Wildrosengeheimnisse - Christine Rath - E-Book

Wildrosengeheimnisse E-Book

Christine Rath

4,7

Beschreibung

Maja Winter ist endlich glücklich mit ihrem „Café Butterblume“ am schönen Bodensee und ihrem Freund Christian. Doch mit der Ruhe ist es vorbei, als eine schöne junge Frau verschwindet, die zuletzt in ihrem Café gesehen wurde. Christian verhält sich zunehmend rätselhaft und dann wird auch noch im Café eingebrochen. Zum Glück gibt es den sehr attraktiven Kommissar Michael, der die Ermittlungen übernimmt. Als schließlich Majas alte Liebe Leon wieder auftaucht, ist das Gefühlschaos endgültig komplett.

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Christine Rath

Wildrosengeheimnisse

Roman

Impressum

Ausgewählt von

Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung und E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © maraphoto – Fotolia.com

und © iStockphoto.com / René Lorenz

ISBN 978-3-8392-4224-7

Für Sandrina

1. Kapitel: Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus

Es ist praktisch unmöglich, an einem Samstagvormittag einen Parkplatz in Überlingen zu finden. Es scheint, als hätte sich heute Morgen mal wieder jeder aufgemacht, auf dem Markt in unserer kleinen Stadt am Bodensee einzukaufen. Fluchend versuche ich, meinen alten Mini in die winzig kleine Lücke zu schieben, die gar kein Parkplatz ist.

Egal, darauf kann ich beim besten Willen keine Rücksicht nehmen. Schließlich muss ich in einer Stunde mein ›Café Butterblume‹ aufmachen und habe vorher noch allerhand einzukaufen.

Wie sich mein Leben doch in den letzten Monaten verändert hat.

Manchmal kann ich es kaum glauben. Noch vor einem Jahr war ich eine ziemlich unzufriedene kleine Angestellte in einer örtlichen Immobilienagentur und nun besitze ich ein kleines Café, das ›Café Butterblume‹, direkt am See. Es hat mich zwar ganz schön viel Kraft gekostet, diesen Traum zu verwirklichen, aber es hat sich gelohnt.

Trotz des ganzen Stresses und der vielen Arbeit, die die Selbstständigkeit nun einmal mit sich bringt, ist es auch ein tolles Gefühl, auf eigenen Beinen zu stehen, für niemanden außer sich selbst verantwortlich zu sein und die Einnahmen in die eigene Tasche wirtschaften zu dürfen.

Ach, aber an Einnahmen ist im Moment leider überhaupt nicht zu denken. Die Wintermonate sind am See schon recht einsam und die Gäste, ehrlich gesagt, ziemlich überschaubar.

Wie konnte ich auch nur ausgerechnet im Winter das Café eröffnen? Mir hätte klar sein müssen, dass die Touristen erst ab Ostern an den Bodensee kommen, schließlich lebe ich lange genug hier. Wenigstens ist es mir gelungen, dass die Einheimischen die gemütliche Atmosphäre in der ›Butterblume‹ zu schätzen wissen, und es werden immer mehr Stammgäste. Trotzdem ist es nicht leicht, im Winter über die Runden zu kommen, und ich bin froh, dass ich zumindest keine Pacht und keine Löhne zahlen muss.

Glücklicherweise habe ich mich nämlich – so ganz nebenbei – in den Eigentümer des Hauses verliebt, in dem sich mein Café befindet. Und – was noch mehr zu meinem Glück beiträgt – er sich auch in mich, so dass wir seit Weihnachten ein Paar sind.

Der einzige Wermutstropfen bei dieser Sache ist, dass mein Liebster ein viel beschäftigter Anwalt in Stuttgart ist und, jedenfalls im Moment noch, nur an den Wochenenden bei mir und in seinem schönen Haus am Bodensee sein kann. Zu allem Überfluss gehört ihm zusammen mit seiner Exfrau auch noch eine Kanzlei in Kanada, in der er sich regelmäßig sehen lassen muss. Ich verstehe das und bin auch unglaublich stolz auf ihn, aber muss er wirklich so oft da hin? Kriegt das seine Exfrau nicht alleine auf die Reihe? So schlau und tüchtig wie sie ist, sollte das doch kein Problem für sie sein. Zumal er mir versprochen hat, ihr die Kanzlei bald ganz zu übergeben, um sich nur noch um die Kanzlei in Stuttgart kümmern zu müssen. Und das ist ein Katzensprung von hier.

Im Laufschritt trabe ich über den Wochenmarkt und sehe kaum die vielen schönen Dinge, die angeboten werden, da ich in Gedanken bereits wieder ganz woanders bin.

Da ich mich nicht entscheiden kann, nehme ich sowohl Äpfel als auch Birnen von der Bauersfrau entgegen, mit denen ich heute noch leckeren Apfelstrudel und Birnenkuchen backen möchte.

Auch an diesem Wochenende kann Christian nicht bei mir sein, weil er arbeiten muss, und das stimmt mich nun nicht gerade froh. Doch ich habe keine Zeit, Trübsal zu blasen, schließlich wartet zu Hause jede Menge Arbeit auf mich.

Schnell besorge ich auf dem Markt noch einen Strauß gelbe Rosen für die Tische im Café, außerdem leckere Oliven und Schafskäse, Tomaten und Salat sowie etwas Rotbarschfilet im Fischgeschäft. Das Abendessen für Nini und mich ist gerettet.

Meine 18-jährige Tochter Nini steckt gerade mitten in den Vorbereitungen für ihr Abitur, aber wenn sie das hinter sich hat, wird sie mir sicher ein wenig bei der Arbeit im Café helfen können, bevor sie im Herbst in Konstanz ein Studium beginnt.

Ich steuere den Mini durch den Nebel nach Hause nach Nußdorf. Zum Glück sind es nur ein paar Minuten, denn ich bin spät dran und heute ist unglaublich viel los auf den Straßen. Zu blöd, nun muss ich auch noch am Zebrastreifen anhalten, um ein offenkundig heftig streitendes Paar herüberzulassen. Der Mann schimpft lautstark auf die Frau ein, gestikuliert wild und hebt mehrmals die Hand, als ob er sie schlagen wolle.

Heeeee …, der spinnt wohl. Wütend drücke ich auf die Hupe. Erschrocken blickt mich die junge Frau aus großen, dunklen Augen an. Sie ist bildhübsch, aber offenbar total verängstigt und der Bluterguss über ihrem Auge sieht nicht gerade so aus, als sei sie irgendwo dagegen gelaufen. Sie hat wunderschöne dunkle Locken, die sie auf der linken Seite mit einer großen Haarspange aus Strass, die die Form eines Saxophons hat, zurückhält.

Interessant, so etwas habe ich noch nie gesehen.

Der Mann, der sie reichlich unsanft am Arm festhält, ist ein grobschlächtiger Bursche, nicht allzu groß und von kräftiger Statur. Sein halblanges schütteres Haar wirkt ungepflegt und rasieren könnte er sich auch einmal wieder. Was ihn jedoch am unsympathischsten wirken lässt, ist sein grimmiger und finsterer Gesichtsausdruck. Wie kommt so eine hübsche Frau nur an einen dermaßen derben Kerl, frage ich mich.

Bevor ich die beiden allerdings noch länger beobachten kann, sind sie bereits im dichten Nebel verschwunden. Meine Güte, was es alles gibt. Was da wohl vorgefallen ist, dass die beiden sich derart streiten auf offener Straße? Vielleicht irgendein harmloser Ehestreit, versuche ich mich selbst zu beruhigen. Ich muss immer noch an die ängstlichen Augen der jungen Frau denken. Eventuell ist er ein Zuhälter? Der Mann hatte etwas Brutales an sich, aber vielleicht täusche ich mich wegen seines wütenden Gesichtes und der Geste, die er machte. Kopfschüttelnd fahre ich weiter. Hoffentlich beruhigen sich die beiden wieder.

Wenn man den dichten Nebel sieht, kann man sich gar nicht vorstellen, wie schön es im Frühling und Sommer ist. Doch eigentlich liebe ich auch diese ruhigen, melancholischen Stimmungen am See. Es ist wunderbar, mit meiner kleinen Mischlingshündin Jojo an einem solchen Tag spazieren zu gehen und die beinahe mystische und geheimnisvolle Stimmung auf mich wirken zu lassen. Wenn der Nebel den See und das Ufer wie durch einen Weichzeichner verzaubert und alle Geräusche dämpft, kann man wunderbar vor sich hin träumen. Nach einem solchen Spaziergang nach Hause zurückgekehrt, gibt es nichts Schöneres, als es sich mit einer Tasse Tee bei Kerzenschein gemütlich zu machen. Es gibt Menschen, die das nicht verstehen können und mich stirnrunzelnd fragen, wie man es am Bodensee im Winter aushält, ohne depressiv zu werden. Diese lache ich dann immer an und sage:

»Indem man in der warmen Stube vom Sommer träumt.«

Im Moment ist der Sommer weit entfernt und der Nebel scheint dichter zu werden. So kommt es mir jedenfalls vor, als ich in die Seestraße in Nußdorf einbiege, in der sich mein Heim befindet.

Sobald das butterblumengelbe Haus im Nebel vor mir auftaucht, geht mir das Herz auf.

Die alte Villa am Seeufer mit dem großen Garten und den hohen Bäumen strahlt so viel Ruhe und Behaglichkeit aus – und das ist mein Zuhause. Schon immer fand ich, dass diese alten Häuser viel mehr Atmosphäre besitzen als diese seelenlosen Neubauten. Und nun lebe ich in so einem wunderschönen Gebäude, was bin ich nur für ein Glückspilz.

Innen ist es herrlich warm und behaglich und ich freue mich über die gemütliche Stimmung. Am liebsten würde ich es mir mit einem schönen Roman vor dem Kamin bequem machen, doch das geht nicht. Während mich Jojo stürmisch begrüßt, als hätte sie mich vier Wochen nicht gesehen und nicht nur eine Stunde, klingelt das Telefon. Mein Herz klopft, das wird Christian sein. Und während ich mit der einen Hand die Rosen ins Wasser stelle, nehme ich mit der anderen Hand das schnurlose Telefon von der Station.

Doch es ist meine Mutter, die aus Amerika anruft. Nanu, wieso ist sie denn schon auf? Schließlich ist es in Michigan sechs Stunden früher als bei uns, also noch ganz zeitig am Morgen.

Meine Mutter hat sich im vergangenen Jahr mit fast 70 Jahren auf den Weg gemacht, um ihren Brieffreund in Detroit zu besuchen, … und sich noch einmal richtig verliebt. Nachdem mich die beiden zu Weihnachten am Bodensee besucht hatten, kehrten sie gemeinsam zurück in die USA.

»Guten Morgen, Liebes«, höre ich ihre vertraute Stimme und es klingt so fröhlich, dass mir trotz der Kälte und des Nebels ganz warm ums Herz wird.

»Was macht der Winter am Bodensee?«, lacht sie.

»Ist das eine rhetorische Frage«, lache ich zurück und füge hinzu, »es ist neblig und kalt. Und bei euch? Warum bist du überhaupt schon auf?«

»Weil ich dir etwas Wichtiges erzählen muss. Das kann ich unmöglich für mich behalten … Rate, was passiert ist.«

Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung und auch keine Zeit herumzurätseln.

»Ihr kommt zurück nach Deutschland?«, teste ich daher, während ich die Rosen noch einmal anschneide, bevor ich sie in die kleinen, filigranen Vasen stelle, die meine Freundin Emily auf dem Flohmarkt für mich entdeckt hat.

»Ja, genau. Und weißt du auch, warum?«, fragt sie geheimnisvoll.

Auch diese Frage kann ich weder erraten noch beantworten.

»Ähhh …, um mich und Nini zu besuchen?«, versuche ich es einmal.

»Nein, um … zu heiraten.« Jetzt muss ich mich erst einmal hinsetzen. Wow, was für eine Neuigkeit. Und trotzdem, so richtig freuen kann ich mich darüber nicht. Das heißt doch schließlich, dass sie für immer in Amerika bleiben wird, oder nicht? »Steve hat gestern Abend um meine Hand angehalten, so ganz romantisch bei Kerzenschein. Wie es sich gehört«, höre ich meine Mutter weiter munter plappern.

»Das ist ja … toll, toll!«, versuche ich, so erfreut wie möglich zu klingen.

Doch meine Mutter wäre nicht meine Mutter, wenn sie nicht den Unterton in meiner Stimme heraushören würde.

»Liebes, ich weiß, das hört sich komisch für dich an, weil wir uns noch nicht so lange kennen. Aber wir sind uns beide ganz sicher. Wir wollen für den Rest unseres Lebens zusammenbleiben und keine Zeit mehr verlieren. Am liebsten würden wir in Deutschland leben, damit wir dich und Nini öfter sehen können. Ihr beide fehlt mir schon sehr. Aber das wird sich mit Sicherheit alles finden. Wer weiß? Möglicherweise kann ich Steve dazu überreden, an den Bodensee zu ziehen. Kommt ganz darauf an, wie es ihm am ›Schwäbischen Meer‹ gefällt. Aber ich habe keine Zweifel daran, dass er es lieben wird. Jetzt kommen wir im Frühjahr erst einmal zu dir und dann wird geheiratet. Können wir vielleicht in der ›Butterblume‹ feiern? Das wäre doch herrlich«, schwärmt sie weiter.

»Aber ja, natürlich. Teile mir nur rechtzeitig das Datum mit, dann bereite ich euch die schönste Hochzeitsfeier, die Überlingen je gesehen hat.«

Auf einmal freue ich mich doch. Über ihr Glück. Über die Tatsache, sie bald wiederzusehen. Über das schöne Fest, das bei mir stattfinden wird. Und auch darüber, dass sie vielleicht schon bald wieder in Deutschland leben werden.

Aber dann muss ich das Gespräch leider schon beenden und das Café aufschließen, weil vor der Tür der erste Gast auf mich wartet.

Ich öffne und lasse den Besucher, einen sehr eleganten und gut gekleideten Herrn, eintreten. Er trägt einen edlen grauen Anzug aus feinstem Zwirn, richtig teuer ausse­hende Schuhe aus bestem Leder, ein weißes Hemd und einen silbergrauen Kaschmirschal. Sein dichtes schwarzes Haar ist exakt geschnitten und seine braunen Augen sowie sein dunkler Teint verraten einen südländischen Einschlag. Nicht schlecht, dieser frühe Besuch, denke ich insgeheim und bitte ihn freundlich herein. Seine weißen Zähne blitzen, als er sich mir vorstellt: »Frau Winter? Einen wunderschönen guten Tag wünsche ich Ihnen. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Sie sind noch viel schöner, als Sie mir beschrieben wurden.«

Dabei lässt er seinen Blick anerkennend über meine braunen Locken, die heute wieder einmal besonders zerzaust aussehen, und meinen Körper, der in einem roten Pullover und alten Jeans steckt, wandern.

Donnerwetter, er ist nicht nur ausgesprochen höflich, sondern wirkt mit seinem italienischen Akzent auch noch überaus charmant.

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie so überfalle. Ich hätte mich natürlich anmelden sollen. Aber da ich gerade in der Gegend war, dachte ich, ich schaue einfach einmal bei Ihnen herein. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle? Mein Name ist Pacocini, Enrico Pacocini.«

Pacocini? Irgendetwas klingelt ganz weit hinten in meinem Hinterkopf, aber ich komme beim besten Willen nicht darauf, wer das sein könnte.

»Mir gehören so einige italienische Restaurants am Bodensee. Also sind wir sozusagen … Kollegen.«

Ach ja, das ist der Pacocini. In der Tat habe ich schon viel von ihm gehört.

Seine Restaurants befinden sich an den schönsten Plätzen in fast jeder Stadt, immer natürlich in Toplage direkt am See.

»Würden Sie mir die Ehre erweisen, einen Espresso oder Cappuccino mit mir zu trinken? Wie ich sehe, haben Sie das in Ihrem Angebot«, sagt er mit einem Blick auf meine teure Kaffeemaschine, auf die ich mächtig stolz bin.

Während ich den Kaffee zubereite, sieht er sich anerkennend in meinem zauberhaften Café um.

»Das ist ganz fantastisch bei Ihnen, Frau Winter – Kompliment. Und dieser Blick auf den See – einfach sensationell«, schmeichelt er schon wieder.

Verflixt, was will der Kerl von mir? Der kann mir doch nicht erzählen, dass er hergekommen ist, um einen Espresso zu trinken. Das kann er doch wohl in jeder seiner eigenen Gaststätten aufs Vorzüglichste.

Der eigentliche Grund seines Kommens lässt nicht lange auf sich warten. Sobald wir am Tisch sitzen und unseren Kaffee trinken, rückt er mit der Sprache heraus.

»Wie gehen die Geschäfte, Maja? Ich darf Sie doch Maja nennen, oder? So unter Kollegen.«

»Danke, ich kann nicht klagen«, antworte ich. So langsam glaube ich zu erahnen, warum er hier ist.

Schließlich ist die ›Butterblume‹ mit ihrer großen Terrasse und der wunderschönen Lage am See prädestiniert für sein nächstes Restaurant.

»Wirklich nicht? Die Leute sagen, Sie hätten … gewisse Anlaufschwierigkeiten. Sie wissen schon, man munkelt, dass das Café nicht so richtig läuft.«

Er sieht mich listig an.

»Aber an Ihnen kann es nicht liegen, Sie sind eine charmante Frau«, schleimt er schon wieder herum. »Wenn Sie Hilfe brauchen, sagen Sie mir einfach Bescheid.«

Mit diesen Worten zieht er eine goldene Visitenkarte aus der Tasche und schiebt sie über den Tisch zu mir herüber.

»Was meinen Sie damit, ›falls ich Hilfe brauche‹?«

So langsam macht mich der Kerl echt wütend.

»Ich komme sehr gut zurecht.«

»Daran habe ich keinerlei Zweifel, verehrte Maja. Ich meine nur … Es könnte ja sein, dass Sie vielleicht doch einmal in eine Situation geraten, die Sie überfordert. Dann ist es gut zu wissen, dass es jemanden gibt, der für einen da ist. Wir Wirte hier am See müssen schließlich zusammenhalten, meinen Sie nicht auch?« Sein dröhnendes Lachen wirkt nicht gerade erheiternd auf mich.

»Wie ich erfahren habe, gehört Ihnen das Haus nicht und Sie haben es nur gepachtet. Darf ich Sie fragen, von wem?«

»Nein, das dürfen Sie nicht.«

Wütend stehe ich auf.

»Vielen Dank für Ihren Besuch, Herr Pacocini. Aber ich glaube, es ist besser, wenn wir uns jetzt verabschieden. Wie Sie sich sicher denken können, wartet noch jede Menge Arbeit auf mich. Denn mein Café läuft, ob Sie sich das vorstellen können oder nicht, nämlich sehr gut.«

»Nun, das ist erfreulich für Sie, Maja. Sollte es doch einmal anders kommen, rufen Sie mich an.«

Sein fester Händedruck und sein starrer Blick flößen mir Unbehagen ein.

Mit einem schmierigen Grinsen geht er aus der Tür zu seinem Ferrari. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Was bildet sich dieser Lackaffe eigentlich ein? Dass er in diesem schönen Haus noch so einen Pizzaladen aufmachen kann? Nur über meine Leiche.

Halt. Ganz so weit wird er doch wohl nicht gehen, oder?

Obwohl ich weiß, dass er mir die ›Butterblume‹ nicht einfach wegnehmen kann, hat mir dieser Besuch dennoch ein ungutes Gefühl eingejagt.

Und das ist noch stark untertrieben.

Zum Glück kommen gerade ein paar rotwangige Damen herein, die nach ihrem Marktbesuch offenbar dringend ein warmes Plätzchen und einen leckeren Cappuccino benötigen.

Es ist meine Lieblingsfrauenrunde, die aus vier Ladys ›mittleren Alters‹ (also zwischen Mitte 50 und Mitte 60) besteht und die allesamt das sind, was man wohl als ›gut situiert‹ bezeichnet.

Angefangen haben sie mit ihren Besuchen in der ›Butterblume‹ nach ihrer Bauch-Beine-Po-Gymnastik am Mittwochvormittag (weswegen ich sie insgeheim BBP-Ladys nenne), doch mittlerweile kommen sie zu meiner und vor allem meiner Kasse Freude mindestens zweimal pro Woche, ob mit oder ohne Sportsachen, um bei mir im Café die neuesten Klatschgeschichten auszutauschen. Ich habe sogar den klitzekleinen Verdacht, dass diese Gymnastikrunde insgeheim nur ein Vorwand ist und sie stattdessen gleich zu mir kommen. Diejenige, die immer den Ton angibt, ist Veronika Möhrle, eine stattliche Lady mit schwarz gefärbten Haaren und rundem Gesicht. Sie ist mit einem Bauunternehmer verheiratet und stets mit den neuesten Trends aus der Überlinger Boutiquenwelt ausgestattet sowie einem unglaublichen Wissen über alle, die in unserem kleinen Städtchen Rang und Namen haben.

So weiß sie auch heute wieder das Neueste zu berichten, wie ich, während ich die Bestellung der Damen aufnehme, aufschnappen kann.

»Habt er dees schon g’hört?«

So beginnen die meisten ihrer Sätze.

»Zwischen dem Vogler Willi und seiner Frau isches au aus, … nach 26 Johr«, entrüstet sich Frau Möhrle.

Insgeheim übersetze ich den charmanten und niedlichen Dialekt von Frau Möhrle.

Die anderen blicken sie erst einmal verständnislos an, darüber grübelnd, wer denn der Vogler Willi noch mal war.

»Der Präsident vom Yachtclub«, errät Frau Möhrle die Gedanken der anderen.

»Und natürlich wegen einer Jüngeren. Jahrelang war seine Marlies gut genug. Aber jetzt, wo er repräsentieren muss, da muss was Jüngeres her. Des macht mich so wütend.«

»Awa. Des isch ja en dicker Hund. Ich hoff bloß, dass die Marlies nicht daheim hockt und dem Kerle eine einzige Träne nachheult. Des isch doch der it wert, was moinet ihr?«, entrüstet sich eine andere Dame der Runde.

Während sich große Empörung und Mitleid mit der armen Marlies breitmachen und die lustigen Damen dem Vogler Willi die Krätze an den Hals wünschen, verschwinde ich zur Kaffeemaschine, um die Bestellung zu bearbeiten.

Das alte Lied. Wieder einmal versucht ein Mann mittleren Alters, mithilfe einer jungen Frau seine Jugend zurückzuholen, und die langjährige Ehefrau hat ausgedient. Vermutlich hat er ein paar neue Falten an ihr entdeckt oder ihr Busen war nicht mehr knackig genug.

Ich kann nicht umhin, den Damen der BBP-Runde insgeheim recht zu geben, und kann nur hoffen, dass diese Marlies nicht schluchzend zu Hause sitzt und dieser Willi irgendwann die Quittung für sein Verhalten bekommt. Was denken sich diese jungen Frauen, die den armen Ehefrauen den Mann wegnehmen? Vermutlich fühlen sie sich geschmeichelt von der Aufmerksamkeit und den Komplimenten, die ein Mann ihres Alters nur selten aufzubringen vermag. Nur zu gern lassen sie sich verwöhnen und ernten die Früchte, die die Ehefrauen oftmals in entbehrungsreichen Jahren gesät haben. Na ja, möglicherweise ist auch wirklich manchmal Liebe im Spiel. Aber häufig kann man leider auch das Geschäft erkennen, was einer solchen Liebe zugrunde liegt: Jugend gegen Geld. Denn hätte der Sugardaddy auf einmal kein Geld zum Verwöhnen mehr, wären so manche Damen recht schnell wieder allein in den Clubs unterwegs, da bin ich sicher.

*

Wider Erwarten hat die Sonne am Nachmittag den Kampf gegen den Nebel gewonnen und die Welt in ein zwar winterlich kühles, jedoch strahlendes Licht getaucht und schätzungsweise eine Million Spaziergänger ins Freie gelockt. Es ist unglaublich, was so ein bisschen Sonne doch ausmacht, alles sieht gleich viel freundlicher aus. Selbst die Miesepeter, die heute Morgen garantiert noch griesgrämig über ihre Kaffeetasse in die Nebelsuppe geblickt haben.

Auf einmal kommen so viele Menschen auf dem schönen Uferweg Richtung Unteruhldingen bei uns vorbei und es gibt jede Menge zu tun. Zum Glück ist Nini da, die unermüdlich Tische abräumt, Gläser spült und Unmengen von Cappuccino, Latte Macchiato, Tee oder Chai Latte sowie (unser Renner) heiße Schokolade mit Ingwer-, Toffee-, Rosen- oder Karamellgeschmack zubereitet. Unsere Obstkuchen und Apfelstrudel sind längst ausverkauft, ebenso wie unsere Spezialitäten, der ostfriesische Teekuchen und der Butterkuchen, die wir nach den alten Rezepten unserer Freundin Frieda herstellen.

Gegen Abend zaubert Nini noch ein paar herzhafte Käse- und Gemüsekuchen aus Blätterteig, da immer noch einige Leute auf unserer Terrasse sitzen, die, eingehüllt in dicke Wolldecken und Glühwein trinkend, die wunderschöne Frühabendstimmung am See mit dem leise aufziehenden Nebel genießen. Dabei weiß ich genau, dass Nini sich hübsch machen möchte, um den Samstagabend mit ihrem Freund Ben in der Altstadt zu verbringen. Deshalb schubse ich sie jetzt auch aus der Küche, kassiere bei den letzten Gästen und räume allein noch ein wenig auf. Nachdem alle gegangen sind, schwebt Nini in einer blauen Tunika und Leggins, eingehüllt in eine Duftwolke von ›Miss Dior‹, mit Ben an der Hand an mir vorbei und wirft mir eine Kusshand zu.

Ich habe das dringende Bedürfnis nach frischer Luft. Obwohl ich heute völlig geschafft bin, ziehe ich meine warme Jacke an, schnappe die Hundeleine und gehe mit Jojo noch ein wenig am See spazieren. Mittlerweile ist es fast dunkel und kaum noch ein Mensch zu sehen. Verflixt, wir hätten die Taschenlampe mitnehmen sollen.

Doch es ist unglaublich, welche Sicherheit so ein kleiner Hund wie Jojo einem doch verleihen kann. Ich habe keine Angst, allein in dieser dunklen Gegend. Na ja, nur ein bisschen wenigstens. Der Nebel liegt wieder dicht über dem See und nur der Mondschein beleuchtet schwach die Zweige der hohen Bäume. Ich habe das Gefühl, Feuchtigkeit und Kälte kriechen unter meine Jacke. Die Stimmung heute Abend ist überhaupt nicht melancholisch-romantisch, sondern dunkel und bedrohlich.

Auf einmal knackt es hinter mir, ich drehe mich um – doch da ist … nichts. Ich schüttele den Kopf über meine Ängstlichkeit, was soll denn hier sein? Wahrscheinlich bin ich nur müde und überarbeitet. Am besten, ich gehe nach Hause, lasse mir ein Bad ein und trinke ein gutes Gläschen Rotwein, bevor ich mich auf mein großes, gemütliches lila Sofa lege und meinen Liebsten anrufe.

Da …. Schon wieder dieses Geräusch. Jetzt wird mir auf einmal richtig kalt und ich bekomme eine Gänsehaut. Ich beschleunige meine Schritte und laufe jetzt fast. Wenn da etwas wäre, würde Jojo sich doch anders verhalten, oder etwa nicht? Diese schnuffelt nur wie immer mit der Nase auf dem Boden entlang und wundert sich wahrscheinlich über mein plötzliches Tempo. Also, das bilde ich mir nun wirklich nicht mehr ein. Da ist wieder dieses Knacken.

Ich drehe mich um und sehe eine dunkle Gestalt in ein paar Meter Entfernung.

Was soll ich nur tun? Am besten, ich gehe einfach weiter. Nur keine Angst zeigen, das lernt man in jedem Selbstverteidigungskurs für Frauen. Innerlich schlottere ich aber vor Furcht, ziehe die Kapuze meines schwarzen Anoraks hoch und halte den Blick dicht auf den Boden gesenkt.

»Waaaah.« Ich erschrecke fast zu Tode, als mich auf einmal jemand am Ärmel packt.

»Maja? Was in aller Welt machst du hier allein im Dunkeln?«

Es ist Christian und noch nie in meinem Leben war ich so erleichtert.

Ich zittere immer noch wie Espenlaub, doch dann werde ich auf einmal wütend.

»Sag mal, spinnst du? Wie kannst du mich so erschrecken?«, entfährt es mir.

»Maja … Süße … Was ist denn los? Du bist ganz außer dir. Das ist ja eine schöne Begrüßung. Ich dachte, du freust dich, mich zu sehen.«

»Jaaaaaa …, das tu ich doch auch«, antworte ich langsam, doch ich bin noch ein wenig durch den Wind.

»Aber es war so dunkel … und dann hörte ich dieses Knacken … Ich wusste doch nicht, dass du heute kommst.«

»Na, wenn ich es dir gesagt hätte, wäre es doch keine Überraschung gewesen«, lacht Christian mit seinem unwiderstehlichen Grinsen, in das ich mich sofort verliebt hatte, als ich ihn das erste Mal im Garten der ›Butterblume‹ sah.

»Als ich zur ›Butterblume‹ kam, war alles dunkel und ich dachte schon, du bist gar nicht da. Aber dann hab ich dich aus der Entfernung gesehen. Eine kleine, zarte Gestalt und ein Hund, der mit der Nase am Boden vor sich hin schnuffelt. Das konntest nur du sein und ich beschloss, dir zu folgen und dich in meine Arme zu reißen.«

»Ach, Christian.«

Jetzt erst kann ich mich freuen, ihn zu sehen. Ich falle ihm um den Hals und küsse ihn überschwänglich. Eng umschlungen schlagen wir diesmal gemeinsam den Weg nach Hause ein.

2. Kapitel: Der Brief

Am nächsten Morgen wecken mich Sonnenstrahlen, die durch das hohe Fenster in mein Schlafzimmer fallen und das Zimmer in ein fast überirdisch helles Licht tauchen.

Sonnenstrahlen? Das muss ein Traum sein, in den letzten Wochen hatten wir nur Nebel am See. Vorsichtig öffne ich ein Auge und erblicke Christian, der noch tief und fest schläft. In diesem Moment bin ich so glücklich, dass ich ihn am liebsten wecken und es ihm sagen möchte. Was ich natürlich nicht tue. Schließlich bin ich noch ein bisschen böse auf ihn, weil er mich gestern so erschreckt hat. Doch ich will uns den schönen Tag nicht mit Vorhaltungen verderben, schließlich bin ich froh, dass Christian hier ist. Leise schleiche ich mich nach unten in die kleine Küche und decke den Frühstückstisch.

Was könnten wir bei diesem schönen Wetter Tolles anstellen, wenn ich das Café nicht öffnen müsste, überlege ich, während der duftende Kaffee durch die Maschine gluckert.

Wenn Christian bei mir ist, bedaure ich oft, dass ich durch das Café doch sehr angebunden bin. Die Zeit mit ihm kommt mir viel zu kurz und damit unendlich kostbar vor, so dass ich jede Sekunde auskosten und genießen möchte.

Leider habe ich die Nachteile der Selbstständigkeit bei meiner Planung offenbar nicht genügend bedacht. Aber konnte ich denn ahnen, dass ich ausgerechnet im Garten dieses wunderschönen alten Hauses dem Mann meines Lebens begegnen werde? Der sich obendrein als Eigentümer entpuppte und mir somit den Schritt in die Selbstständigkeit erst ermöglichte?

Nachdenklich schlürfe ich meinen Morgenkaffee und betrachte die schneeweißen Gipfel der Berge, die heute besonders gut über dem See erkennbar sind. Dabei denke ich an meine Mutter, die gerade in Amerika dabei ist, ihre Hochzeit zu planen, und muss schmunzeln. Wer hätte gedacht, dass sie noch einmal heiraten wird. Eher hätte ich das Nini zugetraut. Ich freue mich auch für meine Tochter, dass sie wieder glücklich ist. Im letzten Jahr, als sie glaubte, schwanger zu sein, und von ihrem Freund schnöde im Stich gelassen wurde, war sie so schrecklich deprimiert. Doch ein paar Monate bei meiner Freundin Carol in London und die damit verbundene kleine Auszeit taten nicht nur ihren Sprachkenntnissen sehr gut. Ihr neuer Freund Ben, den sie dort kennenlernte, der aber in Mannheim studiert, brachte das Lachen und den Sonnenschein zurück in ihr Leben.

Es ist schon erstaunlich, wie sehr die Liebe unser Leben beeinflussen und die Berührung eines geliebten Menschen unsere Stimmung positiv verändern kann. Bei dem Gedanken an die letzte Nacht mit meinem Christian muss ich automatisch schmunzeln. In diesem Moment kommt er schlaftrunken um die Ecke, nur mit Boxershorts bekleidet und barfuß, und wie er so vor mir steht mit seinem zerzausten Haar und dem Dreitagebart, sieht er so unglaublich sexy aus, dass ich ihn am liebsten sofort ins Bett zurückzerren möchte.

Obwohl – ich denke, ich würde ihn auch lieben, wenn er jetzt in einem spießigen Schlafanzug vor mir stünde. Gerade stelle ich mir vor, wie wir beide – alt und grau und faltig – uns am Frühstückstisch gegenübersitzen und darüber streiten, ob das Ei zu weich oder zu hart gekocht ist, da unterbricht er meine Gedanken.

»Was grinst du so? Sehe ich soo schlimm aus?«, er fährt sich mit der Hand durch sein dunkles, lockiges Haar, was ihn noch anziehender für mich macht.

»George Clooney würde einen Teil seiner Gage spenden, wenn er morgens so aussähe wie du«, mache ich ihm ein Kompliment (das mögen Männer genauso wie Frauen, soviel ich weiß). Natürlich verrate ich ihm nicht, dass ich uns im Geiste gerade als altes Ehepaar gesehen habe. Sonst denkt er noch, ich will ihn heiraten, und ergreift die Flucht.

Doch der Gedanke an den Alltag mit Christian ist zu verführerisch. So etwas erleben wir in unserer Beziehung leider so gut wie nie. Nun gibt es Leute, die gerade dies als besonders erstrebenswerten Zustand empfinden. Man wird sich nicht so schnell langweilig, es ist immer wieder aufregend und spannend …, auch und gerade der Sex. Die Gefahr, sich wegen Nichtigkeiten zu streiten, ist äußerst gering, da man keine kostbare Zeit mit dem anderen verschwenden will. Doch gerade die Abwesenheit des Alltags lässt auch oft einen Verlust der Nähe entstehen. Mir fehlt häufig das Gefühl, dass Christian wirklich für mich da ist. So oft würde ich mich, wenn wir nach einem harten Tag miteinander telefonieren und ich seine Stimme höre, am liebsten in mein Auto setzen und zu ihm fahren. Meistens ist das gerade dann der Fall, wenn ich weiß, dass dieser Gedanke völlig absurd ist, zum Beispiel, weil Christian wieder einmal in Kanada ist oder mit einem wichtigen Klienten bei einem Geschäftsessen in Stuttgart sitzt.

»Was soll die Sorgenfalte auf deiner hübschen Stirn?«, fragt er jetzt und zieht mich zärtlich in seine Arme.

Seine Hand wandert unter mein T-Shirt und ich bekomme eine Gänsehaut. Doch ein Blick auf die Küchenuhr verrät mir, dass ich leider die Dinge, die mir gerade im Kopf herumgehen, nicht in die Tat umsetzen kann, sondern stattdessen schleunigst unter die Dusche muss, um wenigstens einigermaßen pünktlich das Café aufzumachen.

Seufzend löse ich mich aus seiner Umarmung und Christian sieht mich bedauernd an.

»Süße Maja, ich würde dich heute so gern entführen«, sagt er und zwirbelt eine meiner Haarsträhnen in seinen Fingern, »… und mit dir zu einem dieser schneebedeckten Gipfel fahren und den Hang hinuntersausen.«

Puuuh, welch ein Glück, dass mir das erspart bleibt. Die Arbeit hat also ausnahmsweise mal ihr Gutes. Meine Skikünste bestehen nämlich eher aus Skifallen als aus Skifahren. Seitdem ich als Kind einen Skikurs in eisiger Kälte und mit viel zu langen Skiern absolvieren musste, bei dem ich ständig im Schnee lag und nicht wusste, wie ich aufstehen sollte, ohne gleich wieder hinzufallen, ist mir der Spaß daran gründlich vergangen. Der Höhepunkt war ein Sturz auf den Hinterkopf (natürlich fuhr man damals noch ohne Helm), der meine Karriere als Skihase abrupt beendete.

Mit diesen Gedanken verziehe ich mich rasch unter die Dusche und bin schon ein paar Minuten später im Café. Aufgrund der Eile bin ich nur schnell in einen Rolli und eine schwarze Jeans geschlüpft und habe die Haare zu einem lässigen Dutt gesteckt. Eine Tatsache, die ich schon Minuten später bitter bereue, denn gerade, als ich die großen Fenster zum See öffne und die herrliche Winterluft in die gute Stube lasse, steht das absolut hübscheste Wesen vor mir, das ich je gesehen habe. Ihr langes dunkles Haar fällt ihr seidig weich über die Schultern und ihre großen braunen Augen blicken mich erwartungsvoll an. Sie sieht aus, als würde sie Werbung für eine teure Creme machen, denn ihre junge Haut ist makellos glatt. Ihr schön geschwungener Mund verzieht sich zu einem Lächeln, vermutlich, weil ich sie so überrascht anstarre, und ihre melodiöse Stimme erklingt: »Guten Morgen. Haben Sie etwa noch geschlossen?«

»Aber nein, kommen Sie doch herein. Sie sehen ganz erfroren aus«, beeile ich mich zu sagen. Da hat sie auch schon ihren cremefarbenen schmalen Mantel abgelegt und offenbart ihre schlanke Figur, die in einem roten Strickkleid steckt.

Sie bestellt einen Cappuccino und verdrückt sich mit der Tageszeitung ausgerechnet in die hinterste Ecke des Cafés. Seltsam, hätte ich doch erwartet, dass sie einen der Tische direkt vor dem Fenster auswählt, um den See zu sehen, so wie jeder das macht, der hereinkommt.

Während ich den Cappuccino zubereite und ein kleines Schokoherz dazu auf ihren Teller lege, fällt mir ein, dass ich sie schon einmal irgendwo gesehen habe. Doch es will mir partout nicht einfallen, wo. Vielleicht im Fernsehen, in einem Werbespot? Ja, so muss es sein.

Ziemlich schnell füllt sich das Café, denn bei dem schönen Wetter sind wieder zahlreiche Spaziergänger unterwegs. Ich bin froh, dass Nini um die Ecke kommt und mir wortlos etwas zur Hand geht. Doch mir entgeht keineswegs der Blick, den sie Christian zuwirft, der gerade mit seinen Skisachen hereinkommt, um mir einen Abschiedskuss zu geben.

»Wie schade, dass du nicht mitkommen kannst, Liebling«, sagt er zärtlich. Ich sehe in Ninis Augen, dass sie es nicht gut findet, dass er sich einen schönen Tag macht, während wir arbeiten. Aber ich kann ihm doch keinen Vorwurf machen, es ist ja nicht seine Schuld, dass ich zu tun habe. Schließlich habe ich mir dieses Leben ausgesucht, das ›Café Butterblume‹ war mein großer Traum. Ich gönne es Christian von Herzen, wenn er sich heute einmal entspannen kann. Er hat genug Stress in seinem Job als Anwalt und muss sich mit vielen langweiligen Akten herumschlagen, während wir es oft sehr lustig haben. Ob Nini eifersüchtig ist, weil sie mich sonst immer für sich allein hatte?

*

»Bis heute Abend, arbeite nicht so viel, meine Süße.«

Mit einem strahlenden Lächeln ist Christian bereits auf dem Weg zur Tür. Natürlich bemerkt auch er beim Hinausgehen die dunkle Schönheit in der Ecke und sein Blick bleibt für meinen Geschmack eine Idee zu lange an ihr haften.

Da schenkt sie uns ein süßes Lächeln und winkt mich zum Zahlen heran.

Während sie in ihrer Tasche nach ihrem Geldbeutel kramt, habe ich Gelegenheit, sie mir einmal aus der Nähe anzusehen. Und plötzlich weiß ich, wo ich sie schon einmal gesehen habe.

Der Bluterguss über ihrem rechten Auge … und die Haarspange in Form eines Saxophons … Das ist doch die Frau vom Zebrastreifen gestern, mit dem brutalen Kerl an ihrer Seite. Heute, ohne ihn, sieht sie bei Weitem nicht mehr so ängstlich und verstört, sondern beinahe gelassen aus. Vielleicht haben sich die beiden wieder vertragen und es ist alles in bester Ordnung. Hoffe ich zumindest.

Auf dem See liegt immer noch ein winziger Nebelschleier, durch den ein paar Schwäne majestätisch hindurchgleiten und der die Landschaft wie verzaubert wirken lässt.

Durch das herrliche Wetter kommen immer mehr Gäste. Nini und ich haben auch heute erneut alle Hände voll zu tun. Endlich kommt wieder ein wenig Geld in die Kasse, das können wir gut gebrauchen. Schließlich müssen wir schon bald ein schönes Kleid für Nini kaufen gehen, denn ihr Abi-Ball steht vor der Tür.

Am Abend bin ich völlig geschafft, als Christian blendender Laune und strahlend vom Skifahren zurückkehrt. Er sieht toll aus und die frische Luft scheint ihm ausgesprochen gutgetan zu haben. Ich dagegen, noch mit Dutt und dem gleichen Outfit wie heute Morgen, bin gerade dabei, die restlichen Gläser zu spülen. Schnell trage ich noch den teuren Lippenstift auf, den Nini mir aus London mitgebracht hat, damit ich nicht ganz so farblos wirke.

Diese Aktion erweist sich jedoch als sinnlos, denn Christian küsst mich stürmisch und fragt: »Bekomme ich auch noch einen heißen Kaffee, meine Süße?«

Da frische Luft bekanntlich hungrig macht, bereite ich uns dazu ein kleines Abendessen, bestehend aus einem leckeren Salat mit dem Schafskäse und den Oliven, die ich gestern auf dem Markt erworben habe, und dazu Tomaten-Basilikum-Bruschetta. Für Christian brate ich noch ein Putenschnitzel dazu, denn Männer sind im Allgemeinen nicht so begeistert von der gesunden Kost. Nini möchte nicht mit uns essen, da sie sich mit Freunden im Galgenhölzle, der urigen Kneipe in der Altstadt, treffen möchte. Obwohl sie das recht häufig tut, habe ich trotzdem das Gefühl, sie ist ein wenig verstimmt.

Als wir später gemütlich auf meinem lila Sofa kuscheln, bin ich glücklich, dass Christian bei mir ist.

»Du tust mir so gut, Maja«, sagt er liebevoll und streicht über mein Haar. »Wenn ich bei dir bin, fühle ich mich immer so entspannt.«

Doch ich bemerke, dass er keineswegs entspannt ist, sondern hin und wieder unauffällig auf die Uhr sieht. Und auf sein Handy, das neben ihm auf dem kleinen Wohnzimmertisch liegt.

Als ob er auf einen Anruf wartet. Bereits beim ersten Klingeln nimmt er auch sofort ab und verlässt den Raum. Aha, ich soll also das Gespräch nicht mitbekommen. Misstrauisch äuge ich zur Tür. Als er nach einer endlosen Weile wieder den Raum betritt, lächelt er mich lieb an.

Um mir sofort darauf das Messer in die Brust zu stechen. Denn da sind sie, die Worte, die ich so sehr hasse:

»Liebling, ich würde so gern noch länger bleiben, aber ich muss fahren.«

»Waaaaaas? Wohin denn fahren? Und warum? Du bist doch gerade erst gekommen«, entrüste ich mich.

»Ich fahre leider heute Abend noch nach Stuttgart zurück. Mein Flieger nach Kanada geht morgen schon ganz früh und ich muss unbedingt noch ein paar Unterlagen zusammenstellen«, erklärt Christian leise, während er mit einer meiner Haarsträhnen spielt. »Sei nicht böse, Liebling. Ich komme bald wieder. Am nächsten Wochenende, versprochen.«

»Aber warum bist du denn gezwungen, so plötzlich nach Kanada zu fliegen?«

Und warum hast du mir die ganze Zeit nichts davon gesagt, füge ich im Stillen hinzu, bereits ziemlich wütend.

»Es gibt Probleme mit einem Klienten. Da sollte ich schon vor Ort sein.«

»Ach, und warum kann Daniela das nicht übernehmen?« Tüchtig, wie sie ist? Das denke ich allerdings nur. Daniela ist Christians Exfrau, mit der er zusammen vor ein paar Jahren die überaus erfolgreiche Kanzlei seines Onkels in Kanada übernommen hat, die sich auf Einwanderungsrecht spezialisiert hat. Laut Christians Erzählungen ist Daniela eine richtig toughe Karrierefrau, die unglaublich viel Ahnung hat und für die ihre Arbeit ihr Leben ist. Angeblich ging darüber auch die Ehe in die Brüche, weil sie nie Zeit füreinander hatten.

»Es gibt ein paar Fragen zum Thema Steuer- und Sozialversicherungsrecht. Damit ist Dani noch nicht so vertraut und sie hat mich um meine Hilfe gebeten. Da es sich um einen äußerst wichtigen Klienten handelt, muss ich da sein, Maja. Versteh das doch bitte. Schau mal, ich wäre schließlich normalerweise gar nicht hier gewesen. Freu dich doch, dass wir uns überhaupt gesehen haben, statt beleidigt zu sein.«

Offenbar ist Christian nun auch verärgert, denn er steht abrupt auf. Wegen dieser heftigen Reaktion muss ich auf einmal ganz doll schlucken, damit mir nicht die Tränen kommen. So was Dummes aber auch. Auf keinen Fall soll er mich weinen sehen. Also stehe auch ich auf, gehe zur Tür und sage so gelassen wie möglich:

»Na gut, dann wünsche ich dir eine gute Reise und bis zum nächsten Mal.«

An der Treppe holt Christian mich ein und zieht mich zärtlich in die Arme. »Maja, jetzt warte doch mal.« Die Tränen, die plötzlich doch kommen, küsst er behutsam weg und schiebt die Hand unter meinen Rolli. Seine Küsse werden leidenschaftlicher und noch während er mich zurück aufs Sofa schiebt, ziehen wir uns aus.

Obwohl ich eben noch derart wütend auf ihn war, werde ich von seiner Leidenschaft mitgerissen und habe Sekunden später vergessen, dass er mich gleich verlassen wird. Stattdessen gebe ich mich ganz meinem Gefühl und seiner Zärtlichkeit hin. Danach liege ich glücklich in seinen Armen und lasse mich tragen von meiner Liebe zu ihm. Während Christian sich anzieht, betrachte ich mein erhitztes Gesicht im Spiegel und mir wird klar, warum man sagt, dass Sex schön macht. Trotz wirrer Haare, verschmierter Wimperntusche und roten Wangen sehe ich auf eine gewisse Weise richtig hübsch aus. Es ist wahrscheinlich das Glück, sich geliebt und begehrenswert zu fühlen, welches meine Augen strahlen und mich allen Kummer vergessen lässt.

Als Christian seinen dunklen Mantel anzieht, nimmt er mich noch einmal in die Arme und ich atme ein letztes Mal den Duft seiner Haut ganz nah an seinem Hals. Ich möchte mich mitnehmen lassen, in diesen Mantel, in diese Wärme, in diesen Duft. Doch er küsst mich nur und ist auch schon aus der Tür. Ich winke ihm traurig nach, als sein Volvo die Einfahrt verlässt, und ziehe die Tür hinter mir zu. Als Nini nach Hause kommt, sitze ich bereits beim zweiten Glas Rotwein und starre trübsinnig vor mich hin.

»Was is’n los?«, fragt sie fröhlich. Offenbar hatte sie einen lustigen Abend im ›Galgen‹. »Lass mich mal raten: Christian ist wieder weg, ja? Wegen dringender Termine.« Obwohl ich eben noch wütend auf ihn war und Nini mit ihren Worten genau ins Schwarze getroffen hat, fühle ich mich verpflichtet, ihn zu verteidigen.

»Nini, du weißt doch, dass er einen anstrengenden Beruf hat. Er musste nach Kanada zu einem wichtigen Klienten.«

»Alles klar«, nickt Nini mir und sich selbst zu. »Und da muss er, wenn er schon so wenig Zeit hat, heute auch noch Ski fahren gehen ohne dich?«

»Ich hätte doch sowieso arbeiten müssen. Du weißt doch, was heute im Café los war«, nehme ich Christian immer noch in Schutz.

»Zur Abwechslung hätte er dir ein bisschen helfen können, wenn schon so viel Betrieb war.

Beispielsweise beim Aufräumen und Abspülen. Er hätte auch Getränke aus dem Keller holen können und so weiter. So wie Ben und ich das machen, wenn viel zu tun ist. Dann wäre er doch auch bei dir gewesen. Oder etwa nicht?«

Natürlich hat Nini recht. Wie konnte ich nur glauben, sie sei eifersüchtig auf Christian? Wenn es jemand gut mit mir meint, dann meine kluge Tochter.

»Ach, Nini«, seufze ich und nehme sie in die Arme, vor allem, damit sie die Tränen nicht sieht, die ich krampfhaft zurückhalte.

»Sorry, Mami, ich wollte dich nicht aufregen. Ich habe nur das Gefühl, dein Christian kommt und geht, wie es ihm gerade passt, ohne Rücksicht auf deine Gefühle. Und dass dich das belastet. Ich möchte doch nur, dass du glücklich bist. Wenn du das mit Christian bist, ist ja alles gut. Dann musst du nur lernen, damit umzugehen, dass er außer dir noch ein anderes Leben hat, und dich in dieser Zeit um dein eigenes kümmern. – Pass auf, wir machen es uns jetzt richtig schön, ja? Ganz bestimmt kommt er schon bald wieder«, baut sie mich auf.

Mit diesen Worten verschwindet sie in die Küche, um für uns beide eine heiße Schokolade zu bereiten. Dann sehen wir uns gemeinsam, einige tröstende Schokokekse verdrückend, den ›Tatort‹ im Fernsehen an.

*

Der nächste Tag beginnt düster und grau. Dicke Nebelschwaden hängen über dem See.

Über welchem See? Genau genommen, kann man ihn nämlich gar nicht mehr erkennen. Es sieht so aus, als hätte die graue Suppe alles verschluckt. Genauso dunkel und düster wie die Stimmung draußen ist auch meine Stimmung. Mein Kopf schmerzt und ich bin nicht sicher, ob das an dem nasskalten Wetter oder am gestrigen Rotwein liegt. Trübsinnig sitze ich, noch im Bademantel, vor meinem Morgenkaffee, höre Norah Jones und sehe aus dem Fenster. Warum nur reagiere ich bei Christian so emotional, grübele ich vor mich hin.

Als ich noch mit Leon zusammen war, gab es doch auch kein Problem, wenn wir uns einmal ein paar Tage nicht sehen konnten. Zudem sollte ich froh darüber sein, dass ich genügend Zeit für meine Tochter, mein Café und nicht zuletzt für mich selbst habe. Ich wünschte, ich könnte die Stunden, die uns bleiben, unbeschwert genießen und in der Zeit dazwischen nicht die Tage zählen, bis er wiederkommt. Aber dadurch, dass mich Christian oft genauso überraschend wieder verlässt, wie er gekommen ist, entsteht bei mir das Gefühl, ich sei für ihn nur eine kleine Abwechslung in seinem Alltag. Aber vielleicht täusche ich mich und erwarte ganz einfach zu viel.

Wie so oft, vermisse ich meine alte Freundin Frieda an diesem Morgen ganz besonders. Ich wünschte, ich könnte zu ihr hinübergehen und sie um Rat fragen oder mich wenigstens ein wenig bei ihr ausheulen. Obwohl wir uns erst im letzten Jahr kennengelernt hatten, wurde Frieda für mich sehr schnell zu einer echten Freundin. Nein, sie war viel mehr als das. Zwischen uns gab es eine Verbindung, die man nur zu wenigen Menschen im Leben hat, und ich bin dankbar, dass ich das Glück hatte, sie zu treffen.

Wie oft saßen wir in ihrem schönen Garten oder in ihrem gemütlichen Wohnzimmer und sie half mir, manchmal wahrscheinlich sogar unbewusst, durch Erzählungen aus ihrer Vergangenheit, meine Entscheidungen zu treffen. Als sie im letzten Herbst starb, hatte ich das Gefühl, einen der wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren zu haben. Da Frieda keinerlei Angehörige mehr besaß, vermachte sie mir nicht nur ihre kleine Hündin Jojo, die mich gerade mit ihren großen Hundeaugen ansieht, sondern auch ihr wunderschönes altes Haus, das, nur ein paar Häuser entfernt von der ›Butterblume‹, am Seeufer steht.

»Was meinst du, Jojo, sollen wir drüben mal nach dem Rechten sehen?«

Wer sagt, dass Hunde die menschliche Sprache nicht verstehen, hat keine Ahnung von ihnen, denn schon ist Jojo an der Tür.

Ich werfe mir schnell einen warmen Pulli über, ziehe eine Jeans und meine Jacke an und laufe mit Jojo im Nebel zu Friedas Haus hinüber, das ich erst wahrnehme, als ich unmittelbar davor stehe.

Es ist so dunkel und kalt heute Morgen und ich fröstele, als ich das stille Haus betrete.

Sofort sind die Erinnerungen wieder da …, an die warmen Sommertage und den Geruch von Friedas berühmtem Teekuchen, der im Ofen backt, während sie mit ihrem geblümten Sommerkleid auf der Terrasse ihre hauchfeinen Teetassen eindeckt.

Jetzt ist alles einsam und leer und nur das Geräusch der tickenden Standuhr ist zu hören. Vorsichtig streiche ich über Friedas Möbel und betrachte die vielen Dinge, die sie so liebevoll darauf dekoriert hatte und die nun mit einer dicken Staubschicht überzogen sind. Da ist das Foto von Friedas Mann Hermann in einem Fischerboot mit einer Angel, welches neben einer kleinen Ballerina aus Porzellan steht. Daneben befindet sich ein Bild von Frieda in jungen Jahren. Mit ihren hellen blauen Augen und dem flachsfarbenen Haar hübsch anzusehen, steht sie auf dem Deich in ihrer Heimat Ostfriesland. Und dann natürlich das Hochzeitsfoto der beiden – wie glücklich sie darauf aussehen. Fast alles ist so, als hätte sie gestern erst das Haus verlassen, denn ich habe bis auf wenige Möbel, die nun in der ›Butterblume‹ ihre Heimat gefunden haben, alles so gelassen, wie es war. Ich bringe es nicht über’s Herz, etwas zu verändern, und kann mir nicht vorstellen, dass jemand anderes hier wohnen soll. Deshalb habe ich über eine Vermietung oder gar einen Verkauf des alten Hauses noch nicht einmal nachgedacht. Es müsste vermutlich so einiges renoviert werden und dazu fehlt mir beim besten Willen das Geld. Ich beschließe, wenigstens den Staubwedel einzusetzen, und lasse durch die hohen Fenster erst einmal frische Luft herein. Auch oben im Schlafzimmer ist alles noch so, wie es war. Jojo schnuffelt ein wenig unentschlossen herum, dann legt sie sich auf Friedas gemütliches altes Nussbaumbett.

Auf der Frisierkommode finden sich Friedas Tosca-Parfum, nach dem sie immer duftete, ihre silberne Haarbürste und ein hellblauer Seidenschal, den sie so oft trug, weil er ausnehmend gut zu ihren blauen Augen passte. Es zerreißt mir fast das Herz, als ich darunter ein Foto von ihr und Jojo entdecke.

»Du vermisst sie auch, meine Kleine, stimmt’s?«

Zärtlich streichele ich über Jojos weiches Fell. Mein Blick fällt auf die kleine Nachtkommode neben Friedas Bett, auf dem auch ein Foto ihres Mannes steht.

Als ich sie öffne, entdecke ich Friedas spitzengesäumte und gebügelte Taschentücher. Nie im Leben hätte Frieda ein Papiertaschentuch benutzt.

»In kleinen Dingen zeigt sich, ob man eine Dame ist«, pflegte sie zu sagen.

Verborgen unter den schönen Taschentüchern entdecke ich aber noch etwas anderes.

Einen Stapel Briefe, zusammengebunden mit einer blasslilafarbenen Satinschleife.