Windflüstern - Christine Rath - E-Book

Windflüstern E-Book

Christine Rath

4,4

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Leise flüstert der Wind in den Sylter Dünengräsern. Er trägt rätselhafte Worte über den Strand hinaus aufs Meer… Worte, die niemand hören darf. Sie erzählen von einer geheimen Liebe und von einem heimtückischen, mörderischen Plan. Als der vermögende Verleger Hans Ewers tot am Strand gefunden wird, deutet zunächst alles auf Selbstmord hin. Doch Lisas Freund Uwe, ein pensionierte Kommissar, misstraut der trauernden Witwe Elena und ermittelt auf eigene Faust. Die Spur führt ihn mitten in die Turbulenzen des exklusiven Sylter Poloturniers. Doch plötzlich geschieht dort ein weiterer mysteriöser Mord…

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Seitenzahl: 499

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Christine Rath

Windflüstern

Ein Romantikkrimi auf Sylt

Impressum

Ausgewählt durch Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Marco2811 / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5328-1

Widmung

Für den Inseljungen

Gedicht

Verwelkende Rosen

Möchten viele Seelen dies verstehen,

möchten viele Liebende es lernen:

So am eigenen Dufte sich berauschen,

So verliebt dem Mörder Wind zu lauschen,

so in rosiges Blätterspiel verwehen,

Lächelnd sich vom Liebesmahl entfernen,

So den Abschied als ein Fest begehen,

So gelöst dem Leiblichen entsinken

Und wie einen Kuss den Tod zu trinken

Hermann Hesse

Prolog

Sacht flatterte die Gardine vor dem alten Fenster, durch dessen Ritzen sogar im Sommer kalte Luft in das schäbige kleine Zimmer zog. Sie schloss die Augen und lauschte der Musik von Chopin, die sie auch heute wieder zum Träumen brachte. Sie träumte, die Gardinen wehten in einem Haus am Meer, irgendwo im Süden … in Südfrankreich oder Italien. Sie sah sich in einem langen Kleid aus Seide, ein Champagnerglas in der Hand haltend … den Blick aus dem Fenster in den Garten gerichtet, wo die schönsten Rosen blühten und nicht Mülleimer und klapprige Fahrräder die Tristesse eines russischen Mehrfamilienhauses widerspiegelten.

Nur bei Chopin gelang es ihr, in eine Traumwelt einzutauchen, die sie für eine kurze Zeit die Wirklichkeit vergessen ließ.

Das Klopfen an der Tür riss sie unsanft aus ihren Träumen.

Nein, bitte nicht. Nicht heute. Sie war so müde nach ihrem Zwölfstunden-Arbeitstag im Restaurant »Las­tochka«, und der Gedanke an den alten Ivan Bodunov, ihren Arbeitgeber, der sie ständig bedrängte, erfüllte sie mit Ekel.

»Elena, Liebes … ich bin es«, hörte sie eine sanfte Stimme.

»Juri!« Sie sprang aus dem Bett, öffnete die Tür und fiel ihrem Liebsten in die Arme.

»Du scheinst überrascht. Hast wohl jemand anderen erwartet?«

Mit gespieltem Misstrauen und ernstem Gesichtsausdruck schob er sie ein kleines Stückchen von sich, um sie dann aber in der nächsten Minute umso heftiger an sich zu drücken.

»Aber nein, ich habe nur befürchtet …«

Sie brach ab, wusste sie doch, wie eifersüchtig Juri auf den alten Ivan Bodunov war.

»Du hast befürchtet, dass der alte Lustmolch dir wieder an die Wäsche will, gib es zu!«

Sie wusste, dass es ein Fehler gewesen war, ihm davon zu erzählen.

Juri war ein heißblütiger junger Mann, dem es nicht das Geringste ausmachen würde, es dem Alten einmal ordentlich zu zeigen.

»Ich sag dir was, Elena: Wenn das noch einmal passiert, hat sein letztes Stündlein geschlagen! Sollte er dich noch ein einziges Mal anrühren, wird er dafür bezahlen!«

»Hör auf, Juri«, sagte sie mit schmeichelnder Stimme. »Sonst landest du im Gefängnis, und wir können all unsere schönen Zukunftspläne vergessen!«

Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn zärtlich.

Sein Körper reagierte sofort auf ihre weiblichen Kurven, wie immer, wenn sie ihm so nahe kam.

Gott, wie sie diesen Mann liebte! Er war der einzige Grund, warum sie dieses Leben ertrug.

Die viele Arbeit, die Armut, das trostlose Viertel und sogar den ekligen alten Bodunov.

Wenn es doch nur endlich so weit wäre und sie ein gemeinsames Leben mit Juri beginnen könnte!

Es müsste ja nicht gleich Südfrankreich sein. Vielleicht wäre Moskau schon besser. Alles wäre besser als das hier!

Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte er: »Mach dir keine Sorgen, Dorogaja-Liebes, ich hole dich hier raus!«

»Versprichst du mir das, Juri?«, fragte sie leise, während er sie langsam auszog und ihren ganzen Körper mit Küssen bedeckte.

»Ja, mein Liebling. Wir beide werden von hier fortgehen. Nächsten Monat habe ich meine Ausbildung beendet und genug Geld zusammen. Dann hauen wir einfach ab.«

Sie schloss die Augen und gab sich vollständig ihren Gefühlen und ihrem Geliebten hin.

Mit der Aussicht auf ein gemeinsames Leben mit Juri ließ sich alles gleich viel leichter ertragen!

Seine Liebe ließ sie alles vergessen: die harte Arbeit, die Einsamkeit und sogar die Gespenster der Vergangenheit, die sie nachts um den Schlaf brachten. Glücklich schlief sie in seinen Armen ein.

Mitten in der Nacht wurde sie jedoch durch ein Geräusch geweckt.

»Juri?«

Sie blickte auf seinen starken Rücken. Sein Körper ist genauso schön wie sein Gesicht, dachte sie.

»Bitte bleib bei mir!«, bat sie, während er sich das Hemd in die Hose steckte.

Er drehte sich um und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Sanft strich er über ihr Haar und sagte: »Elena, ich muss morgen früh um sechs Uhr bei der Arbeit sein. Das schaffe ich nicht von hier aus! Schlaf noch ein paar Stunden. Wir sehen uns morgen Abend!«

Er zog sie an sich und küsste sie noch einmal zärtlich, dann nahm er seine Jacke und schloss die Tür hinter sich. Sie war schon fast wieder eingeschlafen, da bemerkte sie den Motorradhelm auf dem Stuhl. Warum war Juri nicht noch einmal zurückgekommen? Er musste doch bemerkt haben, dass er den Helm vergessen hatte. Wahrscheinlich dachte er, sie sei bereits wieder eingeschlafen und wollte sie nicht wecken. Es war so typisch für Juri. Es machte ihm nichts aus, ohne Helm zu fahren. Im Sommer tat er dies oft mit voller Absicht. Er sagte, er fühle sich dann viel freier. Elena liebte dieses Wilde, Männliche an ihm. Er hatte keine Angst, vor nichts und niemandem. Auch heute würde er nur über den strömenden Regen lachen und eben ohne den Helm nach Hause fahren.

Sie kuschelte sich in die Kissen und träumte weiter von ihrem neuen gemeinsamen Leben. An seiner Seite würde auch sie keine Angst mehr haben müssen. Alles würde endlich gut werden. Sie musste noch einmal eingeschlafen sein, denn eine gefühlte Ewigkeit später klopfte es erneut an der Tür.

Juri … ist er doch noch einmal umgekehrt, um den Helm zu holen!, dachte sie schmunzelnd, während sie schlaftrunken die Tür öffnete.

Doch es war nicht Juri, der vor der Tür stand.

In der nächsten Sekunde wusste sie, dass ihre gemeinsamen Träume niemals Wirklichkeit werden würden. Sie hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen, als sie dem Polizeibeamten in die Augen sah. Sie kannte diesen Blick. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, damals, als ihre Mutter starb und ihre Welt das erste Mal in Scherben fiel.

Nun zerbrach sie erneut und wusste, sie würde nie wieder so glücklich sein, wie sie noch vor wenigen Stunden gewesen war.

1. Kapitel: 25 Jahre später – Der Wind flüstert deinen Namen

Leise bewegen sich die Zweige der Kiefern im Abendwind. Die tief stehende Sonne wirft lange Schatten in den gepflegten Garten des wunderschönen, mit Reet gedeckten Klinkerhauses. Sanft ertönen die Klänge des Windspiels, das Elena gegen den Willen von Hans auf der windgeschützten Terrasse angebracht hat. Er hatte zwar protestiert, weil es seiner Meinung nach nicht zum Stil des Hauses passen würde, es aber dennoch an der angebrachten Stelle stillschweigend hängen lassen. Hans kann Elena selten etwas abschlagen. Sie braucht ihn nur mit leicht geneigtem Kopf anzusehen und ein kleines Lächeln aufzusetzen … schon ist er wieder Wachs in ihren Händen! Sie ist sich ihrer Wirkung nicht nur bei Hans, sondern auch bei anderen Männern durchaus bewusst. Schließlich hat diese sie dorthin gebracht, wo sie jetzt ist, in dieses wunderschöne Haus, das im exklusiven Ort Kampen steht, dem teuersten Ort in ganz Deutschland. Der Weg hierher war für Elena sehr steinig gewesen, doch seitdem sie hier war, wurde sie endlich für all ihre Mühen und Entsagungen belohnt. Sie hatte sich in dieses Haus in der ersten Minute, in der sie es betreten hatte, verliebt. Und das, obwohl es in ihren Augen einfach schrecklich eingerichtet war. Sicher, es handelt sich bei den Möbeln um rare Antiquitäten, exquisite und wertvolle Stücke, die Hans und seine damalige Ehefrau von überall auf der Welt zusammengetragen haben. Doch in Elenas Augen wirken sie bieder und altbacken. Sie passen so gar nicht zu ihr! Bis jetzt weigerte sich Hans hartnäckig, die alten Sachen durch schicke, moderne Designermöbel zu ersetzen. Doch sie weiß, sie muss ihn nur noch ein wenig umschmeicheln, dann wird sie das auch noch durchsetzen.

Seufzend steckt sie sich das lange rotblonde Haar nach oben und zieht die Lippen mit dem heute neu in der Kampener Parfümerie erworbenen Lippenstift nach. Seine goldene Hülle funkelt im Licht der Abendsonne, die durch die Fenster des großen Badezimmers auf die Marmorfliesen fällt. Prüfend betrachtet sie die feinen Fältchen um ihre Augen und die Falte auf der Stirn, die immer tiefer zu werden scheint. Das ist der Nachteil der intensiven Sonne auf Sylt – die Haut wird sehr schnell trocken. Und faltig, besonders, wenn man so empfindliche Haut hat wie Elena. Da nützt auch die teure Antifaltencreme aus der Parfümerie nichts mehr.

Elena ist nun einmal keine 20 mehr, auch wenn sie mit über 40 Jahren immer noch über eine tadellose Figur und – bis auf die paar Fältchen – seidige und glatte Haut verfügt.

Nun, ihr mehr als vermögender Ehemann kann es sich bestimmt leisten, seiner Frau demnächst einen kleinen Aufenthalt in einer Schönheitsklinik zu bezahlen. Elena nimmt sich vor, ihn bei passender Gelegenheit darauf anzusprechen. Gott, wie sie es hasst, ihn immer wieder anbetteln zu müssen! Sie hat zwar wirklich eine mehr als nur »gute Partie« gemacht, doch ihr Ehemann verwaltet das ganze Geld, und sie bekommt nur ein in ihren Augen viel zu kleines Taschengeld. Sicher, er bezahlt alle Rechnungen. Von dem Tag an, an dem sie bei ihm eingezogen war, hatte sie es nicht mehr nötig gehabt zu arbeiten. Seitdem kann sie sich den Luxus erlauben, regelmäßig zur Kosmetikerin und zum Friseur zu gehen und die schönsten Kleider in den teuersten Boutiquen zu kaufen. Sie speisen nur in den feinsten Restaurants und wählen bei ihren zahlreichen Reisen stets nur die besten Hotels. Außerdem bezahlt Hans ihre Reitstunden und ihr Pferd! Warum also regt sie sich so auf, weil sie ihn bei größeren Anschaffungen um Erlaubnis fragen muss? Das müssen andere Ehefrauen vermutlich auch. Seit ihrer Kindheit hatte sie davon geträumt, ein eigenes Pferd zu besitzen. Und Hans hatte ihr diesen Traum, gleich, nachdem sie ihm davon erzählt hatte, erfüllt. Er hatte ihr die schönste Stute, die sie je gesehen hatte, zum Geburtstag geschenkt. Elena hatte sie Fantaisie genannt nach einem ihrer Lieblingsstücke von Chopin. Fantaisie ist in einem Reitstall in Keitum untergebracht, den Elena mindestens einmal am Tag aufsucht.

Manchmal, wenn Fantaisie sie aus ihren großen Pferdeaugen ansieht, hat Elena das Gefühl, dass die Stute bis auf den Grund ihrer Seele blicken und ihre wahren Gefühle erkennen kann, was natürlich völliger Blödsinn ist.

Sie schlüpft in bequeme Jeans und einen warmen Pullover, denn der Wind hat stark aufgefrischt, und es wird Hans sicher auffallen, wenn sie zu leicht angezogen ist.

Hastig stopft sie ein paar andere, viel schickere Kleidungsstücke in ihre große Louis-Vuitton-Tasche und läuft leise die Treppe nach unten. Hans sitzt mit dem Rücken zu ihr auf der Terrasse, den Blick in seine Zeitung vertieft. Sie hält einen Augenblick inne und betrachtet den Mann, der ihr dieses sorgenfreie Leben ermöglicht. Sie sieht einen noch immer äußerst attraktiven Mann, auch wenn er schon über 70 ist. Er ist groß und stattlich, und mit seinem hellen Haar, in dem nur wenige silberne Strähnen erkennbar sind, dazu braun gebrannt, ist Hans der Inbegriff des gut aussehenden Unternehmers. Für einen Moment ergreift sie tiefes Bedauern, dass sie ihn nicht lieben kann. Es liegt ganz gewiss nicht an ihm! Elena kann niemanden mehr lieben. Sie hat nur ein einziges Mal einem Mann ihr Herz geschenkt, und dieser Mann ist schon lange tot. Einen anderen hat es nie für sie gegeben, und das wird es auch nie. Dabei wäre Hans es wirklich wert, geliebt zu werden! Eine andere Frau könnte ihn sicher glücklich machen, denkt Elena. Sie stellt ihre Tasche am Eingang ab und geht langsam auf ihn zu. Als habe Hans ihre leisen Schritte gehört, hebt er den Blick von der Zeitung und lächelt sie an. Nein, Hans ist glücklich mit ihr, korrigiert Elena ihre Gedanken. Sein liebevoller und bewundernder Blick sagt alles aus: Er ist stolz auf seine schöne, jung aussehende Frau.

Elena umarmt ihn. Auch wenn sie ihn nicht liebt, so kostet es sie keinerlei Überwindung, ihn zu umarmen. Schließlich hat sie schon andere Männer umarmt, denen sie keine Dankbarkeit schuldete und die nicht so gut zu ihr waren.

»Du willst noch in den Reitstall?«, fragt Hans. In seiner Stimme schwingt ein leiser Anflug von Enttäuschung mit.

»Ich dachte, wir gehen heute Abend zum Essen in den ›Rauchfang‹?«

»Es tut mir leid, Ljubimij, Liebling.«

Elena legt so viel Bedauern in ihre Stimme, wie sie nur kann.

»Ich möchte noch einmal nach Fantaisie sehen«, antwortet sie. »Das Wetter schlägt um. Du weißt, sie ist dann immer besonders unruhig. Aber ich verspreche, ich bin bald zurück. Dann können wir doch immer noch in den ›Rauchfang‹. Warum nimmst du nicht inzwischen ein Entspannungsbad?«

Hans liebt seine große Whirlpoolbadewanne und entspannt sich am liebsten jeden Tag darin.

»Ich beeile mich auch! In Ordnung, Liebling?«, setzt sie hinzu und streicht ihm liebevoll über das Haar.

»Natürlich, Schatz«, antwortet Hans darauf verständnisvoll.

»Huhu! Hallo, ihr beiden!«, ertönt eine fröhliche Stimme auf der anderen Seite des mit Rosen bewachsenen Steinwalls.

Du liebe Zeit! Die Nachbarin Britt. Die hat Elena gerade noch gefehlt!

Schon kommt sie durch die Lücke im Steinwall herübergelaufen, in der Hand eine Flasche Weißwein schwenkend.

»Ich wollte euch auf ein Gläschen zu mir auf der Terrasse einladen. Was meint ihr? Das Wetter soll umschlagen, schon morgen kann es wieder regnen.«

Britt lächelt freundlich. Mit ihren langen Beinen, ihren hellblonden Haaren und den hellen blauen Augen ist sie der Inbegriff einer nordischen Schönheit, mit anderen Worten das ganze Gegenteil von Elena. Vielleicht kann ich sie deshalb nicht leiden, denkt sie. Oder, weil ihr immer so freundliches Wesen einfach unerträglich auf die Nerven geht. Natürlich sieht Hans das ganz anders und scheint sich über den Besuch der Nachbarin zu freuen.

Was will die schon wieder hier?, denkt Elena, bemüht sich aber, das freundliche Lächeln zu erwidern. Ihr ist bewusst, dass Britt seit dem Tod ihres Mannes viel alleine ist. Wahrscheinlich hat sie seitdem ein Auge auf Hans geworfen und wäre nur zu gerne selbst Frau Ewers geworden! Nun, Hans hat sich aber anders entschieden und vor zwei Jahren die schöne Elena zu seiner Frau gemacht. Ungefähr 20 Jahre jünger als Britt, rotblond und zierlich, aber mit den Rundungen an den richtigen Stellen ist sie wirklich das genaue Gegenteil von ihr. Das muss ein herber Schlag für Britt gewesen sein! Kein Wunder verhält sie sich ihr gegenüber so distanziert. Hans umarmt sie dagegen jetzt innig und sieht ihn dabei prüfend an.

»Du siehst müde aus, alter Freund! Geht es dir nicht gut?«

Er lächelt. »Je später der Abend, desto schöner die Gäste!«, begrüßt er die Nachbarin, ohne auf ihre Frage einzugehen.

Auch Elena wird mit einer Umarmung Britts bedacht, die allerdings wesentlich weniger herzlich ausfällt. Es ist deutlich zu sehen, die beiden Damen mögen sich nicht.

»Was ist? Kommt ihr auf einen Sprung herüber?«

Britt lässt nicht locker. Offenbar ist sie nicht gewillt, die Flasche Wein alleine zu leeren.

»Heute nicht, liebe Britt. Aber danke für die Einladung!«, enttäuscht sie Hans. »Ich bin in der Tat sehr müde heute Abend, und Elena möchte noch kurz in den Reitstall.«

»Jetzt noch?«

Misstrauisch zieht Britt eine Augenbraue nach oben.

»Fantaisie ist immer unruhig, wenn das Wetter umschlägt«, entschuldigt sich Elena.

Als ob ich mich vor der rechtfertigen müsste, denkt sie. Was ich tue, geht die nun wirklich nichts an!

In diesem Moment ertönt das kurze Signal, dass eine Nachricht auf Elenas geheimem Handy hereingekommen ist. Das wird Gunnar sein! Sicher wartet er schon längst auf sie.

Warum hat sie im Bad nur so herumgetrödelt? Nun muss sie wieder so schnell fahren, um ihn nicht zu verstimmen.

Und diese Britt steht hier herum und will unbedingt noch ein bisschen Small Talk machen.

Am liebsten würde sie sie einfach stehen lassen.

Doch natürlich darf sie nicht unhöflich sein. Sie will auch kein unnötiges Misstrauen hervorrufen. Darum bemüht sie sich um Freundlichkeit und sagt lächelnd: »Ein andermal sehr gerne, Britt! Der Sommer ist ja noch nicht vorbei.«

Insgeheim wünscht Elena sich jedoch, dass diese Situation nicht so schnell eintreten wird. Die Abende mit Hans’ Freunden sind immer eine Qual für sie. Die Männer sprechen unentwegt über Geschäfte und Politik und die Frauen über ihre Golfrunden, ihre Häuser und Kinder oder Enkelkinder. Elena ist jedes Mal froh, wenn sie einen solchen Abend wieder hinter sich hat. Natürlich ist ihr bewusst, dass Hans stolz auf sie ist. Schließlich sieht sie die begehrlichen Blicke der anderen Männer. Leider jedoch auch die missbilligenden und eifersüchtigen der anderen Frauen.

»Nun ja …«, antwortet Britt mit schmalen Lippen.

Vermutlich erwartet sie, dass Hans sie zum Bleiben auffordert, da es ja offensichtlich ist, dass seine Ehefrau den Abend ohne ihn verbringen möchte.

Doch da dieses Angebot ausbleibt, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden: »Dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend.«

Enttäuscht dreht sie sich um und geht zurück zu ihrem Haus.

Am Steinwall dreht sie sich noch einmal um und winkt den beiden zu.

»Sie mag mich nicht«, stellt Elena fest und winkt zurück.

»Das bildest du dir ein, Schatz«, antwortet Hans besänftigend.

»Keineswegs. Sie ist so ganz anders zu dir als zu mir.«

»Ach, Elena! Ich kenne Britt nun schon 30 Jahre. Da ist es doch normal, dass wir vertrauter miteinander umgehen als ihr beide. Aber ich bin mir sicher, wenn sie dich erst besser kennenlernt, wird sie dich genauso lieben wie alle anderen.«

Hans drückt ihre Hand.

Alle anderen? Elena weiß genau, dass sie ein Fremdkörper in dieser Welt zwischen Hamburg und Sylt ist und immer bleiben wird. Es sind ja nicht nur die Freunde von Hans, die sie spüren lassen, dass sie nicht dazugehört. Den Platz seiner verstorbenen Frau Ulla wird sie bei ihnen sicher niemals einnehmen können.

Auch Hans’ Kinder, die beide in Hamburg leben, lassen sich kaum noch auf Sylt sehen.

Gerade seine Tochter Inken ist nach Aussage des Vaters eine richtige »Insel-Deern«, und doch verspürt sie offenbar nicht allzu viel Lust, die schönen Sommertage in ihrem Elternhaus auf Sylt zu verbringen. Dabei hat sie als Lehrerin für Kunst doch gerade Sommerferien. Es muss also an Elena liegen, dass sie sich so selten sehen lässt.

Seitdem Hans seinem Sohn Björn die Leitung des Verlages übertragen hat, leben Elena und Hans praktisch nur noch auf Sylt. Sie haben zwar noch eine große Wohnung in Blankenese, die sie nach Elenas Geschmack in letzter Zeit leider viel zu selten nutzen. Dabei liebt Elena Hamburg und das kulturelle Leben in dieser aufregenden Stadt. Hans jedoch zieht sich in den vergangenen Monaten viel lieber in das beschauliche, ruhige Leben auf der Insel zurück. Das ist eben der Preis, wenn man einen viel älteren Mann heiratet, denkt Elena.

Man hat zwar alles, was das Herz begehrt, doch das Leben kann auch furchtbar langweilig sein.

Nun, sie hat einen Weg gefunden, um sich selbst auch ein wenig Spaß zu gönnen! Schließlich ist sie ja noch nicht im Greisenalter wie die langweilige Britt.

Elena küsst ihren Mann auf die Stirn, schenkt ihm noch ein kleines Lächeln und geht leichten Schrittes zur Tür.

Sie nimmt sich vor, ihm später eine SMS zu schreiben, in der sie ihm mitteilen wird, dass sie doch noch einmal mit Fantaisie ausreiten möchte, um den letzten schönen Abend vor dem Sturm auszukosten. Hans wird Verständnis zeigen. Er weiß, wie viel ihr die Stute bedeutet. Wenn sie Glück hat, wird er alleine im »Rauchfang« zu Abend essen und bereits schlafen, wenn sie nach Hause zurückkehrt.

*

Der junge Mann wirft einen prüfenden Blick in den Himmel. Den ganzen Tag über war es sonnig und warm. Ausgerechnet jetzt muss diese Wolkenfront aufziehen! Der Wind hat merklich aufgefrischt und peitscht ihm kalt die Sandkörner ins Gesicht. Das wird ihr gar nicht gefallen! Sie ist so furchtbar kälteempfindlich. Eigentlich ungewöhnlich für eine Russin, denkt er. Sind die nicht Temperaturen von minus 20 Grad gewohnt? Nun, so gut kennt er sich in Russland nicht aus. Genau genommen weiß er nicht einmal, wo sie herkommt. Aber das spielt auch keine Rolle. Vom ersten Moment an, als er sie im Reitstall in Keitum gesehen hat, war er scharf auf sie. Wie sie auf die Stufe kletterte und ihr langes, rotblondes Haar nach hinten warf! Wie ihre vollen Brüste sich auf und ab bewegten, wenn sie vom Trab in den Galopp wechselte! Sie wirkte so kühl und unnahbar und nahm ihn überhaupt nicht zur Kenntnis. Erst als ihr Mann, den er zuerst für ihren Vater hielt, Reitstunden für sie buchte, kam er näher an sie heran. Doch es sollte noch viele Wochen dauern, bis er sie endlich so weit hatte. Er war es gewohnt, den Schülerinnen Komplimente über ihr Äußeres zu machen, doch bei ihr waren sie zum ersten Mal ehrlich gemeint. Ebenso war er es gewohnt, dass sich die Damen während der Reitstunden in ihn verliebten. Doch Elena war ein harter Brocken. Sie blieb kühl und zurückhaltend. Bis zu jenem Abend, der so furchtbar schwül war, wie er noch keinen auf Sylt erlebt hatte. Ein Gewitter lag in der Luft, und alle Pferde waren unglaublich unruhig. Auch Fantaisie ließ sich kaum beruhigen. Nicht einmal von Elena, die zum ersten Mal ihre Coolness ablegte. Gunnar war ein nicht nur erfahrener Reitlehrer, sondern wusste auch, wie man mit Pferden umgeht. Er sprach besänftigend auf Fantaisie ein, und es gelang ihm tatsächlich, sie in kurzer Zeit zur Ruhe zu bringen. Aus Dankbarkeit schenkte Elena ihm ein Lächeln. Es war, als würde sie ihn zum ersten Mal richtig ansehen. Als sie anschließend im »Reiterstübchen« noch ein Glas Wein tranken, wusste er, dass er sie rumkriegen würde. Bereits am nächsten Tag zog er sie hinter die Box und küsste sie leidenschaftlich. Wie er sich schon gedacht hatte, war sie eine heißblütige Frau, die an der Seite des viel älteren Mannes ein langweiliges Liebesleben pflegte. Dies änderte sich nach jenem Kuss und ihre leidenschaftliche Liaison begann. Gunnar war völlig verrückt nach ihr. Allein der Blick aus ihren hellen grünen Augen, ihr puppenhaftes Gesicht, das stets so kühl und unnahbar wirkte und damit völlig im Gegensatz zu ihrem heißen Körper stand, reizte ihn, sie sofort auf das nächste Bett zu werfen. Schon der Gedanke daran erregt ihn jetzt. Er hat alles sorgfältig vorbereitet: Erdbeeren und Pralinen von Leysieffer gekauft, die sie so gerne isst, und eisgekühlten Champagner in die Kühltasche gepackt, dazu zwei Champagnerschalen (den Fehler, Pappbecher mitzubringen, hat er nur einmal begangen!) sowie eine weiche Decke, die er gleich hinter der Strandmuschel ausbreiten wird. Wenn nur dieser verdammte Wind nicht wäre! Er sieht auf seine Armbanduhr. Wo bleibt sie nur? Wenn sie noch später kommt, wird es ganz bestimmt anfangen zu regnen! Dann wird sie gleich wieder nach Hause gehen, und wohin soll er dann mit seiner Lust? Er schreibt eine SMS und fragt nach, wann sie endlich kommt. Er weiß, dass er ihr nicht schreiben soll. Es ist zu gefährlich, denn der Alte könnte womöglich die Nachricht lesen, und dann wäre ihre Beziehung vorbei, so viel ist sicher. Niemals wird sie dieses wundervolle Leben in Kampen, auch wenn es noch so langweilig sein mag, aufgeben, um die Frau eines Reitlehrers zu sein! Das ist ihm klar. Trotzdem kann er manchmal einfach nicht anders. Dann muss er ihr schreiben und so wenigstens ein klein wenig das Gefühl haben, ihr nahe zu sein. Frauen! Wahrscheinlich steht sie noch im Bad und optimiert ihr Äußeres. Als ob er ihr die Frisur und das Make-up nicht sowieso gleich zerstören würde!

*

Noch nie kam ihr der Weg nach Hörnum so lang vor wie heute. Es scheint, als seien nur Idioten unterwegs! Langweilige Touristen, die alle Zeit der Welt haben und an jeder Ampel in Westerland schon bei Gelb anhalten. Sobald sie Westerland verlassen hat, drückt sie aufs Gaspedal. Durch ihre Trödelei und die doofe Britt ist Elena nun schon eine Dreiviertelstunde zu spät dran! Dabei hat sie doch gar nicht so viel Zeit und muss schon bald wieder zurück sein. Das Ganze ist eigentlich viel zu anstrengend, denkt sie. Doch der Gedanke an den bevorstehenden Sex beflügelt sie. Gunnar ist der beste Liebhaber, den sie je hatte. Zärtlich und einfühlsam … dabei leidenschaftlich und vor allem im Gegensatz zu ihrem Mann niemals müde und immer bereit. Sie braucht ihn nur anzulächeln, schon will er Sex.

Sie drückt noch ein wenig mehr aufs Gaspedal, doch da wird sie auf einmal geblitzt! Verflixt! Nun wird sie auch noch eine Verwarnung bekommen! Das bedeutet, dass sie in den nächsten Wochen die Post abfangen muss. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn Hans den Brief öffnet! Er wird sie fragen, was sie am Abend auf der Straße von Rantum nach Hörnum gemacht hat. Der Reitstall in Keitum liegt in der komplett entgegengesetzten Richtung. Am Parkplatz kurz vor Hörnum hält sie kurz an und wechselt die Kleidung. Gunnar würde sie auch in Jeans hübsch finden, das ist sicher. Doch sie selbst fühlt sich viel mehr sexy, wenn sie entsprechend gekleidet ist. Allein der Gedanke an seine begehrlichen Blicke, wenn er ihre durchsichtige Bluse sehen wird, erhöht ihre Vorfreude.

Sie parkt den Wagen hinter dem kleinen Lebensmittelgeschäft in Hörnum und geht den Rest des Weges zu Fuß. Nun ärgert sie sich, dass sie die hochhackigen Schuhe angezogen hat. Sie sehen zwar zu der engen Lederhose, die sie aus ihrer Reisetasche gefischt hat, wesentlich besser aus. Trotzdem zieht sie sie aus und geht nun barfuß auf dem kleinen Weg durch die Hörnumer Dünen Richtung Strand. Bedrohlich hängen dunkle Wolken am Himmel, die der Wind über das Meer getrieben hat. Der Wetterbericht hatte recht, auch wenn das ja auf Sylt nicht immer der Fall ist. Der Wind hat gedreht, und das Wetter wird umschlagen. In den nächsten Tagen wird es erst einmal vorbei sein mit den schönen Stunden am Strand! Sie zieht die dünne Jacke fester um die Schultern, denn der Wind ist bereits unangenehm kalt. Warum mussten sie sich auch hier verabreden? Gut, die Gefahr, dass sie an diesem entlegenen Strand von Hörnum jemand aus Kampen sehen wird, noch dazu mit der schwarzen Perücke, ist gering. Doch leider ist das so gar kein idealer Ort für ein romantisches Schäferstündchen. Jedenfalls nicht heute. Sie hätten sich in dem kleinen Haus hinter dem Lebensmittelladen treffen sollen. »Strandgut« steht auf dem Schild über der Tür des Ladeneingangs. Und in dem daneben liegenden Fenster ist ein Schild »Zimmer frei« angebracht. Das hat sie eben im Augenwinkel gesehen, als sie die Autotür abgeschlossen hat.

Dort wäre es bei diesem Wetter sicher wesentlich gemütlicher als am Strand.

Er ist schon da, als Elena am Strand eintrifft. Gunnar bemüht sich, eine Strandmuschel hinter dem Strandkorb aufzubauen, was bei diesem Wind praktisch unmöglich ist.

Das Rauschen der Wellen ist laut, und doch dreht er sich zu ihr um, als habe er sie kommen hören.

»Woher wusstest du, dass ich da bin?«, fragt sie lachend.

»Der Wind hat mir deinen Namen geflüstert«, antwortet er und reißt sie in die Arme. »Er hat geflüstert: Elena ist da …«

»Was wird das, Gunnar?«, fragt sie lachend, als er sie kurz loslässt.

»Ein Liebesversteck!«, antwortet er grinsend.

Er küsst sie so heftig, dass ihr der Atem wegbleibt.

»Damit meine Liebste keine Sandkörner in die wundervollen Öffnungen ihres noch wundervolleren Körpers bekommt!«

Er drückt sie so fest an sich, dass sie sein Begehren jetzt schon spüren kann.

Genau deshalb ist sie hier. Sie liebt ihn nicht … ebenso wenig wie Hans oder all die anderen Männer, die sie kennengelernt hat. Doch sein Begehren gibt ihr das Gefühl, attraktiv zu sein und selbst geliebt zu werden. Sein Körper ist im Gegensatz zu Hans jung und mehr als nur attraktiv. Er ist groß und hat breite Schultern, dazu schmale Hüften und einen verführerisch knackigen Po. Kein Wunder sind alle Frauen im Reitstall heimlich in den Reitlehrer Gunnar verliebt! Doch er hatte von Anfang an nur Augen für sie. Obwohl sie fast zehn Jahre älter ist als er, hatte er sie über Monate heftigst umworben.

Gunnar streicht sanft über ihren Rücken und tastet sich zu der Stelle vor, an der ihre Spitzenbluse in die Jeans gesteckt ist. Vorsichtig zieht er sie heraus und schiebt seine Hand auf ihre nackte Haut. Als er erkennt, dass sie keinen Büstenhalter trägt, ändert seine Hand die Richtung und schiebt sich nach vorne zu ihrer Brust. Sanft streicht er über ihre Brustwarze …

»Halt!«, sagt sie lachend und schiebt die Hand zurück. »Es ist viel zu kalt!«

»Egal. Ich will dich, und zwar jetzt. Komm in die Strandmuschel …«

Sie spürt seinen heißen Atem auf ihrem Gesicht, doch sie schiebt ihn von sich.

Auch wenn er ihr eigenes Begehren geweckt hat, fühlt sie sich in diesem Wind einfach nicht wohl.

»Komm mit!«, flüstert sie und zieht ihn mit sich. »Ich weiß etwas Besseres!«

2. Kapitel Das Versteck

»Nur 90 Euro!« Seufzend schiebt Lisa die Kassette ihrer altmodischen Kasse in ihrem Geschäft »Strandgut« zu. Es lohnt sich gar nicht, das wenige Geld auf die Bank zu bringen. Das Wetter war heute einfach zu gut! Wenn so wie heute den ganzen Tag die Sonne scheint, verbringen die Urlauber ihre Zeit lieber am Strand, statt bummeln zu gehen. Obwohl sie das Geschäft noch nicht einmal ein Jahr betreibt, hat sie schon einige Erfahrungswerte gesammelt. Zu gut darf das Wetter nicht sein. Zu schlecht natürlich auch nicht, denn dann fahren die Leute lieber gleich in das quirlige Zentrum von Westerland, wo sie sehr viele entzückende Geschäfte und Lokale finden, um sich die Zeit zu vertreiben. Am besten ist ein kühler Sonne-Wolken-Mix, bei dem es zwar zu kalt für den Strand, jedoch warm genug für einen kleinen Spaziergang oder eine Radtour nach und durch Hörnum ist. Solche Tage sind wunderbar, da auch viele Urlauber, die auf dem Weg zum Hafen sind, um von dort aus eine kleine Ausflugsfahrt zu den Seehundbänken oder den Nachbarinseln Föhr und Amrum zu unternehmen, bei ihr einkehren und die vielen maritimen Bücher, Kalender, Accessoires und Geschenkartikel bewundern und kaufen. An diesen Tagen könnte sie manchmal sogar eine Hilfe brauchen, da sie nicht alle Leute gleichzeitig bedienen kann. Auch wenn sie am Abend eines solchen Tages total erschöpft ist, freut sie sich doch über den Erfolg und die Tatsache, dass die Kasse voll ist.

Leider gibt es auch Tage wie den heutigen. Wenn sie ehrlich ist, gibt es sogar noch viel mehr solche Tage.

Glücklicherweise kommt sie trotzdem ganz gut über die Runden, da das Haus ihrer Freundin und ehemaligen großen Liebe ihres Vaters, Alma Rasmussen, gehört und sie deshalb nur wenig Miete zahlen muss. Seitdem Alma mit ihrer Tochter Merle ganz bei ihrem Schwager Johann Johannsen im »Heidehüs« in Kampen lebt, um ihn in seinem »Heidekiosk« zu unterstützen, hat Lisa das kleine Häuschen in Hörnum für sich allein. Es besteht aus dem »Strandgut«-Laden, einer gemütlichen kleinen Dreizimmerwohnung mit winzigem Garten sowie zwei weiteren kleinen Zimmern im oberen Stockwerk.

Anfangs hatte Lisa diese beiden Zimmer immer für Besuche ihrer beiden Kinder freigehalten. Lisas Tochter Ann-Sophie lebt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter Leonie in Konstanz am Bodensee, und Lisas Sohn Tim studiert Musik in Weimar. Nachdem die beiden allerdings aufgrund der großen Entfernung nur selten und wenn, dann nur mit Vorankündigung, bei ihr Ferien machen, beschloss Lisa kurzerhand, die Zimmer in der Zwischenzeit zu vermieten. Das Geld konnte sie schließlich mehr als gut brauchen, nachdem sie vor über einem Jahr ihren Mann Andreas verlassen hatte, um auf Sylt zu leben.

Beim Gedanken an ihr altes Leben muss Lisa lächeln. Sie war mit einem erfolgreichen Architekten verheiratet und führte in einem schicken Designerhaus ein in jeglicher Hinsicht sorgenfreies Leben. Leider auch ein komplett inhaltsloses, seitdem die Kinder erwachsen waren und ihr eigenes Leben führten und Andreas sich mehr an den Reizen seiner jungen Sekretärin als an seiner alten Ehefrau interessiert zeigte. Nein, Lisa bereute ihren Entschluss, nach Sylt gezogen zu sein, keine Sekunde. Auch wenn sie ihre Kinder oft vermisste, hatte sie in der bezaubernden Inselwelt ihr ganz persönliches Glück gefunden. Sicher, sie musste hart arbeiten, um ihre Existenz zu sichern. Sie war zu stolz, um Unterhalt von ihrem Mann anzunehmen, obwohl dieser ihr sicher nach der langen Ehe zugestanden hätte. Aber schließlich hatte sie ja ihn verlassen, und da wollte sie ihn nicht auch noch finanziell ausnehmen. In ihren Augen war er durch den Verlust der Ehe und der zerbrochenen Familie bereits gestraft genug. Natürlich hätte sie sich noch länger der Illusion hingeben können, dass ihre Ehe intakt wäre. Sie hätte weitermachen können wie bisher und die Augen vor dem verschließen, was offensichtlich war: dass ihre Liebe im Laufe der Zeit erkaltet und auf der Strecke geblieben war. Lisa wäre mit Andreas nicht mehr glücklich gewesen, trotz materieller Sicherheit und familiärer Bindungen durch die Kinder.

Doch auch wenn sie überzeugt ist, den für sie richtigen Weg gewählt zu haben, kostet sie dieser zuweilen sehr viel Kraft. Nicht nur die Tatsache, dass sie nun für alles Finanzielle alleine sorgen muss, auch kleine Alltagsärgernisse wie ein kaputtes Auto oder ein tropfender Wasserhahn bringen sie manchmal an den Rand ihrer Kräfte.

Seufzend streift Lisa die Schuhe ab und lässt sich auf ihr Sofa fallen. Eigentlich sollte sie den letzten schönen Abend noch auskosten und ein wenig spazieren gehen, denn der Wetterbericht hat Sturm vorausgesagt. Also wird es ab morgen vorbei sein mit der Schönwetterlage. Doch sie ist viel zu müde dazu. Viel lieber möchte sie ein wenig die Füße ausstrecken und mit Sven telefonieren. Seit fast einem Jahr sind sie nun zusammen, doch leider können sie sich im Moment nur sehr selten sehen, da Sven mit einem Großprojekt in Hamburgs neuer Hafencity beschäftigt ist. Wie oft hat er Lisa in letzter Zeit gebeten, doch einmal nach Hamburg zu kommen, um mit ihr durch die City zu bummeln und einen schönen Abend in Övelgönne zu verbringen. Doch auch wenn Lisa sich das wirklich wünscht, zahlt sie doch den Preis der Selbstständigkeit: Entweder hat der »Strandgut«-Laden geöffnet, oder sie hat Feriengäste in den Fremdenzimmern und sie kann deshalb nicht fort von der Insel.

Seufzend gießt sich Lisa ein Glas eiskalten Weißwein ein. Vielleicht wird dieser sie ja in Verbindung mit dem Telefonat mit Sven ein wenig aufmuntern und neue Energie für einen kleinen Spaziergang am Meer schenken. Sie liebt es, bei jedem Wetter am Strand zu sein und Wind und Wellen zu beobachten und dabei ihre Gedanken auf die Reise zu schicken.

Während sie zum Telefonhörer greift, fällt ihr Blick auf ein Paar, welches gerade durch den Garten Richtung Hauseingang schreitet. Das Wort »Schreiten« beschreibt genau den Gang der Frau, die nicht mehr ganz so jung zu sein scheint, wie sie es auf den ersten Blick vermuten lässt. Sie schwebt förmlich auf ihren mindestens zwölf Zentimeter hohen eleganten Schuhen. Ihre schlanke, gleichzeitig sehr weibliche Figur steckt in hautengen schwarzen Lederjeans und einem dunklen Blazer, aus dem eine weiße Spitzenbluse blitzt. Die schwarzen Haare sind zu einem kurzen Pagenkopf gefönt und liegen trotz Wind akkurat. Ihr Gesicht ist makellos geschminkt und wirkt aufgrund seiner Vollkommenheit wie das einer Puppe. Die ganze Erscheinung inklusive Tasche und Schuhe wirkt unglaublich elegant und passt so gar nicht in das kleine heimelige Örtchen Hörnum.

Der Mann ist groß, blond und sehr attraktiv. Er trägt ein weißes Hemd, das seine muskulösen Schultern betont, und enge Jeans. Er scheint ein paar Jahre jünger als sie zu sein, und seine Kleidung wirkt nicht so luxuriös wie ihre.

Bestimmt haben sich die beiden verirrt und wollen nur nach dem Weg zum Fünfsternehotel »Budersand« in Hörnum fragen.

»Ist das Zimmer noch frei?«, fragt die Frau, sobald Lisa ihnen geöffnet hat.

»Guten Abend«, antwortet sie.

Exquisite Kleidung ersetzt eben keine Manieren, denkt sie bei sich.

Doch die Dame entschuldigt sich sofort: »Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Ich wünsche Ihnen auch einen guten Abend!«

Lisa bemerkt, dass das Lächeln, welches ihre vollen Lippen umspielt, ihre Augen nicht erreicht. Diese sind von einem seltenen hellen Grün und mit dunklen Sprenkeln durchzogen, was auf anziehende Weise raffiniert und attraktiv wirkt, jedoch gleichzeitig ihrem Blick eine gewisse Kälte verleiht.

»Wir sind auf der Suche nach einem Zimmer«, wiederholt die fremde Dame nun noch einmal mit einem leichten Akzent, jedoch in absolut fehlerfreiem Deutsch.

»Für wie lange denn? Heute ist der Gast aus dem einen Zimmer abgereist, aber ab Samstag sind beide Zimmer leider schon wieder …«

»Oh nein, wir benötigen es nur für heute … nur eine Nacht«, sagt der Mann, der bis jetzt geschwiegen hat. Seiner Aussprache nach scheint er im Gegensatz zu ihr auf jeden Fall ein Norddeutscher zu sein.

»Ja, wenn das so ist! Das Zimmer kostet 80 Euro pro Nacht inklusive Frühstück«, sagt Lisa mit einem Lächeln.

»Frühstück benötigen wir nicht. Wir müssen leider schon wieder sehr früh los«, sagt der Mann, nimmt 80 Euro aus seiner Tasche und legt sie auf den Tisch.

»Ohne Frühstück sind es natürlich nur 70 Euro«, sagt Lisa und jubelt innerlich.

Das ist immer noch fast so viel, wie sie heute den ganzen Tag im Laden eingenommen hat.

»Nein, das ist schon in Ordnung«, antwortet er ungeduldig.

»Möchten Sie das Zimmer denn nicht erst einmal sehen?«, fragt Lisa.

»Nein, das ist nicht nötig. Den Zimmerschlüssel, bitte …«

Lisa findet das Verhalten der beiden äußerst merkwürdig.

Zumal sie offenbar keinerlei Gepäck bei sich haben.

Das ist sicher ein geheimes Liebespaar. Nun, so etwas soll es ja geben, denkt Lisa bei sich und nimmt den Schlüssel vom Haken.

»Ich bringe Sie nach oben.«

»Nicht nötig! Wo ist denn das Zimmer?«, sagt die Dame und lächelt wieder ihr kaltes Lächeln.

»Die Treppe nach oben. Es ist das Zimmer zur Gartenseite … selbstverständlich mit Bad«, klärt Lisa die beiden auf.

So selbstverständlich ist es allerdings nicht. Das andere Zimmer hat nämlich kein eigenes Bad, sondern muss das Bad auf dem Flur nutzen. Bis jetzt haben Lisas Ersparnisse nur gereicht, um in das eine Zimmer ein Bad einbauen zu lassen. Sie wollte gerne, dass Ann-Sophie ein wenig Komfort hat, wenn sie mit ihrer Familie auf der Insel ist. Tim dagegen ist nicht so anspruchsvoll. Er schläft ohnehin bis Mittag und hat dann kein Problem, das Bad im Flur zu nutzen.

Das seltsame Pärchen bewegt sich Richtung Treppenhaus. Es ist eindeutig, dass die beiden keine Konversation und auch keine Inselinformationen wünschen, wie es so viele tun, die zum ersten Mal auf Sylt sind.

Lisa drückt dem Mann den Zimmerschlüssel in die Hand zusammen mit dem Meldeschein, den die beiden bitte freundlicherweise ausfüllen sollen.

»Sie brauchen ihn heute Abend nicht mehr herunterbringen, sondern können ihn gern morgen früh auf dem Zimmer liegen lassen«, sagt Lisa.

Ihr ist klar, dass der Meldeschein wohl kaum mit den richtigen Namen ausgefüllt werden wird. Eigentlich müsste sie jetzt nach den Ausweisen fragen, aber sie lässt die beiden auch so einfach nach oben gehen. Wer weiß schon, welche Situation sie in diese Lage gebracht hat? Es wird seinen Grund haben, dass sie sich verstecken müssen, denkt sie.

*

»Bitte nicht abschließen!«

Es ist mehr ein Flehen als eine Bitte.

»Was? Elena, wir wollen doch für uns sein!«

Gunnar zieht sofort die Hand vom Schlüssel, mit dem er eben das Zimmer abschließen wollte, und kommt stattdessen zu ihr herüber und streicht sanft über die Wange.

»Das sind wir doch! Hier kommt keiner hoch, Gunnar. Die Frau da unten setzt sich jetzt vor den Fernseher und schaut einen Liebesfilm im Fernsehen an. Dabei malt sie sich aus, was wir hier oben treiben«, kichert Elena.

Das kleine Zimmer ist schlicht, aber gemütlich möbliert. Die Einrichtung besteht aus einem Doppelbett, das mit hellblauer Bettwäsche bezogen ist, und einem kleinen weißen Tisch, vor dem ein Korbstuhl steht. Ein wunderschöner Spiegel, dessen Rahmen aus Treibholz gefertigt ist, und mehrere maritime Accessoires verleihen dem kleinen Raum eine behagliche Atmosphäre. Seufzend lässt sich Elena auf das Bett fallen. Hier sind sie vor neugierigen Blicken und vor allem vor dem kalten Wind sicher.

»Warum soll ich das Zimmer nicht abschließen?«, fragt Gunnar neugierig.

Sie kann es ihm nicht sagen. Wie soll sie ihm von der schrecklichen Zeit im Kinderheim in Kasachstan erzählen? Er erlebt sie als selbstbewusste und in sich ruhende Frau. Das ängstliche kleine Mädchen von früher kennt heutzutage keiner mehr, und das soll auch so bleiben, denkt sie.

Sie gestattet sich ja nicht einmal selbst die Erinnerungen an die Vergangenheit. Doch sobald sie mit einer verschlossenen Tür konfrontiert wird, kehren die Geister der Vergangenheit zurück.

Als Elena ein Kind war, war die Welt in ihren Augen vollkommen in Ordnung. Obwohl sie nicht reich waren, so fühlte sie sich doch geliebt und geborgen von den Menschen, die sie umgaben. Doch dann verlor sie im selben Jahr gleich zwei über alles geliebte Bezugspersonen. Erst starb ihre Großmutter, ihre Babushka, die deutschstämmig war und Elena deutsche Gedichte oder Märchen vorlas, mit ihr deutsche Lieder sang oder alte Schallplatten hörte, während Elenas Mutter bei der Arbeit war. Elena liebte das Lied »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen«, nicht nur wegen der Melodie, sondern weil das Wort »Wunder« ihr Lieblingswort war. Elena glaubte ganz fest daran, dass auch in ihrem Leben eines Tages ein Wunder geschehen würde, und ihre Babushka bestärkte sie darin. Großmutter war zwar schon alt und sehr krank, aber manchmal strahlten ihre hellen Augen wie die eines jungen Mädchens. Besonders dann, wenn sie von ihrem Mann, Elenas Großvater, und ihrem gemeinsamen Leben sprach. Einst hatte es eine Zeit großen Glücks für die beiden gegeben, doch als Russlanddeutsche mussten sie in den UdSSR viel ertragen. Der Stalinismus hatte die eigenständige Kultur der Deutschen in Russland damals vollständig zerstört. Sie durften ihre Muttersprache nicht öffentlich sprechen, nicht studieren oder gewisse Berufe ausüben. Im Gegenteil: Viele Russlanddeutsche mussten Zwangsarbeit in Arbeitslagern unter unmenschlichen Bedingungen verrichten. So auch Elenas Großvater, der diese harten Bedingungen nicht überlebte. Wenn sie auch nie darüber sprach, so hatte Elenas Großmutter doch sehr oft etwas Trauriges und Verlorenes in ihrem Blick. Obwohl auch Elena noch klein war, so hatte sie gespürt, dass ihre Großmutter schreckliche Dinge erlebt haben musste. Einmal erzählte sie ihr unter Tränen, dass ihre Familie seinerzeit auseinandergerissen wurde und sie von der Wolga nach Kasachstan zwangsumgesiedelt wurden. Sie wurden in Viehwaggons transportiert und einfach in der Steppe Kasachstans ausgeladen, wo sie vor dem bevorstehenden Winter nach Überlebensmöglichkeiten suchen mussten. Ihre Rechte wurden ihnen aberkannt und das Eigentum bis auf ein kleines Handgepäck eingezogen. Mehrere Hunderttausend Menschen starben in dieser Zeit unter den unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen. So wie auch Elenas Großvater, den Elena leider nie kennengelernt hatte. Von ihrem eigenen Vater kannte sie nicht einmal den Namen. Ihre Großmutter sagte nur, er sei nie nett zu ihrer Mutter gewesen und hätte die Wodkaflasche lieber gehabt als seine Frau und seine kleine Tochter. Das konnte Elena zwar nicht verstehen, doch sie fand sich damit ab, da sie sowohl von ihrer Mutter als auch der Großmutter mit viel Liebe umsorgt wurde.

Wie konnte sie auch ahnen, dass diese glückliche Zeit schon bald ein jähes Ende finden würde? Elenas Mutter war Köchin in der Großküche einer Fabrik und musste hart arbeiten, um sich und ihre kleine Tochter alleine durchzubringen. Sie besaßen nur eine winzige Wohnung, in der es nicht einmal ein eigenes Badezimmer gab. Auch wenn Elena sich nach dem Tod der Großmutter oft alleine beschäftigen musste und das Singen und die Märchen der alten Dame sehr vermisste, war ihre kleine Welt dennoch in Ordnung. Schließlich kam ihre Mutter jeden Abend nach Hause, und auch wenn sie müde war, spielten und lachten sie viel zusammen. Doch dann kam jener Tag, als plötzlich dieser Polizist vor der Tür stand. Es war am späten Nachmittag, und eigentlich war es Elena verboten, die Tür zu öffnen, wenn sie alleine war. Doch sie hatte geglaubt, es sei ihre Mutter, die nur den Schlüssel vergessen habe oder die Hände voll mit Lebensmitteln, die sie aus der Küche oder vom Einkaufen mitgebracht hatte, wie es öfter einmal geschah.

Doch es war nicht ihre Mutter, die mit erschöpftem, doch lachendem Gesicht vor der Tür stand, sondern ein Polizist, und Elena hatte an seiner ernsten Miene gesehen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

Mit wenigen Worten teilte er ihr mit, dass es am Arbeitsplatz der Mutter einen fürchterlichen Unfall gegeben hatte. Ihre Mutter hatte die Gasexplosion in der Großküche nicht überlebt, und Elenas kleine heile Welt brach von einer Sekunde auf die andere entzwei. Sie wurde, weil es keine weiteren Verwandten gab, die sich des zehnjährigen Mädchens hätten annehmen können, in einem Kinderheim 100 Kilometer entfernt untergebracht. Hatte sie zunächst geglaubt, dass sie dort ihr Kätzchen Murka behalten dürfte, das einzige Wesen, das ihr noch etwas Liebe und Zuversicht schenkte, so wurde sie schon bald eines Besseren belehrt. Bereits einen Tag nach ihrer Ankunft im Kinderheim war Murka nicht mehr da. Jemand hatte »aus Versehen« die Eingangstür offen gelassen, und Murka war angeblich hi­nausgelaufen.

Die folgenden Jahre bestanden für Elena aus Einsamkeit und Entbehrungen. Es war nicht nur so, dass sie furchtbar Heimweh hatte und sowohl ihre Mutter, ihre Mamachka, als auch ihre Großmutter Babushka schmerzlich vermisste. Es waren auch nicht die Zimmer, die kahl und trostlos waren und einer Kinderseele wenig Licht und Wärme spenden konnten. Es waren die kalten Erzieherinnen, die zwar ihre Pflicht erfüllten, jedoch nicht in der Lage waren, den Kindern etwas Freude oder gar Liebe zu schenken. Und die anderen Kinder, die sich schnell untereinander anfreundeten und die schüchterne Elena auslachten, ignorierten oder als »Faschist« beschimpften, weil sie manchmal deutsch sprach. Die kleinen Kinder waren am besten dran. Sie waren niedlicher als die größeren und wurden wenigstens hin und wieder einmal in den Arm genommen, wenn sie weinten. Die meisten von ihnen hatten Glück und mussten nicht allzu lange im Heim bleiben, da sich bald eine Pflegefamilie für sie fand. Doch offenbar war niemand an einem stillen, in sich gekehrten Mädchen interessiert, das kurz vor der Pubertät stand und mit niemandem sprach.

Da sie nicht dumm war, lernte Elena schnell, wie es möglich war, die Zeit in dem Kinderheim irgendwie zu überstehen. Sie lebte überwiegend in ihrer eigenen Welt, träumte vor sich hin und war gehorsam. Einzig auf diese Weise gelang es ihr, den Vorstellungen der strengen Erzieherinnen einigermaßen zu entsprechen. Eine von ihnen, Ludmilla, war besonders streng. Manchmal kam es Elena vor, als könne sie ihr überhaupt nichts recht machen. Sobald sie auch nur ansatzweise etwas getan hatte, was Ludmillas Missfallen erregte, nahm sie Elena das Einzige weg, was ihr etwas bedeutete: das Buch ihrer Großmutter mit den deutschen Gedichten. Elena wurde aggressiv, heulte und schlug wild um sich. Zur Strafe und als Erziehungsmaßnahme, um sie zur Vernunft zu bringen, wurde sie tagelang in eine dunkle Kammer gesperrt ohne Fenster und Licht.

»Na, willst du mir wirklich nicht sagen, warum ich das Zimmer nicht abschließen darf?«

Zärtlich streicht Gunnar über Elenas Wange.

Sie zieht sich die schwarze Perücke vom Kopf und schüttelt die rotblonden Locken.

Dann öffnet sie ihre Bluse.

»Es hat nichts mit dir zu tun. Ich mag einfach nicht gern in geschlossenen Räumen sein.«

»Aha. So eine Art Klaustrophobie also.«

Doch Gunnar ist bereits abgelenkt durch den Anblick ihrer nackten Brüste.

»So ähnlich.«

Sie will es ihm nicht sagen. Er ist ein einfühlsamer Mann, doch sie kann ihm ihre Gefühle nicht erklären. Diese Angst, die sie damals empfand. Das Gefühl der Hilflosigkeit. Seitdem hat sie nie wieder eine Tür abgeschlossen. Auch das Zimmer über der Gaststätte nicht, in der sie ihre Ausbildung machte. Sie konnte es nicht einmal abschließen, als der Alte zu ihr kam … fast jede Nacht, nachdem ihr Geliebter gestorben war.

*

»Meine Güte, das geht ja ganz schön zur Sache da oben!«, lacht Lisa und schließt die Tür zum Treppenhaus, aus dem eindeutige Geräusche aus dem oberen Stockwerk zu hören sind.

»Was meinst du, Liebes?«, fragt Sven, der am anderen Ende der Telefonleitung ist.

»Das seltsame Pärchen, von dem ich dir gerade erzählt habe. Wusste ich doch, dass die sich hier nur für ein Schäferstündchen eingemietet haben.«

»Höre ich aus deiner Stimme etwa Neid?«, lacht Sven.

»Ein bisschen schon! Ich weiß schon gar nicht mehr, wie so etwas geht … so lange, wie du nicht hier warst!«

Ein leiser Vorwurf schwingt in ihrer Stimme mit.

»Dann wird es wohl höchste Zeit, dass ich mich wieder einmal auf den Autozug setze und über den Hindenburgdamm zu meiner Liebsten eile. Bevor sie noch auf dumme Gedanken kommt.«

»Allerhöchste Zeit! Mir fiel eben sogar schon der tolle Körper des Gastes auf. Dabei laufe ich doch sonst immer mit Scheuklappen durch die Gegend. Ich leide an einem akuten Fall von Liebesentzug!«

»Wenn das so ist, dann muss ich wohl etwas dagegen tun. Ich bin morgen bei dir, mein Liebling!«

»Warum nicht heute schon? Du könntest in drei Stunden hier sein!«

»Da schläfst du doch schon längst, du kleines Murmeltier. Außerdem habe ich morgen früh wieder einen Termin. Aber gleich anschließend fahre ich zu dir!«

So ganz glaubt Lisa nicht daran. Wie oft hat Sven einen Besuch angekündigt und dann wieder abgesagt, weil noch etwas dazwischenkam?

Mist, die Spülmaschine hat das Wasser nicht abgepumpt. Wo ist nur die Beschreibung?

Mit dem Telefon am Ohr nimmt Lisa das nasse Geschirr aus der Maschine und stellt es auf den Küchentisch. Sie wird es später abtrocknen und versuchen, das Wasser mithilfe einer Schüssel aus der Maschine zu holen. Hoffentlich ist sie nicht kaputt! Eine neue kann sie sich beim besten Willen nicht leisten. Vielleicht kann ja Sven einmal danach sehen, falls er wirklich morgen nach Sylt kommt.

»Also morgen! Ich nehme dich beim Wort! Wenn du nicht kommst, werde ich dich höchstpersönlich abholen«, droht Lisa ihm scherzhaft.

»Au ja. Ich wollte ja schon lange, dass du einmal nach Hamburg kommst!«, lacht Sven.

Als ob er nicht genau wüsste, dass sie hier nicht fort kann!

Oben hört sie, wie die Dusche angeht. So spät noch? Das kann nur das Liebespärchen sein!

Gerade, als sie mit dem Wäscheaufhängen fertig ist, sieht sie die dunkelhaarige Schöne aus dem Haus huschen und auf ihren hohen Stöckelschuhen aus dem Garten laufen. Sie scheint es sehr eilig zu haben. Wenn da mal nicht ein Ehemann zu Hause auf sie wartet!

*

»Britt! Was machst du hier bei diesem Wetter?«

Hans blickt erstaunt auf die Nachbarin, die im Schlafanzug bei Wind und Regen durch seinen Garten hastet.

Nur einen Augenblick später steht sie auf seiner Terrasse.

Ihre Haare sind zerzaust, und doch sieht sie in ihrem seidenen Schlafanzug edel und würdevoll zugleich aus.

Lachend deutet sie auf die nasse Fahne »Rüm Hart«, die sie in der Hand hält.

»Ist mir ausgebüxt bei dem Wind. Aber warum bist du noch auf, Hans? Noch dazu bei diesem Wetter?«

»Ich mache mir Sorgen um Elena. Sie ist noch nicht zurück! Dabei hat sie mir vor Stunden eine SMS geschrieben, dass sie den letzten schönen Abend vor dem Sturm noch einmal auskosten und mit Fantaisie am Watt ausreiten möchte. Sie müsste längst zurück sein!«

»Wann war das denn?«, fragt Britt besorgt.

»Um kurz nach acht. Genau gesagt um 20.15 Uhr, die Tagesschau war gerade aus.«

»Jetzt ist es elf. Der Regen hat ja erst vor einer Stunde begonnen. Vielleicht war sie solange mit Fantaisie unterwegs. Bis sie dann wieder zurück im Stall war und das Pferd gereinigt hat … Vielleicht hat sie ja noch jemanden im Stall getroffen, und sie sind im ›Reiterstübchen‹ eingekehrt? Mach dir keine Sorgen, Hans. Elena wird sicher gleich nach Hause kommen.«

Obwohl Britt die Worte aufrichtig gemeint hat, ist sie selbst nicht ganz davon überzeugt. Irgendwie traut sie dieser Russin nicht. Elena ist zwar immer freundlich zu ihr, doch diese Freundlichkeit wirkt falsch und gekünstelt auf sie. Es kommt ihr so vor, als habe diese Russin Geheimnisse, und zwar nicht nur vor ihrem Ehemann.

»Das beruhigt mich richtig, Britt. Vielen Dank! Dann werde ich noch ein wenig warten. Hast du nicht vielleicht Lust, mir dabei Gesellschaft zu leisten?«

»In diesem Aufzug? Wenn Elena nach Hause kommt und mich im Schlafanzug auf eurer Terrasse sitzen sieht, wird sie glauben, dass wir …«

»Solange wir uns nicht im Schlafzimmer ohne diesen zugegebenermaßen wunderschönen Schlafanzug aufhalten, ist alles gut!«, lacht Hans und bietet Britt einen Stuhl an.

»Warte, ich hole uns einen Schlummertrunk.«

Nur wenige Minuten später kehrt er zurück mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein sowie seiner dunkelblauen Regenjacke, die er Britt fürsorglich umlegt.

Die Terrasse ist zwar überdacht und bietet Schutz vor Regen und Wind, doch es hat merklich abgekühlt.

»Siehst du, schon siehst du viel weniger nach femme fatale aus!«, sagt Hans.

Britt lacht.

Auch wenn sie bereits abgeschminkt ist, ist sie immer noch eine sehr schöne Frau, denkt Hans.

Britt und ihr verstorbener Mann Manfred waren häufig zu Gast bei Hans und seiner ebenfalls verstorbenen Frau Ursula. Die beiden Frauen hatten sich ebenso gut verstanden wie die beiden Männer und so manches Gartenfest und feuchtfröhliche Stunde in der Whiskeymeile genossen. Als ihre Kinder kleiner waren, verbrachten sie ganze Nachmittage gemeinsam am Strand oder sie machten Radtouren, die als Ziel stets die »Kupferkanne« mit ihrem bezaubernden Garten und ihren Riesenstücken Kuchen hatten.

Als Manfred nierenkrank wurde, kamen die beiden nur noch selten in ihr Ferienhaus nach Sylt. Manfred musste regelmäßig zur Dialyse, daher zogen die beiden es vor, in ihrer Heimatstadt Flensburg zu bleiben.

Als die lang erwartete Nachricht kam, dass eine Spenderniere für Manfred gefunden war, waren die beiden überglücklich und freuten sich auf ihr neues »freies« Leben ohne Dialyse. Sie wollten viele Reisen machen und alles nachholen, was ihnen durch Manfreds Krankheit verwehrt geblieben war. Doch das Schicksal machte ihnen einen Strich durch die Rechnung.

Manfred überlebte die Transplantation nicht. Britt war am Boden zerstört und floh aus Kummer in ihr Haus auf Sylt, in dem sie so viele glückliche Zeiten verbracht hatten.

Ulla stand ihr in dieser schwierigen Zeit zur Seite und war Tag und Nacht für sie da.

Kurze Zeit später erhielt Ulla die Krebsdiagnose. Die Krankheit breitete sich so schnell aus, dass sie keine Chance hatte. In den letzten Wochen waren ihr Leiden und die Schmerzen so groß, dass es Hans fast das Herz zerriss. Auch sie hatten sich auf ihren Lebensabend gefreut und noch viele schöne Dinge geplant. Ein Leben lang hatten sie für die Firma gelebt, die Hans aus dem Nichts aufgebaut hatte. Der kleine Hamburger Verlag »Ewers«, der aus einer maroden Druckerei entstanden war, machte sich schon bald einen Namen weit über die Grenzen Hamburgs hinaus. Dies forderte natürlich seinen Preis. Hans steckte seine ganze Zeit, Energie und auch sein ganzes Geld in die Firma. Mit Erfolg! Sohn Björn lernte Verlagskaufmann, und es war klar, dass er eines Tages den Verlag übernehmen würde. Hans und Ulla hatten viele Träume, die sie verwirklichen wollten. Einer davon war, nach Neuseeland zu reisen. Doch dazu kam es nicht mehr. Ulla starb in seinen Armen im Alter von nicht einmal 62 Jahren.

»Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?«, reißt Britt Hans aus seinen Gedanken.

»Ulla und ich?«, fragt er irritiert.

Kann es sein, dass sie seine Gedanken gelesen hat?

»Nein, das weiß ich doch!«, lacht Britt. »Ulla war meine beste Freundin, falls du es vergessen hast. Nein, ich meine dich und Elena!«

Schon lange brennt ihr diese Frage unter den Nägeln. Sie kann sich nicht vorstellen, dass Hans eine Kontaktanzeige aufgegeben hat. Oder gar in einem Restaurant die hübsche Elena angesprochen hat.

Wie aus dem Nichts war diese Frau auf einmal da gewesen und in das schöne Reetdachhaus in Kampen eingezogen. Britt erinnert sich noch gut an den Tag, an dem sie Elena das erste Mal gesehen hat. Elena war mit einem hellgrünen Kleid mit tiefem Dekolleté, das hervorragend zur Farbe ihrer Augen passte, aus Hans’ dunklem Wagen geklettert. Das Kleid passte ebenso wenig zu Sylt wie die hochhackigen Schuhe, mit denen sie zum Haus stöckelte. Ihre rotgoldenen Haare wehten im Wind und verliehen ihr zwischen all den Blondinen auf der Insel etwas Exotisches.

»Ach, das habe ich dir wohl noch gar nicht erzählt? Welch ein Fauxpas!«, lacht Hans und gießt ihr einen Schluck Rotwein ein.

»Oh, ein Chianti! Den liebe ich«, ruft Britt begeistert aus.

»Das weiß ich doch. Schließlich kennen wir uns schon ein paar Tage, Britt. Also, du wolltest wissen, wie Elena und ich uns kennengelernt haben.«

Verträumt blickt Hans in den Garten hinaus.

»Nun, wie du dich sicher noch erinnerst, war ich nach dem Tod von Ulla am Boden zerstört. Wochenlang vergrub ich mich in unserer Wohnung in Hamburg und ließ niemanden an mich heran. Eines Tages klingelte es an der Tür, und ich erwartete die Post. Doch vor der Tür stand diese wunderschöne Frau mit dem bezauberndsten Lächeln, das ich je gesehen hatte. Zaghaft, beinahe schüchtern trug sie mir ihr Anliegen vor. Sie war Journalistin und arbeitete an einer Reportage zum Thema ›Trauer und Trauerbewältigung‹. Sie wollte natürlich nicht indiskret sein, aber ob ich ihr irgendwann einmal, wenn es mir nicht allzu viele Schmerzen bereiten würde, ein paar Fragen beantworten würde? Britt, ich weiß nicht, warum … vielleicht war es die Trauer um Ulla, die mich so sehr in die Knie gezwungen hatte, oder die Einsamkeit, die ein Teufel sein kann … Jedenfalls bat ich sie herein und sagte ›Warum nicht gleich?‹ Ich kochte uns eine Kanne Tee, und wir saßen stundenlang zusammen und redeten. Sie hatte so eine ruhige und einfühlsame Art, dass ich ihr alles freiwillig erzählte. Sie musste gar nicht viele Fragen stellen. Das lag wohl daran, dass sie selbst über das Thema ›Tod‹ sehr gut Bescheid wusste. Auch sie hatte schmerzliche Verluste erlitten und sowohl ihre Mutter als auch ihren Freund bereits in jungen Jahren verloren. Wir haben viel geredet, Britt, und kamen uns dabei immer näher. Wir trafen uns immer häufiger, und irgendwann stellten wir fest, dass der Artikel längst Nebensache geworden war. Wir waren einfach glücklich, wenn wir zusammen waren, und traurig, sobald wir uns trennen mussten. Obwohl ich es eigentlich nicht vorhatte, stellte ich auf einmal fest, dass ich noch einmal mein Herz verloren und mich bis über beide Ohren verliebt hatte. Und das in meinem Alter! Ist das nicht ein großes Geschenk?«

»Oh ja, Hans. Aber ist Liebe nicht immer ein großes Geschenk?«, fragt Britt lächelnd. »Woher kannte sie überhaupt deine Adresse? Du sagst, sie stand einfach vor deiner Tür. Sie muss ja gewusst haben, dass du gerade deine Frau verloren hattest.«

Sie sieht ihn prüfend an. Doch Hans beachtet sie schon nicht mehr. Er sieht den Wagen seiner Frau in die Garage fahren und läuft ihr erwartungsfroh entgegen.

»Elena! Wo warst du nur so lange? Ich habe mir Sorgen gemacht!«

Elena schließt das Garagentor und schenkt ihm einen entschuldigenden Blick.

»Tut mir leid, Liebling, dass es so spät geworden ist! Aber die Pferde waren unruhig. Wir hatten heute große Mühe, sie zu beruhigen.«

»Hauptsache, du bist jetzt da!«

Hans nimmt Elena in die Arme.

»Komm, trink ein Glas Wein mit uns!«

Elena wirft einen Blick auf Britt auf der Terrasse, der besagt: »Bist du etwa immer noch hier?«, beachtet diese aber nicht weiter, sondern gähnt: »Sei mir nicht böse, aber ich bin schrecklich müde. Komm einfach nach, Liebling.«

Sie will schon hineingehen, da wird sie von Britt aufgehalten.

»Sag mal, Elena, du kommst doch aus Keitum? Da müsste ja bereits alles für das Poloturnier aufgebaut sein.«

»Oh, so genau habe ich nicht hingesehen«, versucht Elena, sich aus dieser verfänglichen Frage herauszuwinden. Schließlich war sie ja gar nicht in Keitum, sondern in Hörnum. Woher soll sie also wissen, ob das Poloturnier bereits aufgebaut ist?

»Du hast also noch keine Zelte gesehen?«, hakt Britt nach.

Etwas an dieser Frage irritiert Elena.

Normalerweise müssten sie ihr aufgefallen sein, da sie direkt an dem Platz des Poloturniers vorbeikommt, wenn sie zum Reitstall fährt. Natürlich weiß sie noch, wie der Platz im letzten Jahr anlässlich des Turniers ausgesehen hat und bemüht ihre Erinnerung: »Doch, da waren weiße Zelte. Aber – wie gesagt – so genau habe ich nicht hingesehen. Ich bin ja nur daran vorbeigefahren und habe das nur aus dem Augenwinkel gesehen. Keine Ahnung, ob schon alles so steht, wie es sein soll. Aber nun entschuldigt mich bitte, ich bin sehr müde. Gute Nacht, Liebling.«

Sie küsst ihren Mann, diesmal auf den Mund.

»Gute Nacht, Britt.«

Elena nickt der Nachbarin zu und wendet sich zum Gehen. Diese Frau ist gefährlich, denn sie hat Interesse an ihrem Mann. Elena muss vorsichtig sein!

Britt lächelt kühl und winkt Elena einen Abschiedsgruß zu.