Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
»Wir treffen uns dort, wo die roten Dahlien blühen.«, lautet die geheimnisvolle Botschaft, die die schöne und kapriziöse Beatrice Römfeld überraschend erhält. Tags darauf wird die Winzerin tot in ihrem Weinkeller aufgefunden. Es wirkt wie ein Unfall, doch Kommissar Michael Harter ist misstrauisch, zumal sich vor einem halben Jahr schon einmal ein mysteriöser Unfall ereignete. Mithilfe von Cafébetreiberin Maja Winter kann er das Rätsel am idyllischen Bodensee lösen - dabei gerät Maja jedoch in tödliche Gefahr.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 418
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Christine Rath
Wo die roten Dahlien blühen
Bodensee-Krimi
Geheimnis am Bodensee Die Sonne taucht die Dahlienblüte am Bodensee in warmes Licht. Doch die Idylle trügt. »Wir treffen uns dort, wo die roten Dahlien blühen« lautet die geheimnisvolle Botschaft, welche die schöne und kapriziöse Winzerin Beatrice Römfeld erhält. Nach einem rauschenden Fest auf ihrem Weingut erleidet sie plötzlich einen rätselhaften Tod. Kommissar Michael Harter ist misstrauisch, zumal sich vor einem halben Jahr schon einmal ein mysteriöser Unfall ereignete. Außerdem scheint es mehrere Personen zu geben, die nicht gerade unglücklich über den Tod von Beatrice sind. Wer von ihnen war so raffiniert, die Tat wie einen Unfall aussehen zu lassen? Indessen verliebt sich Maja Winter aus dem »Café Butterblume« in den geheimnisvollen Lars Bremer. Hat auch er etwas zu verbergen? Michael versucht, das Rätsel mit Hilfe seiner jungen Kollegin Bahar sowie dem alten Kriminalisten Werner Wägele zu lösen. Als sie hinter das Geheimnis kommen, die Tat jedoch nicht beweisen können, wird dem Mörder eine außergewöhnliche Falle gestellt. Eine Falle, die für Maja tödlich enden könnte.
Christine Rath, Jahrgang 1964, lebt und schreibt am Bodensee, dem »Schwäbischen Meer«, an dem sie viele Jahre mit ihrer Familie ein eigenes Hotel führte. Hier wurde sie durch die vielen interessanten Begegnungen und Situationen mit den unterschiedlichsten Menschen zu neuen Ideen für ihre Romane inspiriert. Heute widmet sie sich ganz dem Schreiben und erfreut sich an der zauberhaften Natur
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2025 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Artur Sniezhyn / iStock.com und Lutz Eberle mit Adobe Firefly
ISBN 978-3-7349-3466-7
Für meinen lieben Bruder Jürgen
Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.
Rainer Maria Rilke
Nur einen kleinen Moment durchatmen. Weg von allen sein, weg von dem Gelächter, der Musik, der ganzen oberflächlichen Fröhlichkeit. Wie sie das alles inzwischen hasste!
Langsam nahm Beatrice den kirschroten Lippenstift, der so gut zu ihrem neuen Kleid aus Seide passte, aus ihrer Abendtasche und zog sich die Lippen nach. Sie hoffte inständig, wenigstens hier in ihrem privaten Badezimmer ein paar Minuten Ruhe zu finden. Sie musste unbedingt nachdenken. Nicht nur über ihr neues Leben. Darüber hatte sie in der letzten Zeit so viel nachgedacht und es fühlte sich richtig an. Nein, sie musste nachdenken, wie sie aus ihrem jetzigen Leben herauskam. Ohne allzu viel Porzellan zu zerschlagen, ohne das ganze Theater und die schmutzige Wäsche. Zum Glück hatte sie für das nötige Startkapital gesorgt. Es fehlte nur noch das »Wie« – und darüber dachte sie schon die ganze Zeit nach.
Und dann war da natürlich noch die andere Sache. Die andere Sache, die so ungeheuerlich war, dass sie nicht mehr schlafen konnte. Und das wollte etwas heißen, schließlich nahm sie schon seit einer ganzen Weile Schlaftabletten. Seit dem Tag, als sie plötzlich einen Schuss gehört hatte und ihr Pferd durchgegangen war und sie aus dem Sattel geworfen hatte. Nein, so ging es nicht weiter. Sie konnte kein neues Leben anfangen, bevor sie nicht mit der Polizei über ihren Verdacht gesprochen hatte.
Langsam nahm sie ihr Handy aus ihrer Handtasche und las noch einmal die Nachricht: »Liebste Bea, lass uns nicht so auseinandergehen. Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Wir treffen uns um 23 Uhr … dort, wo die roten Dahlien blühen!« Na gut. Wenn es unbedingt sein musste. Sie konnte sich schon denken, warum dieser Treffpunkt gewählt wurde. Schließlich standen Dahlien für die ewige Liebe. Sie sah auf ihre mit Diamanten besetzte Armbanduhr: 22.58 Uhr.
Schnell steckte sie den Lippenstift und das Handy in die Tasche zurück, fuhr sich durch ihr geglättetes blondes Haar und atmete erneut tief durch.
Mit großen Schritten eilte sie zum Hintereingang, vor welchem die bezaubernden roten Dahlien im großen Beet blühten. Erst heute früh hatte sie einen Strauß davon gepflückt und in einer großen Vase in der Eingangshalle drapiert. Beatrice sah auf die Uhr. Es war 23.02 Uhr und niemand zu sehen. Plötzlich öffnete sich die schwere Tür des Hintereingangs und ein vertrautes Gesicht erschien mit einem Lächeln.
»Wie schön, dass du schon da bist!«, freute sich die vertraute Stimme.
»Was willst du denn hier?«, fragte Beatrice gereizt und sah sich um. Doch da war niemand sonst. Schon gar nicht die Person, die ihr die Nachricht geschickt hatte.
»Ich wollte gerne noch einmal mit dir reden. In Ruhe. Es muss ja nicht … ich meine, wir müssen ja nicht …«, verhaspelte sich die vertraute Stimme.
»Habe ich dir nicht deutlich zu verstehen gegeben, dass es nichts mehr zu reden gibt!«, giftete Beatrice zurück. »Zwischen uns ist alles gesagt!«
Sie straffte die Schultern und schickte sich an, durch den Hintereingang zurück ins Haus zu gehen. Es sah nicht so aus, als würde noch jemand zu diesem geheimen Treffen kommen.
»Na gut, wenn du meinst«, sagte die andere Person. »Dann lass uns zurück zu den anderen gehen. Ich wollte dir nur kurz vorher noch etwas zeigen.«
»Du willst mir etwas zeigen? Auf meinem eigenen Weingut?« Höhnisch lachte Beatrice auf. »Was kann das schon sein?«
»Du wirst staunen! Es ist eine Überraschung«, flüsterte die vertraute Stimme geheimnisvoll.
Beatrice seufzte. »Meinetwegen. Aber nur ganz kurz. Ich werde bestimmt schon vermisst«, willigte sie widerstrebend ein.
»Natürlich. Wir werden gleich zurück bei den anderen sein und das wundervolle Weinfest genießen.« Die vertraute Person ging voraus in Richtung Nebengebäude, in dem sich eine kleine Weinstube und der Weinkeller befanden. Beatrice folgte ihr mürrisch. Worauf hatte sie sich nur eingelassen?
»Einen kleinen Moment noch, dann bekommst du deine Überraschung!«, versprach die vertraute Stimme und öffnete die Tür zur Weinstube.
Staunend betrachtete Beatrice die Wunderkerzen, die auf einer kleinen runden Torte platziert waren und nun die kleine Weinstube sparsam erhellten.
Zwei gefüllte Sektgläser waren neben einer dunkelroten Dahlie platziert.
»Was soll das?«, fragte Beatrice genervt. »Ist das etwa die großartige Überraschung, mit der du mich hierhergelockt hast?«
»Weißt du denn nicht, was heute für ein Tag ist?«, fragte die vertraute Stimme.
Beatrice schüttelte den Kopf.
»Wirklich nicht?«, flüsterte die Stimme erneut.
»Ich habe keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat. Ich weiß nur, dass ich jetzt zurück zu den anderen gehe!« Beatrice wandte sich zum Gehen.
»Nein, warte doch bitte. Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Du warst immer für mich da.« Die andere Person nahm lächelnd ein Glas und drückte es Beatrice in die Hand. »Und ich werde immer für dich da sein. Das verspreche ich dir, und darauf trinken wir!«
Was für eine Nervensäge! Beatrice atmete tief durch. Nur ein kleiner Schluck, dann konnte sie das Ganze hier hoffentlich beenden. Insgeheim verfluchte sie die idiotische Idee, das Fest zu verlassen. Das kühle Getränk floss durch ihre Kehle. Es fühlte sich wunderbar an, sie liebte Champagner! Er war so viel besser als der Wein, den sie auf dem Weingut produzierten. Und die andere Person wusste das. Gierig leerte Beatrice den Rest des Glases in einem Zug.
»Weißt du immer noch nicht, was für ein Tag heute ist?«, fragte die andere Person und lächelte weiter.
Beatrice versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. So viel hatte sie doch gar nicht getrunken, dass sich ihr Gehirn auf einmal wie Watte und ihre Beine wie Gummi anfühlten. Sie musste sich konzentrieren.
Was war heute für ein Tag???
Endlich fiel es ihr ein, es war der 22. September. Die Wunderkerzen erloschen vor ihren Augen, das Glas fiel aus ihrer Hand. Und dann wurde es so dunkel um sie herum wie der finstere Nachthimmel über den roten Dahlien.
Helle Sonnenkleckse huschten durch den frühabendlichen Garten und tauchten die liebevoll angelegten Beete in ein honigfarbenes Licht. Wie prächtig doch die Dahlien in diesem Jahr blühten! Auch wenn sie in der Gruppe zauberhaft anzusehen waren, so würden sie doch noch viel besser in der neuen schwarzen Vase auf dem Kuchenbuffet wirken, entschied Maja Winter und schnitt kurz entschlossen einige von ihnen ab, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Mit einem Seufzer ließ sie noch einmal den Blick über die Blumenpracht in ihrem spätsommerlichen Garten schweifen, bevor sie sich auf den Weg zurück über die Terrasse in ihr Café »Butterblume« machte. Das gelbe Haus mit den großen, weißen Fensterläden, das Maja zum Namen »Butterblume« inspiriert hatte, strahlte hell im goldenen Licht der frühen Abendsonne. Nach dem tagelangen Regen war Maja der heutige Sonnenschein wie ein unerwartetes Geschenk erschienen und nicht nur sie, auch zahlreiche Gäste hatten sich auf ihrer Terrasse daran erfreut. Mit einem tiefen Atemzug sog sie die frische Abendluft ein, die sich wie Samt anfühlte. Ach, könnte man doch diese wunderbaren Tage festhalten! Sie war noch nicht bereit, sich vom Sommer zu verabschieden, und doch war ihr bewusst, dass schon bald der herbstliche Nebel über dem Bodensee aufziehen würde und die Zeit der lauen Lüftchen auf der Terrasse unwiederbringlich vorbei sein würde. Sie wollte sich nur einen Moment hinsetzen und den Moment der Stille auskosten. Sie ließ sich auf die Stufen ihrer Terrasse nieder, legte die abgeschnittenen Dahlien neben sich und zog ihre Strickjacke enger um die Schultern. Endlich Feierabend. So sehr sie ihr kleines Café am Ufer des Bodensees, welches sie vor fast 15 Jahren mit viel Engagement eröffnet hatte, auch liebte – es gab Zeiten, da fühlte sie sich unglaublich müde und erschöpft. Die meiste Zeit jedoch war sie ein Energiebündel und, auch wenn sie die 50 schon vor ein paar Jahren hinter sich gelassen hatte, mit ihren honigblonden Locken und der schlanken Figur noch immer eine aparte Erscheinung. Meistens. Heute jedoch war einer jener Tage, an denen sie sich nach einem Entspannungsbad und einem Glas Rotwein sehnte.
Plötzlich entdeckte sie im Augenwinkel ein kleines Segelboot, das in der Abendsonne über den blauen See glitt, und musste schmunzeln. Die »Sommerwind«! Maja hatte das Boot im letzten Jahr zu einem Spottpreis an ihren besten Freund, den Kriminalhauptkommissar Michael Harter verkauft, weil ihr in ihrem Leben als Cafébesitzerin die Zeit und auch die Muße für den Segelsport fehlten. Es war bei Weitem nicht so, dass Michael viel mehr Zeit als Maja zur Verfügung stand. Er schien sie sich nur zu nehmen, um seinen eigenen Worten zufolge, seinem stressigen Alltag besser gewachsen zu sein. Hinzu kam, dass sich Michael bei einem seiner letzten Kriminalfälle mit dem ehemaligen Hauptkommissar Werner Wägele angefreundet hatte, welcher ihm seither nicht nur beim Segeln Gesellschaft leistete, sondern ihn dabei mit klugen Ratschlägen zu aktuellen Fällen und so manch interessanter Lebensweisheit eines alten »Haudegens« (wie er sich selbst gern bezeichnete) erfreute. Maja vermutete, dass bei diesen Segeltörns auch das ein oder andere leckere »Viertele« geleert wurde, eine weitere Leidenschaft neben der Kriminalistik, die die beiden verband.
Um Himmels willen – was war das denn? Majas Blick fiel auf die helle Markise, die noch ausgefahren über den Tischen der Terrasse schwebte. Offensichtlich hatte der Wind eine ordentliche Portion Blätter darauf gepustet. Sie musste diese unbedingt entfernen, bevor sie die Markise einfuhr. Sie legte die abgeschnittenen Dahlien beiseite und ging in den Geräteschuppen, um eine Leiter zu holen. Dabei nahm sie sich fest vor, in der bevorstehenden ruhigeren Zeit einmal richtig aufzuräumen. Im Inneren des Schuppens war es so dunkel, dass man kaum etwas erkennen konnte. Dies lag vor allem daran, dass die einzige Glühbirne offenbar ihren Geist aufgegeben hatte und das kleine Dachfenster, welches noch ein wenig Tageslicht hätte spenden können, nicht nur außen komplett mit Laub bedeckt, sondern innen auch noch über und über mit Spinnweben übersät war. Seufzend schnappte sich Maja einen Handfeger, klappte die Leiter auf und kletterte zum Dachfenster hinauf. Sie war gerade dabei, die Spinnweben zu entfernen, als sie hinter sich die Tür zum Schuppen knarren hörte. Sie drehte sich um, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel von der Leiter. Direkt in die Arme eines Mannes! Maja erschrak und spürte, wie sie rot wurde, besonders als der Mann ihr vorsichtig einige Spinnweben aus den Haaren entfernte.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken!«, sagte dieser nun mit sanfter Stimme, die von einem unwiderstehlichen Lächeln begleitet wurde. Seine blauen Augen blitzten schelmisch und passten hervorragend zu dem ergrauten, gut geschnittenen Haar. Gleichzeitig nahm sie einen vertrauten, sehr angenehmen Duft wahr. Maja dachte an die Spinnweben in ihrem Haar, an ihr verschwitztes Gesicht, die alte Strickjacke und die Bluse darunter, die vom Bedienen der heutigen Gäste vermutlich nicht die sauberste war. Aber vor allem dachte sie daran, dass der Fremde, so attraktiv er auch sein mochte mit seinen grauen Schläfen, sich einfach in ihr Gerätehaus geschlichen hatte. Was für eine Frechheit!
»Wer sind Sie und was machen Sie in meinem Schuppen?«, fragte sie deshalb misstrauisch.
»Ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken. Mein Name ist Lars Bremer und ich komme von nebenan. Ich sah, dass die Tür zu Ihrem Schuppen offenstand und wollte eigentlich nur kurz etwas fragen. Da standen Sie auf der Leiter und diese fing auf einmal an zu schwanken, nun ja, den Rest kennen Sie!« Nun lachte er auch noch!
»Wie schön, dass ich die Quelle Ihrer Erheiterung bin«, zischte sie und setzte dennoch neugierig hinzu: »Was wollen Sie denn wissen?«
»Ich habe mir gerade das Nachbargrundstück angeschaut. Das Grundstück mit seiner direkten Lage am See ist großartig, aber die alte Hütte darauf sollte weg.«
»Das Haus vom alten Pankow soll abgerissen werden?«, fragte sie verwundert. Der alte Mann war vor ein paar Monaten gestorben, und Maja hatte geglaubt, sein Neffe würde bald einziehen. Vermutlich hatte dieser das Grundstück aber samt Haus bereits an diesen zugegebenermaßen sehr attraktiven Schnösel verkauft.
»Genau. Eigentlich wollte ich mich nur kurz bei Ihnen vorstellen und mitteilen, dass Sie mich wohl demnächst öfter hier sehen werden.« Dagegen hatte Maja an sich nichts einzuwenden. Nette Männer waren in dieser Gegend nicht so dicht gesät. Dennoch saß ihr der Schrecken über sein plötzliches Auftauchen noch in den Gliedern – und das ärgerte sie. Und dass vermutlich schon bald eine Baustelle direkt neben ihrem Café sein würde, freute sie auch nicht gerade.
»Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Sie etwas fragen wollten?«, erwiderte sie deshalb schnippischer als beabsichtigt.
»Ich wollte fragen, wie Ihre Auslastung im Café ist? Kommen viele Gäste vorbei?«, stellte er nun die Frage und lächelte erneut.
Was sollte das? Was hatte ihre Auslastung im Café mit dem Umbau des Nachbarhauses zu tun? Nun, vermutlich wollten die neuen Besitzer nicht allzu viel Lärm um sich haben, wenn sie auf ihrer schnieken Terrasse ein Sonnenbad nahmen.
»Wir kommen zurecht«, antwortete sie deshalb ausweichend. »Im Sommer kommen recht viele Radfahrer und Spaziergänger vorbei, aber im Winter wird es deutlich ruhiger. Wie fast überall am See!« Majas Café »Butterblume« lag zwar direkt am Seeufer, doch nicht an der schönen Promenade, die Überlingen zierte und auf der auch in der Nebensaison zahlreiche Spaziergänger flanierten, sondern ein ganzes Stück abseits der Stadt.
»Ich hoffe, ich habe Ihre Frage beantwortet. Leider muss ich jetzt weiterarbeiten«, erklärte Maja.
»Oh ja, natürlich. Ich möchte Sie nicht aufhalten!«, entschuldigte sich Lars Bremer. »Wir sehen uns bestimmt die Tage noch einmal. Vielleicht schaue ich einmal auf einen Kaffee bei Ihnen herein.« Wieder lächelte er.
»Dann aber bitte im Café und nicht im Schuppen! Wir sehen uns«, verabschiedete sich Maja, schloss die Schuppentür und ging auf die Terrasse zu, auf der noch die Dahlien lagen. Nun hatte sie ganz die Blätter auf der Markise vergessen, weswegen sie eigentlich in den Schuppen gegangen war. Wie sie bemerkte, war der Fremde inzwischen im Nachbargarten angekommen war und sah zu ihr herüber. Er winkte lächelnd, und Maja erlaubte sich zum ersten Mal zurückzulächeln.
Wenn ihre erste Begegnung doch ein wenig seltsam war, so musste sie doch gestehen, dass sie den möglichen neuen Nachbarn wesentlich charmanter fand als den alten Herrn Pankow, welcher zuvor viele Jahre im Nachbarhaus gelebt hatte und ein komischer alter Kauz gewesen war. Gar so zickig hätte sie nicht sein müssen.
In Gedanken an die merkwürdige Begegnung betrat sie das Café, in dem die Abendsonne ein sanftes Licht auf das Innere warf. Erst im vergangenen Frühjahr hatten Maja und Ruth, die nicht nur ihre beste Mitarbeiterin, sondern auch ihre beste Freundin war, kleine »Inseln« mit niederen Tischen, bequemen Stühlen und gemütlichen Sofas geschaffen, welche sie durch zierliche Bücherregale und große Goldfruchtpalmen getrennt hatten. Dies hatte Intimität und Behaglichkeit erzeugt, was insbesondere die Gäste erfreute, die sich ganz in Ruhe unterhalten oder ein Buch lesen wollten. Maja bemerkte, dass ihre langjährige Mitarbeiterin bereits alles perfekt aufgeräumt und den behaglichen Gastraum auch schon sauber gewischt hatte. Die Gute! Sie musste unbedingt daran denken, Ruth bei der nächsten Abrechnung eine kleine Gehaltserhöhung zu gewähren. Auch wenn die Zeiten nicht gerade gut waren. Durch die hohe Inflation waren die Kosten des Wareneinkaufs stark gestiegen, was Maja nicht an ihre Gäste weitergeben wollte, um sie nicht zu verprellen. Das schmälerte den Gewinn ebenso wie die Tatsache, dass bei vielen Gästen das Geld nicht mehr so locker saß. Ganz zu schweigen davon, dass das Ende der Saison unmittelbar bevorstand.
Maja konnte nur hoffen, dass sich im Winter ausreichend Gäste auf den Weg zu Kaffee und Kuchen in ihr Café machen würden. In Gedanken versunken betrat Maja die Küche, in der Ruth vor dem geöffneten Fenster stand und eine Zigarette rauchte. Sie trug noch immer die schwarze Schürze mit der aufgedruckten gelben Butterblume, und ihr sonst ordentlich geföhntes kurzes blondes Haar war reichlich zerzaust. »Was muss ich da sehen?«, schalt Maja sie grinsend. »Hattest du nicht gesagt, du hättest damit aufgehört? Diesmal endgültig?« Mit einem Ruck drehte sich Ruth zu ihr um. Ihr hübsches Gesicht sah ernst und müde aus.
»Maja, ich habe dich gar nicht kommen hören! Nun …« Ruth machte eine kurze Pause, als müsse sie nachdenken. »Manchmal brauche ich das eben«, setzte sie hinzu. Sie lächelte, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht.
»Ist was?«, fragte Maja misstrauisch. Nach all den Jahren konnte sie Ruth jede Stimmung im Gesicht ablesen. So niedergeschlagen hatte sie sie noch nie erlebt. Fieberhaft dachte sie nach, ob im Laufe des Tages etwas vorgefallen war, das Ruth derart missgestimmt haben konnte, doch es wollte ihr partout nichts einfallen.
»Maja, ich muss dir etwas sagen«, antwortete Ruth ernst.
Da war er. Der Satz, vor dem sich Maja in den ganzen letzten Jahren gefürchtet hatte. Sie musste zugeben, dass sie den Gedanken verdrängt hatte, dass Ruth bereits vor einer ganzen Weile die 60 überschritten hatte und sich vermutlich so langsam auf einen ruhigen Lebensabend mit ihrem Michael freute. Soviel sie wusste, war es nicht mehr lange, bis Michael in Pension gehen konnte. Obwohl sich Maja beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass Michael der Abschied von der Kripo leichtfallen würde. Die Polizeiarbeit war sein Leben. Maja war bewusst, dass die beiden viel zu wenig Zeit füreinander hatten. Nicht nur, weil Michael mit Leidenschaft Kriminalfälle löste, sondern weil Maja es für selbstverständlich hielt, dass Ruth Tag für Tag in ihrer Backstube stand oder die Gäste im Café bediente. Nervös strich sich Maja die Haare aus dem Gesicht und fingerte in der Hosentasche nach einem Haargummi.
»Maja, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll«, begann Ruth und vermied, Maja in die Augen zu sehen.
»Lass es uns abkürzen«, unterbrach diese. »Du willst mir sagen, dass du kündigen möchtest, weil du mit Michael eine Weltreise geplant hast.«
»Was? Eine Weltreise? Um Himmels willen. Nein!«, beeilte sich Ruth zu versichern. »Du kennst doch Michael. Er kann nicht ohne seine Arbeit sein. Außerdem hat er noch ein paar Jährchen bis zu seiner Pension. Und selbst dann.«
Maja antwortete nicht, sondern wartete stattdessen ruhig ab, was Ruth zu sagen hatte. Sie spürte, dass es nichts Gutes war. Ruths Gesichtsausdruck war zu ernst.
»Kannst du dich erinnern, dass ich dir im Juni von unserem Chor-Ausflug erzählt habe?«, wechselte Ruth das Thema. »Wir haben doch eine Kurzreise nach Wien unternommen. Das war sehr beeindruckend und in vielerlei Hinsicht aufschlussreich für mich. Ich habe nämlich unterwegs einige sehr nette Gespräche mit den anderen Sängerinnen aus dem Chor geführt. Mit Monika zum Beispiel. Sie hat ihre Scheidung überwunden und will jetzt ein neues Leben auf Mallorca anfangen.« Maja hörte Ruth ruhig zu und fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte.
»Seitdem habe ich viel nachgedacht. Über Monika. Aber auch über mein eigenes Leben. Maja, ich kann das alles nicht mehr«, brach es auf einmal aus Ruth heraus.
»Was meinst du?«, versuchte Maja zu ergründen, worauf Ruth eigentlich hinauswollte.
»Es muss noch mehr geben als Backen und Bedienen! Etwas anderes mache ich doch seit Jahren nicht mehr, auch nach Feierabend nicht. Ich möchte das nicht mehr. Ich steige aus!« Mit Inbrunst drückte Ruth ihre Zigarette aus. »So. Nun ist es heraus.«
»Das ist es also, was du mir sagen willst? Dass du mich im Stich lassen willst?«, fragte Maja mit einem gequälten Lächeln.
»Ach, Maja, nun mache es mir doch nicht so schwer! Ich möchte dich nicht im Stich lassen. Aber ich kann so einfach nicht mehr weitermachen. Mein Leben zerrinnt mir zwischen den Fingern! Was kommt denn noch? Wenn ich jetzt nicht etwas Neues anfange, wann dann? Ich habe nicht mehr so viel Zeit!« Ruth ergriff ihre Hand.
»Du willst etwas Neues anfangen? Was soll das denn sein? Und was sagt Michael dazu?« Maja ließ Ruths Hand unvermittelt los und begann, die letzten herumstehenden Tassen in den Geschirrspüler einzuräumen, damit ihre Freundin nicht die Tränen sah, die ihr vor Enttäuschung kamen. Ruth wollte aussteigen. Aus dem Café und offensichtlich aus ihrem ganzen Leben.
»Michael interessiert sich nur und ausschließlich für seine Arbeit. Er sieht mich schon lange nicht mehr, Maja. Bei uns beiden ist die Luft raus. Ich bin nicht mehr als seine Mitbewohnerin!«, entfuhr es Ruth plötzlich. »Es ist wie in dem Gedicht von Erich Kästner: ›Als sie einander acht Jahre kannten (und man darf sagen: sie kannten sich gut), kam ihre Liebe plötzlich abhanden, wie andern Leuten ein Stock oder Hut.‹« Ruth machte eine bedeutungsvolle Pause. »Wir streiten uns nicht, da ist einfach gar nichts mehr zwischen uns!«
Fassungslos sah Maja ihre Freundin an. Ganz offensichtlich hatten ihre besten Freunde große Beziehungsprobleme und sie hatte nichts, rein gar nichts davon mitbekommen. Sie hatte auch nicht gemerkt, dass Ruth mit ihrer Arbeit in der »Butterblume« unglücklich war. Was war sie nur für eine Freundin!
»So etwas geht doch vorüber, Ruth«, versuchte Maja Ruth umzustimmen. »Ich habe einmal gelesen, dass eine Beziehung wie das Meer ist, immer in Bewegung. Manchmal steht man am Ufer und weiß nicht, ob es sich lohnt, auf die Flut zu warten.«
»Nein, Maja. Lass die Sprüche. Das geht nicht vorüber. Unser Alltag ist eine riesengroße Ansammlung von Belanglosigkeiten. Das wird immer so bleiben, und es ist mir zu wenig. Ich möchte noch etwas erleben, bevor der Sargdeckel zugeht.« Ruth atmete tief durch und sah ihre Freundin mit großen Augen an. »Außerdem habe ich jemanden kennengelernt!«, setzte sie mit Nachdruck hinzu.
»Was sagst du da? Du hast jemanden kennengelernt und mir nichts davon gesagt?«, fragte Maja. Offenbar hatte ihre Freundin so manche Geheimnisse vor ihr.
»Es tut mir leid. Ich wollte dir schon vor einer Weile davon erzählen, aber es erschien mir noch zu frisch. Ich wollte erst einmal abwarten, was daraus wird. Aber ja, es stimmt. Ich habe jemand getroffen, der mein Herz berührt. Der mich wahrnimmt und der sich für mich interessiert. Ich dachte zuerst, es sei nur eine kleine Schwärmerei. Aber ich glaube, es ist viel mehr, Maja! Ich möchte herausfinden, ob es vielleicht sogar Liebe ist.« Ruth sah sie mit großen Augen an.
Maja war so geschockt, dass sie nicht antworten konnte. Sie hatte immer geglaubt, Ruth sei glücklich mit Michael. Auch wenn sie ihr insgeheim recht geben musste: Michael lebte für seine Arbeit, die Polizei. Sie dachte an das kleine Boot »Sommerwind«, was sie eben auf dem See bemerkt hatte. Selbst auf diesem saß er nicht mit seiner geliebten Partnerin, sondern mit seinem ehemaligen Kollegen Werner, um Kriminalfälle zu diskutieren. Maja konnte verstehen, dass sich Ruth vernachlässigt fühlte. Sie sah immer noch sehr gut aus und verfügte über die Art von Ausstrahlung, auf die so manch junge Frau neidisch sein konnte.
»Wer ist es und wo habt ihr euch kennengelernt?«, wollte Maja nun wissen. Sie konnte nicht verhindern, dass Ärger in ihrer Stimme mitschwang.
»Beim Heurigen. In Wien«, gestand Ruth und lächelte.
»Bei der Reise eures Chors?«, fragte Maja nach.
»Genau. Er heißt Rudi, lebt in Wien, ist pensioniert und wir schreiben jeden Tag. Ich hätte nicht gedacht, dass es so weit kommt, Maja, aber ich glaube, ich habe mich verliebt!«
Daher also das Strahlen auf ihrem Gesicht, was Maja seit Wochen bemerkt hatte. Sie hatte geglaubt, Ruth würde sich an dem schönen Sommer am See erfreuen.
»Ach Ruth, das muss ich jetzt erst einmal verdauen«, musste sie zugeben.
»Das habe ich mir schon gedacht. Ich weiß auch, was du jetzt denkst. Die Ruth in ihrem Alter soll sich mal lieber auf die Rente freuen. Aber es ist mir wirklich ernst. Ich muss das herausfinden, Maja. Ob es für mich noch einen neuen, anderen Weg gibt!«
»Und was wird aus Michael?«, hakte Maja nach. Auf einmal tat er ihr unendlich leid. Vor Jahren hatte er seine Frau an den Krebs verloren und nun sah es so aus, als wollte Ruth ihn auch verlassen. Das hatte er nicht verdient.
»Michael wird es verschmerzen. Wahrscheinlich wird er es nicht einmal bemerken, wenn ich nicht mehr da bin«, rechtfertigte sich Ruth.
»Jetzt bist du ungerecht!«, schimpfte Maja.
»Das kann schon sein«, erwiderte Ruth mit einem Seufzen. »Ich habe mir schon gedacht, dass dich das schockiert. Warten wir doch einfach ab. Bis jetzt ist ja noch gar nichts passiert! Ich habe Rudi noch nicht wiedergesehen, denn ich wollte Michael nicht untreu werden. Erst mal muss ich zu mir selbst kommen und herausfinden, was ich wirklich will. Daher habe ich beschlossen, mir eine kleine Auszeit zu nehmen, um Monika auf Mallorca zu besuchen. Sie hat im Sommer eine kleine Finca auf Mallorca erworben und mich schon ein paar Mal dorthin eingeladen. Sie betreibt eine Töpferei und vermietet einige Fremdenzimmer. Heute habe ich mich endlich dazu durchgerungen, ihre Einladung anzunehmen. Ich hoffe, dass ich dort zur Ruhe kommen und herausfinden kann, was ich mit meinem Leben anfangen möchte. Und ob meine Schwärmerei nur eine Schwärmerei ist oder vielleicht doch etwas mehr.«
»Du willst Rudi dort treffen, nehme ich an?«, sagte ihr Maja auf den Kopf zu.
»Ach was, nein! Ein Treffen auf Mallorca ist vorläufig nicht geplant. Ich möchte mir nur über einige Dinge in meinem Leben klar werden. Keine Angst, ich bleibe auf jeden Fall bis zum Saisonende in der ›Butterblume‹. Im November werde ich nach Mallorca fliegen und weitersehen. Wer weiß? Vielleicht plane ich im Dezember ein Wochenende in Wien ein und besuche Rudi. Aber erst einmal möchte ich zu mir selbst kommen.« Endlich gelang es Ruth, Maja in die Augen zu sehen. Sie schien erleichtert, dass Maja nun über ihr Vorhaben informiert war.
»Du scheinst ja alles bereits genau geplant zu haben«, erwiderte diese enttäuscht und wandte sich ab.
»Ach Maja, nun mach doch nicht so ein Gesicht. Das ist doch kein Weltuntergang. Ganz ehrlich, im November ist doch sowieso nichts mehr los. Wer weiß, ob sich vor Weihnachten überhaupt noch ein paar Leute hierher verirren. Ich muss dich nicht daran erinnern, dass wir ein ganzes Stück von der Innenstadt entfernt liegen. Du weißt selbst, dass im Spätherbst kaum Gäste kommen. An deiner Stelle würde ich den Laden einfach dichtmachen und wie so viele andere gastronomische Betriebe am See eine kleine Winterpause einlegen. Und dann treffen wir uns im Frühling wieder hier, wenn die Obstbäume blühen!« Ruths Wangen glänzten plötzlich euphorisch.
»Du willst bis zum Frühling auf Mallorca bleiben? Vielleicht gefällt es dir ja dort gar nicht. Oder Rudi entpuppt sich als Schnarchnase«, warf Maja hoffnungsfroh ein.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das werden wir alles sehen! Denke noch einmal über die Winterpause nach«, schlug Ruth erneut vor.
»Winterpause – was für ein Schmarrn! Was soll ich denn monatelang anstellen?« Maja verdrehte die Augen.
So langsam wurde sie wütend. Nur weil Ruth so etwas wie eine sehr verspätete Midlife-Crisis hatte, sollte sie auf einmal eine Winterpause einlegen und auf dem Sofa sitzen und Däumchen drehen! Die »Butterblume« war doch ihr Leben.
Maja hatte genug. Sie wollte nicht länger mit Ruth streiten und verließ deshalb die Küche, um die Außentür abzuschließen, damit keine Gäste mehr hereinkommen konnten. Ruth konnte das Café gleich über die Terrasse verlassen. Im Flur war es bereits so schummrig, dass Maja die Kontur eines stattlichen Mannes, der dort unbewegt stand, nur schemenhaft erkennen konnte. Für einen Moment schien ihr Herz auszusetzen. War das etwa wieder dieser Lars Bremer? Noch einmal würde er doch wohl nicht wagen, sie zu erschrecken! Darüber hinaus war die Kontur dieses Mannes viel größer und korpulenter. Wurde sie etwa nach all der Aufregung auch noch überfallen? Maja fiel siedend heiß ein, dass sich in der Kasse eine ansehnliche Summe Bargeld befand. In den letzten Tagen waren die Umsätze durch das schöne Wetter recht hoch gewesen und Maja hatte es noch nicht zur Bank geschafft, um das Geld einzuzahlen.
»Einen wunderschönen guten Abend«, hörte sie stattdessen eine vertraute Stimme. Obwohl Maja den Mann noch immer nicht richtig erkennen konnte, wusste sie doch, wer er war.
»Leon! Was machst du denn hier? Und wie lange stehst du da schon?«, fragte sie erleichtert.
Als Leon auf Maja zuging, bemerkte sie, dass er leicht schwankte.
»Noch nicht lange. Ich habe nur etwas von Winterpause gehört. Wollt ihr etwa auch noch zumachen? Dann weiß ich ja gar nicht mehr, wo ich meinen Kaffee trinken soll!« Auf einmal stand Leon dicht vor Maja und strich ihr lächelnd eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Bei jedem anderen hätte sie protestiert, aber sie kannten sich nun schon so lange, dass sie ebenfalls lächelte, auch wenn sie eine ordentliche Fahne bei Leon bemerkte.
Leon kam ihr wie gerufen. Mit seiner stattlichen Größe konnte er problemlos die Blätter von der Markise entfernen, ohne eine Leiter zu benötigen. Zu diesem Gefallen war er bestimmt gerne bereit. Vor vielen Jahren waren die beiden ein Paar gewesen. Maja hatte sich sogar eine gewisse Zeit gewünscht, dass sie heiraten und zusammen mit Majas Tochter Nini eine richtige Familie werden würden. Doch es war anders gekommen. Maja hatte Christian kennen- und lieben gelernt und Leon Beatrice, mit welcher er nunmehr schon seit einigen Jahren verheiratet war. Gemeinsam führten die beiden sehr erfolgreich das familieneigene Weingut Römfeld fort, welches neben vielen anderen Restaurants und Cafés auch die »Butterblume« mit köstlichen Bodenseeweinen belieferte.
»Ich wollte nicht stören. Ich war nur gerade in der Gegend und dachte, ich bringe euch persönlich die Einladung vorbei.« Leon fingerte in der rechten Gesäßtasche seiner Jeans herum, über die sich mittlerweile ein stattlicher Bauch wölbte, und förderte eine zerdrückte Karte zutage.
»Hier, die Einladung zu unserem traditionellen Weinfest. Für die nettesten und charmantesten Kundinnen, die ich habe!«, überreichte er sie Maja grinsend.
»Na dann, vielen Dank. Wann soll das denn stattfinden?«, fragte sie ausweichend, da sie keinerlei Lust verspürte, Leons arroganter Frau Beatrice und seiner nicht minder eingebildeten Mutter Katharina Römfeld zu begegnen.
»Am 22. September. Es wird wie immer ein fantastisches Fest. Das könnt ihr euch unmöglich entgehen lassen!«, freute sich Leon.
Gerade als sich Maja eine passende Ausrede ausdenken wollte, erschien Ruth in der Tür und rief strahlend: »Wunderbar! Wir sind dabei!«
»Wo sind die weißen Hussen? Ich habe sie vor Wochen bestellt und angeordnet, dass sie über ALLE Stehtische gezogen werden! Muss man denn in diesem Haus alles selbst machen?«, schimpfte Beatrice Römfeld und verteilte die letzten Kastanien auf den Tischen. Seit heute früh war sie auf den Beinen und spürte nun langsam, wie ihre Nerven am Anschlag waren. In etwas mehr als einer Stunde würden bereits die ersten Gäste eintreffen und es gab noch so viel zu tun. In Momenten wie diesem hatte sie das Gefühl, dass sie es nur mit inkompetenten Idioten zu tun hatte. Seit Wochen hatte sie dieses Weinfest mit allen Mitwirkenden bis in das kleinste Detail durchgekaut. Es sollte das schönste, das tollste und beeindruckendste Weinfest werden, welches das Weingut Römfeld je erlebt hatte, und sie hatte sich fest vorgenommen, alles dafür zu tun. Schließlich sollte es ihre Abschiedsvorstellung in diesem Laden werden. Aber das wusste natürlich niemand. Dennoch hatte sie geglaubt, dass sie die anderen mit ihrer Begeisterung angesteckt hatte, und nun musste sie feststellen, dass dies ein Irrtum war.
»Ich weiß nicht, wo die Hussen sind«, versuchte ihre Mitarbeiterin Silke Weise ihr gerade glaubhaft zu vermitteln. Kein Wunder, was wusste diese Frau überhaupt? Ihr Nachname schien in krassem Gegensatz zu ihrem Intellekt zu stehen, und Beatrice fragte sich zum wiederholten Male, wie Silke es geschafft hatte, sich einen derart gut aussehenden Mann wie Richy zu angeln. An ihrem Aussehen konnte es jedenfalls nicht gelegen haben, denn Silke war mit ihrer rundlichen Figur, ihrem unscheinbaren Gesicht, den mausfarbenen Haaren und der Brille alles andere als eine Schönheit. Silke war sanftmütig und nahm die Stimmungsschwankungen ihrer Chefin scheinbar gelassen hin, das musste Beatrice ihr lassen. Deshalb zuckte sie auch jetzt so gut wie gar nicht zusammen, als Beatrice sie anherrschte: »Dann suchen Sie sie gefälligst! Ich möchte spätestens in einer halben Stunde ALLE Tische gedeckt und mit Weinblättern dekoriert sehen. Haben wir uns verstanden?«
Kopfschüttelnd ging sie ins Haus. Sollte Silke sich doch etwas einfallen lassen, wenn sie die Hussen nicht fand. Notfalls Bettlaken nehmen oder sonst etwas. Sie konnte sich jetzt nicht mehr darum kümmern, sondern musste überprüfen, ob genügend Wein aus den Kellern nach oben gebracht und das kalte Buffet angeliefert wurde.
Im großen Salon, aus welchem man einen fantastischen Blick in den Garten hatte, hielt sie einen Moment inne. Auch ohne die Hussen auf den Stehtischen bot sich ihr ein wundervoller Anblick. Beatrice grinste zufrieden. Es war perfekt. Die einfachen Biergarnitur-Tische waren mit weißen Tischdecken, Weinblättern und Kastanien geschmückt und wurden von ebenso weißen zeltartigen Dächern, die vor der abendlichen Kühle Schutz bieten sollten, behütet. In den Dächern hatte sie unzählige Lampions aufgehängt, die zu später Stunde die Dunkelheit erhellen würden. Doch noch tauchte die frühe Abendsonne den traumhaften Garten in ein goldenes Licht. Schöner konnte man seine Gäste nicht empfangen. Hoffentlich wurde es später nicht zu kalt, um draußen zu tanzen. Falls doch, war Beatrice auch auf diese Situation bestens vorbereitet. Dann würden sie eben in den Salon im Wintergarten, in dem sie gerade am Fenster stand, umziehen. Hier war Platz genug für zahlreiche Tanzende, auch für die Band. Beatrice straffte die Schultern und machte sich auf den Weg in die Küche, in der bereits reges Treiben herrschte.
Auf dem Weg dorthin begegnete ihr Richy, der sie sofort beiseitenahm und zärtlich über ihre Wange strich. »Nicht hier!«, schalt sie ihn und sah sich vorsichtig um. Richy, der eigentlich Richard Weise hieß, war nicht nur Silkes Mann, sondern vor allem ihr Kellermeister. Der wichtigste Mann in diesem Laden, wie ihr gerade einfiel. Mit ihrem eigenen Ehemann war ja nicht viel anzufangen. »Hast du genug Wein bereitgestellt? Grau- und Spätburgunder, Riesling, Müller -Thurgau?«, fragte sie und schüttelte nervös seine Hand ab. Der Müller-Thurgau war in diesem Jahr besonders spritzig. Er durfte auf keinen Fall fehlen!
»Selbstverständlich, Chefin. Sie können sich doch immer auf mich verlassen«, erwiderte er süffisant und mit breitem Grinsen. Normalerweise siezte er sie nicht, denn Leons Wunsch war es, dass sich auf dem Weingut alle duzten. Dennoch hatte Beatrice Richy unmissverständlich klar gemacht, dass sie auf gar keinen Fall vor den anderen Vertraulichkeiten austauschen durften. Meistens hielt Richy sich daran, dennoch war Beatrice wohl bewusst, dass er mehr als nur ein kleines Schäferstündchen dann und wann wollte. Erst gestern hatte er wieder darauf gedrängt, dass sie gemeinsam das Weingut verlassen und woanders neu anfangen sollten. Sie musste zugeben, dass ihr dieser Gedanke zu Beginn ihrer Affäre recht verführerisch erschienen war und sie sogar schon eine Idee entwickelt hatte, wie sie ihn in die Tat umsetzen konnten. Blöderweise hatte sie Richy von diesem Plan erzählt. Zu dumm, denn jetzt ließ er keine Gelegenheit aus, sie daran zu erinnern. Dabei war sie inzwischen gar nicht mehr bereit dazu. Obwohl sie zugeben musste, dass Richy ein toller Mann war. Seine Ausstrahlung hatte sie vom ersten Moment an umgehauen, und ihr war sofort klar gewesen, dass sie irgendwann im Bett landen würden. Nur deshalb hatte sie ihn überhaupt eingestellt, denn in seinem Lebenslauf fanden sich so manche Lücken. Und nur deshalb akzeptierte sie seine unfähige Frau Silke, die er unbedingt ebenfalls auf dem Weingut unterbringen wollte. Richy war ohne Zweifel sehr sexy, aber dennoch war Beatrice in letzter Zeit klar geworden, dass er nie und nimmer der Mann war, für den sie ihr luxuriöses Leben aufgeben würde. Bedauerlicherweise gehörte zu Beatrices weniger guten Charaktereigenschaften, dass ihr Interesse nie von langer Dauer war. Richy schien ihre Unsicherheit zu spüren und flüsterte: »Sehen wir uns nachher? An unserem Plätzchen?«
Wieder sah sich Beatrice nervös um. Sie durfte unter gar keinen Umständen in dieser vertraulichen Position mit Richy gesehen werden.
»Hör mir zu, ich habe es dir schon so oft gesagt«, flüsterte sie deshalb zurück. »Es ist mir einfach zu gefährlich. Wir dürfen uns hier nicht mehr treffen. Leon hat bereits Verdacht geschöpft«, ergänzte sie.
»Das ist doch egal! Du willst ihn doch sowieso verlassen!« Richys Ton wurde lauter und schärfer.
Beatrice riss sich von ihm los. »Nicht jetzt.« Und auch nicht später, dachte sie bei sich.
»Beatrice, kommst du mal bitte?« Die Frage in schneidendem Ton war mehr ein Befehl als eine Frage und Beatrice ein willkommener Anlass, das Gespräch zu beenden.
»Selbstverständlich, liebste Schwiegermama!«, flötete Beatrice zurück und drehte sich ruckartig um, um festzustellen, dass Katharina Römfeld direkt vor ihr stand. Wie lange schon? Hatte sie etwa alles mitgehört und – was schlimmer wäre – bemerkt, wie Richy ihr zärtlich über die Wange gestreichelt hatte?
Dieser murmelte etwas von »Ich kümmere mich um den Wein« und verschwand Richtung Ausgang.
Aus Katharinas eisiger Miene ging wie so oft nichts hervor. Sie betrachtete Beatrice nur mit kühlem Blick und gab in scharfem Ton bekannt, dass die Leute von der Cateringfirma »Seeküche« vor der Tür standen und wissen wollten, wo sie das Buffet aufbauen sollten.
Mit einem verlegenen Lächeln huschte Beatrice an Katharina vorbei und murmelte »Ich kümmere mich darum!«. So tough sie auch sonst war, gegen ihre Schwiegermutter kam sie nur schwer an. Katharina war die graue Eminenz auf dem Weingut und trotz ihres hohen Alters und ihrer Gehbehinderung seit einer misslungenen Hüft-Operation vor einigen Jahren täglich präsent. An ihr kam nichts und niemand vorbei, auch Beatrice nicht. Weil Beatrice nicht nur schlau, sondern raffiniert genug war, Katharina zu durchschauen, war es ihr von Anfang an gelungen, nicht nur ein gutes Leben auf dem Weingut zu führen, sondern auch viele Dinge, die ihr wichtig waren, durchzusetzen. Es hatte sie jedoch viel Kraft gekostet und war so manches Mal an ihrer eigenen Schauspielerei Katharina gegenüber gescheitert. In letzter Zeit hatte sie sich sogar oft gefragt, ob ihre Schwiegermutter nicht doch mehr wusste, als sie zugab. Katharina war gefährlich, denn selbst wenn das Weingut der Römfelds seit längerer Zeit Leon überschrieben war, so konnte sie doch großen Einfluss auf ihren Sohn ausüben. Leons Bruder Robert hatte sich sein Erbe vor Jahren auszahlen lassen und von diesem Geld mit seiner französischen Frau Anouk ein kleines altes Weingut in Bordeaux gekauft. Leons Schwester Emily, die sich noch nie für das Weingut interessiert hatte, war vor einiger Zeit der Liebe wegen nach Neuseeland ausgewandert und kam nur äußerst selten einmal in ihre alte Heimat am Bodensee zurück. Glücklicherweise. Beatrice hatte dieses Hippiemädchen nie gemocht. Somit war Katharina die einzige Person, mit der sie sich auseinandersetzen musste. Und auch das nicht mehr lange, wozu sich Beatrice insgeheim mehr als freute. Sollte sie doch in Zukunft mit ihrem Leon-Liebling allein den Laden schmeißen.
Mit kurzen, präzisen Worten wies Beatrice die Leute der Cateringfirma im Garten an, das Essen auf die bereitgestellten Tische, die als Buffet dienen sollten, zu platzieren. Inzwischen hatte sich die engagierte Band »Lake Music« auf einem erhöhten Podest eingefunden und stimmte die Instrumente. Wie sie mit Genugtuung feststellte, hatte Silke die Hussen gefunden oder zumindest etwas anderes improvisiert, sodass die Stehtische ebenso schön aussahen wie der Rest der Tische. Es war alles erledigt. Endlich Zeit, sich selbst aufzuhübschen. Mit großen Schritten eilte Beatrice auf das Haus zu.
In ihrem Ankleidezimmer atmete sie tief durch. Es war alles perfekt vorbereitet für ihre Abschiedsvorstellung. Fehlte nur noch das richtige Outfit. Etwas, an das man sich erinnern würde. Grinsend nahm Beatrice das kirschrote Kleid aus wertvoller Seide aus dem riesigen Schrank in ihrem Ankleidezimmer. Es war teuer gewesen, sehr teuer. Aber jeden einzigen Cent wert. Der kurze Rock gab den Blick auf ihre gebräunten Beine frei, und der Ausschnitt war beinahe skandalös. Sie verzichtete darauf, einen BH zu tragen, ihre Brüste waren dank ihrer täglichen Gymnastikübungen noch immer fest, auch wenn sie Ende 40 war.
»Das ist nicht dein Ernst«, hörte sie auf einmal Leons Stimme. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören.
»Was soll nicht mein Ernst sein, Liebling?« Sie betonte das Wort Liebling bewusst auffällig, drehte sich jedoch nicht zu ihm um, sondern legte sich die Kette mit dem Diamantherz, die er ihr einst in besseren Zeiten geschenkt hatte, um.
»Du willst nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, dieses Kleid zu tragen?« Leons Stimme war tief und bedrohlich.
Nun drehte sich Beatrice doch um, um zu ergründen, was er damit meinte. Es war ihm sonst auch egal, was sie anhatte.
Leon sah immer noch gut aus, wie sie sich gerade eingestehen musste. Kein Wunder hatte sie sich damals in ihn verliebt. Er war groß und stattlich, mittlerweile zu stattlich, denn seine Vorliebe für gutes Essen und seinen eigenen guten Wein hatten ihm zu einem recht ansehnlichen Bauch verholfen. Heute Abend trug er jedoch zu ihrer Freude seinen dunklen Anzug, der ihn schlanker und distinguierter erscheinen ließ. Fast bedauerte sie, dass ihre Ehe in eine solche Sackgasse geraten war. Es war ihr bewusst, dass sie die Schuld daran trug. Vielleicht hätte sie damals ihrem Instinkt vertrauen und gar nicht erst seinen Antrag annehmen sollen. Doch sie hatte gerade eine Geschichte mit einem Mann hinter sich, in den sie sehr verliebt gewesen war und die sehr unglücklich geendet hatte. Da war ihr Leon mit seinem hübschen Weingut gerade recht erschienen. Aber er war und blieb ein Bauer, auch in seinem teuren Maßanzug und den Designerschuhen aus Mailand.
»Warum denn nicht? Du hast dich doch auch in Schale geworfen!«, antwortete sie deshalb gereizt.
»Weil du nicht vergessen solltest, dass du die Chefin auf einem der wichtigsten Weingüter am Bodensee bist und keine Tänzerin im Moulin Rouge!«, entgegnete Leon scharf.
»Wie könnte ich DAS nur vergessen? Schließlich werde ich jeden Tag entweder von dir oder deiner Mutter daran erinnert«, erwiderte sie, nun auch in schärferem Ton. Warum bemerkte sie erst jetzt, dass Leon bereits reichlich getrunken hatte?
»Hör zu«, begann sie deshalb in versöhnlicherem Ton. »Ich mache mich jetzt in Ruhe fertig, dann gehen wir gemeinsam herunter und begrüßen die Gäste, in Ordnung?«
Leon kam leicht schwankend auf sie zu. »Und was sagen wir den Gästen? Dass es das Weingut vielleicht bald nicht mehr geben wird, weil die Herrin des Hauses zu viel Geld ausgibt, wie man ja unschwer an dem heutigen Abend und ihrer ganzen Aufmachung sehen kann?« Leons Augen funkelten wütend. »Und weil sie zwar ein kleines Vermögen geerbt hat, was dem angeschlagenen Weingut auf die Beine helfen könnte, aber nicht bereit ist, dieses in unsere gemeinsame Zukunft …«, hier machte Leon eine Pause und lachte höhnisch. »… zu investieren. Obwohl sie die ganzen Jahre mehr als nur sehr gut von dem Weingut gelebt hat. Bis der Hagel plötzlich kam, der die ganze Ernte vernichtete, und die weitere schlechte Saison, und auf einmal das Interesse der »liebenden Ehefrau« an der gemeinsamen Arbeit erloschen war.«
»Gemeinsame Arbeit? Dass ich nicht lache!« So langsam wurde Beatrice wütend. »Vielleicht ist das Weingut nicht nur wegen der schlechten Ernte, sondern hauptsächlich wegen seines Chefs, der sich selbst am meisten an den Fässern bedient, so angeschlagen?«, zischte sie.
»Pass auf, was du sagst!« Leon schwankte auf sie zu, packte ihr Handgelenk und hielt sie fest.
»Willst du mir etwa drohen?« Beatrice ließ sich keineswegs einschüchtern. Sie sah ihm fest in die Augen. Leon war betrunken, aber nicht gefährlich.
»Ich werde dich verlassen«, erklärte sie unvermittelt mit leiser Stimme.
Dann entriss sie sich ihm, worauf er erneut ins Schwanken geriet, das Gleichgewicht verlor und gegen die geöffnete Schranktür stolperte.
»Ich verachte dich. Dich und dieses ganze verdammte Leben hier, das nur aus dem Wetterbericht besteht, der die Trauben gefährden könnte. Und deshalb werde ich gehen.« Mit funkelnden Augen drehte sich Beatrice um und verließ hastig das Ankleidezimmer.
»Ich kann es kaum erwarten!«, hörte sie Leon hinter sich brüllen.
Vor der Tür prallte sie auf eine Person. Wie lange stand sie dort schon? Hatte sie etwa gelauscht?
»Beatrice, hast du einen Augenblick Zeit?«
DIE hatte ihr gerade noch gefehlt. Diana, ihre Cousine, die seit einigen Wochen Gast auf dem Weingut war und Beatrice in vielen Dingen unterstützte.
»Du siehst doch, dass ich in Eile bin! Hat das nicht Zeit bis nach dem Fest?«, wollte Beatrice sie unwirsch abwimmeln.
»Nein … ich …ich … wollte dich fragen, was ich anziehen soll«, entgegnete Diana leise.
»Irgendetwas, nimm meinetwegen das blassrosa Kleid. Das passt zu dir!«, rief ihr Beatrice im Vorbeigehen zu und eilte weiter nach unten. Es war ihr vollkommen egal, was Diana tragen würde. Sie hatte ohnehin nicht die Absicht, ihr jemanden vorzustellen – und nur darauf kam es Diana doch an. Sie wollte einen finanzstarken Ehemann finden und hoffte darauf, heute Abend endlich jemand Passendes kennenzulernen. Obwohl sich Beatrice das nur sehr schwer vorstellen konnte, war es nicht unmöglich. Aber es konnte ihr eigentlich egal sein, ob der heutige Abend Dianas Singleleben beenden würde oder nicht. Beatrice wollte weg von allem hier, und zwar so schnell wie möglich. Aber erst einmal musste sie diesen Abend überstehen. Unten im Salon angekommen, griff sie nach einem Glas eisgekühlten Grauburgunder.
Plötzlich fiel ihr Blick auf jemanden im Garten. Sie atmete tief durch und ging lächelnd mit dem Glas in der Hand durch die Terrassentür ins Freie. Es wurde langsam Zeit, etwas Spaß zu haben!
Die Abendsonne warf einen goldenen Schimmer auf den gepflegten Rasen der Römfelds und wärmte die Haut der Damen, die sich aufgrund des herrlichen Spätsommerwetters noch einmal leicht und in fröhlichen Farben gekleidet hatten. Noch wollte sich niemand von der milden Jahreszeit verabschieden, auch wenn zu späterer Stunde garantiert zu warmen Jacken gegriffen wurde. Wenn man nicht gleich ins Innere des Hauses flüchtete.
Beatrice war stolz auf sich selbst. Der große parkähnlich anmutende Garten war zu dieser Jahreszeit ein Traum. Und das historische Gebäude mit seinem modernen Wintergarten-Anbau aus Glas, in dem die sorgfältig ausgewählten dezenten Lichter angingen, erstrahlte in festlichem Glanz. Von fern konnte man den Katamaran »Fridolin«, der von Friedrichshafen Richtung Konstanz unterwegs war, in der Abendsonne glänzen sehen.
Beatrice hatte sich selbst übertroffen. Das musste gefeiert werden. Sie nahm noch einen Schluck von dem köstlichen Grauburgunder.
»Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!«, ertönte auf einmal eine melodische Stimme hinter ihr.
Beatrice fuhr herum. »Hallo, Tanja«, begrüßte sie ihre Freundin. »Ich freue mich auch, dich zu sehen!«
Doch Tanjas Gesicht blieb ernst, ihre Lippen schmal.
»Ich habe dich gewarnt«, wiederholte sie noch einmal unheilvoll.
»Ach, Tanja, jetzt hör schon auf. Was soll das jetzt? Es ist ein wunderschöner Abend, alle freuen sich«, erwiderte Beatrice genervt.
»Es ist Äquinoktium. Du weißt, was beim letzten Mal bei der Tag- und Nachtgleiche geschehen ist«, erinnerte Tanja ihre Freundin und sah ihr ernst in die Augen.
»Heute wird nichts geschehen. Warum amüsierst du dich nicht einfach ein bisschen?« Beatrice nahm Tanjas Arm und zog sie zu den Tischen, auf denen bereits zahlreiche Gläser mit eingeschenktem Wein standen.
»Spätburgunder. Die neue Lese. Du wirst ihn lieben!« Lächelnd überreichte Beatrice Tanja ein Glas.
Diese nahm es entgegen, doch stellte es gleich wieder ab. »Später. Ich muss erst mit dir reden«, sagte sie mit ernstem Unterton.
»Ach ja? Worüber denn?« Beatrices Lider begannen zu flattern. Konnte sie denn heute Abend niemand in Ruhe lassen und stattdessen ein bisschen feiern?
»Das weißt du ganz genau, Bea. Über unser ›Zentrum der Lebensfreude‹. Was ist denn jetzt damit?« Tanjas Blick war todernst.
Beatrice seufzte. »Wir haben darüber gesprochen, Tanja. Oft genug. Es wird mir zu teuer! Wenn ich dieses Haus am See kaufe, dann muss sich das tragen. Und das wird es nicht, wenn du dort ein paar Yoga-Stunden und Klangschalen-Meditationen gibst. So leid es mir tut, aber ich brauche einen Laden, der sich von selbst trägt. Und nichts, wo ich Geld reinbuttern muss. So gern ich dich habe.«
»Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Idee war? Du warst so davon überzeugt, dass ich sogar meinen Job bei der Volkshochschule deswegen aufgegeben habe. Du wolltest keine Yogastunden oder Meditationen dort anbieten, jedenfalls nicht nur. Sondern ein modernes, lichtdurchflutetes ›Zentrum der Lebensfreude‹ eröffnen, mit ganz viel Lichtenergie, die durch die hohen Fenster strömen sollte. Erinnerst du dich? Wir wollten dort Vorträge und Seminare für Bewusstseinserweiterung anbieten, Heilsteine und Naturkosmetik verkaufen. Ich glaube nach wie vor, dass das eine super Idee ist! Es gibt so viele Menschen, die von der besonderen Energie des Bodensees und der Landschaft schwärmen, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese Energie nutzen können.« Tanja kam sich wie eine Bettlerin vor. Doch weil sie selbst so sehr von dieser Idee überzeugt war, machte sie einen letzten Versuch, ihre Freundin umzustimmen, und lächelte dieser nun aufmunternd zu.