Sanddornduft - Christine Rath - E-Book

Sanddornduft E-Book

Christine Rath

4,9

Beschreibung

Wind im Haar und Sonne auf der Haut … Die erfolgreiche Karrierefrau Kerstin genießt nach einer großen Enttäuschung die ersten warmen Tage auf der zauberhaften Insel Hiddensee. Hier, in der kleinen Pension »Silberdistel« ihrer Tante Ingrid, entdeckt sie auf der Suche nach ihren Wurzeln plötzlich ein lange gehütetes Familiengeheimnis. Als sie sich in den attraktiven, doch undurchsichtigen Dirk verliebt, muss Kerstin eine Entscheidung treffen, die nicht nur ihr eigenes Leben für immer verändern wird.

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Christine Rath

Sanddornduft

Roman

Impressum

Ausgewählt von

Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © schachspieler / photocase.com

ISBN 978-3-8392-4274-2

Widmung

»In liebevoller Erinnerung an meinen Vater Herbert, dessen große Liebe neben seiner Familie bis zu seinem letzten Atemzug seine Heimat, die Insel Hiddensee, war.«

Zitat

»Die Insel«

Hier, wo mein Haus steht, wehte einst niedriges Gras: ums Herz Erinnerung weht, wie ich dereinst mit Freunden hier sass. Wir waren zu drein, vor Jahrtausenden mag es gewesen sein. Es war einsam hier, tief, tief! So waren auch wir. Verlassenheit über der Insel schlief. Dann kam der Lärm, ein buntes Geschwärm: entbundener Geist, verdorben, gestorben zuallermeist. Und nun leben wir in fremdmächtiger Zeit, verschlagen wiederum in Verlassenheit. In meines Hauses stillem Raum herrscht der Traum.

Gerhart Hauptmann

Prolog

Hiddensee

Sommer 1988

Es gibt Momente im Leben, da spürt man, dass sich alles verändern wird. Irgendetwas ist anders als sonst, so, als ob etwas in der Luft läge, das man nicht greifen kann.

Heute, viele Jahre später weiß ich genau, warum das alles geschah, und kann meine Erinnerungen mit den tatsächlichen Geschehnissen in Einklang bringen. Aber damals war ich ein kleines Kind und hatte nur dieses unbestimmte Gefühl, dass etwas anders war als sonst und eine dramatische Veränderung bevorstand.

Dabei hatte alles so schön angefangen. Mama und ich waren vom Bodensee zu Oma und Opa nach Hiddensee gereist, um auf dieser kleinen Insel in der damaligen DDR ein paar unbeschwerte Ferientage zu verbringen.

Den Sommertag, den ich nie vergessen sollte, hatten wir am Strand verbracht. Es war ungewöhnlich heiß, wir hatten viele Muscheln gesammelt und unsere von der Sonne erhitzten Körper in der Ostsee gekühlt.

Mama hatte mich anschließend abgerubbelt und mir meinen gelben Bademantel übergezogen, damit ich mich nicht erkälte. Meinen geliebten Minnie-Mouse-Badeanzug hatte sie am Strandkorb zum Trocknen aufgehängt, aus unserer bunten Badetasche Schokokekse gezaubert und mir aus dem neuesten Bummi-Heft vorgelesen.

Wie immer waren wir sehr weit gelaufen, weil Mama die einsamen Stellen des Strandes beim kleinen Leuchtturm bevorzugte.

Als wir am Abend zurück zum Haus meiner Großeltern gingen, konnte ich irgendwann nicht mehr laufen. Sie nahm mich hoch und trug mich das letzte Stück, obwohl sie ja schon die schwere Badetasche transportieren musste.

Oma hatte Fischfrikadellen zum Abendessen gemacht und weil das Wetter so schön war, aßen wir draußen auf der Terrasse. Ich liebte es, hier zu sein, weil ich während des Essens das Meer rauschen hören und die Möwen, die über uns kreisten, beobachten konnte. Außerdem kam am Abend immer ein kleines Kätzchen vorbei, von dem meine Oma nicht wusste, zu wem es gehörte. Ich durfte es stundenlang streicheln und musste nicht so früh ins Bett wie zu Hause.

Doch an diesem Abend war alles anders. Ich spürte es, schon lange bevor dunkle Wolken die tief stehende Abendsonne verdunkelten und ein kühler Wind aufkam.

Es lag an Mama. Sie war nicht wie sonst … sondern schweigsam und mürrisch. Allerdings erst, seitdem wir vom Strand zurückgekommen waren.

Sie brachte mich gleich nach dem Essen ins Bett, versprach aber, noch einmal nach mir zu sehen und mir »Gute Nacht« zu sagen.

Ich lag im Bett und betrachtete die Muschel, die ich am Nachmittag am Strand gefunden hatte.

Sie glitzerte so schön im Schein meiner kleinen Nachttischlampe.

»Huuuuuuuiiiiiii!« Der Wind war stärker geworden und heulte ums Haus.

Dicke Regentropfen platschten auf einmal gegen mein Fenster und ich hörte ein seltsames Knacken draußen vor dem Haus.

Mir war unheimlich und ich hatte Angst. Wo blieb nur Mama? Warum durfte ich nicht wie sonst unten bei ihr im Wohnzimmer sein?

Ich zog die Decke hoch bis unter mein Kinn und kuschelte mich fest an meinen geliebten Teddy.

Dann hörte ich Stimmen im Haus. Es waren Frauenstimmen, die hoch und schrill waren. Ich hörte unheimliche Geräusche, die ich nicht einordnen konnte … lautes Türenknallen, Treppenstufen, die knarrten und immer wieder diese lauten, hysterischen Frauenstimmen. Ich versteckte mich noch tiefer unter meiner Decke und hielt meinen Teddy ganz fest.

Auf einmal kam eine Männerstimme dazu, ebenfalls laut und gefährlich dröhnend …

Noch einmal wurde mit einer Tür geknallt. Danach war alles still. Nur mein Herz klopfte laut.

Endlich kam Mama zur Tür herein. Sie war total außer sich und sah aus, als hätte sie geweint.

»Mama, was ist denn mit dir?« fragte ich ängstlich.

»Nichts, meine Kleine … alles ist gut«, sagte sie, doch ihre Stimme zitterte dabei.

Es war nicht gut, das spürte ich. Denn Mama legte sich vollkommen angezogen neben mich ins Bett und streichelte meinen Kopf, bis ich eingeschlafen war.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Mama schon auf und dabei, unsere Koffer zu packen.

»Wohin fahren wir denn, Mama?« fragte ich sie.

Unsere Ferien hatten doch gerade erst begonnen! Und das Wetter war auch wieder schön. Mama hatte mir doch versprochen, heute mit Tante Ingrid und der Pferdekutsche zur ›Heiderose‹ zu fahren!

»Wir fahren sofort nach Hause!« sagte Mama stattdessen, nahm mich an die Hand und ging mit mir schnellen Schrittes zum Hafen, um auf das erste Schiff zu steigen.

Ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen.

1. Kapitel

Der Fluch der Schönheit

25 Jahre später

Verflixt, das Ding muss doch irgendwie aufgehen! Manchmal hilft im Notfall nur rohe Gewalt.

Und dies ist ein Notfall, so viel ist sicher. Ich wende meine ganze Kraft auf, um den Deckel des nagelneuen Anti-Age-Make-ups ›Futurelight‹ zu öffnen … und schwups … habe ich die braune Masse nicht, wie meine Kolleginnen, auf der sorgfältig manikürten Hand, sondern auf meiner nagelneuen Seidenbluse. So was Dummes aber auch!

Wir sollen die extrem pflegende und die lichtreflektierende Wirkung sofort spüren und unsere Empfindungen der Schulungsleiterin mitteilen. Stattdessen stehe ich auf und verabschiede mich diskret auf die Toilette, um die Bluse einigermaßen zu retten. Schließlich sollte sie nach Möglichkeit noch den Rest des Tages überstehen.

Mein Spiegelbild entlockt mir nicht gerade ein Lächeln. Mein Gesicht ist rot und erhitzt, die Haare strähnig, der Blick fahl und die Augenränder tief. Vielleicht sollte ich das ›Wunder-Make-up‹ lieber gleich direkt ins Gesicht statt auf die Hand schmieren?

Eigentlich liebe ich diese Schulungstage unserer Kosmetikfirma ›Celine Dupont‹. Sie ermöglichen uns nicht nur das Kennenlernen der allerneuesten Produkte, sondern sind immer verbunden mit einem Kurzaufenthalt im schicken Sheraton-Hotel und der großartigen Stadt München.

Zum Beispiel wurden wir heute wieder einmal mit einem wunderbaren Mittagsmenü verwöhnt, das aus einem Salat mit feinen Gemüsestreifen und Ziegenkäse als Vorspeise und Hähnchenbrust mit Champignon-Frischkäsefüllung auf Salbeisauce an einer Gemüsevariation und Basmatireis als Hauptgericht bestand und seine Krönung in einem Dessert aus Lavendeleis an Limettensauce fand. Zum Kaffee wurde ein luftig-leichter Sahnebaiser in Form eines Schwanes gereicht. Während wir uns alle genussvoll diese Leckerei munden ließen, schwebte auf einmal ein Riesen-Geschenkkarton in Puderrosa herein. Frau Müller, die Schulungsleiterin, öffnete die schwarze Satinschleife, der Karton ging auf und ihm entstieg … ein wunderschönes, elfengleiches blondes Model in einem rosafarbenen Hauch von Chiffon-Nichts, die einen Glasflakon in Form eines Schwanes in Händen hielt. Unser neuer Duft ›Celine No.1!‹!

Natürlich war in dem puderfarbenen Geschenkkarton für jede von uns ein eigenes Exemplar verborgen, auf das wir uns sogleich stürzten und den schönen Duft ausprobierten.

Er ist einfach perfekt für das Frühjahr, so blumig, weich und pudrig.

Ich habe schon viele derartige unvergessliche Momente in dieser Firma erlebt und doch bin ich immer wieder überwältigt von der Fantasie und dem Einfallsreichtum des Unternehmens.

Zum Beispiel wurden wir einmal zu einer Tagung nach Amsterdam eingeladen. Nachdem wir den Tag mit einer Stadtführung und einer Grachtenrundfahrt sowie einem Besuch des ›Rembrandthuis‹ und des ›Van Gogh Museum‹ mit seinen unglaublichen Gemäldeschätzen verbrachten, wurden wir in unsere wunderschönen Zimmer im ›Grand Hotel Krasnapolsky‹ direkt gegenüber dem Königspalast gebracht. Dort konnten wir jedoch nur wenige Minuten ausruhen, denn wir wurden zu einer ›indischen Reistafel‹ erwartet, was sich ziemlich langweilig anhört, in Wirklichkeit jedoch ein grandioses Buffet mit den leckersten indischen Spezialitäten war. Am Ende dieses Abends erloschen die Lichter und nur noch die Deckenbeleuchtung, die aus Tausenden von kleinen Lampen zu bestehen schien, strahlte wie ein Sternenhimmel auf uns herab. Wundervolle Musik erklang und wie aus dem Nichts erschien ein Tanzpaar, das zu diesen fast altmodischen Klängen über das Parkett schwebte.

Verliebt sahen sie sich in die Augen und am Ende des Liedes küssten sie sich und der Mann sagte: »You are my lucky star!«

Die Frau, die ein mitternachtsblaues, schulterfreies Abendkleid trug, zauberte einen Flakon hervor und ein neuer Stern am Dufthimmel von ›Celine Dupont‹ war geboren: ›STAR‹.

Nicht zuletzt diese Momente sind es, die ich an meinem Job so liebe und die mich all den Stress vergessen lassen. Irgendwie machen sie mich immer sehr stolz, für diese Firma arbeiten zu dürfen!

Dennoch bin ich heute einfach unglaublich müde. Meine Füße schmerzen, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir, aber das liegt sicher nur an den zwar superhübschen, aber leider total unbequemen Pumps, die ich zu meinem schwarzen Business-Kostüm trage. Am liebsten würde ich sie sofort ausziehen!

Noch mehr als meine Füße schmerzt allerdings mein Kopf. Ob es an dem viel beschriebenen Föhn liegt, der ja so häufig in München zu Gast ist … oder ich einfach nur einen langen Tag hatte, ist schwer zu sagen. Was heißt eigentlich ›langer Tag‹?

Eine lange Woche liegt hinter mir, eine Woche voller Arbeit … wie schon in den ganzen Wochen, um nicht zu sagen Monaten, zuvor. Aber ich will mich nicht beklagen. Schließlich ist dies doch mein Traumjob!

Seit fünf Jahren bin ich nun schon als Gebietsrepräsentantin für die französische Luxus-Naturkosmetikfirma ›Celine Dupont‹ im Süden Deutschlands unterwegs und besuche exklusive Parfümerien, Kosmetikinstitute und Schönheitsfarmen. Dort verkaufe ich nicht nur unsere wunderbaren Produkte, sondern berate die Kosmetikerinnen und halte Schulungen ab, wie sie diese am besten anwenden können. Ich kenne die schönsten Orte und die komfortabelsten Hotels in ganz Baden-Württemberg und Bayern und nenne zudem einen superschicken roten Audi als Dienstwagen mein eigen. Im Gegensatz zu den meisten meiner Kolleginnen, die ein BWL-Studium oder zumindest eine andere kaufmännische Ausbildung absolviert haben, bin ich eigentlich ›nur‹ Kosmetikerin und habe meinen Job dem mehr oder weniger glücklichen Umstand zu verdanken, dass die damalige Repräsentantin von ›Celine Dupont‹ längere Zeit krank war und schließlich komplett ausfiel. Zu dieser Zeit war ich in einem Wellnesshotel in Lindau am Bodensee tätig und langweilte mich in der dortigen Beautyfarm zu Tode. Ich beschloss, die Gelegenheit zu ergreifen und mich bei ›Celine Dupont‹ zu bewerben, jedoch ohne mir allzu große Chancen auszurechnen.

Ich weiß nicht, was es war … meine Unbekümmertheit oder vielleicht mein Kosmetik-Fachwissen … jedenfalls bekam ich den Job. Ich vermute, gerade weil ich kein Studium vorweisen konnte, habe ich mich von Anfang an besonders angestrengt, immer alles richtig und besonders gut zu machen, und habe deshalb immer ein bisschen ›mehr‹ getan als nötig. Im letzten Jahr konnte ich sogar die Umsatzzahlen in meinem Gebiet um 30 Prozent steigern und dies angesichts der großen Konkurrenz auf dem Kosmetikmarkt, die inzwischen nicht nur in Kosmetikinstituten und exklusiven Parfümerien, sondern auch Kaufhäusern und Drogeriemärkten vertrieben wird.

Selbst wenn ich einmal ›frei‹ habe, kann ich nicht richtig abschalten und beschäftige mich mit der Reiseplanung der nächsten Tage, den Umsatzzahlen der einzelnen Betriebe, und wie ich sie dazu bewegen kann, die Umsätze zu steigern. In diesem Zusammenhang mache ich mir auch unentwegt Gedanken über die ›Celine Dupont‹-Kundin und wie wir neue Interessentinnen gewinnen können.

Bisher waren es vorwiegend ältere und vor allem gut betuchte Damen, die sich mit unserer Marke verwöhnen und ein klein wenig französisches Flair in ihr Badezimmer holen wollten. Wenn wir allerdings langfristig Erfolg haben wollen, müssen wir auch andere Zielgruppen ansprechen.

Frauen wie mich zum Beispiel, die zwar noch jung sind, aber deren Haut durch ein anstrengendes Arbeitsleben bereits erste Ermüdungserscheinungen aufweist.

Apropos … ich sehne mich nach einem Schaumbad, einer Gesichtsmaske und meinem kuscheligen Sofa … und Marc, meinem Verlobten. Eigentlich wollte ich heute Abend noch heimfahren, schließlich ist es ja nicht so weit von München bis zum Bodensee, wo wir beide leben. Aber es scheint ein langer Abend zu werden. Wie es aussieht, ist die Tagung noch längst nicht zu Ende. Ich werde wohl doch das für mich gebuchte Hotelzimmer in Anspruch nehmen und erst morgen nach dem Frühstück, dann aber dafür hoffentlich herrlich ausgeruht, nach Hause fahren.

Gerade beschließe ich jedoch, das Abendessen ausfallen zu lassen – immerhin war das Mittagessen reichhaltig genug –, und es mir mit einem Glas Rotwein sowie einer Packung Kekse in meinem Hotelzimmer gemütlich zu machen. Wenn es nur schon so weit wäre!

Ich kann so viel reiben, wie ich will … der Fleck will einfach nicht verschwinden. Na toll, die teure Seidenbluse ist im Eimer!

Seufzend gehe ich zurück zum großen Meeting-Raum des Hotels. Auf dem Weg dorthin wähle ich Marcs Nummer und er ist auch sofort am Apparat.

»Wenn das nicht meine Prinzessin ist!«, sagt er mit seiner warmen Stimme und sofort möchte ich mich in seine starken Arme flüchten.

»Hallo, Liebling! Ich habe leider nur kurz Zeit, die Schulung geht heute ewig. Ich glaube, ich werde es nicht mehr schaffen, heimzukommen!«

»Ach nein? Kerstin, das ist jetzt nicht dein Ernst! Du warst die ganze Woche unterwegs! Ich habe um 19 Uhr einen Tisch für uns im ›Goldenen Rad‹ reserviert, und ich habe mich die ganze Woche darauf gefreut, mich endlich einmal wieder in Ruhe mit dir zu unterhalten, bei einem Gläschen Wein und leckerem Essen … ohne Termindruck und das Telefon!«

»Oh Marc! Das tut mir so leid! Aber … 19 Uhr … das würde ich sowieso nicht schaffen! Es ist doch schon kurz vor sechs und das Meeting ist noch nicht einmal zu Ende … Dann muss ich ja auch noch zweieinhalb Stunden an den Bodensee fahren. Können wir es nicht auf morgen verschieben? Ich komme gleich nach dem Frühstück nach Hause, versprochen! Und dann machen wir es uns schön, ja?«

Nach Hause … was für ein wohltuender Gedanke. Marc und ich leben in einer wunderschönen Dreizimmerwohnung in Friedrichshafen am Bodensee, die wir mit viel Liebe und einigen teuren Designermöbeln in ein trautes Heim verwandelt haben und die ich leider viel zu selten sehe.

»Wir machen es uns schön? Wie lange machen wir es uns denn diesmal ›schön‹? Bis du am Sonntagnachmittag schon wieder deine Koffer packst? Verschieben, verschieben … das ist doch dein zweiter Vorname geworden! Ist dir eigentlich bewusst, was du im letzten Jahr alles verschoben hast? Angefangen bei unserer Hochzeit zum Beispiel?« Seine Stimme klingt auf einmal nicht mehr warm, sondern eiskalt.

Das Schlimmste aber ist: Er hat recht.

Wir wollten im letzten Sommer heiraten, nachdem Marc mir einen ganz romantischen Antrag in einer Riesenrad-Gondel auf dem Seehasenfest mit Blick auf den Bodensee gemacht hat. Aber ich musste den geplanten Hochzeitstermin verschieben, weil eine wichtige Tagung von ›Celine Dupont‹ in Paris stattfand, bei der wir unter anderem endlich einmal den Betrieb dort besichtigen durften. Seitdem haben wir einfach keinen geeigneten Zeitpunkt mehr für die Hochzeit gefunden. Schließlich soll es ja eine richtig tolle Hochzeit werden, ein Riesenfest! Und nicht nur so eine Aktion zwischen Tür und Angel. Immerhin sind wir schon seit sechs Jahren zusammen und so etwas wie ein echt gutes Paar.

Gut, wir arbeiten beide sehr viel. Aber dadurch können wir uns auch etwas leisten, nicht wie meine Eltern, die immer jeden Pfennig zweimal umdrehen mussten. Die schöne Wohnung, tolle Klamotten und aufregende Urlaubsreisen … das wäre doch sonst gar nicht möglich. Nun ja, jedenfalls, wenn wir einmal Zeit zum Verreisen fänden!

Doch ich war immer so stolz und glücklich, dass Marc so viel Verständnis für meine Arbeit aufbringen konnte. Wir kennen uns nämlich noch aus der Zeit, als ich ›nur‹ Kosmetikerin war, und er weiß, was mir dieser Job bedeutet. Damals war ich 24, Marc 26. Er hat in Konstanz Medizin studiert und nebenbei – ganz klassisch – in einem ›Irish Pub‹ gekellnert. Dort sind wir uns auch zum ersten Mal begegnet, als ich mit einer Freundin der irischen Live-Musik lauschte und in meiner Angewohnheit, immer mit Händen und Füßen zu reden, mein fast volles Glas Guinness-Bier umwarf und Marc zähneknirschend den Tisch säubern musste. Als Wiedergutmachung lud ich ihn, schon leicht angeschickert, für den nächsten Tag auf ein Eis ein. Bereits eine Woche später zog er in meine kleine Wohnung in Friedrichshafen ein.

Wir hatten damals nicht viel Geld, aber waren von Anfang an glücklich, uns gefunden zu haben.

Obwohl ich immer Angst hatte, dieses Glück könnte irgendwann einmal zu Ende sein. Während ich mit meinen braunen Haaren, den grünen Augen und den kurzen Beinen nämlich eher ein Durchschnittstyp bin, sieht er einfach umwerfend aus. Er ist groß, hat eine Superfigur wie ein Olympia-Sportler und wunderschöne, braune Knopfaugen. Das Schönste an ihm aber sind seine langen Wimpern, um die ihn jede Frau beneiden würde. Selbst bei ›Celine Dupont‹ haben wir nicht so eine fantastische Mascara, die dieses Wimpernvolumen herbeizaubern würde. Dazu kommt, dass er heute als Chirurg am Friedrichshafener Krankenhaus tätig ist und dort wahrscheinlich alle Krankenschwestern und Patientinnen heimlich in ihn verliebt sind.

Auf einmal habe ich ganz schreckliche Sehnsucht nach ihm.

»Marc, bitte sei mir nicht böse! Wir sehen uns doch morgen und ich freue mich auf dich! Ich rufe dich nach der Tagung noch einmal an … wenn ich in meinem Hotelzimmer bin, ja? Ich liebe dich!«

»Das bezweifle ich so langsam!«, sagt er gedehnt und legt einfach auf.

Marcs Stimme klang so seltsam … nicht einmal wütend, eher zutiefst enttäuscht, sodass ich selbst ganz traurig werde, als ich auch auflege.

*

Oh nein, nicht auch das noch!

Frau Möller hat bereits die neuen Produkte eingepackt und wird gerade von Herrn Siegmund verabschiedet. Der Chef persönlich – das hat nichts Gutes zu bedeuten!

Robert Siegmund ist zuständig für das komplette Außendienst-Netz von ›Celine Dupont‹ und somit unser aller Boss. Mit seiner falsch-freundlichen Art schleimt er sich regelmäßig bei allen Repräsentantinnen ein, um sie dann jedoch knallhart und eiskalt auf die neuesten Zielvorgaben hinzuweisen.

Und auch diesmal ist es wieder so weit: nach kurzem Blabla und einigen knappen Sätzen, in denen er kundgibt, wie sehr er sich freue, dass wir uns alle Zeit für diese Schulung genommen hätten und wie toll die neuen Produkte wären und so weiter, kommt er direkt zur Sache.

Er hat eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet, die uns stundenlang und haarklein darüber informiert, dass wir allesamt unseren Job besser machen könnten.

Die Umsatzzahlen sind angeblich stark rückläufig, und das, obwohl die Statistik besagt, dass die Beauty-Kundin heute so viel Geld für Kosmetik ausgibt wie nie zuvor, lässt er uns unmissverständlich wissen.

»Die ›Celine Dupont‹-Kundin ist keine, die sich Botox spritzen lässt! Das hat sie auch gar nicht nötig, denn unsere Pflege ist erstklassig und einzigartig wie sie selbst. Unsere Kundinnen lieben die Natur und eine hochwertige Luxus-Kosmetik, die ihre Versprechen hält! Und zwar mit den hochwertigsten, natürlichen Inhaltsstoffen, die es weltweit gibt und dem ganzen Know-how ästhetischer und moderner Schönheitspflege!« Seine Stimme ist tief und dunkel und er wird immer lauter, um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen. »Umso erstaunlicher ist es, meine Damen, dass diese hochwertige und einzigartige Schönheitspflege immer weniger verkauft wird! Woran liegt das Ihrer Meinung nach?«

Die Damen blicken sich mit geröteten Gesichtern verwirrt um oder betrachten betreten die Schuhspitzen und zucken die Schultern. Keine traut sich, etwas zu sagen, aus Angst, ihn zu verärgern.

Ich hebe zögernd die Hand.

»Ähmm … Herr Siegmund … erst einmal guten Abend«, fange ich zaghaft an.

»Tja … möglicherweise hängt es ja mit dem hohen Preissegment zusammen. Die wirtschaftliche Situation erlaubt es vielen Damen leider nicht mehr, derart viel Geld für eine Creme auszugeben, auch wenn sie sie noch so gerne hätten!«

Er sieht mich irritiert an. Offenbar hat er eigentlich gar keine Antwort von uns erwartet. Vermutlich wollte er uns wieder einmal nur einschüchtern.

»Interessant … diese Auskunft gerade von Ihnen zu bekommen, werte Frau Beier.

Ausgerechnet von der Mitarbeiterin, die in einem der reichsten Bundesländer unterwegs ist, welches bis jetzt die Nase bei den Umsatzzahlen vorn hatte … und nach der Auswertung der ersten drei Monate des Jahres jetzt auf einmal das Schlusslicht von ganz Deutschland bildet! Nun, Frau Beier, dafür haben Sie doch sicher auch eine«, er macht eine bedeutungsvolle Pause »›logische‹ Erklärung, nicht wahr?«

Er lächelt so süffisant, dass ich ihm am liebsten eine reinhauen möchte.

»Wissen Sie, es ist ja schön, dass Sie über die Produkte so gut Bescheid wissen und die gesamten Inhaltsstoffe so wunderbar erklären können. Aber ein klein wenig betriebswirtschaftliches oder kaufmännisches Know-how in Verbindung mit marketingrelevanten Strategien würde Ihnen vielleicht manchmal nicht schaden, meinen Sie nicht auch?«

Ich werde flammendrot, besonders, als sich auch noch die Letzte der 15 Kolleginnen neugierig zu mir umgedreht hat.

»Jedenfalls wird es höchste Zeit, dass Sie die Zahlen ein wenig nach oben korrigieren, Frau Beier. Ich erwarte von Ihnen eine deutliche Steigerung des Absatzes, insbesondere im Bereich der dekorativen Kosmetik!«

Von seinem weiteren Geschwafel bekomme ich nicht mehr viel mit. Wie konnte er mich nur vor den anderen so demütigen?

Natürlich sind die Zahlen in diesem Jahr noch nicht so berauschend, das weiß ich ja leider selbst. Man kann schließlich nicht immer nur steigern. Das letzte Jahr war so gut, das ist beim besten Willen nicht zu toppen. Jedenfalls noch nicht.

Außerdem ist doch erst Mai … da kann doch noch viel geschehen. Jetzt, wo die Natur erwacht, wollen alle schön und schlank in den Sommer starten.

Andererseits mache ich mir wirklich meine Gedanken um die Zukunft von ›Celine Dupont‹. Wenn wir es nicht schaffen, neue Märkte zu erschließen, dann werden wir uns auf Dauer schwertun auf diesem hart umkämpften Kosmetikmarkt. Denn auch wenn die Pflege noch so gut ist, sie ist in meinen Augen einfach zu teuer.

»Dieses Brechmittel!«, sagt Doris, meine Kollegin aus Köln, als wir den Saal verlassen. Sie hakt mich unter und lächelt mich aufmunternd an: »Komm, wir gehen in die Bar und spülen mit einem oder zwei Prosecco den Ärger herunter!«

»Später vielleicht …«, antworte ich müde. »Ich muss erst mal unter die Dusche … und Marc anrufen. Möglicherweise komme ich dann nach, ja?«

Ich bin so fertig, dass ich jetzt ein paar Minuten für mich brauche. Ehrlich gesagt habe ich sowieso keine Lust, mich dem Geschnatter der anderen auszusetzen und will im Moment einfach nur meine Ruhe.

»Ach komm schon!«, sagt Doris. »Lass dich doch von dem nicht so runterziehen! Der ist doch auch nur Befehlsempfänger!«

Ich schüttele den Kopf, verspreche aber, in die Bar nachzukommen, damit sie mich in Ruhe lässt. Dann schlage ich den Weg zum Aufzug ein, der mich auf dem schnellsten Weg zu meinem Zimmer bringen soll.

Dort steht allerdings bereits Herr Siegmund. Es ist zu spät, um umzukehren, daher versuche ich, so gut es geht, ein schmales Lächeln aufzusetzen

»Hallo, Frau Beier!«

Plötzlich tut er so, als könne er nett sein.

»Hören Sie … was ich vorhin gesagt habe … das habe ich nicht so gemeint. Mir ist bewusst, dass Sie eine sehr fähige und talentierte Mitarbeiterin sind! Und viel für unser Unternehmen tun. Ohne Mitarbeiterinnen wie Sie wären wir gar nicht so weit gekommen!«

Ach, auf einmal? Das hat sich aber eben noch ganz anders angehört. Er bringt sogar ein Lächeln fertig, allerdings sieht es ziemlich arrogant aus.

Inzwischen hält der Aufzug direkt vor unserer Nase. Ich wünschte, der Typ würde sich jetzt verkrümeln, ich kann ihn nicht mehr ertragen! Aber den Wunsch erfüllt er mir natürlich nicht. Klar, schließlich hat er vor dem Aufzug gewartet, also will er wohl auch in sein Zimmer. Und sei es nur, um ein wenig von seinem süßlichen Aftershave aufzulegen und ein frisches Hemd anzuziehen, damit er später an der Bar die ›Kontakte zu den Mitarbeiterinnen pflegen kann‹.

Ohne mich!, denke ich, steige ein und drücke auf den Knopf für die 17. Etage.

Herr Siegmund folgt mir in die enge Fahrstuhlkabine. »Oh … was haben wir denn da?« Sein Blick fällt auf den Make-up-Fleck auf meiner Seidenbluse.

»›Future light‹ scheint sehr farbintensiv zu sein«, sage ich, aber mehr, um überhaupt irgendetwas zu sagen.

Er starrt auf den Fleck, genauer gesagt unverhohlen auf meinen Busen. Dann streckt er die Hand aus und streicht sanft über die Make-up-besudelte Stelle, um kurz darauf entschlossen meine Brust zu berühren.

»Kerstin … hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du wunderschön bist? Du hast die Rundungen an der richtigen Stelle! » Seine Stimme wird heiser und als er näher kommt, rieche ich wieder dieses ekelhafte Aftershave.

Oh Gott, was soll ich denn jetzt tun? Ich will hier weg, aber schnell.

Ein unmögliches Unterfangen, in einem Aufzug!

Dieser Blödmann drückt mich in die Ecke des Fahrstuhls und flüstert mir ins Ohr: »Du bist genau die Richtige für die Beautybranche! Und ich kann so viel für dich tun …«

»Herr Siegmund …«, versuche ich ihn zu unterbrechen, doch er drängt sich dicht an mich heran und flüstert mir weiter heiser ins Ohr: »Komm mit in mein Zimmer, Schönheit, du wirst es nicht bereuen!«

In diesem Moment öffnet sich der Fahrstuhl und ich nutze die Gelegenheit, an ihm und einer älteren Dame vorbei hinauszupreschen. Sie hält einen kleinen Pudel auf dem Arm und blickt mir kopfschüttelnd nach, wie ich mit rotem Kopf den Gang entlang stürme.

Nichts wie weg hier! Ich kann und will unmöglich noch länger in diesem Hotel bleiben.

Zum Glück habe ich mein Köfferchen noch im Auto, da ich ja eigentlich nach Hause fahren wollte. Und genau das werde ich jetzt auch tun: nach Hause fahren!

Ich bin so verwirrt, dass es mir vollkommen egal ist, dass ich aus der Stadt heraus eine Stunde im Stau stehe. Alles ist besser, als im Hotel zu bleiben, bei diesem ekelhaften Typen, der sich jetzt wahrscheinlich gerade bei einem Gläschen Schampus köstlich über mich amüsiert und die nächste ›Schönheit‹ anbaggert.

Heute habe ich nicht einmal ein Auge für die herrliche Stadt München. Doch ich nehme mir fest vor, bald einmal privat hierherzufahren, mit Marc. Oder mit Katrin, meiner besten Freundin.

Als ich im Stau stehe, beschließe ich spontan, sie anzurufen und mich ein bisschen bei ihr auszuheulen, doch sie nimmt nicht ab. Wie lange haben wir uns eigentlich nicht gesehen? Ein paar Wochen sind es sicher, die seitdem vergangen sind … Aber es könnte auch länger sein – ich glaube fast, wir haben uns zuletzt so um Weihnachten herum gesehen.

Ist es wirklich schon über vier Monate her? Unglaublich! Das muss sich ändern. Wie so vieles in meinem Leben sich offenbar ändern muss, denke ich gerade.

Mit Katrin bin ich schon mein halbes Leben befreundet. Kerstin und Katrin. Wir waren wie Zwillinge! Wir haben das Pausenbrot geteilt und so manchen Liebeskummer. Davon hatte sie weiß Gott mehr als ich. Denn Katrin ist ständig verliebt, gerät aber irgendwie immer an die falschen Männer. Sie hat einen kleinen Sohn, Paul, und sobald ihr jeweiliger Herzallerliebster davon erfährt, ergreift er meist die Flucht. Weshalb Paul von Katrin alleine und ihrer großartigen Mutter Bea erzogen wird. Um Bea habe ich Katrin immer beneidet. Sie ist die großherzigste und wärmste Person, die man sich vorstellen kann. Ganz anders als meine Mutter! Wenn Katrin Probleme hatte, und davon hatte sie stets genug, bot Bea ihr immer Trost und Zuversicht, während meine Mutter nur Sätze verlor wie: »Reiß dich zusammen, Kind! Es gibt Schlimmeres im Leben!«

Für einen Teenager gibt es aber nun mal nichts Schlimmeres als eine Fünf in Mathe oder ein gebrochenes Herz. Das ist auch der Grund, warum ich meine Mutter in Momenten wie diesen nicht anrufe. Sie hätte ohnehin kein Verständnis für mich und würde nur wieder einmal sich selbst bejammern. Dabei ist sie erst 53 und eigentlich eine sehr hübsche Frau, mit blonden Locken und blauen Augen.

Doch oft habe ich das Gefühl, dass sie bereits mit dem Leben abgeschlossen hat und außerstande ist, sich an irgendetwas oder irgendjemandem zu erfreuen.

Ich habe keine Ahnung, warum sie so frustriert ist, denn im Grunde geht es ihr richtig gut. Eigentlich stammt sie aus der ehemaligen DDR, von einer kleinen Ostseeinsel namens Hiddensee, die vor Rügen liegt. Meine Mutter kam in den 80er-Jahren, noch vor der Wende, durch einen genehmigten Ausreiseantrag in den Westen. Da ein entfernter Onkel, der inzwischen längst verstorben ist, in Lindau am Bodensee lebte, fand sie hier im Süden eine neue Heimat.

Hier lernte sie auch meinen Vater Hans kennen, einen 15 Jahre älteren Finanzbeamten aus Friedrichshafen. Ich glaube allerdings nicht, dass die beiden eine gute Ehe führten.

Manchmal frage ich mich, warum sie überhaupt geheiratet haben.

Solange ich denken kann, hat meine Mutter an meinem Vater herumgenörgelt. Nichts konnte er ihr recht machen und ständig hielt sie ihm vor, dass er nicht genug Geld verdiene und wir nicht die tollen Reisen machen könnten, die sie sich so sehnlichst in der damaligen DDR gewünscht hatte.

Aber auch wenn wir uns keinen allzu großen Luxus leisten konnten, so lebten wir doch in einem eigenen kleinen Reihenhäuschen am Rande der Stadt. Meines Vaters ganzer Stolz war sein gepflegter kleiner Garten samt Gartenzwerg und Gartenlaube. Doch diese spießige Idylle genügte meiner Mutter nicht und sie wurde von Jahr zu Jahr unzufriedener. Ich glaube, insgeheim warf sie auch mir vor, dass sie meinetwegen keine Karriere machen konnte und immer nur daheim saß. Ständig sprach sie davon, dass sie ja das Hotelfach gelernt habe und wenn wir nicht wären, hätte sie überall auf der Welt eine interessante Tätigkeit in dieser Branche finden können. Mein Vater pflegte ihre Launen und ihre Gleichgültigkeit ihm gegenüber mit viel Geduld und einem Lächeln zu ertragen, wofür ich ihn sehr bewunderte und umso mehr liebte. Ständig sagte er ihr, wie schön sie sei und wie sehr er sie liebte und dass wir beide sein größtes Glück wären.

»Sobald ich in Pension bin und das Häuschen abbezahlt ist, mein Herz, holen wir alles nach! Dann reisen wir in all die fernen Länder, von denen du immer geträumt hast.«

Doch er sollte es nicht mehr erleben. Kurz vor der Erfüllung seines Traums – obwohl ich immer noch nicht sicher bin, dass es auch wirklich sein Traum war, denn eigentlich war er mit seinem Grill und seinem Gartenzwerg ganz glücklich – starb er mit Ende 50 an einem Herzinfarkt. Er schlief einfach ein und wachte nicht mehr auf. Für ihn war es ein schöner Tod, aber für mich war es die absolute Katastrophe. Ich war gerade mit der Schule fertig und fest davon überzeugt, dass sein Herz einfach zu schwach geworden war von dem Genörgel und der ewigen Unzufriedenheit meiner Mutter. Ich war mir sicher, dass diese jetzt, da er tot war und sie einen kleinen Betrag aus seiner Lebensversicherung ausbezahlt bekommen hat, ihre Reiseträume verwirklichen und endlich das Leben führen würde, das sie sich immer gewünscht hat. Und tatsächlich, kurz nach der Beerdigung buchte sie sofort eine Kreuzfahrt, was ich ihr schrecklich übel und zum Anlass nahm, mir, noch während sie fort war, eine eigene kleine Wohnung zu nehmen.

Ich machte sie verantwortlich für seinen Tod und konnte ihr nicht verzeihen, dass sie die vielen Jahre so kaltherzig mit ihm umgesprungen war.

Mein Vater dagegen war ein unglaublich warmherziger Mensch, den ich über alles liebte und den ich schrecklich vermisse. Er hat mir alles beigebracht, was man zum Leben braucht: Schwimmen, Rad fahren, Ski fahren, Auto fahren …

Und was hatte sie mir beigebracht? Nicht einmal das Kuchenbacken!

Als ich ganz klein war, waren wir einige Male in ihrer Heimat, auf der Insel Hiddensee, bei meinen Großeltern, gewesen. Ich erinnere mich an unbeschwerte Strandtage und glückliche Stunden bei Eis und Apfelkuchen in der kleinen Stube des Reetdachhäuschens von Oma und Opa. Doch irgendwie schaffte es meine Mutter, sich auch mit ihren Eltern und ihrer einzigen Schwester zu zerstreiten, weswegen wir dann irgendwann auch dort nicht mehr hinfuhren.

Ihre offizielle Begründung war, der Weg sei einfach zu weit, und als ich klein war, glaubte ich das auch. Doch irgendwann wunderte ich mich, dass Oma und Opa dann nicht einmal zu uns an den Bodensee kamen oder wenigstens einen Brief oder ein Päckchen an mich, ihr einziges Enkelkind, schickten.

Letztes Jahr habe ich zu Weihnachten meine Mutter zu Marc und mir eingeladen, nachdem sich die letzten Jahre das Weihnachtsfest bei ihr zu Hause als stinklangweiliger Pflichtbesuch erwiesen hat. Seitdem mein Vater nicht mehr lebte und in der Küche lautstark davon schwärmte, dass dieses Jahr die beste Gans aller Zeiten auf den Tisch käme, zog mich ohnehin nicht mehr viel in mein altes Zuhause.

Es war aber auch nicht so, dass ich meine Mutter an Weihnachten nicht bei mir haben wollte, Weihnachten ist schließlich Weihnachten. Trotzdem hätte ich viel lieber meine wenige freie Zeit mit Marc alleine genossen. Ich glaube, meine Mutter spürte, dass meine Einladung nur aus Pflichtgefühl entstanden war und sagte mir einen Tag vor Heiligabend ab mit der Begründung, dass ich mich schließlich das ganze Jahr nicht um sie gekümmert hätte und dass ›das an diesem einen Tag im Jahr auch nicht nachgeholt‹ werden könne.

Seitdem herrscht so etwas wie Funkstille zwischen uns. Ein- oder zweimal habe ich sie angerufen, aber jedes Mal unterbrach sie das Gespräch, weil sie angeblich etwas Wichtiges vorhatte. Und von sich aus meldete sie sich überhaupt nicht bei mir.

Deshalb kann ich sie auch jetzt nicht anrufen. Sie würde mich ja doch nicht verstehen. Dabei würde ich sie so gerne fragen, was ich jetzt machen soll.

»Es ist doch nichts passiert!«, würde sie vermutlich sagen. »Männer sind eben manchmal so. Vielleicht hast du es ja auch ein wenig provoziert, mit deiner Kleidung oder einem aufreizenden Lächeln?«

Jedenfalls könnte ich mir eine derartige Reaktion ihrerseits sehr gut vorstellen.

Andererseits: Möglicherweise würde sie so etwas sagen, aber vielleicht auch ganz anders reagieren. Ich weiß gerade überhaupt nicht mehr, was ich denken soll.

Es stimmt schon, eigentlich war ja gar nichts … vielleicht habe ich auch ein wenig übertrieben reagiert. Schließlich hat Herr Siegmund mir nur ein paar Komplimente gemacht.

Aber musste er mir deshalb gleich an den Busen fassen?

Ich bin wirklich nicht prüde, aber ich mag einfach nicht, wenn mir jemand ungefragt an die Wäsche geht!

Und außerdem: Es ist ja nicht nur der Zwischenfall im Aufzug. Ich fühle mich so müde und kaputt und habe gerade die schrecklichsten Kopfschmerzen meines Lebens. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mir gerade alles über den Kopf wächst und ich kurz vor einem Burn-out stehe. Ich brauche einfach dringend eine Pause und bin mit einem Mal richtig froh darüber, dass ich mich entschlossen habe, heimzufahren.

*

Inzwischen ist es dunkel geworden und ich habe vom schönen Allgäu fast nichts mitbekommen. An der Tankstelle in Lindau hole ich mir einen Cappuccino und fische mein Handy aus der Tasche. Zwei Nachrichten sind auf meiner Mailbox und während der heiße Kaffee mir gerade etwas neues Leben einflößt, höre ich sie ab.

Die erste stammt von Marc. Seine Stimme klingt nicht mehr so wütend wie noch vor zwei Stunden, aber immer noch sehr enttäuscht und sehr traurig.

Ich kann mir förmlich vorstellen, wie er sich gerade die dunklen Locken rauft, während er sagt: »Hör mal, Kerstin … Ich hab nachgedacht. Wie schon so oft in der letzten Zeit. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es zwischen uns einfach nicht mehr gut läuft. Ich bin dir doch irgendwie gar nicht mehr wichtig. Gemeinsamkeiten finden schon lange nicht mehr statt. Also … was ich meine … was ich damit sagen will … ich glaube, es ist vielleicht wirklich das Beste, du bleibst in München. Vielleicht gibt das uns beiden Gelegenheit, einmal zu überdenken, was wir überhaupt wollen. Und ob unser Weg noch ein gemeinsamer ist. Tja … also dann … mach’s gut!«

Was war das denn jetzt? Ich muss mich hinsetzen und gehe zu meinem Auto zurück. Was meint er denn damit? Gelegenheit, zu überdenken, was wir beide überhaupt wollen … das brauche ich doch nicht! Ich weiß doch, was ich will. Und zwar nach Hause, auf dem schnellsten Weg. Und ob unser Weg noch ein gemeinsamer ist? Natürlich, das muss er doch wissen. Warum sollten wir sonst heiraten? Wir lieben uns doch.

Ich habe nur so schrecklich viel zu tun. Mein Kopf tut inzwischen so weh, dass ich das Gefühl habe, er wird jeden Moment platzen. Hektisch krame ich in meiner Handtasche nach Aspirin, die ich immer bei mir habe, weil so etwas in letzter Zeit häufiger vorkommt. Ich spüle sie mit dem letzten Schluck Cappuccino aus der Papptasse herunter, bevor ich die nächste Nachricht abhöre.

Zuerst kann ich die Stimme überhaupt nicht zuordnen und denke für einen winzigen Moment, es könnte meine Mutter sein. Doch die Stimme hört sich etwas anders an und spricht mit einem leicht norddeutschen Akzent, als sie sagt: »Kerstin? Hier ist deine Tante Ingrid von der Insel Hiddensee. Ich weiß, wir haben lange nichts voneinander gehört und du wirst dich wundern, dass ich dich einfach so anrufe. Aber … es ist gewissermaßen ein Notfall und ich habe einfach keine Ahnung, wen ich um Hilfe bitten soll. Es ist nämlich so …« Sie macht eine kurze Pause und spricht dann leise weiter: »… ja, also es ist so, dass ich zu einer Untersuchung ins Krankenhaus muss. Angeblich ist es wichtig und kann nicht verschoben werden. Du weißt ja, dass ich die kleine Pension habe … und nun haben sich dummerweise Gäste angesagt, die hereingelassen und betreut werden müssen … und mir fällt niemand anderer ein, den ich fragen könnte. Deine Mutter und ich – nun, du kennst das ja. Und jemand Fremdem möchte ich das Haus einfach nicht anvertrauen. Es wären nur ein paar Tage … was meinst du, könntest du vielleicht – aber nur, wenn es geht – herkommen und mich hier vertreten? Überlege es dir in Ruhe und rufe mich dann zurück unter«, und dann nennt mir meine Tante ihre Telefonnummer.

Ich bin total perplex. Seit Jahren haben wir keinen Kontakt, sie muss wirklich sehr verzweifelt sein.

Meine Tante Ingrid hat nach dem Tod meiner Großeltern deren Reetdachhäuschen auf Hiddensee geerbt und führt die kleine Pension namens ›Silberdistel‹, soweit mir bekannt ist, alleine weiter. Es sind nur vier Fremdenzimmer, die sie über den Sommer mit Frühstück vermietet.

Wir haben früher selbst immer in einem der weiß möblierten Zimmer gewohnt, was ich als Kind wunderschön fand. Vom Fenster aus konnte man das Meer sehen und vor dem Haus stand eine weiße Gartenbank, auf der meine Großmutter immer saß und mir beim Spielen im Gras zusah. Da auf der Insel keine Autos fahren, konnte ich auf meinem kleinen Fahrrad immer gefahrlos über die Wiese gondeln. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern.

Mir ist schon klar, dass Tante Ingrid meine Mutter nicht um diesen Gefallen bitten kann, auch wenn diese nun wirklich Zeit genug dafür hätte. Aber schließlich sind sie seit so vielen Jahren zerstritten, dass ich nicht glaube, dass sie sich so schnell versöhnen können. Ich weiß zwar nicht, was damals vorgefallen ist, aber dieser Streit muss schon eine ernste Ursache haben. Wie auch immer, es ist unmöglich. Selbst wenn mich der Gedanke, wieder einmal nach Hiddensee zu reisen, unglaublich reizen würde, ich habe schlicht und ergreifend keine Zeit dazu!

Ich nehme mir vor, Tante Ingrid morgen früh von zu Hause aus zurückzurufen und ihr meine Situation zu erklären. Auch wenn es mir furchtbar leidtut, dass sie ins Krankenhaus muss, wird sie sicher Verständnis für mich haben, weil ich selbst so eingespannt bin. Ich hoffe nur, dass sie jemand Vertrauenswürdigen finden wird, der sie in den paar Tagen, in denen die Untersuchungen stattfinden, vertreten wird.

Aber zu allererst muss ich mich jetzt um meine Beziehung kümmern.

Der Kaffee und das Aspirin zeigen glücklicherweise ihre Wirkung und ich kann die letzten Kilometer bis Friedrichshafen einigermaßen schmerzfrei zurücklegen. Unterwegs überlege ich mir, was ich Marc alles sagen werde, damit er nicht länger böse auf mich ist. Ich muss ihm unbedingt klarmachen, wie wichtig er mir ist!

Als ich vor unserem Haus ankomme, sehe ich Licht im Wohnzimmer brennen. Gott sei Dank, er ist da und hat sich nicht vor Wut und Frust mit seinen Freunden in einer Kneipe verabredet!

Ich schließe die Tür auf und höre leise Musik. Erst mal tief durchatmen und ihm dann am besten gleich um den Hals fallen und ›Ich liebe dich‹ sagen … das ist sicher keine schlechte Idee. Doch was ist das?

Im ansonsten dunklen Wohnzimmer brennen Hunderte von Kerzen und es erklingt die schöne Stimme von Whitney Houston – von unserer ›Kuschelrock‹-CD.

Mir stockt der Atem: Marc liegt nackt auf dem Sofa … allerdings nicht allein. In seinen Armen liegt eine Frau, die ebenfalls nackt ist. Ich kenne sie, ihre Haare, ihre Figur … sie muss sich nicht einmal zu mir umdrehen. Katrin und Marc küssen sich gerade so leidenschaftlich, dass sie mich noch gar nicht bemerkt haben. Seine Hand streichelt zärtlich über ihren Rücken, während sie ihm liebevoll durch seine dunklen Locken fährt.

Fassungslos stehe ich da und kann mich nicht bewegen, geschweige denn auch nur ein Wort sagen. Die Situation ist so eindeutig, dass es auch gar nichts zu sagen gäbe.

Auf dem Absatz kehre ich um, trete aus der Wohnung und lasse die Haustür lautstark ins Schloss fallen. Noch im Auto stehe ich unter Schock, doch ich starte sofort den Motor und fahre mit quietschenden Reifen aus der gepflegten Einfahrt, nicht ohne noch einen Blick in den Rückspiegel zu werfen und den nackten Marc zu sehen, der in der Einfahrt steht und mir erschrocken und wie ein begossener Pudel hinterherblickt.

Nie wieder werde ich den Anblick der beiden auf unserem Sofa vergessen, in meinem ganzen Leben nicht!

2. Kapitel

Dat söte Länneken

Wie in Trance fahre ich immer weiter und weiter in der Dunkelheit am See entlang. Das ist es, was ich kann: Autofahren, denke ich traurig. Ich kann offenbar meinen Job nicht richtig ausüben und eine Beziehung pflegen schon gar nicht.

Warum sonst würde mich mein Zukünftiger betrügen – noch dazu mit meiner besten Freundin?

Doch: halt! Was passiert hier? Ich bin gerade dabei, mir die Schuld daran zu geben! Also wirklich … pah! Vor Wut schlage ich mit der flachen Hand gegen das Lenkrad. Wie konnten sie mir nur so etwas antun? Und vor allem: Wie lange geht das schon so? Ich bin ja sowieso nie daheim, da ist es doch problemlos möglich, mich zu hintergehen. Sogar in meiner eigenen Wohnung! Natürlich, wo denn sonst? Bei Katrin daheim ist ja der kleine Paul und wahrscheinlich Bea. Die beiden wären vermutlich doch etwas überrascht, wenn Marc dort über Nacht bliebe. Beim Gedanken daran krampft sich mein Magen zusammen. Ich habe das Gefühl, ich befinde mich in einem Albtraum.

Erst die Sache mit Herrn Siegmund und nun auch noch das. Am liebsten würde ich vor allem davonlaufen und niemals zurückkehren … weder zu dem Riesenberg Arbeit noch zu Marc. Aber wo soll ich denn nur hin?

Zu meiner Mutter? Nein, die würde doch nur wieder mir die Schuld geben und mich, zugegebenermaßen wahrscheinlich erst morgen früh, aber auf jeden Fall sicher wieder nach Hause zu Marc und an die Arbeit schicken.

Mit allerlei klugen Ratschlägen im Gepäck.

Nein, ich muss erst einmal zur Ruhe kommen.

Ganz automatisch hat mein kleiner Audi den Weg auf die Autobahn gefunden, auf der ich mechanisch und komplett in Gedanken versunken Kilometer um Kilometer abspule. Kurz vor Stuttgart bin ich jedoch so müde, dass mir beinahe die Augen zufallen. Ich verlasse die Autobahn und beschließe, mir irgendwo ein Zimmer zu nehmen. Nun bin ich froh, dass ich mein Köfferchen noch nicht ausgeladen hatte! Das Gasthaus ›Zur Sonne‹ in Plieningen kenne ich noch von einem früheren geschäftlichen Aufenthalt, und auch wenn der junge Mann an der Rezeption mich misstrauisch mustert, weil ich so spät noch auftauche, so hat er doch ein gemütliches kleines Einzelzimmer für mich zur Verfügung.

Ich ziehe mich nicht aus, sondern schleudere nur endlich die unbequemen Pumps von den Füßen und lasse mich aufs Bett fallen. In der Minibar findet sich tatsächlich ein kleines Fläschchen Rotwein, welches mir sicher beim Einschlafen helfen wird.

Ich muss unbedingt noch einmal Marcs Stimme hören und rufe seine Nachricht auf meiner Handy-Mailbox ab, in der Hoffnung, irgendein Anzeichen dafür zu finden, warum das passiert ist. So, wie er die Worte gewählt hat, klingt es beinahe wie ein Abschied … das fällt mir jetzt erst auf und ich kann die Tränen nicht länger zurückhalten.

Doch als ich noch völlig apathisch das Handy ans Ohr halte, ertönt da plötzlich die Nachricht meiner Tante Ingrid. Und auf einmal habe ich eine Idee, was ich machen könnte.

Ich nehme mir ein paar Tage Urlaub, schließlich habe ich im letzten Jahr nur gearbeitet. Und dann fahre ich nach Hiddensee …

Das ist weit genug weg von Marc und Katrin, Herrn Siegmund und allem, was mir heute wehgetan hat, und ich kann meiner Tante einen Gefallen tun. Schließlich war das so etwas wie ein Hilferuf, warum sonst sollte sie ausgerechnet mich anrufen, wenn es auch jemand anderen gäbe, der dafür infrage kommt?

Ich habe jetzt ganz klar vor Augen, was ich tun werde. Die kleine Insel in der Ostsee, auf der ich in meiner Kindheit so glücklich war, erscheint mir wie ein Rettungsanker in der Not.

Mit dem Gedanken, sofort am nächsten Morgen Tante Ingrid anzurufen, schalte ich mein Handy aus und falle gleich darauf in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen fühle ich mich, als hätte mich ein Bus gestreift. Ich habe das Gefühl, fast gar kein Auge zugetan zu haben und fühle mich hundeelend. Selbst das leckere Frühstück und die herzliche Stimmung in dem kleinen Gasthof vermögen mich nicht aufzuheitern, ebenso wenig wie die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster scheinen und einen schönen Frühlingstag versprechen. Ich schalte mein Handy an und entdecke sieben neue Nachrichten, vier von Marc und drei von Katrin, die ich allesamt sofort lösche.

Stattdessen wähle ich die Nummer, die mir Tante Ingrid gestern auf der Mailbox hinterlassen hat.

»Pension Silberdistel, guten Morgen!«

»Tante Ingrid? Hier ist Kerstin! Du hattest mich angerufen?«

»Kerstin … wie schön, dass du gleich zurückrufst! Wie gesagt, wir haben lange nichts voneinander gehört … wie geht es dir denn?«

»Ach, danke, mit geht es ganz gut. Aber was ist mit dir? Du musst ins Krankenhaus?«, frage ich und habe Mühe, bei der Frage nach meinem Befinden die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

»Ja, das ist wirklich blöd. Die Ärzte meinen aber, es müsste unbedingt sein und da werde ich vielleicht besser mal gehen …«, lacht sie unbekümmert.

»Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes? «, unterbreche ich ihren Redefluss. Ganz offensichtlich freut sie sich wirklich, dass ich gleich anrufe, denn ihre Stimme klingt warm und heiter.

»Nein, nein … es ist nur eine Routine-Untersuchung, wie das bei Frauen meines Alters eben so ist!«, wiegelt sie ab.

Frauen ihres Alters? Ich rechne nach. Ingrid ist ein paar Jahre älter als meine Mama, also wird sie ungefähr Mitte 50 sein.

»Der Termin ist Ende Mai und es wird nur ein paar Tage dauern. Das Problem ist aber, dass sich ausgerechnet zu dieser Zeit Gäste angesagt haben und ich habe keinen, der sie betreuen kann.«

»Keine Sorge – ich mache das!«, sage ich schnell.

»Kerstin, das muss nicht sein, wirklich. Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, dass ich dich überhaupt angerufen habe. Was musst du nur von mir denken? So lange haben wir nichts voneinander gehört. Du musst ja glauben, dass ich mich gar nicht für dich interessiere und mich erst jetzt melde, wo ich dich brauche. So ist es aber nicht, weil …«

»Aber nein! Das weiß ich doch. Ich hätte ja auch schon längst einmal bei dir anrufen können, Tante Ingrid. Um ehrlich zu sein, habe ich öfter einmal an dich und Hiddensee gedacht. Aber du kennst das ja sicher – der Alltag frisst einen manchmal komplett auf.«

»Eben.« Ingrid macht eine kurze Pause. »Und dann komme auch noch ich daher …«

»Ach was!«, unterbreche ich sie wieder. »Ich sag dir was: Ich helfe dir sehr gerne, Tante Ingrid. Ehrlich! Ich habe noch ein bisschen Urlaub und würde mich freuen, mal wieder etwas anderes zu sehen. Das wäre für mich sogar eine nette Abwechslung!«

»Wirklich?«, hakt Ingrid misstrauisch nach. Vermutlich hat sie überhaupt nicht damit gerechnet, dass ich so spontan zusage.

»Natürlich! Glaub mir, ich würde es dir nicht anbieten, wenn es nicht ginge!«

»Ja, dann …« Ingrid wirkt immer noch zögerlich.

»Ich komme wirklich gerne. Aber hättest du etwas dagegen, wenn ich schon früher zu dir fahre? Dann könntest du mir in Ruhe alles zeigen!«

»Natürlich kannst du schon eher kommen. Wann möchtest du denn? Wie gesagt, Ende Mai ist der Termin und wenn du vielleicht eine Woche vorher …«

»Morgen! Ich würde gerne morgen schon kommen, wenn es dir recht ist!«, antworte ich hastig, fast, als hätte ich Angst, ich könnte es mir noch einmal selbst anders überlegen.

»Morgen schon? Aber ja … natürlich, das wäre wunderbar! Kannst du denn so schnell von zu Hause weg? Musst du nicht arbeiten?«

»Doch, aber ich habe – wie gesagt – gerade Urlaub und weiß eigentlich gar nicht wirklich etwas damit anzufangen, weil alle anderen arbeiten müssen.« Ich lache verlegen.

»Wenn das so ist, Kerstin, und es dir wirklich keine Umstände macht … dann freue ich mich! Vielleicht kannst du dich ja nebenbei ein bisschen auf Hiddensee erholen. Ich bereite ein besonders schönes Zimmer für dich vor und hole dich natürlich am Hafen ab.«

›Oma bereitet das schönste Zimmer für euch vor und ich hole euch mit dem Boot in Schaprode ab‹, pflegte mein Opa fröhlich ins Telefon zu dröhnen, wenn meine Mutter und ich am Telefon unseren Besuch ankündigten. Natürlich besaß mein Opa ein kleines Boot, mit dem er an der verabredeten Stelle im Hafen von Schaprode auf uns wartete und auch sonst kleinere Ausflüge auf der Ostsee während unseres Aufenthalts mit uns unternahm.

»Sagst du mir Bescheid, wann du ungefähr ankommst? Du wirst doch sicher mit der Bahn fahren. Mit dem Auto ist es viel zu weit und hier auf Hiddensee brauchst du es sowieso nicht!«

»Das überlege ich mir noch«, antworte ich, aber nur, damit sie sich keine Sorgen macht. Schließlich habe ich mir längst vorgenommen, mit dem Auto zu fahren, schon allein, um etwas unabhängig zu sein. Und um etwas zu tun zu haben und nicht nachdenken zu müssen. »Rechne aber mal nicht vor morgen Abend mit mir!«

»Ach, Kerstin … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll … ich freue mich ja soo! Tausend Dank und gute Reise, mine Lütte!«

Mine Lütte … meine Kleine … wie lange hat das niemand mehr zu mir gesagt! Ich muss schon wieder die aufsteigenden Tränen herunterschlucken. Dabei habe ich mir heute Nacht geschworen, nicht mehr zu weinen, nicht wegen Marc, nicht wegen Katrin und schon gar nicht wegen dem blöden Siegmund.

»Bis morgen! Ich freue mich darauf, Hiddensee wiederzusehen – und dich natürlich auch!«

Gleich nachdem ich aufgelegt habe, rufe ich in der Firma an und sage, dass ich ab sofort wegen dringender ›Familienangelegenheiten‹ drei Wochen Urlaub brauche. Schließlich habe ich noch genug Urlaubstage, denn ich habe ja im letzten Jahr so gut wie keinen Urlaub genommen.

Die Sekretärin benimmt sich arrogant, verspricht aber, meinen ›Wunsch‹ an Herrn Siegmund weiterzuleiten, welcher mich dann sicher zurückrufen werde.

Noch während ich mein Köfferchen zurück zum Auto trage, schalte ich das Handy wieder aus. Ich habe weder Lust, mit Marc noch mit Katrin oder Herrn Siegmund zu telefonieren. Gleich nach meinem Check-Out aus dem gemütlichen Gasthof setze ich mich ins Auto und fahre auf die Autobahn Richtung Norden. Hiddensee, ich komme!

*

Obwohl ich auf meinem Weg quer durch Deutschland mehrere Kaffeepausen an diversen Raststätten eingelegt habe und kurz vor Berlin in einen kleineren Stau geraten bin, komme ich bereits am frühen Abend in Stralsund an. Mein Magen rebelliert, aber das wird an dem vielen Kaffee und dem wenigen Essen oder an meiner allgemeinen psychischen Verfassung liegen. Dafür ist das Kopfweh komplett verschwunden!

Ich halte mitten in der Stadt auf dem Marktplatz an und steige aus. Sofort spüre ich die wunderbar klare Nordluft. Allerdings auch einen eiskalten Wind und ich wünschte, ich hätte statt des Kostümchens jetzt meine warme Winterjacke an. Schnell binde ich meinen dicken Schal, den ich immer für den Notfall auf der Rücksitzbank liegen habe, um den Hals und mache mich zu Fuß auf den Weg durch die Stadt in Richtung Hafen.

Ich bin überrascht, wie wunderschön diese alte Hansestadt mit dem historischen Rathaus und den vielen schmucken Giebelhäusern, gemütlichen kleinen Cafés und schnuckeligen Geschäften doch ist.

Da ich die Geräusche meines Magens nicht länger ignorieren kann und inzwischen eindeutig als Hunger erkannt habe, steuere ich am Hafen ein kleines Fischrestaurant an. Direkt daneben befindet sich ein kleines Hotel namens ›Hiddenseer Hotel‹ – wenn das kein Zeichen ist!