.

Sie seufzte tief. Es war ehrlich gemeint gewesen, was sie zu ihrer Mutter gesagt hatte. Sie wusste noch nicht, was sie tun sollte. Berlin war so eine Riesenstadt. Eingemauert in Feindesland, voller Punks und Linker und Altnazis, Tür an Tür. Es gab ständig Demos und Polizeihundertschaften auf den Straßen, die Alternativen befanden sich im Krieg mit der Obrigkeit, Hausbesetzer und Radikale warfen Steine und machten Krawall. Dann gab es diese deprimierende Drogenszene, den Schmutz rund um den Bahnhof Zoo, und dazu die ständige Gegenwart des Kalten Kriegs und die Bedrohung durch den nuklearen Overkill. Es gab keine Sperrstunde, keine Regeln, und obwohl ihre Mutter völlig überreagierte, weil sie überzeugt war, dass ihre Tochter mit einer Spritze im Arm auf der Bahnhofstoilette enden würde, machte auch Jenny sich Sorgen, was die Gefahren anging. Ihre Freundinnen studierten in Düsseldorf oder Münster, wenn sie nicht gleich im Dorf blieben. Den meisten war Köln schon zu wild und gefährlich. Jenny hatte die Bewerbung nur aus einem Impuls heraus abgeschickt, weil ihr Robert so fehlte.

»Sei nicht traurig, Jenny«, hatte er beim Abschied gesagt. »Du besuchst mich, sobald ich mich eingelebt habe. Wir denken uns was aus. Nichts kann uns trennen, hörst du? Ich bin ja nicht aus der Welt. Nur in Berlin.«

»Aber ich möchte jetzt mit dir zusammen sein.«

Er war unter seinem R4 Kastenwagen hervorgeklettert, den er für den Umzug und die lange Fahrt durch die Zone auf Vordermann brachte, und hatte sie zärtlich in den Arm genommen. Jenny konnte nicht anders, die Tränen begannen zu laufen. Das passierte ihr sonst nicht, dass sie einfach so losflennte. Aber Robert beim Aufbruch in ein neues Leben ohne sie zuzusehen, das war einfach zu viel.

»Nicht doch, Jenny. Nicht weinen.«

»Es geht schon«, sagte sie und wischte sich beschämt die Tränen fort. »Mach dir keine Gedanken um mich.«

Du weißt, ich liebe das Leben, hätte sie beinahe gesagt, aber sie wollte in seiner Gegenwart lieber keinen Schlager von Vicky Leandros zitieren.

»Sieh es doch so, Jenny: Ich gehe vor und lerne die Stadt schon mal kennen. Und wenn du kommst, kann ich dir alles zeigen. Wir werden nicht lange getrennt sein, und wenn wir wieder zusammen sind, wird es umso schöner werden.«

»Meinst du wirklich?«

»Na klar, ich baue unser Nest auf. Du kommst nach Berlin, sobald sich alles gesetzt hat. Und dann sind wir wieder zusammen.«

Daraufhin liebten sie sich im Innern des Kastenwagens. Sex im Auto, das war in dem engen Renault immer total ungemütlich gewesen, aber an diesem Tag war es anders – Abschiedssex, so richtig romantisch. Sie schmiegten sich eng aneinander, er hielt sie, war sanft und zärtlich, stark und sensibel, stürmisch und zaghaft, alles zugleich.

Bevor er fuhr, machte er ihr ein Geschenk. Damit sie etwas habe, was sie an ihn erinnere. Es war eine Single von David Bowie. »Heroes«. Der Song sei in der Mauerstadt aufgenommen worden, meinte er, er gehöre fest zu Berlin. Jenny solle die Single hören, bis sie sich wiedersähen. Es sei nun ihr gemeinsamer Song. Er habe zwei Singles gekauft, sagte er, eine für sie und eine für sich selbst, und wenn sie die Scheibe hörten, dann sei es, als wären sie beieinander, egal, wie viele Kilometer und Grenzanlagen sie trennten. Nichts könne sie auseinanderbringen, schon gar nicht die Tatsache, dass sie sich ein paar Monate nicht sähen. Und dann sang er flüsternd die bekannten ersten Zeilen in ihr Ohr. I, I will be king, and you, you will be queen. So würde es sein, wenn sie nach Berlin käme. Sie würden Helden sein, wie in dem Song von David Bowie. ’Cause we’re lovers.

Seit diesem Nachmittag lief die Scheibe Tag und Nacht auf ihrem Plattenteller. Sie brachte es nicht über sich, irgendwas anderes zu hören. Basti hatte sich schon darüber lustig gemacht, dass gar keine Schlager mehr aus ihrem Zimmer drangen. Aber das war ihr egal.

Als ihre Mutter sie eine halbe Stunde später zum Mittagessen rief, löste sich Jenny nur widerwillig von ihrem Plattenspieler und der Stimme von David Bowie. Die Stimmung in der Küche war erdrückend und das gemeinsame Essen unerträglich. Ihre Mutter saß schweigend da und litt demonstrativ unter dem, was ihre Tochter ihr antat. Sie aß so gut wie nichts, starrte über den Tisch hinweg ins Leere, schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf oder schnäuzte sich bebend die Nase. Jenny, die eigentlich tierischen Hunger hatte, schaffte es deshalb auch nicht, viel zu essen. In so einer Atmosphäre konnte sie einfach nicht kräftig zulangen.

Sie war froh, als sie nach dem Essen endlich abhauen konnte. Hauptsache weg hier, dachte sie, als sie nach draußen schlüpfte. Vor der Haustür atmete sie durch und schüttelte die miese Stimmung aus der Küche ab. Dann marschierte sie schnurstracks ins Dorf, gerade noch rechtzeitig für ihre Verabredung am Marktplatz.

Ihrer Mutter hatte sie gesagt, dass sie sich mit Birgit treffen wolle, aber das war nur ein Vorwand gewesen. Ihr eigentliches Ziel behielt sie besser für sich. Der erzähle ich am besten gar nichts mehr, dachte sie, denn das wäre nur der Auftakt für das nächste Drama. Am Markt angekommen, sah sie mit Erleichterung, dass die gelb leuchtende Telefonzelle frei war. Niemand war in der Nähe und keiner schien vorzuhaben, den Münzfernsprecher zu benutzen. Und kaum hatte sie die Zelle erreicht, begann wie auf Stichwort die Kirchturmuhr zur vollen Stunde zu läuten. Jenny war keine Minute zu früh, stellte sie fest, und im gleichen Moment begann auch der öffentliche Fernsprecher lautstark zu klingeln.

Sie zog die Tür auf, quetschte sich in die muffige Zelle und nahm den Hörer von der Gabel.

»Hallo, wer ist da?«

»Na, wer soll hier schon sein.«

Roberts Stimme fühlte sich an wie warmer Honig.

»Du bist ja pünktlich auf die Minute.«

»Wer weiß, wen ich sonst erreicht hätte in deiner Telefonzelle.«

Er hatte sich die Nummer des Fernsprechers aufgeschrieben, bevor er gegangen war. So konnte er sie aus Berlin anrufen, ohne dass ihre Eltern etwas mitbekamen. Er hatte selbst kein Telefon und stand ebenfalls irgendwo in einer Telefonzelle, wo er regelmäßig Münzen nachwerfen musste.

Jenny wollte ihm sofort von ihrem Studienplatz erzählen, denn er wusste noch gar nichts von der Bewerbung. Es würde auch für ihn eine Überraschung sein, was sie da in die Wege geleitet hatte. Sie war gespannt, wie er reagieren würde.

»Stell dir vor, ich habe Iggy Pop gesehen«, platzte es aus Robert heraus. »Gestern Nacht.«

Alle Gedanken an ihr Studium waren wie weggewischt.

»Unmöglich«, rief sie aus. »Du nimmst mich auf den Arm.«

»Nein, ich schwöre es. Er stand im ›Dschungel‹. Das ist so eine Disco hier. Stand einfach alleine an einer Säule rum. Ist das nicht irre? Alle waren viel zu cool, um sich nach ihm umzugucken. Die haben den einfach ignoriert. So sind die hier. Du kannst sein, wer du willst, und machen, was du willst. Es stört sich keiner dran. Ich sag dir, du musst unbedingt herkommen und mich besuchen, Jenny. Was meinst du, wann du das mal machen kannst?«

»Besuchen, ja … Du, da ist etwas, was ich dir erzählen muss.«

»Hier gibt es so viel zu sehen. Weißt du, hier sind überall Punks, wie in England. Und total viele verrückte Leute. Discos, Kneipen, Konzerte, es ist immer was los. Stell dir vor, man trifft sich erst um elf, wenn man ausgehen will. Da fängt der Abend erst an. Vor elf geht gar nichts. Ist das nicht durchgeknallt? Wo man bei uns schon ins Bett geht, trifft man sich hier in der Kneipe und trinkt erst mal einen Kaffee, bevor es losgeht. Wir müssen unbedingt mal zusammen ausgehen, wenn du mich besuchst, Jenny. Die Nacht zum Tag machen. Das wird phantastisch.«

Robert war voller Energie, voller Lebendigkeit. Alles klang so aufregend und abenteuerlich, fand Jenny. Berlin. Ein warmes Gefühl durchflutete sie. We can be heroes, just for one day.

»Vielleicht komme ich ja schon bald …«

»Ich werde wohl Weihnachten heimkommen, geht nicht anders. Meine Alten haben darauf bestanden. Weihnachten mit Oma und Opa, als wenn ich mir nichts Besseres vorstellen könnte. Aber dann dachte ich, ist egal, dann sehen wir zwei uns wenigstens.«

»In den Weihnachtsferien? Aber das ist noch ewig hin.«

»Ach, die Zeit vergeht ganz schnell, Jenny. Eher kann ich nicht. Und du musst dich ja auch erst mal in Münster einleben. Außerdem habe ich ehrlich gesagt gar keine Lust, zurück nach Westdeutschland zu fahren. Ich mein, versteh mich nicht falsch. Du willst mich doch eh bald besuchen, oder? Vielleicht mal über ein langes Wochenende oder so.«

»Robert, ich muss dir was sagen.«

Es piepte in der Leitung. Das hieß, die Zeit war abgelaufen. In zehn Sekunden, wenn Robert bis dahin keine Münzen nachgeworfen hatte, würde die Verbindung abbrechen. Es klackerte leise am anderen Ende, dann hörte das Piepen auf. Sie hatten einen Aufschub bekommen.

»Das waren meine letzten Groschen, Jenny.«

Sie musste also zur Sache kommen.

»Robert, ich habe mich an der FU beworben. Die haben mich angenommen. Ich kann in Berlin studieren.«

Stille in der Leitung.

»Robert? Bist du noch da?«

»Aber … du studierst doch in Münster?«

»Ich habe noch schnell eine Bewerbung für Berlin rausgeschickt und heute die Zusage bekommen. Ist das nicht der Wahnsinn? Was sagst du jetzt?«

Er sagte gar nichts. Jenny hatte damit gerechnet, dass er außer sich wäre vor Freude. Dass er herumspringen würde, jubeln, loslachen und die Telefonzelle vor lauter Triumphgefühl demolieren würde. Doch stattdessen Stille.

»Willst du denn nicht, dass ich komme?«

»Doch, natürlich.«

»Aber?«

»Aber für immer? Weißt du, hier ist nicht viel Platz. Nur ein Zimmer, Küche und Flur. Ich kann dir gar nichts bieten. Es gibt nicht einmal eine Zentralheizung.«

»Ich brauche doch keine Zentralheizung.«

»Das sagst du jetzt, aber … Komm doch erst mal zu Besuch und sieh dir alles an. Ob es dir überhaupt gefällt. Ich komme Weihnachten doch ins Münsterland, und dann sprechen wir in Ruhe darüber. Was hältst du davon?«

»Wir müssen nicht darüber sprechen. Wir wollten doch zusammen nach Münster, und jetzt, wo du in Berlin bist, gehen wir halt zusammen dahin. Stand By Your Man, das weißt du doch.«

Er holte tief Luft. »Jenny, ganz ehrlich, ich bin nicht sicher, ob das hier so das Richtige für dich ist.«

»Wieso das denn?«

»Na ja, ich kann mir vorstellen, dass es dir gar nicht gefällt. Berlin, meine ich. Komm doch erst mal zu Besuch. Ich mein, du passt doch eigentlich ganz gut ins Münsterland. Die Stadt hier ist echt ein anderes Pflaster. Härter und schmutziger, verstehst du? Die Leute ticken anders. Bevor du dich entscheidest, solltest du dir das besser mal ansehen. Nicht, dass du es später bereust.«

Umso länger er redete, desto enger wurde es ihr in der Brust. Was war denn plötzlich los mit ihm? Das konnte doch nicht sein Ernst sein.

»Willst du denn nicht, dass wir zusammen sind?«

»Doch, auf jeden Fall. Ich will nur sagen, ich …«

Erneut begann es in der Leitung zu piepen.

»Die Verbindung ist gleich weg, Jenny.«

Es rumpelte und polterte am anderen Ende, offenbar suchte er hektisch nach Kleingeld. Gleichzeitig plapperte er wild drauflos, im Kampf gegen die Zeit.

»Wir reden da in Ruhe drüber, ja? Übermorgen, die gleiche Zeit. Ich rufe dich in der Zelle an. Ich freue mich doch, wenn wir uns wiedersehen, Jenny. Ich kann’s kaum erwarten, echt. Aber du solltest jetzt nichts überstürzen. Versteh mich nicht falsch, ich finde natürlich – «

Die Leitung war tot. Sie war allein auf dem Marktplatz, abgeschnitten von Robert. In ihrem Kopf rauschte es. Sie fühlte sich wie gelähmt. Er hatte sich gar nicht gefreut. Was ging in ihm vor? Glaubte er, sie wäre ihm ein Klotz am Bein? Dass er sein Leben für sie ändern müsste? Oder gar auf sie aufpassen? Sie kamen doch aus dem gleichen Kaff. Er kannte sie. Wieso tat er plötzlich, als wäre sie von einem anderen Planeten?

Verunsichert blickte sie über den Marktplatz. Die Herbstsonne leuchtete, Insekten schwirrten durch die Luft. Irgendwo in der Ferne dröhnte eine Erntemaschine. Robert war weit entfernt und unerreichbar. Sie atmete einmal tief durch. Sie musste jetzt ruhig bleiben und durfte nicht in Panik geraten. Wahrscheinlich hatte sie ihn nur überrumpelt. Trotzdem hallte in ihrem Kopf nach, was er gesagt hatte: Du passt doch ganz gut ins Münsterland.

Unglücklich kehrte sie nach Hause zurück, verkroch sich in ihrem Zimmer und hörte David Bowie. Immer wieder, um ihre Nerven zu beruhigen. We can be heroes. Robert hatte versprochen, ein Nest für sie zu bauen. Vielleicht hatte er in dem ganzen Trubel vergessen, was er für sie fühlte. Vielleicht musste er nur daran erinnert werden. Wenn sie mit ihm reden könnte, ohne dass Hunderte von Kilometern sie trennten, von Angesicht zu Angesicht, dann würde sicher alles wieder gut werden.

Als die Single zu Ende war, hob sie den Arm des Plattenspielers und setzte ihn wieder am Anfang ab. Und noch mal. Und noch mal. Bis irgendwann Basti vom Klavierunterricht nach Hause kam und kurz darauf an ihrer Zimmertür klopfte. An Bowie in Dauerschleife hatte er sich längst gewöhnt, trotzdem drehte Jenny die Musik leiser, als er eintrat.

»Ist was passiert?«, wollte er wissen. »Mama schmollt die ganze Zeit vor sich hin, will aber nicht sagen, warum. Hattet ihr Streit?«

Jenny nahm das Schreiben der FU vom Schreibtisch und reichte es ihm. Basti war der Einzige, der von der Bewerbung gewusst hatte, deshalb war die Sache für ihn keine große Überraschung.

»Mama hat die Post abgepasst«, klärte sie ihn auf. »Sie weiß über Berlin Bescheid.«

»Das ist ja eine Zusage. Mensch, Jenny, klasse!«

Er reichte ihr den Brief zurück.

»Aber … heißt das, du wirst jetzt nach Berlin gehen?«

»Ich weiß nicht. Robert hat sich gar nicht gefreut. Ich habe eben mit ihm telefoniert. Ich glaub, er will nicht, dass ich komme.«

Gespannt blickte sie ihren Bruder an. Sie hoffte, er würde ihr die Zweifel ausreden. Würde sagen, Robert sei sicher ganz aus dem Häuschen, wenn sie komme, er könne das nur nicht so zeigen, sie kenne ihn doch, und sie solle sich da mal keine großen Sorgen machen. Doch stattdessen lächelte er nur mitfühlend. Jenny fühlte sich sofort wieder elend. Nicht einmal Basti glaubte an ihre Liebe.

»Ich glaube, ich muss da mal hin, einfach, um vor Ort zu sein«, sagte sie. »Er will ja, dass ich zu Besuch komme, sobald er sich eingelebt hat. Das hat er immer wieder gesagt. Und wenn ich erst mal da bin, und er sieht, dass ich total gut klarkomme in Berlin und dass es mir wahnsinnig gefällt in der Stadt, dann löst sich das Problem bestimmt in Luft auf. Ich könnte jetzt am Wochenende fahren, was meinst du? Mich hält hier ja nichts. Am besten gehe ich gleich zum Bahnhof und frage am Schalter nach, was der Zug kostet.«

»Robert ist doch gar nicht gut genug für dich.«

Sie sah überrascht auf. Was war das denn jetzt? Basti hockte mit düsterer Miene auf ihrer Bettkante, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr kleiner Bruder. Es rührte ihr Herz, wie er für sie Partei ergriff, auch wenn er die Sache mit Robert total falsch einschätzte.

»Wieso denn nicht?«, fragte sie.

»Er ist ein Idiot. Er weiß gar nicht, was er an dir hat.«

»Ach, Basti. Du bist echt süß.«

Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Offenbar fühlte er sich nicht ernst genommen.

»Robert ist kein Idiot«, sagte sie nachsichtig. »Er ist Künstler. Hast du ihn auf der Bühne gesehen? Bestimmt wird er mal berühmt. Er ist dafür geboren. Wenn der in Berlin die richtige Band findet, dann geht es steil bergauf. Und überhaupt, einfach alleine nach Berlin zu gehen, das finde ich unheimlich mutig, weißt du? Er macht sein Ding, er lässt sich von keinem was sagen.« Sie seufzte. »Ich wünschte, ich wäre ein bisschen mehr so wie er. Dann hätte ich keinen Schiss vor der Stadt.«

»Aber was ist es denn, was du willst?«, fragte Basti.

»Du meinst, mit Robert?«, fragte sie verständnislos.

»Nein, ich meine, willst du überhaupt nach Berlin?«

»Ich will da sein, wo Robert ist. Was denn sonst? Ich dachte, das ist klar.«

»Und das ist schon alles?«

Sie begriff immer noch nicht, worauf er hinauswollte.

»Nein, natürlich nicht«, sagte sie. »Ich will hier raus. Unabhängig sein und mein eigenes Ding machen. Ich möchte Musik studieren. Berlin müsste es jetzt für mich nicht unbedingt sein, aber das ist schon in Ordnung.«