Wo die Henne Wasser trinkt - Kasper Behm - E-Book

Wo die Henne Wasser trinkt E-Book

Kasper Behm

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Beschreibung

"Wo die Henne Wasser" trinkt ist die Geschichte von fünf Männern. Zwei Großvätern in zwei Kriegen. Einem Vater mit Kind und einem Vater ohne Kind. Das Bindeglied ist Bim Bam, dessen Mutter beschlossen hat, dass er der Sohn von Herbert ist, wobei auch vieles für den Gastarbeiter Hrvoje spricht. Doch der ist als Vater unerwünscht. Und so vergeht ein halbes Leben, bis er erfährt, dass er einen Sohn hat. Mal melancholisch, mal skurril erzählt Kasper Behm von einem Gefangenenlager in Utah, der Sturmflut in Bremerhaven, von einem Hundefriseur in Jugoslawien, Marienerscheinungen und dem Massaker in Bleiburg. Aus dieser Collage schält sich heraus, dass die Frage "Woher kommst du?" nach neuen Antworten verlangt.

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Seitenzahl: 384

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Kasper Behm

Wo die Henne Wasser trinkt

   

Wo die Henne Wasser trinkt

Kasper Behm

© schruf & stipetic GbR, Berlin 2022

www.schruf-stipetic.de

© 2021 Kasper Behm

Covergestaltung: JBC

Verwendetes Foto: Ferdinand Stohr, Unsplash

ISBN: 978-3-944359-73-1

Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung nur nach

ausdrücklicher Genehmigung der schruf & stipetic GbR

Inhalt

I

Zadar, Kroatien 2018

Stuttgart, Westdeutschland 1976

Gorica, Jugoslawien 1962

Bremerhaven, Westdeutschland 1962

Salina, Utah 1945

Zadar, Jugoslawien 1967

Zadar, Kroatien 2018

New York City, New York 1945

Starigrad, Jugoslawien 1918

Starigrad, Jugoslawien 1923

Bremerhaven, Westdeutschland 1967

II

Stuttgart, Westdeutschland 1983

Zadar, Kroatien 2018

Stuttgart, Westdeutschland 1976

Wesermünde, amerikanische Besatzungszone 1945

Bleiburg, Kärnten 1945

Zadar, Kroatien 2018

Heilbronn, Westdeutschland 1990

Zadar, Jugoslawien 1974

Starigrad, Jugoslawien 1945

Bremerhaven, britische Besatzungszone 1946

Nova Sela, Kroatien 2018

Gorica, Jugoslawien 1985

Gorica, Jugoslawien 1985

Zadar, Jugoslawien 1956

Gerstungen, Deutsche Demokratische Republik 1970

Medjugorje, Bosnien und Herzegowina 2018

Zadar, Kroatien 1991

III

Mannheim, Deutschland 2013

Stuttgart, Westdeutschland 1988

Zadar, Kroatien 2018

Medjugorje, Bosnien und Herzegowina 2018

I

Die Sonne würde draußen bleiben und nicht durch das Fenster passen, so voll und ausgefüllt würde der Raum sein von den fünf Männern darin, von denen drei körperlich anwesend sein würden, ein weiterer durch ein Foto an der Wand und einer nur durch seinen Duft. Kein Wort würde hinein- und zwischen sie passen, kein Wort über all das, was sie übereinander wussten, und auch kein Wort über all das, was sie nicht übereinander wussten oder noch nicht oder schon nicht mehr. Der Sohn würde die Hände in die molligen Hüften stemmen und seine zwei Väter würden es ihm nachtun, fast so, als ließe sich daran endlich erkennen, wer von ihnen beiden nun der richtige Vater war, der echte, oder einfach nur der bessere. Sie würden albern aussehen und der Sohn würde denken, dass er am Ende vielleicht nicht einen Vater zu viel hatte, sondern dass er zu wenig war. Wo ein Vater zu viel ist, ist einfach nur ein Sohn zu wenig, würde er denken. Er würde es auch sagen und sich dann dafür schämen, nachdem niemand gelächelt haben würde, nicht die beiden Väter, nicht der Mann auf dem Foto und auch nicht der Duft, den der Sohn liebte, den der eine Vater hasste und der andere Vater nicht kannte. Die Sonne würde draußen warten und sich weigern, weiterzuwandern. Sie würde die Zeit anhalten, und dem Mann auf dem Foto an der Wand würde das als Einzigem auffallen, so genau kannte er ihren routinierten, täglichen Lauf durch das Zimmer. Die Sonne würde unbeweglich scheinen, auf das Haus und den Walnussbaum dahinter. Sie würde scheinen auf die schmale und brüchige Straße davor und das kleine Mäuerchen gegenüber. Sie würde staunen, wie sich drinnen die Lippen bewegten, und nichts hören. Und drinnen würde der Sohn die Fassung verlieren, weil auch er nichts hören und nur sehen würde, wie sich die Lippen bewegten, auch seine eigenen und auch die des Mannes auf dem Foto und sogar die des Duftes. Es war ein Fehler, dass sie alle hier waren, würde er denken. Es sei sein Fehler, sie alle hierhergebracht zu haben, würde er sagen.

Zadar, Kroatien 2018

Der Skorpion unter dem Bett im alten Krankenhaus von Zadar verstand nichts von der Zukunft. Und auch für Herbert, der in diesem Bett lag, war die Zukunft nur mehr ein schwarzes Loch, ebenso wie die Vergangenheit, die er vor wenigen Stunden verloren hatte. Seit er aufgewacht war an diesem heißen Augustsonntag, starrte Herbert ins Leere. Alle Erinnerung war weg, auf eine ähnliche Weise, wie einem beispielsweise der Name eines berühmten Malers nicht einfallen mag, obwohl man ihn weiß, während man in sich hineinhorchend darauf wartet, dass er einem von der Zunge springt. Aber er bleibt auf der Zunge liegen. Nicht greifbar, nicht nennbar, nicht einmal zu schmecken.

Herbert stöhnte, sein Kopf schmerzte, er schwitzte. Er betrachtete seine Hände, aus der linken ragte ein Schlauch. Vielleicht um nicht in Panik zu geraten, atmete er tief ein und ruhig aus. Er überlegte, ob er damit nicht routiniert auf eine schon oft angewandte Atemübung zurückgriff, die ihm irgendwann einmal ein Arzt oder Therapeut gezeigt hatte. Aber da war nichts. Kein Bild in seinem Kopf, wie er beispielsweise einem lebensbejahenden Mittdreißiger in einem zu engen blauen Polohemd mit dem aufgedruckten Logo einer Physiotherapiepraxis gegenübersaß, der ihn lächelnd anleitete, achtsam zu atmen. Keine Erinnerung, wie er eine panische Angst mit ruhigem Atmen in Zaum zu halten versuchte, vielleicht vor dem Schlangenterrarium im Zoo, weil sich ein jüngerer Bruder, den er beaufsichtigen sollte, ausgerechnet für Reptilien begeisterte. Herbert fühlte sich sehr müde. Er hielt die Augen nur mit Mühe halb offen und war sich nicht sicher, ob er weggedämmert war. In all diesen Szenen sah er genauso aus, wie er in diesem Moment in diesem Krankenhaus in Zadar lag, die Kleidung inbegriffen. Er stand also etwa sechzigjährig und nur mit einem hellblauen Hemdchen bedeckt im Zoo und hielt zitternd einen Bruder an der Hand, den es entweder nicht gab oder wenn, dann ganz sicher nicht so viel jünger als er.

Sein Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand und er bemerkte eine hinter Glas gepresste Fotokopie eines Gemäldes, das einen Fluss zeigte, der sich durch eine Schlucht schlängelte. Darunter ein Stuhl, über dessen Lehne ein blaues Polohemd hing. Ob es ihm gehörte, wusste Herbert nicht, aber es sah aus wie das Hemd, das der Therapeut von gerade eben getragen hatte, der ihn beim Atmen angeleitet hatte. Je länger er auf das Bild starrte, desto mehr ähnelte der Fluss der Schlange im Zoo. Eine unwirkliche Angst stieg in ihm auf. Es wäre ungerecht, sich an nichts erinnern zu können, sich aber weiter mit einer Schlangenphobie herumschlagen zu müssen. Er zweifelte an seinem Verstand.

„Ohne Erinnerung ist es schwer, überhaupt zu denken”, flüsterte Herbert und seine Stimme kam ihm fremd vor.

Ein junger Arzt hatte versucht, ihm die Umstände seiner Einlieferung zu erläutern, doch Herbert hatte kein Wort verstanden. Er hatte zwar erkannt, dass der Mann Englisch mit starkem slawischem Akzent sprach. Doch die Wörter waren an ihm abgeprallt wie die Brandung an einer Kaimauer. Herbert hatte nicht folgen können. Er wusste auch nicht, ob und wie starke Beruhigungsmittel man ihm gegeben hatte. Neben dem Arzt hatte eine junge Krankenschwester gestanden. Er hatte keinen Gesichtsausdruck finden können, keine angemessene Mimik, die ihn als Herr der Lage hätte wirken lassen. Der Arzt war Herbert merkwürdig gelassen vorgekommen, fast abwesend. Während er sehr ruhig zu ihm gesprochen hatte, wirkten die Worte, die er immer wieder mit der Krankenschwester in einer ihm fremden Sprache gewechselt hatte, wie ein heftiger Streit, vielleicht wie zwischen zwei schon zu lange oder noch zu kurz Verheirateten. Manche Sprachen waren wohl zum Streiten da.

Das war vor drei Stunden gewesen, kurz nachdem er aufgewacht war. Drei Stunden waren jetzt also seine neue Vergangenheit. Und viel mehr war in der Zukunft auch nicht zu holen, stellte Herbert fest. Er konnte sich kaum einen nächsten Tag vorstellen und alles darüber hinaus erschien ihm völlig unmöglich. Ohne Vergangenheit keine Zukunft, dachte er. Ohne Erinnerung keine Vorahnung. Die nasse Schlange und der blaue Physiotherapeut, sie waren keine Erinnerungen, sie gaben ihm keinen Halt und boten ihm keine Vorlage für eine Idee von einer vorstellbaren Zukunft. Sie grinsten nur, leger über dem Stuhl hängend und affig atmend oder sich eklig an der Innenseite der Scheibe des Fotorahmens auf einem billigen Abzug schlängelnd. Sie waren nichts als alberne Fantasien, und er fand es ungerecht und bösartig, dass er sich ausgerechnet einen Bruder hatte andichten müssen, ohne zu wissen, warum, der aber in diesem Moment wohl der einzige Mensch war, den er noch hatte oder vielleicht irgendwann mal haben würde, oder den es am Ende gar nie gegeben hatte.

Herbert wusste nichts von dem Skorpion unter seinem Bett. Er hatte ihn nicht gesehen, als dieser am Morgen durch die Tür getänzelt war. Er wusste auch nicht, dass er selbst am Tag zuvor aus Deutschland hier angekommen war. Er wusste nicht, dass er neben einem Laternenmast gelegen hatte, an dem nun sein Blut trocknete, bis ein Mitarbeiter der Stadtreinigung die schwarze Kruste entfernen würde. Er wusste nicht, dass sein Auto abgeschleppt worden war, nachdem der Parkzettel abgelaufen war, und dass sich im Auto seine Papiere befanden, die ihn als den auswiesen, der er war, geboren am 31. August 1956 in Bremerhaven, 1,63 groß, blauäugig, evangelisch und so weiter. Dass er in einem Wagen mit Stuttgarter Kennzeichen nur auf der Durchreise in Zadar gewesen war, das hatte nur er einmal gewusst und somit wusste es in diesem Moment niemand. Und noch etwas wusste Herbert in diesem Moment nicht, während er im Bett nach Schlaf suchte und keinen fand. Er hatte tatsächlich einen Bruder, sechs Jahre älter. Und den Zoo in Bremerhaven, der damals noch Tiergrotte hieß, hatten sie auch einmal gemeinsam besucht, weil Herbert so darum gebettelt hatte und weil sein Bruder dazu verdonnert worden war, ihn zu begleiten. Den ganzen Weg dorthin war es Herbert so vorgekommen, als wäre er ein Blindenführer, so widerwillig und abwesend hatte sich der Bruder mehr rückwärts als vorwärts bewegt.

Ein paar Jahre vor diesem merkwürdigen Zoobesuch, bei der großen Februarflut 1962, waren einige der Tiere ertrunken oder von einstürzenden Mauern erschlagen worden. Herbert hatte bitterlich um sie geweint und sein Vater hätte ihm erzählen können, dass sie selig im Tierhimmel seien, doch Worte aus dem Mund des Vaters waren ein rares Gut gewesen und schlossen in der Regel Fantasievolles aus. Aber einen Schnaps hatte der Vater auf die kläglich verstorbenen Tiere mit dem kleinen Herbert getrunken, den aber auch das irgendwie getröstet hatte.

Fünf Jahre später hatte Herbert dann vor dem Schlangenterrarium gestanden, jauchzend vor Glück, und die Hand seines großen Bruders war es gewesen, die wie Espenlaub gezittert hatte. Wieso, hatte Herbert damals nicht gewusst, und heute wusste er schon zweimal nicht, dass sein Bruder wohl Angst vor den Schlangen gehabt hatte. Er hatte sehr oft sehr große Angst gehabt. Das war 1967 gewesen, im Sommer. Im Herbst hatte sich der Bruder erhängt.

Stuttgart, Westdeutschland 1976

Hrvoj parkte den alten Opel hastig halb auf dem Gehweg, halb auf der Straße. Beim Überqueren des Arnulf-Klett-Platzes hatte der Wagen heftige Schleifgeräusche von sich gegeben, und im Wagenburgtunnel hatte er einen Lärm verursacht wie ein bremsender Zug. Dann war der Auspuff abgefallen und lag jetzt etwa zwanzig Meter hinter Hrvoj mitten auf der Straße. Die Autos umfuhren das leblose Stück Blech unaufgeregt und niemand hupte. Es fiel Hrvoj nicht zum ersten Mal auf, dass es in Deutschland wohl sehr viel brauchte, bevor einer hupte. Den ganzen Tag und die Tage davor war er unterwegs gewesen. Eine Reifenpanne in Rijeka, eine schier endlose Pass- und Wagenkontrolle an der Grenze zwischen der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien und der Republik Österreich, die beinahe in einem Handgemenge und seiner Festsetzung geendet hätte, mehrere Zwangspausen auf den zahllosen Serpentinen, da ihm schnell übel wurde, und eine weitere wegen überhitzten Motors kurz hinter München. Zum ersten Mal in seinem Leben war er so eine weite Strecke mit dem Wagen gereist. In Deutschland war er schon gewesen, mehrmals, zuletzt im Jahr davor, als er neunzehn geworden war. Der Arnulf-Klett-Platz hatte damals noch Schillerstraße geheißen, und damals hatte der Autobus, mit dem er gekommen war, dort seine Haltestelle gehabt, direkt vor dem Hauptbahnhof. Ein Höllentrip war es gewesen, denn der Bus hatte keine Sonderpausen auf den Serpentinen gemacht, auch nicht für ihn, der bleich und dem Ende nahe in der letzten Sitzreihe gelegen hatte.

Hrvoj holte den Auspuff und ging zurück auf den Gehweg. Ein älterer Mann in beigem Mantel mit Gehstock und weißem Haar unter dem schwarzen Hut war stehen geblieben. Er zeigte stichelnd mit dem Stock auf den Auspuff.

„Der Herr gibt’s, der Herr nimmt’s, gell?”

Hrvoj lächelte. „Nein, keine Problem, geb i nicht her”, sagte er. Er wollte den Wagen mitsamt Auspuff seinem Schwager geben, der kannte einen, der in einer Werkstatt arbeitete.

Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Frech sind die Jugos halt schoo”, murmelte er und ging weiter.

Hrvoj öffnete den Kofferraum, verstaute den Auspuff und holte eine Taschenlampe aus dem Werkzeugkasten. Er legte sich unter das Auto, leuchtete und tastete, ob ein Teil des Auspuffs vielleicht noch unter dem Auto hing. Er nahm die Taschenlampe in den Mund und robbte so weit unter den Wagen, dass er halb darunter verschwand. Der Herr gibt’s, wiederholte er in Gedanken den Satz des Mannes. Oder war es der Herr nimmt alles? Er wusste es nicht mehr genau. Unter dem Wagen fand er nichts. Er brauchte jetzt ein Telefon, um seine Schwester anzurufen. Er würde sie bitten, seinen Schwager zu ihm zu schicken, damit sie direkt zur Werkstatt fuhren.

Bei seinem letzten Besuch hatte er noch keinen Schnurrbart getragen. Zu unpraktisch. Es war zwar in Mode gewesen, doch Old Shatterhand hatte keinen getragen und Winnetou erst recht nicht. Als sie auf den Plitvicer Seen umhergefahren waren, hatte Hrvoj gedacht, dass man sich an denen ja wohl orientieren konnte. Und von allen Männern um ihn herum, die einen getragen hatten, war ihm keiner geheuer gewesen, allen voran der eigene Vater. Jetzt lief Hrvoj auf der Suche nach einem Telefon durch die Straßen Stuttgarts und fühlte sich mit seinem Schnurrbart wild und aufrührerisch. Er hatte sich verändert in diesem Jahr und er hatte jetzt einen verwegenen Plan, dafür konnte der Bart nicht wild genug sein.

Bis vor zwei Tagen war Hrvoj Betreiber eines Tanzlokals in Zadar gewesen, genau genommen war er es noch immer, aber das würde er schnell ändern, wenn er erst mal hier Fuß gefasst und genug Geld beisammenhatte, um weiterzuziehen, bis nach Hamburg, und nach der Ausbildung von dort auf ein Schiff. Die Jahre davor war er unter anderem Asphaltierer, Fliesenleger, Automechaniker, Elektriker, Lebemann, Vagabund, Kioskverkäufer, Bote und, wenn auch nur für eine Nacht, Hundefriseur gewesen. In erster Linie aber war er stadtbekannt, neben dem Schnurrbart vielleicht die einzige Gemeinsamkeit mit seinem Vater. All das würde er hinter sich lassen und nur noch eines sein, ein Seemann.

„Kannst du nicht erst mal hierherkommen? Wo bist du überhaupt? Du wolltest schon vorgestern hier sein, wir warten”, schallte es aus dem Hörer, als er ein paar Minuten später über der Theke einer Kneipe in der Werastraße lehnte. Der Mann hinter der Theke schaute, als würde er es bereuen, sein Telefon hergegeben zu haben, wenn er jetzt doch kein Wort von dem verstand, was auf Jugoslawisch so klang, als wäre es ein Streit unter Gangstern.

„Er kommt gleich, bleib wo du bist”, sagte seine Schwester.

Eine halbe Stunde später stiegen Hrvoj und Mate in den Wagen und bogen röhrend auf die Talstraße.

„Deine Schwester hat sich Sorgen gemacht. Kenne ich nicht von ihr. Um mich hat sie sich noch nie Sorgen gemacht. Jetzt ist sie sauer auf mich”, schrie Mate gegen das Auto an.

Hrvoj kannte das von seiner Schwester. Sie wurde immer wütend, wenn sie sich sorgte. Meistens auf den, der gerade in der Nähe war. Aber nie auf ihn, den Bruder, den sie so sehr liebte. Nur um ihn machte sie sich Sorgen, um niemanden sonst auf der Welt, schon gar nicht um Mate. Als Marica zehn Jahre alt war und Hrvoj sechs, liefen sie zum ersten Mal gemeinsam von zu Hause fort.

Gorica, Jugoslawien 1962

Marica und Hrvoj verließen das Haus um fünf Uhr in der Früh mit der Absicht, nie wieder zurückzukehren, und ließen die Tür, die aus dem kleinen einstöckigen Steinhaus auf den Hof führte, offen. Sie hatte beim Öffnen gequietscht und hätte es beim Schließen erneut getan.

„Schlafende Hunde soll man nicht wecken”, sagte Marica, als sie die befestigte Straße erreichten, und Hrvoj verstand nicht, was das bedeutete. Sie hatten keine Hunde und Onkel Petar von nebenan hatte seinen im Frühjahr erschlagen, weil er zu oft grundlos gebellt hatte.

Sie folgten der Straße nach links und erreichten noch vor Sonnenaufgang das Ende des Dorfes. Bis Biograd am Meer waren es etwa zehn Kilometer in südwestlicher Richtung. Sie schlenderten und hatten es nicht eilig. Marica sang für Hrvoj, was er liebte. Er summte oder sang mit, wo er die Worte wusste. Wenn sie zu hoch sang, blieb er mit der Stimmlage unter der ihren und erzeugte eine Harmonie, die so willkürlich und roh klang, wie er es von den Abenden kannte, an denen das halbe Dorf bei ihnen vor dem Haus sang. Immer wenn jemand gestorben war oder geboren wurde, wenn jemand heiratete oder Geburtstag feierte, sang man, je nach Anlass in überschwänglicher Freude oder in ebenso überschwänglicher Trauer. Hrvoj hatte oft unter dem Tisch gesessen und zugehört, sich nicht selten vor Schmerzen krümmend, wenn der Vater oder die Mutter ihn geschlagen hatte, weil er vielleicht eines der Schweine von Onkel Petar geärgert oder heimlich Wein getrunken hatte. Wenn der Vater selbst betrunken und ohne Geld aus der Stadt zurückgekommen war, hatten Hrvoj und seiner Schwester kein Verstecken und schon zweimal kein Flehen genützt. Hrvoj wusste nichts von den alten Geistern, die der Vater zu ersäufen versuchte, und hätte man ihm von ihnen erzählt, er hätte dennoch nicht verstanden, wieso der Vater die Tage des Krieges, oder die vielen Kriege der Tage danach, nun zu denen seines Sohnes machte. Die Schläge und das Grunzen des Vaters waren für Hrvoj ein erprobter Teil seines Daseins und er konnte eine gewisse Vorfreude nicht leugnen, die er während der unkontrollierten Hiebe auf Hintern und Rücken verspürte, waren sie doch in allem Schmerz auch die Vorboten dafür, dass seine Schwester später, wenn sie in einer Ecke des großen Wohnraums eng aneinandergekauert liegen würden, wieder für ihn singen würde. Ihre Stimme war für Hrvoj das tröstende Zeichen der Entwarnung. Ein kleines Ende des Krieges, jedes Mal aufs Neue.

Als sie am Mittag in Biograd ankamen, kauften sie am Busbahnhof zwei Fahrkarten nach Zadar. Marica schlief die ganze Fahrt über, während Hrvoj auf das Meer schaute. Er wäre am liebsten auf eines der Boote gestiegen, von denen er dort mehr erblickte, als er zählen konnte. Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr wurden es. Sie waren zumeist klein und kamen vom Fischen oder fuhren gerade hinaus, das konnte Hrvoj nicht auseinanderhalten. Einige waren größer und grau angestrichen und streckten Kanonenrohre in den Himmel. Ein Schiff für das Essen und ein Schiff für den Krieg, zählte Hrvoj, eins fürs Essen, eins für den Krieg. Dann entdeckte er ein Containerschiff von gigantischem Ausmaß im Hafen des Industriegebiets von Zadar. Ein bunter Koloss, beladen mit unzählbaren Dingen, die in die ganze Welt geschickt wurden. Ein blauer Klotz für China, ein gelber für Amerika, mehr Länder fielen ihm nicht ein. Ein großer, sich über ihm auftürmender Zauber ging von diesem Ozeanriesen aus und es war in diesem Moment, dass Hrvoj beschloss, Matrose zu werden. Zum etwa gleichen Zeitpunkt, knapp tausendfünfhundert Kilometer weiter nordwestlich, stand Herbert am Morgen nach der Sturmflut mit seinem Vater auf dem Deich vor den Trümmern des Bremerhavener Zoos, heulte wie wahnsinnig um die Tiere und beschloss endgültig, kein Matrose zu werden.

Das Verschwinden der Kinder bemerkten Hrvojs und Maricas Eltern erst zwei Tage später und selbst dann wären sie, hätte man sie gefragt, nicht auf die Idee gekommen, nach ihnen zu suchen. Onkel Petar von nebenan war es, der die Mutter anfuhr, sie solle sich Sorgen machen, aber diese wiegelte schroff ab, während sie ein Huhn am Hals hielt. Es gackerte panisch und versuchte vergebens, sich mit seinen dürren Beinchen vom Körper der Mutter abzustoßen. Aber es verfing sich nur immer wieder zwischen den Lagen ihres Kleides und der Schürze.

„Sie werden schon kommen, wenn sie Hunger haben.”

Wenige Minuten später rannte das kopflose Huhn gegen die Rückwand des Hauses und kein Hund war in der Nähe, der mit dem zuckenden Kopf hätte spielen wollen.

„Wo trinkt die Henne Wasser?”, fragte Marica ihren Bruder.

Und dieser legte den ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand in die Mitte der offenen Handfläche der linken und jauchzte: „Hier, hier!”

Sie wiederholte die Frage und er wiederholte die Bewegung.

„Hier, hier, hier!”, quakte er vergnügt.

So hatten sie es gespielt, seit er denken konnte, und Hrvoj hatte noch nie darüber nachgedacht, warum die Henne ausgerechnet hier, in seiner Hand, Wasser trinken sollte. Es war ein Fingerspiel, mehr nicht. Aber an diesem Abend, als sie im Keller des noch unfertigen Hauses saßen und darauf warteten, dass ein Wunder geschehen möge, war er sich mit einem Mal unsicher.

„Wieso trinkt die Henne hier Wasser?” Er zeigte auf seine linke Hand.

„Wieso nicht? Irgendwo muss sie trinken”, entgegnete Marica.

„Ja, sonst verdurstet sie am Ende.” Hrvoj hatte auch Durst.

Marica schien es zu bemerken oder sie hatte selber Durst und ging an den Wasserhahn, der aus der groben Wand ragte, und füllte eine Karaffe. Sie beide tranken daraus und Hrvoj überlegte, ob er wohl auch aus seiner linken Hand trinken könnte wie die Henne.

In einer Ecke des Kellers war ein Matratzenlager. Der Vater kam oft hierher, wenn er in der Stadt war. Er war mehr in der Stadt als auf dem Dorf. Er hauste dann zumeist hier auf der Baustelle des Hauses, an dem er seit Jahren baute. Für wen, war niemandem so recht klar. Er hatte das Grundstück in einem günstigen Moment von einem slowenischen Geschäftsmann gekauft. Dieser hatte es von einem Notar aus Zadar erstanden, noch während des Krieges. Und dieser hatte vor dem Krieg vorgehabt, hier seine Villa zu errichten, hoch genug, um eine Aussicht auf das Meer zu haben. Als die Nazis gekommen waren, hatte er sich zu einer höheren Aufgabe berufen gefühlt und sich der Ustascha angeschlossen. Er hatte rasch Karriere gemacht und am Stadtrand von Diklo eine fertige Villa mit Meerblick bezogen. Als diese bei heftigen Luftangriffen der Briten zerstört worden war, war der ehemalige Notar schon übermotiviert selbst in den Kampf gezogen. Mehr hatte der Slowene nicht gewusst und mehr wusste Hrvojs Vater nicht. Oder er hatte es nie erzählt, zumindest nicht Hrvoj.

Über Marica und Hrvoj lag jetzt ein unfertiges Erdgeschoss. Durch die Decke roch es nach Eisenbahn. Warum, wusste Hrvoj nicht, aber er erkannte den Geruch von den wenigen Malen, als er mit seinem Vater am Bahndamm gewesen war. Lange konnten sie hier nicht bleiben, denn wer wusste schon, wann der Vater wieder hierherkäme. Später, als Marica eingeschlafen war, löste sich Hrvoj aus ihrer Umklammerung und tastete sich zur Kellertür vor. Flüsternd zählte er die sechs Treppenstufen, die seitlich an der Außenseite des Hauses zu einem kleinen Platz vor dem Gebäude führten. Das Haus lag da wie eine Ruine. Echte Ruinen gab es ringsumher genug. Hrvoj erinnerte sich, wie sein Vater an einem kalten Januarmorgen mit dem Spaten in der Hand geprahlt hatte, er könne das Haus ganz alleine bauen. Das war vor zwei Jahren gewesen und viel war seither nicht geschehen. Obwohl sich die Stadt seit einiger Zeit in einem enormen Aufschwung befand und überall alte Hotels in neuem Glanz erstrahlten, fand man in den Vierteln des vom Meer abgelegenen Teils der Stadt noch immer ein Chaos aus zerstörten Häusern, zu denen keine oder nur unbefestigte Straßen führten, an Kratern und brachliegenden Grundstücken vorbei.

Hrvoj hörte das Treiben der Stadt, wandte sich vom Haus ab und lief den Weg entlang zur großen Straße. Die Sonne war schon fast untergegangen und färbte mit dem letzten verbleibenden Licht alles in ein taumelndes Blau. Vor einer Metzgerei auf der leicht abschüssigen Hauptstraße wurden Hühner gebraten. Mehrere Männer standen um die kopflosen und sich drehenden Hühnerkörper herum, darunter ein Polizist. Hrvoj setzte sich auf ein Mäuerchen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete die Gruppe. Sie gestikulierten wild und lachten schallend. Es unterschied sie nichts von den Männern im Dorf. Sie alle sahen für Hrvoj wie sein Vater aus und er hätte nicht mit Sicherheit sagen können, ob dieser nicht vielleicht unter ihnen war. Er bekam Angst und lief weiter Richtung Busbahnhof. Dort war es fast menschenleer. Ein Rudel Hunde lungerte am oberen Eingang. Hrvoj überlegte, wer die Hunde wohl geweckt hatte.

Es fuhren nicht viele Autos. Hrvoj schlug den Weg Richtung Altstadt ein. Er zählte die Schritte von einer Laterne zur nächsten. Das Blau der Dämmerung wich dem Gelb der Straßenbeleuchtung. Hinter dem Krankenhaus zog sich die Straße oberhalb des Kolovare-Strands auf den Überresten alter Stadtmauern entlang. Er schaute zwischen den dunklen Pinien hindurch, die jetzt, wo das Licht vollends verschwunden war, wie schwarze Riesen aussahen, die den Abhang zum schäumenden und schmatzenden Meer bewachten. Er erblickte ein Segelschiff mit drei Masten. Es nahm Kurs auf die offene See. Wie gerne wäre er ein Matrose und würde helfen, die mächtigen Segel zu setzen, um ein für alle Mal davonzukommen. Ein Schiff für das Essen, eins für den Krieg und eins, eins ganz alleine für ihn, zählte Hrvoj flüsternd.

Gegenüber der Bucht lag die Insel Ugljan. Von ihr hatte sein Vater oft erzählt, prahlend wie immer. Angeblich gab es dort einen Drachen und eine Frau, die man retten musste, eine Prinzessin. Von allen Männern hatte nur der Vater es einmal geschafft, den ganzen Weg von hier bis dorthin hinüberzuschwimmen und auch wieder zurück, nur um sich dabei das Drachenblut abzuwaschen. Hrvoj hatte die Geschichte geglaubt, auch wenn Marica die Augen verdreht hatte. Er erschauderte bei dem Gedanken an Drachen und wandte sich ab. Dass sein Vater einen von ihnen erschlagen hatte, machte ihn zu einem Helden. Da war es kein Wunder, dass das Haus noch nicht fertig war. Hrvoj war kalt, obwohl es für Februar schon sehr warm war. Er wusste nicht, dass man das Gefühl, das er in diesem Moment verspürte, Fernweh nannte. Er wusste nur, dass es nicht Heimweh war. Hrvoj wusste auch nicht, dass es diese Prinzessin wirklich gab, dort drüben auf der Insel, von wo die glimmenden Lichter bis zu ihm herübertänzelten und auf der der Vater tatsächlich gewesen war, um einen Drachen zu töten. Aber Hrvoj spürte an diesem Abend tief im Herzen, frierend und völlig verloren, das große Unglück, das von dieser Insel ausging. Und er spürte einen Hunger, den kein Wasser, und sei es auch aus der eigenen linken Hand getrunken, und keine geklauten Süßigkeiten stillen konnten. Er spürte, dass er keinen Platz hatte und keinen Halt und er sehnte sich nach Maricas Gesang.

Das Segelschiff war verschwunden und mit ihm alle Hoffnung. Marica machte sich große Sorgen und wurde wütend. Auf die Katze, die am Kellerfenster kratzte und auf die Menschen vor dem Haus, die sich lautstark über Nichtigkeiten unterhielten und die sich schon drei Mal eine gute Nacht gewünscht hatten und es doch nicht fertigbrachten, auseinanderzugehen. Hrvoj war weg und sie war verzweifelt. Ihn zu verlieren, wäre ihr Ende. Als der kleine Bruder später zurück in den Keller trat, fiel sie ihm um den Hals.

„Ich werde Matrose”, flüsterte Hrvoj weinend an ihrer Brust.

Sie schafften noch zwei Tage, am dritten packte sie der Vater am Wickel und fuhr sie auf seinem alten Motorrad zurück ins Dorf. Es gab keine Schläge, weder vom Vater noch von der Mutter. Und als Hrvoj erzählte, dass er zur See fahren würde, pfiff der Vater.

„Segel so weit weg von diesem Scheißland, wie du kannst!”

Elf Jahre später war der Vater tot und damit so weit weg von diesem Land, wie man es nur sein konnte. Er wurde von einem Zug überfahren. Das Haus in Zadar war kaum ein Stück weiter und Hrvoj ertappte sich bei dem Gedanken, dass sein Vater jetzt auch nach Eisenbahn roch, genauso wie das Haus in Zadar, während er mit fünf weiteren Männern den Sarg durch Gorica trug.

Bremerhaven, Westdeutschland 1962

Herbert saß am Küchentisch und fürchtete sich. Es stürmte und der Wind schlug den Regen derart gegen die Fenster, dass es Herbert so vorkam, als wollten selbst die Tropfen vor dem Unwetter nach drinnen fliehen. Es zog und es roch nach Suppe. Die Mutter stand am Herd. Während sie die Karotten schälte, schimpfte sie auf den Vater.

„Wann kommt Papa?”, fragte Herbert.

„Wenn er nicht bald kommt, wird er die Suppe kalt essen müssen”, entgegnete die Mutter.

Sie trug eine blaue Küchenschürze über einem braunen Hauskleid. Ihre Haare hatte sie wie meistens hochgesteckt. Herbert sah die Haare seiner Mutter viel lieber lang herunterhängen. Wenn er sie beim Kämmen beobachtete, dann sah sie von hinten aus wie ein Mädchen. Ein großes, dünnes Mädchen mit fast grauen Haaren. Manche Mütter summen viel, dachte Herbert, während er im Tee rührte und zu ihr hinübersah, abwartend, ob sie nicht auch jeden Moment anfangen würde. Er wusste das von der Mutter von Rudi. Rudis Mutter summte beim Kochen und sie summte auch, wenn sie Rudi am Bolzplatz einsammelte. Einmal hatte er bei Rudi übernachtet, und da hatte Rudis Mutter für sie beide zum Einschlafen gesummt. Rudi und seine Mutter kamen ursprünglich aus Berlin. Vielleicht lag es daran. Vielleicht waren manche Städte zum Singen da. Herberts Mutter summte nicht beim Kochen und auch nicht beim Haarekämmen. Herbert beobachtete seine Mutter in letzter Zeit besonders genau bei allem, was sie tat, in der Hoffnung, einen Ton zu hören. Aber da war immer nur diese gleiche ernste Stille. Eine laute Stille, die nur von ihren mal harten, mal herzlichen Worten unterbrochen wurde.

„Schaukel nicht auf dem Stuhl!”, schimpfte die Mutter, was für Herbert weder hart noch herzlich klang. Und das machte ihm Sorgen. Irgendetwas war anders. Sie wirkte besorgt. Vielleicht wegen des Sturms, der im Radio angekündigt worden war und von dem er nur wusste, dass Vater ihn nicht ernst nahm und Mutter zu sehr.

„Wo ist Klaus?”, fragte Herbert.

„Klaus ist deinen Vater holen gegangen. Sie werden bald kommen.”

Klaus und der Vater standen in ihre Mäntel gehüllt und mit einigen anderen Männern an der Tür der Kneipe in der Bismarckstraße an der südwestlichen Ecke des Holzhafens, wenige Gehminuten von der kleinen Wohnung in der Frühlingstraße entfernt, wo Herbert seine Suppe schlürfte und hoffte, dass die beiden es sicher nach Hause schaffen würden, jetzt, wo es doch losging mit dem Sturm. Sie standen dort, starrten durch das kleine Fenster der Tür, und keiner traute sich, sie zu öffnen. Klaus war verängstigt. Der Vater legte eine Hand auf seine Schulter. Er war gut einen Kopf kleiner als die Männer um ihn herum. Er war auch kleiner als Klaus, obwohl Klaus erst elf war. Wegen seiner Größe und seines warmen dunklen Teints hielten den Vater nicht wenige für einen Italiener. Seine Nase allerdings war unverhältnismäßig groß und geschwungen. Sein Großcousin zog ihn bei jedem Wiedersehen herzlich lachend auf, die Nase sei sein polnisch-jüdisches Erbe, was den Vater wirklich ärgerte. Er war überall gern gesehen, in der Kneipe, bei der Eisenbahn, wo er arbeitete, beim Kegeln, wo man sich regelmäßig in ausgelassener Runde traf. Er strahlte die schweigsame Herzlichkeit eines kleinen unverbindlichen Mannes im schicken Mantel aus. Vielleicht stillte er bei den Menschen eine tiefe, unausgesprochene und deutsche Sehnsucht nach dem beherrschbar Fremden, nach Südsee an der Nordsee und nach Toast Hawaii in der Fischbraterei. Der Vater verlor nie viele Worte. Er war zurückhaltend und schön auf seine eigene unverbindliche Weise. Launisch wurde er nur, wenn er betrunken auf die Mutter traf. Wenn sie ihn maßregelte und alles, was eben noch exotisch und verwegen war, unter ihren eiskalten Fittichen buchstäblich erdrückte. Sie war das verlässliche Ende der harmlosen Eskapaden eines weltmännisch schweigenden Gentlemans und eine Garantin für das zerknirschte allmorgendliche Erwachen als Beamter der Deutschen Bundesbahn. Jetzt war er stocknüchtern und in einer Alarmbereitschaft, die er seit dem Krieg nicht mehr gespürt hatte. Er zog seine Prinz-Heinrich-Mütze tief ins Gesicht. An seinem Mantel zog Klaus wie ein Beiboot, und der Vater wusste, dass die Zeit gegen sie lief.

Gut einen Kilometer weit entfernt heizte die Mutter verärgert den Ofen an. Herbert wohnte gern in der Frühlingstraße. Laut ausgesprochen, klang der Name fröhlich. Aber der Frühling war noch weit, und Bremerhaven war in Februargrau und Februarbraun gehüllt. Der Rundfunk hatte die Sturmflut eigentlich schon für gestern angekündigt. Der Vater hatte abgewunken, als sie ausgeblieben war, und darauf bestanden, heute seine Kneipe zu besuchen. Und nun schien sich der Himmel aufzubäumen und jeden Moment bedrohlich und erdrückend auf sie alle herunterzufallen.

Vater und Klaus warteten und horchten. Wenn der Regen kurz nachließ, könnten sie durch die engen Straßen eilen, am Bahnhof erneut Schutz suchen und dann an dem kleinen Kiosk am Bahndamm vorbei in die Frühlingstraße biegen. Aber der Regen wurde immer stärker, er würde keine Pause mehr machen. Als die Linde gegenüber der Kneipe laut ächzend einen Ast verlor, raunten die Männer am Fenster und kippten wortlos ihren Schnaps. Der Vater war kein sonderlich mutiger Mann, aber mit Regen und Sturm kannte er sich aus, und solange das Wasser nur von oben kam, musste es zu schaffen sein. Er gab Klaus einen Klaps und öffnete die Tür.

„Tschüss denn!”, sagte er in die Runde und die beiden verließen als Einzige die Kneipe.

Der gewaltige Ast lag auf der Straße vor ihnen. Heftige Sturmböen fegten durch die Bismarckstraße und der Ast wurde meterweit mitgerissen, blieb liegen und wurde weitergerissen. Stop-and-Go. So nannten es die Amerikaner. Klaus und der Vater holten den Ast am Ende der Straße ein und erreichten den Hauptbahnhof. Dort stellten sie sich völlig durchnässt unter. Die Straße war gespenstisch leer. Sirenengeräusche wehten in den Sturmböen an ihnen vorbei wie verschwommene Echos. Die Laternen bogen sich und die Lampen an den Oberleitungen ließen ihre Schatten an der Wand des Bahnhofgebäudes tanzen.

„Halt die Arme eng am Körper! Mach dich rund! Weiter geht’s!”

Klaus verstand kaum ein Wort im Getöse des Sturms und er klammerte sich erneut an den schweren Mantel des Vaters.

Als die Mutter Herbert den zweiten Teller Suppe einschöpfte, brach es aus ihm heraus.

„Warum haben alle Angst?”

„Wegen dem Deich.”

Herbert wusste alles über den Deich. Er wusste, wann er gebaut worden war, wann erweitert, von wie vielen Arbeitern und so weiter. Er hatte es in einem Buch gelesen, auf dessen Vorderseite ein großes gemaltes Bild des Bremerhavener Oberfeuers zu sehen war. Er kannte die Höhe des Deichs und seine Breite und ganz besonders kannte er den Zoo, der darauf stand. Und er wusste, dass der Deich sie alle schützte, weil Bremerhaven unter dem Meeresspiegel lag. Plötzlich wurde er ganz zittrig.

„Wenn der Deich bricht, ist es aus!”, schrie er.

„Der Deich hält aber.”

„Stirbt Papa, wenn der Deich bricht?”, fragte Herbert so leise, dass er es selbst kaum hören konnte.

„Wenn der Deich bricht, sterben wir alle”, fuhr die Mutter ihn an und das klang so hart, wie er es von ihr gewohnt war.

Herbert sprang auf und schluchzte. Er wollte nicht mehr essen und nicht mehr warten. Er wollte nicht mehr hier sein, unter dem Meeresspiegel, an diesem graubraunen Ort, der eigentlich Meer sein sollte, wenn der verfluchte Damm nicht wäre. Er wollte weg von diesem dem Wasser mit viel Kraft abgerungenen Stück Meeresgrund. Die Frühlingstraße war ihm egal und auch die Suppe, sogar die Mutter. Er wollte kein Fisch an Land mehr sein und kein Junge im Meer. Der Fensterladen schlug von außen an den Rahmen, Herbert schrie vor Angst und die Mutter gab ihm eine Ohrfeige und verfrachtete ihn ins Bett. Herbert streckte sich aus, die Mutter schwang die Bettdecke ein paar Mal über ihm auf und ab wie Wellen und ließ sie langsam auf ihn heruntersegeln. Das machte sie jeden Abend und Herbert fand es so schön, dass er sich ein Leben ohne die Mutter, die für ihn die Decke schwang, gar nicht vorstellen wollte. Er wünschte sich, dass die Mutter auch so auf ihn herabsegeln würde. Sie küsste ihn auf den Mund, wie sie es jeden Abend tat.

„Schlaf gut, mein Leichtmatrose”, sagte sie und das klang so herzlich und warm, wie er es von ihr gewohnt war.

Sie verließ das Zimmer. Herbert stöhnte und drehte sich zur Seite. Er dachte an den Zoo auf dem Deich und machte sich Sorgen um die Tiere. Sie wären die Ersten, die untergingen. Noch vor Vater und Klaus. Und dann Mutter und er. Er überlegte, welcher Fisch hier in seinem Zimmer wohnen würde, wenn Bremerhaven dann wieder auf dem Meeresgrund lag. Er müsste durch die Tür passen, oder zumindest durch das Fenster. Als schließlich die Haustür aufgeschlossen wurde und er Vater und Klaus reden hörte, fiel er in tiefen Schlaf.

Als er am nächsten Morgen erwachte, war kein Fisch in seinem Zimmer, Klaus lag im Bett neben ihm unter dem Fenster und klammerte sich zitternd an sein Kissen. Vater war Beamter der Deutschen Bundesbahn und Mutter summte nicht.

Salina, Utah 1945

Kurt erwachte nicht sofort, als die ersten Schüsse fielen. Erst als Sekunden später eines der Geschosse seine rechte Wade zerfetzte, riss es ihn aus dem Schlaf. In seiner Erinnerung später, flog ihm innerhalb eines Augenaufschlags das gesamte Zelt mitsamt aller durchlöcherten Kameraden um die Ohren. Ein Wirbelsturm in Zeitlupe entriss ihm den geliebten Freund Konrad und ließ diesen wie eine Marionette im Kugelhagel tanzen. Sie hatten ihn Konni genannt, was der nicht mochte, da er fand, dass Konni auch nicht kürzer war als Konrad. Für Kurt war der Krieg vorbei, nachdem um Mitternacht des 8. Juli 1945 Private Claude C. Bertolli vom Wachturm des Kriegsgefangenenlagers Camp Salina, Utah, Vereinigte Staaten von Amerika, eine Salve aus seinem Browning-Maschinengewehr, Kaliber 30, abgefeuert und Konnis Körper durchsiebt hatte. Kurt lag wie betäubt in Konnis Blut. Auf ihm der tote Freund, neben ihm zwei weitere Kameraden, von denen der eine so friedlich aussah, als wäre er zum Sterben erst gar nicht aufgewacht, während der andere sich vor Schmerzen wand und schrie. Kurt hörte ihn nicht. Er hörte nur Konnis Stimme, die hell und kindlich klang, obwohl Konni ein Bär gewesen war. Er hörte, wie Konni sich über die Italiener aufregte, die in den Baracken schliefen, während sie selbst noch immer in Zelten untergebracht waren. Er hörte, wie Konni von Afrika schwärmte und sauer war, dass er nie dort gewesen war. Er hielt Konnis Kopf so fest, als könnte er mit genügend Druck das ausströmende Blut stoppen, und er versuchte, Konni damit zu trösten, dass er ja immerhin bis an die ägyptische Küste herangekommen war und dass nur noch das Meer ihn von Afrika getrennt hatte und dass er damit ja wohl in Afrika gewesen war.

Kurt selbst war einige Male in Nordafrika gewesen. Er hatte die betörende Schönheit Tunesiens und Ägyptens für Konni heruntergespielt und ihm versichert, es sei auch nicht anders als in der Türkei. Dort hatten sie sich zwei Jahre zuvor kennengelernt, als Kurts Tanker und Konnis angeschlagene Fregatte für zwei Tage im Hafen von Adana Zuflucht vor den britischen Verbänden gesucht und gefunden hatten. Seit dem Tag, als Konni Kurt unterstellt worden war, waren sie unzertrennlich gewesen.

Der Kamerad neben ihm schrie noch immer, über ihn beugten sich mittlerweile zwei ebenfalls schreiende Sanitäter. Kurt wurde schlecht. Sirenen drangen zu ihm durch. Wenn er sich Jahre später an diesen Moment erinnerte, kam er sich selbst wie einer der Durchsiebten vor, einer der neun deutschen Kriegsgefangenen, die dem Wahn eines betrunkenen GIs zum Opfer gefallen waren. In Wahrheit war er nur einer der neunzehn Verletzten. Mehrere Hände hoben Konni, der kein Konni mehr war, von Kurt herunter und luden Kurt auf eine Trage. Er schwebte über das Schlachtfeld, das gar keins hätte sein dürfen. Die Stimmen um ihn herum wurden langsam wieder lauter. Er hörte aufgeregtes Englisch, entsetztes Italienisch und sterbendes Deutsch. Er griff nach seinem Bein und versuchte, die Stelle zu finden, die so schmerzte. Es zerrte und zog und er hatte das Gefühl, alles Blut in seinem Körper versuchte, zu dem einen Loch in seiner Wade zu gelangen, um aus ihm herauszuströmen in die Freiheit. Er wollte auch heraus aus diesem Körper und im Boden versickern, während er das Bewusstsein verlor.

Kurt war knapp ein Jahr zuvor als Geschützführer mit erhobenen Händen von seinem in Mimizan stationierten Schiff gegangen, mit erhobenen Händen auf einen Laster geklettert, hatte mit erhobenen Händen tagelang auf den nassen Planen eines provisorischen Gefangenenlagers in Frankreich gelegen, hatte sich mit erhobenen Händen einmal ohrfeigen, mehrmals beschimpfen und notdürftig verpflegen lassen. Mit erhobenen Händen hatte er die Felsen von Dover passiert und den Stolz in den Augen der britischen Soldaten gesehen. Mit erhobenen Händen war er gewogen, desinfiziert und auf Verdacht entlaust worden. Um ihn herum hatten sich die anderen erhobenen Hände auf dem Atlantik die Seele aus dem Leib gekotzt. Zwischen seinen erhobenen Händen hatte er die Freiheitsstatue gesehen und gedacht, dass er jetzt wohl nie wieder seine beiden Brüder zu Gesicht bekommen würde. An Weihnachten dann hatte er mit erhobenen Händen in einem Hangar vor einem weiß gedeckten Tisch gestanden. Um ihn herum unzählige und endlos lange Tischreihen und zu Hunderten erhobene Hände. Und mit einem mächtigen Glockenschlag, der so unschuldig und verheißungsvoll geklungen hatte und nach heimeligem Glück und nach Kriegsende, hatten sie alle, wie sie da standen, gezeichnet von Verlust, geschüttelt von Angst, jeder fünffach eingekotet und am Ende seines Daseins, ihre erhobenen Hände heruntergenommen.

Als Kurt im Hospital von Salina zu sich kam, lag kein Konni mehr auf ihm und er schwebte nicht mehr und niemand sprach mehr Italienisch oder Deutsch. Der Soldat neben ihm schlief. Kurt konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal in einem so hellen Raum mit so weißen und sauberen Wänden gewesen war, und er fand, dass der Mann im Bett neben ihm wie ein rosafarbenes erwachsenes Baby aussah. Er sah nicht aus wie ein Obergefreiter oder Hauptmann, Feldwebel oder Fähnrich, nicht wie einer, der im Dreck gelegen, auf andere Menschen geschossen oder eingestochen hatte. Er konnte nicht im Schützengraben einen Ausfall befohlen oder schreiend einem Feind die Augen zerquetscht haben. Er hatte sicher keinen Wüstensand gefressen oder am Kanal im Stacheldraht gehangen. Wer so schlief, der war an den Anfang seines Lebens zurückgekehrt. Er atmete so sanft und ruhig, dass Kurt mit einem Mal nicht sicher war, ob er es nicht selber war, der schlief und sich dabei beobachtete. Aber er spürte den Schmerz in seinem Bein und dachte an die Nacht, und da war kein Schlaf in ihm. Vielleicht würde da nie wieder Schlaf sein. Ein Sergeant betrat das Zimmer. Kurt salutierte und fühlte einen Geschmack nach Eisen im Mund.

„How do you feel, seaman?”

Kurt wusste, dass die korrekte Ansprache, seinem Rang als Oberbootsmann entsprechend, Chief Petty Officer heißen musste, aber ihm gefiel das Wort Seaman. Es klang nach einer romantischeren Welt, nach einer, die schon untergegangen war. Oberbootsmann klang nicht halb so bedeutend und verwegen. Kurt hegte eine stille Bewunderung für alles Amerikanische. Alle hier waren von Geburt an Westernhelden. Alle hier waren schön. Seaman klang nach einer amerikanischen Version seines Lebens. Er wollte instinktiv „Pssst!” sagen, um das Baby nicht zu wecken, aber er zuckte nur mit den Schultern.

„Not so good, sergeant.” Er schaute auf sein Bein. „What will happen now?”

Kurt merkte, dass seine Frage einen pathetischen Unterton hatte. Er schämte sich für seinen Akzent. Er wollte eigentlich nur wissen, wann er in das Camp zurückkehren würde, aber er wollte auch hören, dass Konni draußen auf ihn wartete und dass sie beide zusammen heimdurften, dass der Krieg nie geschehen war und seine Brüder noch am Leben waren. Er wollte heim auf den Ozean und dann heim in einen Hafen, oder in alle Häfen. Einmal Seaman, immer Seaman. Der Sergeant verließ das Zimmer. Der Babysoldat neben ihm wachte auf. Kurt schlief ein.

Zadar, Jugoslawien 1967

Hrvojs bester Freund Ante konnte fünf Meter weit spucken. Sie standen in ihrem Klassenzimmer, genau fünf Meter vom Papierkorb in der Ecke des Raums entfernt. Sie hatten die Entfernung genau vermessen und mit Kreide am Boden markiert. Antes bisheriger Rekord lag bei 4,68 Metern, Hrvojs bei 3,98 Metern. Ante prahlte nicht, aber er genoss Hrvojs Anerkennung. Die Schulglocke läutete und die beiden verwischten eilig die Markierung am Boden, sodass der Lehrer sie nicht entdeckte, sie selber diese aber am nächsten Tag wiederfanden. So hatten sie es die letzten Wochen immer wieder getan, seit Ante mit der Idee angekommen war, sie müssten sich spezialisieren. Ein Wort, das sie von ihrem Pionierleiter gehört hatten, der von den Spezialkräften der Militärpolizei gesprochen hatte, als sie vor wenigen Wochen im Zeltlager ums Feuer gesessen hatten. Und obwohl ihnen die Bedeutung des Wortes nicht ganz klar war und weil ihnen nichts Besseres eingefallen war, worin sie sich spezialisieren konnten, hatten sie sich fürs Weitspucken entschieden. Sie fanden, die Schule wäre der richtige Ort für diese Spezialisierung. Auf dem Schulhof war allerdings nicht daran zu denken, unter den Augen der strengen Aufsicht. Deshalb stahlen sie sich wochenlang vor dem Ende der großen Pause in das Klassenzimmer, um zu trainieren. Sie experimentierten mit Limonaden, Säften, Wasser mit Gas und Wasser ohne Gas, mit Milch und festen Lebensmitteln wie Brot, Nüssen, Kaugummis und Lutschern, immer auf der Suche nach der besten Basis für Spucke. Ante schwor auf Milch, aber Milch war teuer. Hrvoj glaubte an Kaugummis. Von diesen hatte er jede Menge. Sie spuckten mit Anlauf und ohne, im Sprung, aus der Drehung heraus, alles war erlaubt. Sie waren glücklich mit ihrer geheimen Mission und hüteten sie wie eine verdeckte Operation des Geheimdienstes.