Heidezauber - Christine Rath - E-Book

Heidezauber E-Book

Christine Rath

4,4

Beschreibung

Tiefviolett leuchtet die Heide vor dem Reetdachhaus in Kampen. Hier hat Lisa die glücklichsten Urlaubstage erlebt. Als ihr geliebter Vater stirbt, soll sie dessen letzten Wunsch erfüllen und ein geheimnisvolles Päckchen an eine gewisse Alma überbringen. So reist Lisa noch einmal auf die Insel, auch um wieder neue Kraft zu schöpfen. Am Strand lernt sie Sven kennen, der sie magisch anzieht und zugleich verunsichert. Als Lisa kurz darauf den alten Johann, ein Sylter Original, verletzt und bewusstlos auffindet, wird sie misstrauisch. Sie forscht nach und kommt schließlich hinter ein düsteres Geheimnis.

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Christine Rath

Heidezauber

Ein Romantikkrimi auf Sylt

Impressum

Ausgewählt durch Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Martina Berg – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4882-9

Widmung

Für meine Mutter Rosemarie –

in Liebe und für immer in meinem Herzen

Über die Heide

Über die Heide hallet mein Schritt;

Dumpf aus der Erde wandert es mit.

Herbst ist gekommen, Frühling ist weit –

Gab es denn einmal selige Zeit?

Brauende Nebel geisten umher;

Schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer.

Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai.

Leben und Liebe – wie flog es vorbei.

Theodor Storm

Prolog

Es war nur eine winzige Kleinigkeit gewesen.

Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, so leicht und sanft. Und doch bedeutend.

Schon lange hatte sie gespürt, dass etwas nicht stimmte. Doch sie konnte nicht sagen, was genau es war. Es war nur ein Gefühl, dazu ein ganz und gar unbestimmtes. Eines, das sie nicht benennen konnte, aber eines, das ihr Angst machte.

Man merkt ja nicht gleich, wenn Liebe in Hass umschlägt. Es sind manchmal nur winzige Nuancen, die die guten Gefühle von den bösen trennen. Das hatte sie einmal in einer Psychologie-Zeitung gelesen.

Und dann, in diesem winzigen Augenblick, hatte sie es auf einmal nicht mehr nur gespürt, sondern gewusst. Wie ein Rätsel, das endlich gelöst wurde.

Kalt blies der Abendwind in ihr Gesicht. Sie hätte doch die warme Jacke anziehen sollen, bevor sie sich auf ihr Rad setzte. Jetzt wünschte sie, sie hätte sich nicht von der Eile treiben lassen.

Doch sie wollte so schnell wie möglich zu ihm, ihm alles erklären.

Nun fing es auch noch an zu regnen. Nie war ihr der Weg von ihrem Haus in Kampen nach Wenningstedt so lange vorgekommen wie heute. Normalerweise benötigte sie nur ein paar Minuten, denn sie war schließlich jeden Tag mit dem Rad unterwegs und entsprechend trainiert. Doch heute Abend war alles anders. Obwohl sie so schnell wie möglich bei ihm sein wollte, schienen ihre Beine zu schwach, um gegen den Wind, der immer stärker wurde, anzukommen.

Sie hatte Mühe, den Lenker festzuhalten und in der Dunkelheit und dem Regen die Straße zu erkennen. Sie beschloss, diesmal nicht den Radweg, sondern die Straße Richtung Braderup zu nehmen und dann hinter dem Leuchtturm am Golfplatz entlang den Weg nach Wenningstedt einzuschlagen. Vielleicht würde es dort etwas geschützter sein als auf dem Radweg, auf dem sie Wind und Wetter so schutzlos ausgeliefert war.

Natürlich hätte sie auch umdrehen und zu Hause in Ruhe auf ihren Mann warten können. Was bei diesem Wetter sicher das Beste gewesen wäre.

Doch was sie Johann zu sagen hatte, war so wichtig, dass es keinen Aufschub duldete.

Viel zu lange schon hatte sie ihm nichts von ihren Gefühlen gesagt und sie hoffte inständig, dass es noch nicht zu spät dafür war.

Wenn sie Glück hatte, kam sie gerade rechtzeitig, um zum Ende der Probe am Kursaal zu sein. Hier probte der Shanty-Chor Sylt jeden Dienstag und anschließend gingen die Männer immer noch gerne auf ein Bierchen in die Kneipe an der Ecke. Ihr Johann war nicht der Mann, der gerne in Kneipen saß, doch das Singen in diesem Männerchor bereitete ihm große Freude.

Er würde erstaunt sein, sie zu sehen, ganz sicher … Doch er würde mit ihr gehen und ihr zuhören. Er war so traurig gewesen heute Abend, bevor er zur Probe aufbrach. Sein Gesicht war so ernst und sie hätte alles dafür getan, damit er sie wieder so ansah wie früher …, mit diesem Lächeln, das sie so an ihm liebte. Doch sie hatte nicht gewusst, wie sie das anstellen sollte, und stattdessen stumm den Abwasch gemacht, weil Emmi heute frei hatte.

Als er fort war, war sie in den Garten hinausgetreten. Noch war die Luft rein und klar, nur der Wind blies bereits kräftig und ließ sie frösteln. Sie hatte sich abrupt umgedreht, um ins Haus zu gehen.

Und da hatte sie es gesehen. Vielmehr ihn gesehen, diesen Blick, der ihr nichts als eiskalten Hass entgegenschleuderte. Auf einmal hatte sie alles gewusst. Sie stand da, wie zur Salzsäule erstarrt, unfähig, einen Schritt weiterzugehen.

Plötzlich ergab alles einen Sinn.

Doch nur, wenn Johann davon erfuhr, konnte alles wie früher werden. Nichts wünschte sie sich mehr. Und nur deshalb war sie jetzt auf dem Weg zu ihm, auch wenn die dunkle Nacht und das schreckliche Wetter sie kaum die Hand vor Augen sehen ließen.

Immer fester umklammerte sie den Lenker ihres Rades und strampelte gegen den Wind an.

Doch was war das? Etwas Dunkles lag auf der Straße, eine überfahrene Katze vielleicht. Sie musste ihr ausweichen und zog den Lenker ruckartig nach links. Verflucht, wo kamen auf einmal die Scheinwerfer her? Sie konnte in diesem Regen fast nichts sehen, aber da kam ein Auto direkt auf sie zu. Sie zog den Lenker zurück nach rechts, das Rad geriet gefährlich ins Schleudern und sie versuchte verzweifelt, Halt zu finden.

Doch ihre Finger, die noch eben den Lenker umklammerten, griffen ins Leere … und sie fiel …

Der Aufprall war hart und sie hörte ein dumpfes Geräusch.

Dann wurde auf einmal alles um sie herum dunkel, tiefschwarze Nacht.

1. Kapitel: Das Gewitter

Das Glitzern auf dem See ist hell, schon fast unerträglich. Schützend halte ich die Hand über die Augen und betrachte die vielen Segelboote auf dem blauen See. Seltsam, noch nie habe ich mich so sehr nach dem Nebel gesehnt wie heute.

Der berüchtigte und von vielen gehasste Bodenseenebel … Wie lieb wäre es mir doch heute, die grauen Wolken würden mir den Blick trüben und die ganze Welt um mich herum einfach verschlucken.

Im dunklen Herbst- und Wintergrau ist es völlig normal, dass die Menschen sich zurückziehen und miesepetrig sind. Doch im Sommer, da hat alles leicht und schön zu sein … wie die watteweißen Wolken, die dem tiefblauen Himmel kleine Tupfer verleihen und so gut zu den weißen Segeln der Boote passen.

Die Menschen sind lustig und tragen ihre Heiterkeit in allerlei farbenfrohen Outfits spazieren. Ob das immer gut aussieht, bleibt dahingestellt und dem Geschmack des Einzelnen überlassen. Mut gehört zu dem ein oder anderen Outfit auf jeden Fall dazu, wenn ich es recht betrachte. Gerade heute scheinen besonders viele Paradiesvögel unterwegs zu sein, aber vielleicht kommt mir das auch nur so vor, weil mir graue Gedanken die Stirn vernebeln.

Das schöne Sommerwetter scheint heute jedoch offensichtlich bei allen anderen für gute Laune zu sorgen. Mir kommt es fast so vor, als seien noch mehr Menschen in Konstanz unterwegs als sonst, dabei ist unsere schöne Stadt am Bodensee doch eigentlich immer sehr belebt.

Es ist eine bunte Mischung aus Urlaubern, Einheimischen, Jungen und Alten, die händchenhaltend und mit bunten Picknickkörben und Badetaschen bewaffnet entweder zu Fuß oder auf dem Rad am Seeufer unterwegs sind.

Und alle scheinen bedeutend besserer Stimmung zu sein als ich.

Wenn es nur nicht so fürchterlich heiß heute wäre.

Seufzend schiebe ich den Ärmel meines Leinenblazers nach oben und wische mir den Schweiß ab. Warum habe ich mich eigentlich so chic gemacht? Im Leinenkostüm zum Friseur zu gehen, das ist doch so ziemlich das Blödeste, was man tun kann. Immerhin wird einem doch kurz nach dem Platznehmen sofort ein Cape übergehängt. Aber das »4 Haareszeiten« ist schließlich nicht irgendein Salon, sondern der Laden, der jetzt absolut angesagt ist und in den angeblich alle gehen. Dementsprechend sehe ich auch aus. Statt meiner widerspenstigen aschblonden Locken trage ich das Haar nun glatt gebügelt wie alle in meinem Bekanntenkreis. Eigentlich sieht es nicht schlecht aus, irgendwie edel … andererseits auch ein wenig streng, wie mir scheint. Es macht mich älter, finde ich. Ob das an den neuen Strähnen liegt? Perlmuttblond sei der neueste Trend, wollte man mir im Salon weismachen. Nicht dieses »unsägliche Goldblond«, das alternde Hollywoodstars trügen, um jünger zu wirken. Nein … Perlmuttblond, ganz dezent und natürlich. Ich weiß nicht recht. Die Farbe erinnert mich an grau. Hellgrau zwar, aber grau.

»Das ist doch nicht Grau, sondern Perlmutt«, versuchte die junge Friseurin in ihrer ultracoolen Jeans meine Bedenken zu zerstreuen. Das wirke wie Silber in der Sonne. Silber? Silbergrau vermutlich. Und dafür habe ich nun 180 Euro hingelegt. Allerdings wird die geglättete Pracht wohl ohnehin nicht lange so aussehen. Eine verschwitzte Strähne an der Stirn beginnt sich bereits zu kräuseln. Wütend schiebe ich sie nach hinten, während ich den Weg zu dem modernen Bürokomplex einschlage, in dem sich das Büro meines Mannes befindet.

Gerade, als ich auf die Rheinbrücke trete, auf der auch heute wieder viele bunte Fahnen im leichten Wind wehen, fällt der erste Tropfen. Groß und schwer landet er mitten auf meiner Nase. Vor lauter Grübeln habe ich gar nicht gemerkt, dass sich ein Gewitter zusammengebraut hat. Kein Wunder, so schwül, wie es heute den ganzen Morgen war.

Ich wühle in meiner Handtasche nach irgendetwas, das ich mir über den Kopf stülpen kann. Dort befindet sich neben allerhand Krimskrams jedoch nur eine alte Plastiktüte, die allerdings winzig klein ist, weil sie lediglich ein Buch beherbergt hat. Ich frage mich, wieso ich sie überhaupt aufbewahrt habe und noch dazu in meiner Handtasche. Doch im Moment ist sie besser als nichts und so halte ich sie mir mehr schlecht als recht über die neue Frisur und presche weiter.

Ich bin gespannt, was Andreas sagen wird, wenn ich ihn einfach so überrasche. Mir wird bewusst, dass ich das schon lange nicht mehr getan habe. Aber nachdem ich schon seit Wochen versuche, mit ihm über seinen bevorstehenden »runden« Geburtstag zu reden, und er mich jeden Abend auf »Morgen.« vertröstet, habe ich mich heute entschlossen, ihn in der Mittagspause im Büro aufzusuchen und die Feier ein klein wenig mit ihm durchzusprechen. In Gedanken checke ich noch einmal alle Punkte, die es noch zu klären gilt. Hat Andreas die geschiedene Frau seines Freundes Olaf nun auch eingeladen und darf diese ihren Freund mitbringen? Wer wird meinen Vater zu Hause abholen? Hat er sich um das Klavier gekümmert, auf dem mein Vater spielen soll? Es sind so viele Dinge, die bedacht werden müssen. Ich bin schon seit Wochen mit der Planung des Geburtstages beschäftigt, während Andreas sich aus dieser komplett herausgehalten hat. Es kommt mir fast so vor, als würde er den Gedanken, 50 zu werden, einfach verdrängen.

Und genau das ist es, was mich so betrübt: Dass ich gar nicht mehr weiß, was Andreas empfindet.

Ich habe das Gefühl, dass wir überhaupt nicht mehr miteinander reden. Seit geraumer Zeit kommt es mir so vor, als lebten wir nur noch nebeneinander her. Mir ist bewusst, dass so etwas in langen Ehen sehr häufig vorkommt, doch ich bin nicht bereit, mich damit abzufinden.

Mein Plan sieht vor, meinen Mann zu einem kleinen Mittagessen in der Konstanzer Innenstadt zu überreden, falls es sein enger Zeitplan überhaupt zulässt. Andreas ist ein überaus erfolgreicher und viel beschäftigter Architekt, der vor lauter Projekten leider sehr oft vergisst, dass er auch noch eine Familie hat.

Jedenfalls das, was man überhaupt noch Familie nennen kann. Viel ist davon nämlich nicht mehr übrig. Da bin eigentlich nur noch ich, Lisa Wendler, eine momentan etwas unzufriedene und gelangweilte Hausfrau und ehemalige Buchhändlerin. Unsere Tochter Ann-Sophie ist 24 Jahre alt und studiert Architektur, um schon bald ihren Vater in seiner Firma unterstützen zu können. Sie lebt seit 2 Jahren mit ihrem Freund Jan zusammen und besucht uns nur noch selten, sehr zum Unmut ihres Vaters. Ann-Sophie ist Andreas’ ganzer Stolz, vermutlich, weil sie ihm so ähnlich ist: gut aussehend, zielstrebig und karriereorientiert. Ganz anders als ihre Mutter, die immer ein wenig den Kopf in den Wolken und die Nase in einem Buch hat. Und auch so ganz anders als unser »kleiner« Sohn Tim, der am liebsten Gitarre spielt und das Abitur gerade nur mit Ach und Krach bestanden hat.

Obwohl ich es normalerweise liebe, in Konstanz zu bummeln und das lebhafte Treiben auf mich wirken zu lassen, bin ich heute seltsam traurig. Was ist nur los mit mir?

Ich betrachte die vielen Menschen um mich herum und bemerke: Alle haben ein Ziel.

Nur ich nicht. Die Berufstätigen eilen zu ihrer Arbeitsstätte, die jungen Mütter mit ihren Kindern auf den Spielplatz, die Liebenden zu ihrer Verabredung.

Ich habe auch etwas vor, rede ich mit mir selbst. Ich treffe mich mit meinem Mann, auch wenn er noch nichts davon weiß und man deshalb wohl kaum von einer richtigen Verabredung sprechen kann.

Andreas ist in letzter Zeit fast nur noch im Büro und wenn er nach Hause kommt, ist er müde und will seine Ruhe haben. Natürlich ist mir bewusst, dass das nicht ungewöhnlich ist und in allen langjährigen Partnerschaften nach so langer Zeit eine gewisse Routine vorherrscht. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass man ein wenig tun kann, um wieder frischen Wind in die alte Liebe zu bringen. Ja, und deshalb habe ich auch gleich einen Besuch beim Friseur eingeplant und mir fest vorgenommen, in Zukunft wieder mehr mit Andreas zu unternehmen. Jetzt, wo die Kinder groß sind, könnten wir doch eigentlich unsere Zweisamkeit wieder mehr genießen … So wie früher, als wir noch keine Kinder hatten und mit wenig Geld in unserem alten R 4 spontan an die Riviera gefahren sind. Wann haben wir eigentlich das letzte Mal etwas derart Verrücktes unternommen? Wann haben wir in der letzten Zeit überhaupt etwas gemeinsam unternommen? Nicht einmal ein romantisches Abendessen fällt mir ein.

Mist, jetzt bin ich auch noch in eine Pfütze getreten. Meine weißen Stoffsandaletten mit den Keilabsätzen sind total versaut. Doch wer wird schon auf meine Schuhe schauen, wenn er den Anblick einer komplett durchnässten, eben noch glatt gebügelten und »perlmuttblonden« Standardfrisur für 180 Euro geboten bekommt?

Sofort als ich den Eingang des Büros von Wendler & Vogt betrete, fällt mir Sonjas weizenblonde Mähne auf und ihr zugegebenermaßen wirklich hübsches Hinterteil, als sie sich gerade über den Kopierer beugt. Als hätte das Gewitter nicht gereicht, um mir den Tag zu verderben.

»Hallo, Frau Wendler«, flötet sie mit ihrer samtweichen Kleinmädchenstimme, als sie mich entdeckt. »Das ist ja mal eine Überraschung … da wird Ihr Mann sich aber freuen.«

Hoffentlich. Irgendwie ist mir jetzt etwas flau im Magen und ich frage mich gerade, ob die Idee, ihn an seinem Arbeitsplatz zu überraschen, wirklich so gut war.

»Hallo, Sonja«, flöte ich darum, so gut es geht, zurück.

»Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich schaue einmal vorbei.«

Was für eine dreiste Lüge. Ich sehe ihr an, dass sie mich durchschaut hat, denn sie lächelt nur leicht und geht dann mit den Worten: »Dann wollen wir doch gleich einmal Ihren Mann überraschen«, voraus in Richtung Andreas’ Büro.

»Sonja … die Sonne geht auf«, höre ich seine sonore Stimme, noch ehe ich den Raum betreten habe.

Wie bitte??? Die Sonne geht auf??? Solche Worte habe ich jedenfalls schon lange nicht mehr von ihm gehört.

»Ähhhh … Herr Wendler, entschuldigen Sie bitte die Störung …«

Ihr Gesäusel ist wirklich unerträglich.

»Aber Ihre Frau ist da.«

Doch da gehe ich bereits an ihr vorbei und begrüße meinen Ehemann mit dem strahlendsten Lächeln, das ich gerade zur Verfügung habe.

»Lisa. Welche Überraschung«, begrüßt Andreas mich leicht irritiert.

Statt einer Antwort küsse ich ihn liebevoll auf den Mund und sage: »Hallo, mein Schatz«, dieses Wort betone ich besonders auffällig, »ich war gerade in der Stadt und dachte, ich schaue einfach mal herein … Vielleicht hast du ja kurz Zeit und wir können irgendwo eine Kleinigkeit zusammen zu Mittag essen?«

Mein viel beschäftigter Ehemann blickt erst seine Sekretärin und dann seinen chaotischen Schreibtisch an und sagt dann zögernd: »Ja, also … ich habe zwar viel zu tun … aber eine Kleinigkeit essen … das ließe sich … ja, das wäre in der Tat nicht schlecht.«

Er ist irritiert, eigentlich passt es ihm nicht, das sehe ich.

Er fährt sich mit der linken Hand durch sein immer noch dichtes Haar, das bereits einige graue Strähnen aufweist.

Ich betrachte ihn, wie er den Stift, den er in der Hand hält, auf den Schreibtisch legt und seinen Computer ausmacht, und stelle fest, dass er immer noch verdammt gut aussieht. Er ist immer noch derselbe, in den ich mich vor 25 Jahren verliebt habe. Bin auch ich immer noch dieselbe? Mit Falten und perlmuttblond?

Sonja steht noch immer in der Tür und dreht an ihrer Haarsträhne.

»Gut, lass uns gehen. Aber nur eine Stunde, dann muss ich zurück.«

Andreas zwinkert Sonja kurz zu und sie stöckelt zurück an ihren Schreibtisch.

*

»Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?«, fragt An­dreas, ohne von der Speisekarte des »Il Boccone« aufzusehen, in dem wir gerade mit viel Glück den letzten freien Platz gefunden haben. Nach dem heftigen Regenguss haben sich alle Leute, die bisher draußen gesessen haben, ebenso wie wir in das Innere des Lokals geflüchtet. Zum Glück hatte mein im Gegensatz zu mir immer gut organisierter Ehemann einen Schirm dabei, den er mir auf dem Weg hierher reichlich unwillig über den Rest der teuren Frisur gehalten hat.

Ich sehe ihn an und frage mich, ob er überhaupt bemerkt hat, dass die Frisur neu ist.

Hat er mich eigentlich schon angesehen, seitdem ich in seinem Büro aufgetaucht bin?

Nervös spiele ich mit dem Verschluss meiner Armbanduhr, der immer wieder aufgeht und den ich eigentlich schon längst reparieren lassen wollte. Ich werde sie noch verlieren, wenn ich so weitermache. Dabei ist es eine teure Uhr, die Andreas mir einmal zum Geburtstag geschenkt hat.

Mir ist bewusst, dass er auf eine Antwort von mir wartet. Doch ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht einmal mehr, warum ich überhaupt hergekommen bin. Was für eine blöde Idee. Die Geburtstagsplanung … auf einmal kommt sie mir so banal vor. Ich hätte versuchen sollen, das Thema heute Abend noch einmal anzusprechen. Und nun ist er verstimmt, weil ich ihn von der Arbeit weggeholt habe. Dabei weiß ich genau, dass er wie ein Besessener an der Planung für das neue Bodensee-Center sitzt, das schon bald an der Grenze zu Kreuzlingen entstehen soll. Dieser Auftrag ist unglaublich wichtig für Andreas und ich belästige ihn mit den lächerlichen Geburtstagsvorbereitungen. Ich komme mir so albern vor wie eine junge Mutter, die ihren Ehemann im Büro anruft, weil das Baby Blähungen hat. Nervös blättere auch ich in der Speisekarte und tue so, als könne ich mich nicht entscheiden. Dabei habe ich auf einmal gar keinen Hunger mehr. Mir ist immer noch so entsetzlich heiß. Ich ziehe das teure Leinenjackett aus und hänge es achtlos über den Stuhl.

Mir fällt ein, dass das Top, das ich darunter trage, nicht gebügelt ist, aber das ist mir nun auch egal.

Andreas hat Wasser bestellt und eine kleine Karaffe Wein, von dem ich jetzt einen vorsichtigen Schluck trinke. Er ist köstlich, kühl und von einer sanften Süße.

»Du warst also in der Stadt, Lisa?«, fragt Andreas und legt endlich die Speisekarte beiseite.

»Hast du Besorgungen gemacht?«

»So in etwa.«

Den Friseur erwähne ich nicht. Wenn er es nicht bemerkt, dann ist dieser Besuch auch keine Erwähnung wert.

»Was heißt ›So in etwa‹?«, hakt Andreas nach. »Stimmt etwas nicht, Lisa?«

Ich sehe ihm direkt in die Augen. Ich möchte wissen, was in ihm vorgeht. Ob er sich freut, seine Frau zu sehen.

»Es stimmt eine ganze Menge nicht«, möchte ich sagen.

»Es stimmt zum Beispiel nicht, dass du mich nicht mehr richtig ansiehst. Du nicht bemerkst, wenn ich eine neue Frisur trage. Dass es ungewöhnlich ist und ich extra einen Grund brauche, um meinen Ehemann mit einem Besuch zum Mittagessen zu überraschen.«

Doch all diese Dinge sage ich natürlich nicht, sondern schenke ihm stattdessen ein Lächeln.

»Ich wollte mit dir über deinen Geburtstag reden, Andreas«, sage ich also stattdessen leichthin und nehme noch einen Schluck von dem kühlen Wein.

Ich merke, dass mir dieser bereits zu Kopf steigt, denn ich habe seit dem frühen Morgen nichts gegessen, weil ich rechtzeitig in der Stadt sein wollte.

»Meinen Geburtstag? Was gibt es da noch zu besprechen?« Verstimmt stellt Andreas sein Wasserglas beiseite und gießt sich Wein nach. »Den planst du doch bereits seit Wochen … was sage ich? Seit Monaten.«

So, wie er es ausspricht, klingt es, als sei es ihm lästig. Und zwar ebenfalls seit Monaten.

»Richtig. Ich wollte nur noch einmal die letzten Details mit dir abklären.«

Ich versuche, in einem geschäftlichen Ton zu sprechen, fast so, als sei dies ein Meeting und nicht das Mittagessen eines Ehepaares.

Andreas runzelt die Stirn und ich erkenne, dass er nicht einsieht, warum er deshalb seinen Bürostuhl verlassen musste.

»Also?«, fragt er ungeduldig.

Zu meiner Rettung kommt der Kellner und nimmt unsere Bestellung auf.

Ich bestelle Gnocci ai formaggi, weil es mein Lieblingsgericht hier ist, doch ich ärgere mich sogleich, weil ich wieder einmal nicht auf die Kalorien geachtet habe und auf diese Weise nie und nimmer in das hautenge Kleid passen werde, das ich mir extra zu Andreas’ Geburtstag gekauft habe.

Andreas, der ohnehin rank und schlank ist, hat dagegen den Salat mit Garnelen und Limonen-Vinaigrette gewählt.

»Tja, also … die Einladungskarten sind verschickt … und …«

»… und sind bereits seit Wochen beantwortet. Die Gäste kommen am kommenden Samstag um 19 Uhr in das Schloss Seeheim, wo uns ein thailändisches Buffet erwartet. Die Dekoration und Tischkarten hat meine liebe Frau Lisa bereits seit Wochen auf das Ambiente abgestimmt. Und ich bin sicher, dass dies auch für ihr neues Kleid gilt, worin sie sicher ganz bezaubernd aussehen wird. Was also gibt es zu besprechen?«

Ich sehe ihn fassungslos an und werfe die Serviette, mit der ich die ganze Zeit herumgespielt habe, auf den Tisch.

»Na gut«, sage ich. »Ich wollte gerne mit dir über deinen Geburtstag sprechen, um die Vorfreude darauf mit dir zu teilen …«

»Die Vorfreude? Lisa, es ist ein Geburtstag, keine Urlaubsreise. Und – nebenbei bemerkt – nicht der erste Geburtstag, den wir zusammen feiern. Ich bin davon überzeugt, dass du alles ganz wunderbar vorbereitet hast … wie in jedem Jahr.«

Sein Ton hat eine beschwichtigende Note angenommen und tut mir weh. Ich fühle mich, als sei ich ein kleines Kind, das ein Bild gemalt hat, das zwar potthässlich ist, das aber trotzdem gelobt wird, damit es nicht in Tränen ausbricht.

Ich muss schlucken und trinke stattdessen noch etwas von dem köstlichen Wein.

»Gut«, sage ich und bemühe mich um ein Lächeln. »Dann lassen wir einfach alles so laufen. Es wird schon klappen.«

Ich nicke ihm freundlich zu und warte auf seine Antwort, doch stattdessen nimmt er sein Handy aus der Tasche, um die Nachricht zu lesen, die gerade hereingekommen ist.

So wichtig bin ich ihm also.

»Da ist noch etwas anderes, das ich mit dir besprechen wollte, Andreas«, sage ich daher, mutig geworden durch den süßen Wein, und um seine Aufmerksamkeit zu erringen. Ich bin wütend, weil er nur an seinem Handy spielt und mir das Gefühl gibt, als sei ich gar nicht da.

Endlich sieht er mich wieder an.

Ich atme tief durch und sage: »Ich wollte es dir schon lange sagen. Aber du hast ja nie Zeit. Und abends bist du immer müde.«

Andreas runzelt die Stirn und sieht mich immer noch unverwandt an.

»Es geht um Tim.«

Ich hole tief Luft.

»Er wird kein Studium der Wirtschaftswissenschaften beginnen.«

Andreas verdreht die Augen. »Ach, nein? Und was will er stattdessen tun? Lass mich raten: In der Fußgängerzone sitzen und für Geld ein bisschen auf der Gitarre herumzupfen?«

Wütend schiebt er den Salat, der gerade gekommen ist, zur Seite.

Diese Reaktion überrascht mich nicht. Mir war klar, dass Andreas so reagieren würde. Genau aus diesem Grund hat Tim ihm noch nichts davon gesagt. Und auch ich wollte eigentlich auf eine gute Gelegenheit warten.

Als ob dies eine »gute Gelegenheit« wäre.

Tim weiß, dass sein Vater von ihm erwartet, dass er ebenso wie seine Schwester ein erfolgreiches Studium absolviert. Dass Tim im Gegensatz zu Ann-Sophie kein Architekt werden will, ist Andreas schon lange klar. Doch er hatte gehofft, dass Tim Jura oder Wirtschaftswissenschaften studieren würde … oder irgendetwas anderes, das in Andreas’ Augen eine solide Ausbildung darstellt.

»Nicht so ganz«, sage ich und konzentriere mich auf meine Gnocci. »Tim hat die Zusage für die Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar bekommen.«

Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt, als ich diese Worte ausspreche. Ohne mir dessen bewusst gewesen zu sein, wird mir in diesem Augenblick klar: Ich bin stolz auf meinen Sohn. Er wird das tun können, was seiner Begabung entspricht. Warum kann sein Vater das nicht genauso sehen?

Andreas schüttelt den Kopf. »Also Lisa, wirklich. Ich dachte, wir hätten darüber gesprochen. Du wolltest mich doch dabei unterstützen, dass Tim etwas Vernünftiges aus seinem Leben macht.«

»Das ist etwas Vernünftiges, Andreas. Für Tim ist es das Allervernünftigste, das er sich vorstellen kann. Es ist sein Lebenstraum.« Ich atme tief durch.

»Pah. Lebenstraum. Wenn ich das schon höre. Seit wann kann man von seinem Lebenstraum seine Rechnungen bezahlen? Ich will dir etwas sagen, Lisa: Tim wird dort ein paar Jahre herumhängen und ein bisschen herumklimpern und anschließend arbeitslos sein oder im Strandbad den Bademeister spielen. Und das alles mit der Unterstützung von Frau Mama. Reicht es dir nicht, was dein Vater alles nicht aus seinem Leben gemacht hat? Weil er auf seine musikalische Begabung vertraut hat, die ihn nirgendwohin gebracht hat? Soll dein Sohn etwa der gleiche Versager werden?«

Ich kann es nicht fassen, dass er so etwas sagt.

Es ist mehr als unfair. Es stimmt, Tim hat das musikalische Talent seines Großvaters geerbt. Und es stimmt auch, mein Vater ist nicht gerade das, was man einen erfolgreichen Mann nennen könnte. Doch ich lasse es nicht zu, dass er beleidigt wird.

Zwar ist dieser Mann vielleicht »nirgendwohin« gekommen, doch hat er ganz alleine ein Kind großgezogen, nämlich mich.

Ich ziehe das zerknitterte Leinenjackett vom Stuhl, schiebe die Gnocchi zur Seite und sage: »Ich glaube, ich gehe jetzt besser nach Hause und du zurück ins Büro, Andreas.«

Er ruft mir noch nach: »Bist du jetzt etwa beleidigt? Na gut, dann bis heute Abend.«

Doch ich antworte nicht mehr, sondern gehe mit meiner 180-Euro-Frisur oder dem, was davon übrig ist, hinaus in den strömenden Regen.

2. Kapitel: Der Geburtstag

Auch am nächsten Tag regnet es unentwegt. Auf einmal bin ich froh, dass wir die Geburtstagsfeier nicht in unserem Garten veranstalten wollen, was mein eigentlicher Plan war. Inmitten der wunderschönen alten Bäume und zwischen den Rhododendron-Beeten und der Rosenhecke hätte ich zu gerne ein großes, weißes Zelt aufgebaut. Die ganze Feier wäre nach meiner Meinung viel persönlicher gewesen als in einem Lokal, doch Andreas wollte unbedingt außer Haus feiern.

Ich erinnere mich an viele gemeinsame Geburtstage in unserer alten Wohnung. Wir hatten wenig Platz und die Gäste standen spätabends in der Küche herum, weil wir nicht genügend Stühle zur Verfügung hatten. Bis tief in die Nacht lachten und diskutierten wir, auch wenn wir am nächsten Morgen früh aufstehen mussten, um zur Uni oder zur Arbeit zu gehen. Oder später eines der Kinder schon beim Morgengrauen gefüttert werden wollte. Die dunklen Augenringe waren uns egal, weil der Abend so schön gewesen war. Heute nennen wir ein 300Quadratmeter großes extravagantes Designerhaus unser Eigen, dessen gesamte Rückfläche ausschließlich aus Glas besteht. Fast alle Räume befinden sich im Erdgeschoss und geben den Blick frei in den von einem Landschaftsarchitekten gestalteten 1.000Quadratmeter großen Garten und auf den See. Über die gesamte Fläche zieht sich die Terrasse, die mit Granitfliesen ausgelegt und mit teuren Eisen-Gartenmöbeln und Palmen bestückt ist. Hier hätte man wunderbar sitzen können, mit einem Glas Weißwein… und sich mit Freunden unterhalten, während man auf die vorbeiziehenden Schiffe geblickt hätte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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