Wo Elfen noch helfen - Andrea Walter - E-Book

Wo Elfen noch helfen E-Book

Andrea Walter

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Beschreibung

"We may not have cash, but we've got ash!", schrieben sich die Isländer angesichts Staatspleite und Vulkanausbruch auf die Fahnen und wählten einen Berufskomiker zum Bürgermeister von Reykjavik. Was macht dieses Land aus, in dem die Telefonbücher nach Vornamen sortiert sind und man im Winter die Bürgersteige beheizt, wo man im Schnellimbiss Schafskopf bestellen und der Welt einziges Penismuseum besuchen kann? Die Journalistin Andrea Walter hat sich auf Entdeckungsreise begeben und festgestellt: In Island ist das Leben so, wie wir es uns wünschen!

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Seitenzahl: 228

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»Ich kenne den deutschen Ausdruck für isländischen Lebensstil. Er heißt: Extremismus. Wir gehen immer den ganzen Weg, die ganze Zeit.«

HELGI, ein Kollege vom Morgunblaðið

»Ein Aufenthalt in Island ist immer mit Terminplanänderungenverbunden und mit Unwägbarkeiten. Aber du weißt doch, wieman hier reist: Du folgst dem guten Wetter. Und wenn eineStraße gesperrt ist, fährst du einfach einen Umweg und dasLeben ist gut.«

GISLI, ein anderer Kollege

»Wir glauben an das Leben vor dem Tod.«

DAGUR, noch ein Kollege vom Morgunblaðið

Inhaltsverzeichnis

InschriftVelkomin til undralandsins - Willkommen im WunderlandTEIL 1 - Mein erster Besuch im Land der Wunder
Velkomin heim - Willkommen zu Hause101 ReykjavíkNie war Recherche so einfach!Erste EheDas Flattern der NachtEin Monster in der KücheVersenkung totalIm Zweifel für die ElfenMorden im NordenRúntur – die Passeggiata des NordensDas Match des JahrhundertsBjörks Vater hat GrippeIsländische DelikatessenAllen zeigen, dass alles möglich istHai in HäppchenBitte Schuhe ausziehenVulkane und SkandaleDie SüdküsteGletscherlaguneDas einzige Museum seiner ArtSparenEinfach machen, was dir in den Sinn kommtAuge in Auge mit dem Schafskopf
TEIL 2 - Rückkehr ins Land der Wunder Ist Island noch, was es einmal war?
Heimkoma - Ich kehre heimSchweinskopfsülze mit SauerkrautTschernobylEndlich wieder normalDie beste Hummersuppe der WeltDas WiederholungsprinzipAus Angst wurde ein MuseumLegenden, die das Leben schriebSie fehlen uns Deutschen, die ElfenKeine Antwort von Vigdís und JónWas Island mit dem Himalaya zu tun hatDie Rocker im RathausBobbys BuchladenDer komische BürgermeisterBjörk ist vermutlich doch keine ElfeDer perfekte Staat
Die isländische AusspracheTakk fyrir - DankeschönCopyright

Velkomin til undralandsins

Willkommen im Wunderland

Stellen wir uns einmal ein Land vor, in dem alles Mögliche möglich ist und vieles anders läuft, als wir es kennen. Ein Land, in dem es nur wenige Bäume gibt, aber dafür einen Überfluss an Merkwürdigkeiten. Die Berge zum Beispiel sind nicht nur schwarz und grau und braun, sondern auch schwefelgelb, rostrot oder kupfergrün gesprenkelt. Und die Erde brodelt an manchen Orten und faucht und stinkt fürchterlich zum Himmel.

Nicht weit davon gibt es Gletscher und Eislagunen, die so zauberhaft schön sind und von solch zartem Blau, dass einem ganz warm ums Herz wird, obwohl es in ihrer Nähe eisig kalt ist.

In diesem Land leben unzählig viele Vögel und ihr Singen und Flattern klingt genauso betörend wie die schönsten Sinfonien der berühmtesten Komponisten. Manche von ihnen sehen aus wie kleine Pinguine mit bunten Schnäbeln, die beim Fliegen so aufgeregt mit den Flügeln schlagen, als wären sie zu dick geratene Kolibris.

In diesem Land gibt es Geister und die Fantasie kennt keine Grenzen. Die Natur macht die eigenartigsten Geräusche und ist noch so wild, dass man meint, man sei mitten in ein Wunderland geplumpst oder in einen verrückten Traum. Und das Schönste: Die meisten Menschen dort, selbst die Erwachsenen, erlauben sich noch, so zu sein, wie sie wirklich sind. Frei, voller lustiger Einfälle und Unfug im Kopf.

In diesem Land gibt es überall Pferde, Schafe und rauschende Wasserfälle. Und jeden Moment kann etwas Überraschendes oder völlig Unerwartetes geschehen, weshalb man die Welt immer wieder von Neuem betrachten muss. Die Stürme zum Beispiel sind so gewaltig, dass man meint, sie könnten Menschen und Häuser wegpusten. Jemand, den man fragt, wie es ihm geht, sagt: »Gut – bis was anderes passiert.« Weil die Erde jederzeit eine Revolution anzetteln könnte, beben und bersten und Feuer spucken, denn es gibt so viele aktive Vulkane, dass jeden Moment einer hochgehen kann.

Diese Gefahr macht den Menschen aber trotzdem keine große Angst. Sondern erinnert sie daran, jetzt zu leben und nicht irgendwann, wenn es besser passt, wenn all die Arbeit getan ist oder genügend Geld gespart, was sowieso nie der Fall ist.

Vieles ist ein Rätsel in diesem Land und die erstaunlichsten Dinge sind sonnenklar. Man hat zum Beispiel immer das Gefühl, am richtigen Ort zu sein, weil eigentlich überall etwas los ist und wenn nicht, selbst das Nichts interessant ist. Die Sonne geht in diesem Land im Sommer kaum unter und im Winter so gut wie gar nicht auf. Außerdem quillt so viel Energie aus dem Boden, dass man damit die Häuser, die Bürgersteige und eine Bucht im Meer beheizen kann. Jeder duzt sich in diesem Land, selbst den Präsidenten duzt man. Und es gibt eine Zeitung, die jeden Samstag die Namen aller Bewohner abdruckt, die in der kommenden Woche einen besonderen Geburtstag haben.

Die Geschichten liegen dort auf der Straße und lauern hinter jedem Stein. Die Luft ist so frisch wie ein Eisbonbon und das kalte Leitungswasser so lecker, dass man keine Limonade braucht. Es leben nur wenig Menschen in diesem Land, aber dafür ist jeder berühmt und das für etwas, das er von Herzen liebt. Es gibt wüste Ödnis in diesem Land und Einsamkeit und jedes Wetter innerhalb von einer Stunde. Regenbögen und Nordlichter sind so normal wie Wolken. Vielleicht macht deshalb jeder Mensch irgendetwas Kreatives, malt oder musiziert oder schreibt. Jedenfalls überlegt man schon scherzhaft, ein Denkmal aufzustellen, für den einzigen Bewohner, der nie in seinem Leben ein Gedicht geschrieben hat.

Stellen wir uns einmal ein Land vor, in dem Komiker Bürgermeister werden können und Elfen berühmt.

Dieses Land gibt es nicht?

Doch, das gibt es.

Es liegt kurz unter dem Polarkreis. Irgendwo zwischen Norwegen und der Eiswelt Grönlands.

Es heißt Island.

TEIL 1

Mein erster Besuch im Land der Wunder

Velkomin heim

Willkommen zu Hause

Natürlich hätte ich es mir denken müssen, und das nicht erst beim Blick aus dem Flugzeugfenster. Island ist nicht nur ein bisschen, sondern ziemlich anders. Durch die Wolken hindurch schaue ich auf eine seltsame Welt.

Unter mir liegen schwarze Ebenen, durch die sich Wasserarme schlängeln, die im Sonnenlicht golden funkeln. Nicht weit davon thronen gewaltige Gletschermassen auf Bergen. Von Nahem sind sie majestätisch schön. Von oben ähneln sie eher gigantischen Vogelschissen, die ein sagenumwobenes Tier hier abgeworfen hat.

Verzeihung, aber so ist das, wenn man sich auf eine Reise nach Island begibt. Schnell wachsen der Fantasie Flügel beim Anblick dieser Natur. Dafür muss man sich nur einmal historische Landkarten ansehen. Dort speien Vulkane an Land Feuer und im Meer tummeln sich Ungeheuer. Pferde mit Drachenschwänzen und Fische, die wie Dinosaurier aussehen, mit Raubtierpranken, fiesen Zähnen und Wasserfontänen, die aus ihren Köpfen sprudeln.

Aber von vorn. Es ist Sonntag, der 30. März 2003, und ich fliege zum ersten Mal nach Island. Ich habe ein Stipendium. Für ein paar Monate soll ich als Journalistin in Reykjavík leben und arbeiten. Beim Morgunblaðið, dem »Morgenblatt«, der damals größten isländischen Tageszeitung. Ich habe zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, dass ich immer wieder auf diese Insel zurückkehren werde, weil mich dieses Land seitdem nicht mehr loslässt.

Viel weiß ich damals nicht von Island. Außer, dass Björk hier herkommt, die berühmte Sängerin mit der heiser-verwunschen Stimme, der extravaganten Musik und den wilden Kostümen. Eine Freundin von mir träumt von der Insel, weil sie als Kind so gern Nonni und Manni guckte. Eine andere wegen Björk und der Band Sigur Rós. Wieder eine andere wegen der Gletscher und Vulkane. Ich möchte einfach mal raus. Und wissen, wie sich das obere Ende Europas anfühlt. Dort, wo die Natur noch ungezähmt ist.

Natürlich habe ich mich vorher schlaugemacht. Island ist die größte Vulkaninsel der Welt und nach Großbritannien der zweitgrößte Inselstaat Europas – wenngleich das Land so weit oben und so weit westlich im Nordatlantik liegt, dass man dort gefühlt schon halb in Nordamerika ist. Island hatte damals knapp 300 000 Einwohner, heute sind es gut 20 000 mehr. Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl Bonns, Mannheims oder Bielefelds. Dabei ist es ein ganzer Staat.

Und in dem wohnen fast alle an einem Fleck: Zwei Drittel der Bevölkerung wohnen im Ballungszentrum in oder um die Hauptstadt Reykjavík herum. Der Rest des Landes ist nur spärlich besiedelt. In Island leben drei Menschen pro Quadratkilometer, bei uns sind es 229. Die gesamte Fläche der Insel beträgt 103 000 Quadratkilometer, das ist ungefähr so groß wie die Fläche der ostdeutschen Bundesländer oder die von Bayern und Baden-Württemberg zusammengerechnet. Die Landesmitte ist unbewohnt, weil sie ein Reich aus Lavafeldern, Gletschern und Vulkanen ist. Eine Ödnis, in der es sich schlecht leben lässt. Vom Flugzeugfenster aus schaue ich auf die Südküste, an der wüste Wellen auf dunkle Strände zurollen.

Auf der Landzunge Reykjanes im Südwesten Islands, an deren Spitze der internationale Flughafen Keflavík liegt, ragen schneebedeckte Berge aus einer Ebene aus Lava. Reykjanes befindet sich direkt auf dem mittelatlantischen Rücken, der sich diagonal von Südwesten nach Nordosten über die Insel zieht und Island so vulkanisch macht. Denn hier, mitten im Land, driften die Kontinentalplatten Nordamerikas und Europas auseinander. Jedes Jahr um ungefähr zwei Zentimeter, weshalb die Erde dort regelmäßig rumort und Magma spuckt, um die Lücke wieder zu schließen. In Island ist man dicht dran am heißen Herz der Welt. Vor dunklen Bergen tänzeln weiße Schwaden aus Dampf.

Die Landung verläuft noch normal. Doch dann geschieht etwas Eigenartiges. Kaum raus aus der Maschine sind plötzlich so gut wie alle, die an Bord zuvor noch Isländisch sprachen, verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Es dauert, bis sie am Rollband erscheinen, das sich längst dreht und die Koffer ausspuckt. Was haben sie nur so lange gemacht?

Die Antwort: Sie waren im Duty-free-Geschäft, fast alle von ihnen. Ein paar Tage später werde ich begreifen, wieso. Das Land hat eine der höchsten Alkoholsteuern Europas. »Jemandem einen auszugeben, ist in anderen Ländern eine Einladung«, sagte mal jemand zu mir. »Bei uns ist es eine Investition.« Was die Isländer wohlgemerkt trotzdem nicht davon abhält, spendabel zu sein. Und das, obwohl ein Glas Wein im Restaurant damals knapp zehn Euro kostet und ein Bier in der Bar rund sieben.

Ein paar Wochen später werde ich noch etwas verstehen, nämlich, weshalb man mich am Flughafen so gründlich filzt, meine Wanderstiefel durchleuchtet, mich und meinen Koffer von oben bis unten checkt. Aber dazu später. Wenn es um Gefängnisse geht.

Zunächst bin ich frei. Ich schiebe meinen Rollwagen, auf dem so entzückend »Velkomin heim« (willkommen zu Hause) steht, Richtung Ausgang. Ein Isländer bleibt, kaum ist er vor die Tür des Gebäudes getreten, stehen. Er atmet tief ein und lächelt beseelt. Ich schaue ihn an. Er sagt: »Die Luft! Ich vermisse sie jedes Mal, wenn ich weg bin.« Die isländische Luft, sagt er, sei »eine der besten auf der Welt«. Und es stimmt, die Luft in Island ist wirklich sehr frisch. Abgesehen davon sind die Isländer auf vieles stolz, was es in ihrem Land gibt. Aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich steige in den Bus, der mich nach Reykjavík bringt.

Eine Dreiviertelstunde dauert die Fahrt vom Flughafen in die Hauptstadt. Der Weg führt vorbei an einer Landschaft aus Lava, die sich am Wegesrand auftürmt. Eine eigenwillige Mondlandschaft. Eigentlich seltsam, dass sich hier überhaupt irgendwann Menschen niedergelassen haben. Zugleich berührt mich diese reduzierte Natur. Das Meer ist so schön dunkelblau, der Blick kann so weit schweifen und staunen über die Innereien der Erde, bedeckt mit einer feinen Schicht aus Moos. Außerdem ist es, als könnte man bereits fühlen, dass die Erdkruste hier dünner ist und das Leben ungebremster. Lavageröll als Abbild der isländischen Seele. Eine Poesie der Urgewalten. Ein Stück Land, das einfach noch so ist, wie es nun einmal ist. Wie die Welt, als sie erschaffen wurde.

»Dort, wo der weiße Dampf aufsteigt«, sagt jemand und zeigt in die Ferne, »liegt die Blaue Lagune.« Es ist das merkwürdigste Freibad der Welt. Ein milchig-blauer See mitten in der Lava, der, wie so vieles in Island, aus Zufall entstanden ist. Zunächst war er bloß das Abfallprodukt des geothermischen Kraftwerks, das in der Nähe liegt und in dem man aus 2000 Metern Tiefe 240 Grad Celsius heißes Wasser nach oben pumpt, um mit seinem Dampf Frischwasser zu erhitzen. Das abgekühlte Wasser leitete man früher einfach in die Lavafelder, wo sich die warme Brühe sammelte und nichts weiter damit geschah. Bis eines Tages in den 1980er-Jahren ein Werksmitarbeiter auf die Idee kam, darin zu baden. Der Rest ist eine beachtliche Erfolgsgeschichte: Man stellte fest, dass das Thermalwasser Menschen mit Hautkrankheiten guttut. So wurde die Lagune erst zum Heilbecken, dann zur Touristenattraktion.

Und noch einem Zeichen von Islands Energie begegnet man gleich zu Beginn, kurz bevor man ins Hauptstadtgebiet kommt. Man fährt an einer türkisgrünen Fabrikanlage mit rot-weiß-gestreiften Silos vorbei. Es ist das älteste Aluminiumwerk der Insel, das es seit 1969 gibt. Schon bei meinem ersten Aufenthalt ist der Bau neuer Werke ein Reizthema in Island. Da die Produktion von Aluminium extrem viel Energie verbraucht, die Island im Überfluss hat, reißen sich ausländische Hersteller um Standorte auf der Insel. Und während die einen Einnahmequellen und Arbeitsplätze wittern, fürchten die anderen den Ausverkauf der Natur.

101 Reykjavík

Kurz hinter der Aluminiumfabrik beginnt die Zivilisation. In der Lava tauchen Wohnsiedlungen auf. Der Bus fährt durch die Randgebiete von Reykjavík, die zum Teil eigene Städte sind. Wir fahren durch Hafnarfjörður (Hafenfjord), Garðabær (Wallgehöft) und Kópavogur (Kleine Bucht der Seehundjungen) bis wir Reykjavík erreichen. Eine Schönheit auf den zweiten Blick. Die Ausläufer sind ein eher eigenwilliges Konglomerat aus praktischen Betonbauten an breiten Straßen. Dafür ist die Innenstadt von Reykjavík sehr charmant.

Die Wohnung, die ich beziehen soll, liegt mitten im Zentrum, im Bezirk »101 Reykjavík«, nach dem auch ein legendärer isländischer Film benannt ist. Er handelt von dem 28-jährigen Hlynur, der noch zu Hause bei seiner Mutter wohnt, nicht arbeitet, am liebsten Pornos guckt, sich durchs Reykjavíker Nachtleben schlägt und irgendwann versehentlich die Geliebte seiner Mutter schwängert. So viel als Vorgeschmack auf isländische Filme – und das Nachtleben.

Meine Wohnung liegt im Dachgeschoss eines kleinen, grünen Hauses in der Nähe vom Hafen und wurde erst in der Nacht zuvor fertig renoviert. »Das ist typisch für Island, alles auf den letzten Drücker zu machen«, sagt mein Vermieter, der eigentlich Norweger ist, sich in dieser Hinsicht aber offensichtlich gern angepasst hat. Im Winter vermietet er die Zimmer in dem Haus monatsweise an Studenten, im Sommer für einzelne Nächte an Touristen.

Da meine Mitbewohner ausgeflogen sind, mache ich einen ersten Spaziergang durch die Stadt. Den schönsten Ausblick hat man vom Turm der Hallgrímskirkja aus. Man sieht die Kirche schon, wenn man von Weitem auf die Stadt zufährt, weil sie erhaben auf einem Hügel steht und ihr Turm wie eine Rakete in den Himmel ragt. Sie ist aus Beton und ihre Fassade ein Orgelwerk aus feinen Pfeilern, die an die Basaltsäulen in der isländischen Natur erinnern. Auf dem Platz vor der Kirche thront eine Statue. Es ist der Wikinger Leifur Eiríksson. Islands ganzer Stolz. Denn »der Glückliche«, wie er auch genannt wird, entdeckte Amerika lange bevor Kolumbus das tat, und zwar schon um das Jahr 1000 herum. Was wiederum gut zum Selbstbild der Isländer passt. Geht es um Weltgeschichte, so ist man überzeugt, kommt man an ihrer Insel einfach nicht vorbei. Und so erfährt jeder Besucher früher oder später, dass Island einer der Auslöser für die Französische Revolution gewesen ist.

Ist doch klar: Im Jahr 1783 brach die 25 Kilometer lange Feuerspalte Laki aus, die im Süden des Landes liegt. Und sie hörte nicht auf, zu spucken, bis ein ganzes Jahr vergangen und so viel Lava aus ihrem Inneren hervorgesprudelt war, dass sie fast die Fläche des ungarischen Plattensees einnahm. Es war einer der verheerendsten Vulkanausbrüche in historischer Zeit. Denn eine gewaltige Aschewolke verdunkelte die Atmosphäre, mehr als 120 Millionen Tonnen Schwefeldioxid verpesteten die Luft und vergifteten das Weideland. Es folgte eine Hungerkatastrophe bei der ein Fünftel der isländischen Bevölkerung starb, genauso wie die Hälfte der Rinder, drei Viertel der Pferde und mehr als 80 Prozent der Schafe. Man überlegte damals ernsthaft, alle Isländer von der Insel zu evakuieren. Doch das war noch nicht alles. Ein diesiger Dunst, angefüllt mit giftigen Gasen, waberte auch herüber zum europäischen Festland und verschleierte in den folgenden Sommern den Himmel. Es kam zu heftigen Ernteausfällen, besonders in England und Frankreich. Folglich stiegen die Brotpreise. Die Franzosen gingen auf die Barrikaden. Der Rest ist Geschichte. Sie wissen schon: Sturm auf die Bastille, rollende Köpfe, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

So ist das übrigens oft in Island. Man hört von den erstaunlichsten Theorien oder es zeigen sich Verbindungen zwischen Island und dem Lauf der Welt, wenn nicht gar des Universums, die auf den ersten Blick hanebüchen erscheinen. Doch dann ist – zumindest auf die eine oder andere Art – immer etwas dran. Darüber nachzusinnen, inwieweit die Welt um Island kreist, ist eine Art nationales Hobby der Isländer. Deshalb verweisen sie auch gern darauf, dass der französische Autor Jules Verne seinen Roman Reise zum Mittelpunkt der Erde auf ihrer Insel beginnen lässt. Denn mal ehrlich, wo sonst sollte er liegen, der Zugang zum Zentrum der Welt?

Aber zurück zum Turm der Hallgrímskirkja. Von hier oben blicke ich auf die Landzunge, auf der Reykjavík liegt und auf ein buntes Dächermeer in grasgrün, himmelblau und ochsenblutrot. »Unsere Häuser sind so bunt, weil wir alle Individualisten sind«, hat mir eine Stadtführerin einmal erklärt. Rund um die Landzunge herum erstreckt sich das Meer. Zur Rechten, auf der gegenüberliegenden Uferseite, prangt der Hausberg Esja. Zur Linken, mitten in der Stadt, liegt der Stadtsee Tjörnin. Über 40 Vogelarten sind hier zu Hause.

Ab Mai 2010 werden an diesem See übrigens noch ein paar mehr schräge Vögel hausen. Denn da wird der beliebteste Komiker Islands zum Bürgermeister gewählt und zieht mit seinen Künstlerfreunden ins Rathaus ein, das direkt am Ufer des Sees gelegen ist. Doch davon ahnt man im Jahr 2003 noch nichts. Genauso wenig wie von der schweren Finanzkrise, die 2008 über das Land hereinbricht oder von dem Vulkanausbruch, der Europas Flugverkehr zwei Jahre später lahmlegen wird. Aber so ist Island: Immer für Überraschungen gut.

Das nur nebenbei. Denn vorerst ist das Jahr 2003 und die Stadt Reykjavík erscheint in meinen Augen reizend harmlos. Ein Vorurteil, das sich mit dem ersten Freitagabend zwar ändern soll, auf den ersten Blick aber wirkt die Stadt unschuldig wie ein Islandlamm. Die bunten Häuser mit den weißen Fensterrahmen geben ein typisch skandinavisches Bild ab, nur dass viele von ihnen mit Wellblech verkleidet sind, weil der Regen in Island gern horizontal aufschlägt. Weshalb man hier auch keine Regenschirme benutzt. Durch die Häuserreihen schaue ich hinab auf das Meer. Vom Berg Esja in der Ferne sieht man jede Faser, vom Nordatlantik das dunkle Blau. Nie habe ich eine Hauptstadt gesehen, in der man einen solch erfrischend-klaren Blick auf die Umgebung hat.

Es geht auf die Laugavegur. Die wichtigste Straße der Stadt, die Lebensader, in der alles zusammenfließt. Über ihrem Eingang prangt ein Schild, auf dem » The Main Shopping Street« steht. Was man allerdings auch von allein herausbekommen hätte, denn so viele gibt es davon nicht. Laugavegur bedeutet übrigens »Weg der heißen Quellen«. Früher zogen die Frauen hier entlang, wenn sie ihre Wäsche waschen wollten; heute steht im Tal der heißen Quellen, am Ende der Straße, das größte Schwimmbad der Stadt. In der Haupteinkaufsstraße bummelt man vorbei an lässigen Boutiquen, Souvenir-Shops, Galerien, Buchläden, Restaurants und Cafés.

Mein erster Kontakt zu einem Einheimischen erfolgt etwas unvermittelt. Ein Typ auf der Straße spricht mich an. Er murmelt etwas Unverständliches, in einer Sprache, die fremd und rätselhaft klingt, mal hart, mal weich, mal wie der wispernde Wind. Ich zucke die Schultern und sage: »Sorry, I don’t understand.« Darauf er: »Do you have money?«

Ein Bettler also. Ich krame ein paar Münzen hervor, auf deren Rückseiten Dorsche, Delfine, Strandkrabben und Seehasen graviert sind und auf der Vorderseite die vier Schutzgeister Islands: ein Adler, ein Drache, ein Stier und ein Riese. Meine Kollegen beim Morgunblaðið werden sich später kaputtlachen. Darüber, dass meine erste Begegnung mit einem Isländer ausgerechnet mit einem Bettler war. Bettler sind selten in Island. Es ist das Jahr 2003, in Island herrscht nahezu Vollbeschäftigung, die meisten Isländer haben nicht nur einen, sondern gleich mehrere Jobs und nicht nur ein, sondern gleich mehrere Autos. Der Lebensstandard auf der Insel ist beeindruckend.

Nie war Recherche so einfach!

Als ich am nächsten Tag in den Bus steige, um zur Redaktion des Morgunblaðiðs zu fahren, strömt ein intensiver Geruch durch das Fahrzeug. Es dauert, bis ich den Duftherd lokalisiere. Es ist der Mann vor mir. Er knabbert Trockenfisch. Den liebt man in Island, man bekommt ihn in jedem Supermarkt. Weiße Flocken trockenen Fisches, als Snack zwischendurch. Manche bestreichen ihn mit etwas Butter oder nehmen ihn als Wegzehrung auf Wanderungen mit, weil er so gesund und so eiweißhaltig ist.

Beim Morgunblaðið, dessen Redaktion damals noch neben dem Einkaufszentrum Kringlan liegt, empfängt man mich herzlich. Und wenn ich bis dahin noch dachte, Island liege isoliert und abgeschieden von der Welt, werde ich spätestens jetzt eines Besseren belehrt. Manche Kollegen sprechen fließend Deutsch und erzählen von Interviews mit Nina Hagen, andere wollen wissen, was aus dem Kannibalen von Rothenburg geworden ist oder ob man auch schon mal bei den Bayreuther Festspielen war. Fast alle sprechen perfektes Englisch und waren schon weiß Gott wo in der Welt. Die Reiselust scheint den Isländern in den Genen zu liegen, seit die ersten Siedler mit ihren Holzbooten hier ankamen. Zwar gibt es in Island das Sprichwort »Daheim ist es am besten«. Aber eben auch das Gegenstück »Dumm ist, wer zu Hause hocken bleibt«. Und so findet man in diesem Land kaum jemanden, der nicht in der Welt herumgekommen ist.

Die Redaktion sieht ein bisschen so aus, wie man es aus amerikanischen Filmen kennt. Große Räume, die durch Trennwände unterteilt sind. Jeder Redakteur hat eine eigene Box mit blauen Wänden. Ich bekomme eine am Fenster neben Gisli, dem Redakteur, der für das Sonntagsmagazin schreibt. Er trägt einen grünen Parka, Vollbart, hat blaue Augen und fast immer, wenn er etwas erzählt, ein schelmisches Grinsen. Und er liebt es, Geschichten zu erzählen. Welch Glück es ist, ausgerechnet neben ihm zu sitzen, werde ich in den nächsten Wochen erfahren.

Erst einmal bekomme ich einen Kaffee, das isländische Nationalgetränk, das man gern so stark trinkt, dass es einem die Schuhe auszieht. Zum Glück steht neben dem Kaffeeautomaten ein großer Milchspender. Denn nachmittags trinken die Isländer gern ein Gläschen Milch. Dann ist es Zeit, die ersten Fragen zu stellen. »Was macht eigentlich Vigdís Finnbogadóttir?« Von ihr habe ich gelesen. Sie war die erste Frau der Welt, die in einem demokratischen Land zum Staatsoberhaupt gewählt wurde. Von 1980 bis 1996 war sie die Präsidentin. Natürlich frage ich mich, wieso gerade die Isländer so fortschrittlich waren.

»Vigdís?«, sagen die Kollegen. »Die ist nett! Ruf sie doch mal an!« Schon habe ich ihre Handynummer. Vom Redakteur für Popkultur möchte ich wissen, ob der Sänger der Band Sigur Rós eigentlich auf Isländisch singt oder in einer Fantasiesprache. Seine Antwort: »Frag ihn doch selbst!« Schon habe ich auch seine Nummer. Ich bin verblüfft. Nie war Recherche so einfach!

Aber das ist natürlich auch kein Wunder. In einem Land, in dem nur gut 300 000 Einwohner leben, kennt jeder jeden oder ist sogar miteinander verwandt. Da bleiben kaum Geheimnisse. Außerdem steht hier sowieso jeder im Telefonbuch und das ist nebenbei nach Vornamen sortiert. Denn man duzt sich. Jeden. Sogar den Präsidenten. Außerdem würde die Sortierung des Telefonbuchs nach Nachnamen das Leben nicht leichter machen, da fast jeder in einer Familie einen anderen hat. Das ist jetzt keine Anspielung auf die große Anzahl an Patchworkfamilien, die es in Island gibt, sondern auf das Namensprinzip. Die Kinder bekommen den Vornamen des Vaters, dazu die Endung -dóttir für Tochter oder -son für Sohn. Ich würde in Island Andrea Eckhardsdóttir heißen, weil ich die Tochter von Eckhard bin. Oder, da es neuerdings auch in Mode ist, die Kinder nach der Mutter zu benennen, Brigittedóttir. Das Namensprinzip war früher überall im nordgermanischen Raum üblich, aber in Island hat es sich gehalten.

Vielleicht, weil es die Leute bis heute interessiert, wer aus welcher Sippe stammt. Eine beliebte Frage, wenn zwei Isländer sich zum ersten Mal treffen, lautet: »Woher kommst du?«, und damit ist nicht nur der Heimatort gemeint, sondern auch, aus welcher Familie. Die Isländer sind ganz versessen auf Stammbäume.

»Gisli?«, frage ich.

»Jau!«, sagt er. Das isländische »ja«, wird zwar »já« geschrieben, aber wie ein fröhliches »jau« ausgesprochen.

»Bist du etwa auch mit Björk verwandt?«

Gisli, in der Nachbarbox, tippt etwas in seinen Computer. Dann sagt er: »Wir haben gemeinsame Verwandte im 14. Jahrhundert. « Es gibt nämlich eine Datenbank namens Íslendingabók (Buch der Isländer), erklärt Gisli, in der die Isländer online nachschauen können, mit wem sie wie verwandt sind. Manche wenige können ihre Stammbäume bis zu den ersten Siedlern zurückverfolgen.

Und noch etwas ist bemerkenswert in Island, die Nachrufseiten im Morgunblaðið. In Island stirbt nämlich niemand, ohne hinterher einen Artikel in der Zeitung zu bekommen. Sie werden von den Verwandten und Freunden geschrieben, an die Zeitung geschickt und dann seitenlang abgedruckt. So erfährt man allerhand Interessantes. »Er war ein guter Isländer – er starb am Nationaltag«, hat mal einer über einen Verwandten geschrieben. Ein anderer bemerkte: »Eigentlich hatte er an diesem Tag etwas anderes vor.« Ich habe mal einen Schriftsteller getroffen, dessen Nachrede für einen Verwandten aus Versehen immer wieder nicht abgedruckt wurde, weshalb er das Gefühl bekam, der Verwandte sei noch gar nicht tot. Wobei viele Isländer ohnehin davon überzeugt sind, dass die Seelen der Verstorbenen die Erde nicht verlassen, sondern noch irgendwie anwesend sind.

Aber zurück zu den Lebenden. Die Leser des Morgunblaðiðs dürfen nicht nur Nachrufe verfassen, sondern auch Leserbriefe zu allen möglichen eigenen Themen schreiben, sie müssen sich dabei nicht einmal auf die Artikel in der Zeitung beziehen. Wer etwas zu erzählen hat, bekommt hier eine Plattform. Warum auch nicht? Das ist übrigens eine beliebte Frage in Island. Eine andere Zeitung druckt ja auch jeden Samstag die Namen derer ab, die in der kommenden Woche einen runden Geburtstag haben.

Ich werfe einen Blick auf meine Themenliste. Da ich kein Isländisch spreche und mein Stipendium wie ein Austausch funktioniert – ein isländischer Journalist ist zur gleichen Zeit in Berlin – werde ich von hier aus vor allem für deutsche Medien arbeiten. Ich erzähle Gisli, dass ich eine Geschichte über den Krimiautor Arnaldur Indriðason schreiben möchte, der in Deutschland damals gerade seinen ersten Krimi veröffentlicht hat.

»Arnaldur?«, sagt Gisli. »Der ist nett. Er hat mal Filmkritiken für uns geschrieben.« Schon habe ich seine E-Mail-Adresse. Dann allerdings mache ich meinen ersten großen Fehler. Ich erzähle, dass ich außerdem den Auftrag habe, für eine Zeitschrift eine Geschichte über die traditionelle isländische Küche zu schreiben. Das hätte ich besser nicht tun sollen. Denn Gisli geht in seiner Freizeit nicht nur gern jagen und hat zu Hause einen halben, ausgestopften Bären über seinem Kamin hängen, den er mal in Kanada geschossen hat, er liebt auch die traditionelle, isländische Küche. »Wir können ja mal einen Schafskopf essen gehen«, sagt er. Ich sage erst mal nichts. Und gucke aus dem Fenster.

Wo eben noch Sonne war, ist plötzlich Hagel, dann Regen, dann Schnee. »Wenn du das Wetter nicht magst, dann warte fünf Minuten«, sagt Gisli und grinst. Das sagt man so in Island. Weil sich das Wetter von einer Minute auf die andere ändern kann. Und dort, wo sich das Wetter unentwegt ändert, wo außerdem Geysire aus dem Boden schießen und ewig irgendwo Lava kocht, das lerne ich schnell, macht man keine langfristigen Pläne. Sondern lebt. Jetzt. Und intensiv. Das sollte ich bald darauf an meinem ersten Freitagabend in Reykjavíks wildem Nachtleben erfahren.

Erste Ehe