Wohin der Weg uns führt - Ulrike Allert - E-Book

Wohin der Weg uns führt E-Book

Ulrike Allert

4,9

Beschreibung

Elena ist eine junge, hübsche, erfolgreiche Frau und hat alles, was man sich wünschen kann. Eine eigene Wohnung, einen tollen Job und auch ihre große Liebe hat sie bereits gefunden. Doch plötzlich trifft sie ein Schicksalsschlag nach dem anderen. Während sie den Tod ihres geliebten Vaters zu verarbeiten versucht, erfährt sie Dinge, die ihr Leben völlig auf den Kopf stellen und ihre wunderbare Welt droht auseinander zu fallen. Wird Elena es schaffen, ihre Ängste zu überwinden und ihre heile Welt zusammenzuhalten? Ein Roman über Liebe und Wut; Glück und Unglück; Angst und Mut und einer Prise Schicksal.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Danksagung

Vorankündigung

Impressum

Kapitel 1

Ich liebe den Herbst. Besonders, wenn er so golden ist, wie in diesem Oktober. Die Sonne blinzelt durch das bunte Blätterkleid der Bäume. Alles sieht verändert aus. Durch die sanften Farben erscheint alles etwas freundlicher. Ich nehme einen tiefen Atemzug dieser frischen Herbstluft, welche nach Wald, Regen, Moos und Pilzen duftet und fühle mich gleich ein klein wenig besser. Maggie schaut verstohlen auf den Tennisball in meiner Hand, wohlwissend, dass ich ihn gleich werfen werde. Sie wetzt dem Ball hinterher als hätte sie Angst ihn nicht wieder zu finden, wenn sie nicht vor dem Aufprall bei ihm sein würde. Mit wedelndem Schwanz und aufgeregtem Hecheln bringt sie ihn mir zurück, legt ihn vor meine Füße und wartet erneut auf den nächsten Wurf. Doch meine Gedanken driften ab. Driften ab zu einem Zeitpunkt, an dem alles noch in Ordnung war. Einem Zeitpunkt, an dem ER noch am Leben war. Einem Zeitpunkt, an dem mein Vater noch nicht von uns gegangen war.

„Braten, Braten. Immer nur Braten. Seit eh und je wenn du zum Essen kommst, bereitet dir deine Mutter dein Leibgericht zu. Du hättest nicht so früh ausziehen dürfen. Dann würde sie sich nicht mit ihren Depressionen plagen, seufzend in deinem Zimmer stehen und jedes Wochenende Braten auftischen“, sagte mein Dad lautstark mit einem breiten Grinsen im Gesicht, um meine Mutter zu ärgern. Mum war schon längst in der Küche verschwunden, um den Nachtisch vorzubereiten.

 „Pudding, Pudding. Immer nur Pudding“, sagte ich mit nachgeahmter Mine.

„Wenn du nicht jedes Wochenende nörgeln würdest, dass wir immer nur Braten essen, gäbe es vielleicht auch mal einen anderen Nachtisch als deinen Lieblingspudding.“ 

Er ermahnte mich, gefälligst nicht so frech zu sein. Wir versuchten beide uns zusammenzureißen, schafften es aber natürlich nicht und prusteten laut los. Meine Mutter lächelte bei unserem Anblick. Nach dem Essen gab ich ihm einen Kuss auf die Wange und fuhr zu meiner Wohnung im 20km weit entfernten Hamington.

„Tschüss, Kleines! Bis nächsten Sonntag.“

Doch jenen Sonntag sollte es nicht noch einmal geben.

Maggies Bellen entreißt mich wieder meiner Erinnerung. Sie ist ein sehr aufgeweckter und mitfühlender Hund. Sie spürt es sofort, wenn mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Mit ihren großen Augen und leicht schief gelehntem Kopf blickt sie mich fragend an. Tränen kullern abermals über meine Wangen. Dies war wohl einer der schlimmsten Tage in meinem Leben. Ein Tag, den ich eigentlich noch in weit entfernter Zukunft geglaubt hatte. Doch das Schicksal holt einen manchmal schneller ein, als man denkt. Schon seit ich denken kann, glaube ich an das Schicksal. Ich glaube, dass alles in dieser Welt einen Sinn hat und alles was wir tun, Auswirkungen auf unser Schicksal in irgendeiner Weise hat. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, sagte mein Vater immer. Doch nun ist er tot. Innerhalb weniger Wochen aus dem Leben gerissen. Das war sein Schicksal. Und wir Hinterbliebenen müssen lernen, damit umzugehen. Das ist nicht fair. Sein ganzes Leben lang hatte er von morgens bis abends gearbeitet und brachte es trotzdem jeden Abend fertig, mir noch eine Geschichte vorzulesen. Er war ein sehr liebevoller Vater und auch Ehemann. Man spürte förmlich das positive Karma, wenn man dieses Haus betrat. Meine Eltern behandelten sich stets mit Respekt und waren sehr aufopfernd in ihrer Ehe. Sie waren stets bemüht, einander glücklich zu machen. Ich hatte immer gehofft, einmal genauso glücklich zu werden und die Liebe zu finden, die sie einander geschenkt hatten. Meine Mutter, meine arme Mutter. Es hat mir fast das Herz zerrissen, sie heute so bitterlich weinen zu sehen. Sie hat ihr Liebstes verloren. Jede Ecke und jeder noch so kleine Gegenstand in unserem Haus erinnert sie an ihn. Unerträglich. Ob sie je wieder so lachen wird wie früher? Die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie war am Boden zerstört. Meine sonst so starke Mutter. Gebrochen vom Lauf des Lebens. Gebrochen vom Schicksal ihres Mannes. Ich hoffe ihr Herz fügt sich eines Tages wieder zusammen. 

Es war eine schöne Trauerstunde. Sofern man das überhaupt so sagen kann. Überall waren Kerzen aufgestellt. Sie tauchten den kleinen Raum in ein sanftes Licht, welches sich an den bunten Gläsern der Kapelle brach. Im vorderen kuppelartigen Bereich lag ER in seinem Totenschrein umringt von creme- und bordeauxfarbenen Tüchern und großen weißen Kerzen. Vor ihm ausgelegt jene Blumen, die wir beim Eintritt niedergelegt hatten. Zur linken standen zwei Staffeleien mit großen Bildern vom ihm, eines aus seinen jungen Jahren und eines aufgenommen vor ein paar Monaten. Auf beiden vernahm man sein herzliches Lächeln, welches zu keiner Zeit gekünstelt oder unecht ausgehen hatte. Er lachte sehr gern. Nie hätten wir vor ein paar Monaten gedacht hier zu sein und meinen Dad zu beerdigen. Die Rednerin verstand es, uns alle in Erinnerungen schwelgen zu lassen. Erinnerungen an die schöne Zeit mit ihm und an sein Wesen, welches immer gutmütig und liebevoll war. Erinnerungen aus meiner Kindheit, die ich nie vergessen werde. Erinnerungen an sinnlose Streits in meiner Pubertät, die er am Ende nur belächeln konnte. Sie führte einem vor Augen, was für ein toller Mann mein Vater war und dass wir dankbar sein sollten für die Zeit, die wir mit ihm verbringen durften. Im Hintergrund lief seine Lieblingsmusik. Auf den Bänken, die gerade mal 4 Personen Platz geboten hatten, überkam mich ein Gefühl der Beklommenheit. Doch so konnte man sich gegenseitig trösten. Und Trost hatten wir bitter nötig. Vor allem meine Mum. Die Zeremonie dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Jeder nahm auf seine Weise Abschied. Schluchzen, Flüstern und Taschentuchgeknister durchströmte die Kapelle und ließ einen nicht zur Ruhe finden. Die Sargträger kamen herein und geleiten seinen Körper zur letzten Ruhestätte. Hunderte Menschen hatten sich versammelt, um meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Leute aus unserer Stadt, Arbeitskollegen, Freunde, entfernte Bekannte. Alle waren gekommen, um an seinem Grab Abschied zu nehmen. Ich bin sicher, er hätte gelächelt, wenn er die Menschenmengen gesehen hätte. Die ganze Zeit über versuchte ich meiner Mutter etwas Kraft zu geben und sie zu stützen. Es war unglaublich zu sehen, wie viele Leute meinem Vater noch etwas zu sagen hatten. Ich warf eine Rose hinunter und einen letzten Brief, in dem ich alles aufgeschrieben hatte, was ich ihm letztendlich nicht mehr sagen konnte. 

„Ich liebe dich und danke dir unendlich für die schöne Zeit. Ich wünschte, du wärst noch nicht von uns gegangen.“

„Elli!“, höre ich eine sich nähernde Stimme rufen. „Elli, wir müssen langsam zur Trauerfeier. Deine Mum wartet sicher schon.“

Ian blickt mich besorgt an mit seinen graugrünen Augen, welche im Moment die einzigen sind, die mir etwas Halt geben können. Er gibt mir einen tröstenden Kuss auf die Stirn und wischt mir meine Tränen von den Wangen. Etwas aufatmend falle ich ihm in die Arme.

„Maggie, komm. Du musst wieder rein.“

Im Bad mache ich mich noch etwas frisch und wasche mein Gesicht und meine Augen mit kaltem Wasser. Augenblicklich spüre ich den kühlenden Effekt und das Brennen lässt etwas nach. Irgendwann kann man doch keine Tränen mehr haben oder? Kopfschmerzen erinnern mich in diesen Tagen immer wieder daran, was passiert ist. Bald ist es überstanden. Nach der Trauerfeier wird wieder jeder seiner Wege gehen und der Schmerz wird tagtäglich ein Stück weit erträglicher werden. Hoffentlich.

Ich betrete mit Mum und Ian den Raum. Alle in schwarz. Die meisten haben sich schon wieder gefangen und erzählen sich bei einem Gläschen Geschichten aus früheren Zeiten. Es ist seltsam. Gesichter, die ich schon seit meiner frühen Kindheit nicht mehr gesehen habe. Zu solch einem Anlass kommen alle zusammen. Warum erst jetzt? Warum nicht, als Dad noch gelebt hat? Natürlich geht niemand davon aus, dass sein Bruder oder sein Neffe so plötzlich diese Welt verlässt. Jeder lebt in dem Glauben, es würden alle genauso lang auf dieser Welt verweilen wie er selbst. Jeder denkt, er hätte schon noch genug Zeit für einen Besuch. Nächstes Jahr auf jeden Fall. Aber auf einmal ist da kein nächstes Jahr mehr. Man hat seine Chancen vertan. Im schlimmsten Fall konnte man noch nicht einmal auf Wiedersehen sagen. Doch das Karussell des Lebens dreht sich einfach weiter.

„Mein herzliches Beileid“, sagt Tante Luise.

Ich war neun, als sie mit ihrem Mann mal einen Nachmittag bei uns verbracht hatte, weil sie auf der Durchreise waren. Sie hatten mir einen Lolli geschenkt.

„Unser aufrichtiges Beileid.“

Marie und Evan. Sie waren zuletzt beim 40. Geburtstag meines Dads und haben die Party bis morgens fünf Uhr in Gang gehalten obwohl sich alle schon sehnlichst ihr Bett herbeigewünscht hatten.

„Es tut mir ja so unendlich leid, Elli!“

Mit trauriger Mine kommt Isa auf mich zu und umarmt mich so fest, dass mir fast die Luft wegbleibt. Mein Cousinchen. Wie habe ich sie vermisst. Ich hätte sie lieber unter anderen Umständen wieder getroffen. Sie besitzt die Gabe, es einem immer etwas wärmer ums Herz zu machen, auch wenn es noch so kalt ist. Ihre ehrliche, gefühlsbetonte Art spendet mir Trost in jeglicher Hinsicht. Bei ihr weiß ich, dass sie alles ernst meint, was sie sagt. In diesem Augenblick kommt auch Cassy zurück, meine beste Freundin seit ich denken kann. Sie war nach der Beerdigung ebenfalls kurz nach Hause gefahren, um sich frisch zu machen. Sie wohnt in Hamington, genau wie ich. Als wir die Schule beendet hatten, sind wir zeitgleich in unsere ersten Wohnungen gezogen. Wir hatten beide eine Lehrstelle dort bekommen, wobei Cassy einen völlig anderen Berufszweig eingeschlagen hat, als ich. Ich wollte schon immer schreiben, Journalistin werden. Das Hamington Journal hat mir ein Zuhause gegeben. Cassy fühlte sich im Lebensmittelhandwerk wohler und arbeitet dort in einer Bäckerei und Konditorei. Meine Eltern hatte es ein Stück weit beruhigt, dass ich nicht völlig allein in eine andere Stadt gezogen war. Wir fanden es einfach klasse, unabhängig zu sein. Seit jeher machen wir alles zusammen. Gehen aus, wenn uns danach ist. Schreiben und telefonieren beinahe täglich. Erzählen uns einfach alles. Wie beste Freunde nun mal so sind.

Ohne sie wäre die Trauerfeier nicht einmal annähernd das, was sie jetzt ist.

Meine Mum hält sich wacker. Sie hat sich bei mir eingehakt und ich bemerke, wie sie bei den Beileidsbekundungen auf Durchzug schaltet. Wahrscheinlich denkt sie dasselbe wie ich. Oder sie ist einfach nur zu fertig mit der Welt, um sich dies auch noch alles anzuhören. Ich bitte Ian uns was zum Trinken zu holen. Seit meinem morgendlichen Kaffee mit Milch habe ich nichts weiter getrunken. Der pochende Schmerz macht sich schon wieder in meinem Kopf breit.

„Wer ist der Typ dahinten?“, fragt Isa mich und deutet mit dem Zeigefinger zum Tresen. Er muss etwa in meinem Alter sein. Recht groß, blonde kurze Haare und schmal gebaut. Von hinten kann ich nichts weiter erkennen aber auch sonst scheint er mir nicht vertraut. Ich frage meine Mum aber sie winkt nur ab. Sie möchte sich etwas ausruhen also bringen Isa und ich sie in den Vorraum des Geschehens, wo sie auf einer kleinen Couch Platz nimmt. Es lässt mir keine Ruhe. Ich muss ihn ansehen. Irgendetwas in mir verlangt danach. Irgendetwas an ihm kommt mir sonderlich bekannt vor, obwohl ich sicher bin ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Isa nickt mir zu und gibt mir so zu verstehen, dass sie eben auf meine Mum aufpasst. Ich schnappe Ian am Arm und ziehe ihn mit zur Bar, wo der geheimnisvolle Fremde sitzt.

„Hallo“, sage ich etwas auffordernd.

„Hi“, entgegnet er ohne mich eines Blickes zu würdigen.

„Kanntest du meinen Vater gut?“, frage ich weiter.

„Nicht besonders“, erwidert er, immer noch auf sein halb leeres Glas blickend. Bevor ich zur nächsten Frage ausholen kann, leert er sein Glas in einem großen Schluck und wirft sich seine Jacke über die Schulter.

„Na dann.“ Seine blitzblauen Augen streifen die meinen für einen kurzen Moment. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter und ich habe das Gefühl, gleich den Halt zu verlieren. Ehe ich mich versehe hat Ian bereits seinen Arm um meine Hüfte gelegt, um mich zu halten. Sein besorgter Blick lässt seine Frage erahnen.

„Alles in Ordnung Elena? Geht’s dir gut? Was ist denn los?“

„Seine Augen, hast du seine Augen gesehen?“, stammele ich vor mich hin.

„Sie sehen genauso aus wie Dads. Ganz genauso. Und seine Stimme.“

Ich glaube, ich werde noch verrückt. Ich muss wissen, wer das gewesen ist. Wissen, warum er diese Augen und dieses Lächeln hat. Warum war er hier? Warum war er bei der Beerdigung meines Dads, wenn er ihn doch nicht so besonders kannte? Ich muss meine Mum fragen. Ian begleitet mich in den Vorraum, doch Isa betont, dass sich meine Mum erstmal etwas ausruhen muss. Sie hat sich hingelegt. Nun gut. Ich warte also. Ian geht wieder mit mir rein und weicht mir seit dem kleinen Vorfall vorhin nicht mehr von der Seite. Nach etlichen Beileidsbekundungen machen sich die ersten Verwandten wieder auf den Heimweg. Einige umarmen mich und wünschen uns viel Kraft für die nächste Zeit. Die werden wir auch brauchen. Besonders meine Mum. Als der letzte Bekannte gegangen ist, trotte ich zur Bar und bestell mir einen Tequila.

„Auf dich Dad, wo immer du auch sein mögest. Ich hoffe du hast deinen Frieden gefunden.“

Nach zwei weiteren spüre ich die Anwesenheit meiner Mum hinter meinem Rücken. Ich brauch mich noch nicht einmal umzudrehen, um zu wissen, dass sie da ist. Ohne ein Wort zu hören spüre ich bereits, was sie im Begriff ist zu sagen.

„Elena. Du bist auf der Beerdigung deines Vaters. Wenn er das sehen würde“, sagt sie mit zutiefst enttäuschter Mine.

„Kann er aber nicht, Mum. Denn er ist einfach von uns gegangen. Er wird so etwas nie wieder sehen können, Mum. Denn er ist tot. TOT!“, schluchze ich ihr entgegen bevor ich abermals in Tränen ausbreche. Ian zieht meinen Kopf an sich heran und lässt mich weinen.

„Beruhige dich, Kleines“, flüstert er mir zu.

 Ich reiße mich wieder zusammen und blicke zu meiner Mum. In diesem Moment fällt es mir wieder ein.

„Mum, vorhin an der Bar saß ein junger Mann etwa in meinem Alter. Ich habe ihn noch nie vorher gesehen. Er hat blonde, kurze Haare und blaue Augen genau wie Dad. Ich hatte so ein seltsames Gefühl, als er mich angesehen hat. Weißt du, wer das war?“, frage ich mit unsicherer Stimme.

„Sicher nur ein Bekannter deines Vaters. Vielleicht von der Arbeit“, entgegnet sie schnell und dreht sich bereits um, um zu gehen.

Ich fühle, dass sie nicht die Wahrheit sagt. Mum konnte schon immer schlecht lügen und das weiß sie auch. Selbst als ich acht Jahre alt war und sie fragte, ob es den Weihnachtsmann wirklich geben würde, entgegnete sie mir nur, dass viele Menschen an ihn glauben. Sie versuchte immer, es so hinzustellen, dass ich mit der Antwort zufrieden war. Natürlich war ich damals alles andere als das. Ich war bitter enttäuscht, dass ich jahrelang Wunschzettel an jemanden geschrieben hatte, der gar nicht existiert. Dennoch war ich irgendwann froh darüber, die Wahrheit zu kennen. Also frage ich sie erneut.

„Mum, wir beide wissen, dass das nicht ganz die Wahrheit ist. Du verheimlichst doch etwas.“

Sie dreht sich zu mir und hält den Blick gesenkt. Kein gutes Zeichen.

„Weißt du mein Schatz. Wir hatten gehofft, es dir noch gemeinsam beibringen zu können“, sagt sie mit etwas ängstlicher Stimme.

„Mir WAS beibringen zu können, Mum?“, frage ich nun etwas energischer.

„Vielleicht ist dies nicht der richtige Moment dafür“, entgegnet sie unsicher.

„Es ist genau der richtige Moment. Nun sag es schon!“, sage ich langsam etwas zornig.

Ich höre mein Herz klopfen. Mir wird auf einmal ganz heiß. Alles um mich herum ist unwichtig. Voller Anspannung sehe ich auf die Lippen meiner Mutter in Erwartung dessen, was sie gleich sagen würde. Eine leise Ahnung macht sich in mir breit. Diese Augen. Diese eisblauen Augen, in die ich schon so oft geblickt hatte und nie vergessen würde. Die kurzen, blonden Haare, die meines Vaters aus seinen Jugendjahren glichen. Plötzlich schießt mir das Bild in den Kopf. Das Bild auf der Trauerfeier zur Linken seines Sarges. Das Bild, auf dem er etwa in meinem Alter war. Der Junge war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Mein Herz klopft noch schneller, denn nun dämmert es mir langsam. Meine Augen bleiben an den Lippen meiner Mutter hängen.

„Er, er ist …. Er ist dein Bruder.“

Kapitel 2

Völlig fassungslos starre ich sie an. Alles kocht in mir. Ich kann nicht glauben, was sie mir da gerade gesagt hat. Bruder. Mein Bruder. Ich soll einen Bruder haben? Nicht, dass ich mir in meinen 24 Jahren nicht je Geschwister gewünscht hätte. Eine Schwester wäre mir natürlich lieber gewesen. Mit ihr hätte ich mich austauschen und über meine Probleme quatschen können. Wir hätten alles zusammen gemacht. Den gleichen Kindergarten und die gleiche Schule besucht. Uns vielleicht über Jungs gestritten. Vom ersten Kuss erzählt oder dem ersten Mal. Wären nachts zusammen durchs Fenster geklettert, um auf diese eine Party zu gehen. Hätten uns nach dem Abschluss in derselben Stadt beworben und hätten vielleicht eine eigene Wohnung gehabt. Alles wäre ein wenig einfacher gewesen. Es erschien mir immer absurd ein Einzelkind zu sein. Aber das sprengt alle Rahmen. Ich spüre wie sich meine Kehle zuschnürt. Ein dicker Kloß steckt in meinem Hals. Es ist, als würde die Welt über mir zusammenbrechen. Alle Last der letzten Tage stürzt in diesem Augenblick auf mich ein und drückt mich nieder. Ian verschwimmt vor meinen Augen. Cassys Klackerschuhe kommen in schnellen Schritten auf mich zu. Ich versuche noch mich abzustützen, doch es gelingt mir nicht.  

„Elli!“, höre ich Ian noch besorgt rufen.

Doch alles wird schwarz.

Eine Hand streicht über meine Haare und berührt zärtlich meine Wange. Was ist passiert? Träume ich? Wo bin ich? Ich öffne langsam meine Augen und sehe Ian an meinem Bettrand sitzen.

„Ian“, wispere ich.

Voller Freude und Besorgnis sieht er mich an.

„Elli, Gott sei dank. Du bist aufgewacht. Ich hab’ mir solche Sorgen gemacht. Du bist umgekippt. Die Ärzte sagen, dein Kreislauf ist zusammengebrochen.“

Mein Kreislauf? Naja, das wundert mich eigentlich nicht. In den letzten Tagen habe ich mich überwiegend von Kaffee ernährt. Von ausreichend Schlaf mal ganz abzusehen. Die drei Tequila haben mir dann wahrscheinlich den Rest gegeben und natürlich die erschreckende Aussage meiner Mutter, dass ich schon mein ganzes Leben lang einen Bruder habe. Wieder beginnt alles in mir zu lodern. Schon der Gedanke daran schürt ein tiefes Feuer in mir. Ich kann es immer noch nicht glauben.

„Deine Mum sagte, ich soll sie anrufen, wenn du aufgewacht bist!“

Anrufen? Auf keinen Fall. Ich will sie in diesem Augenblick nicht sehen oder gar hören. Es geht mir gut. War doch nur ein kleiner Schwächeanfall. Der Geruch dieses Zimmers weckt Erinnerungen, die ich jetzt nicht zulassen kann. Das Wasser steht mir schon in den Augen. Ich muss hier raus.

„Ian. Ich will nach Hause“, sage ich bestimmt.

„Aber Elli, die Ärzte sagen …“, beginnt er, es mir auszureden.

„Sofort Ian! Ich muss hier raus!“, entgegne ich mit zittriger Stimme und schlucke meinen Schmerz hinunter. Ian läuft sofort los, um die Formalitäten zu klären.

„Wo will denn dein Göttergatte so schnell hin?“

Cassy kommt wie immer im richtigen Moment.

„Er sagt Bescheid, dass ich das Krankenhaus verlasse.“

„Bitte was? Ich glaube, ich habe meine lebensmüde, beste Freundin gerade nicht richtig verstanden.“

Sie sieht mich vorwurfsvoll an und ich weiß, dass sie im Grunde Recht hat. Doch ich kann einfach nicht anders.

„Cassy, ich halte es hier drinnen einfach nicht aus. Alles, einfach alles erinnert mich daran!“

Wehleidig sehe ich sie an und sie begreift sofort, dass ich nicht nachgeben werde, also nimmt sie meine Tasche und packt meine Sachen zusammen.

Ich werde ausdrücklich darauf hingewiesen, das Krankenhaus auf eigene Gefahr zu verlassen. Wegen der Bluttests würde ich noch informiert werden. Endlich in Freiheit hole ich erst einmal tief Luft. Dieser Krankenhausgeruch ist das Letzte, was ich im Moment in der Nase haben will. Ian packt meine Sachen in den Kofferraum und fährt mich nach Hause.

Es war wieder so ein langer Tag im Büro. Die Sonne schien in das große Fenster neben meinem Schreibtisch. Ich wusste, dass ich heute mit diesem Artikel fertig werden musste und stellte mich schon mental auf ein Dinner mit meinem Computer ein, als das Telefon klingelte.

 „Elena, ihre Mutter auf Leitung 2“, sprach meine Sekretärin.

„Danke Eluise.“

Mich durchkam ein seltsames Gefühl. Meine Mutter rief mich selten in der Firma an. Was sage ich, eigentlich nie. Es sei denn, es ist etwas passiert. Voller Anspannung hebe ich den Hörer ab.

„Mum?“, fragte ich nach einer gefühlten Ewigkeit der Stille. Ich hörte sie am anderen Ende bereits schluchzen. Kein gutes Zeichen.

„Mum? Was ist denn passiert?“, fragte ich voller Sorge.

„Elena, du musst so schnell wie möglich ins Krankenhaus kommen. Du musst dich von deinem Vater verabschieden. Bitte beeile dich. Er hat nicht mehr viel Kraft.“

Nicht mehr viel Kraft? Verabschieden? Ich glaubte in einem schlechten Traum zu sein. Ich dachte, es wäre ein kleiner Schlaganfall gewesen. Ein paar Sprachstörungen sollten zurückgeblieben sein. Und jetzt das? Als ich endlich realisiert hatte, dass es wohl die letzte Chance sein würde meinen Vater noch einmal zu sehen, ergriff ich schnell meine Tasche und eilte aus dem Büro.

 „Miss Carter!“, hörte ich Eluise mir noch hinterherrufen, aber ich hatte keine Zeit zu verlieren. 20 Kilometer. Warum nur war ich 20 Kilometer weit weg gezogen? 10 hätten es auch getan. Würde ich es noch rechtzeitig schaffen? Ich hätte es mir nie verziehen, ihm nicht Lebewohl gesagt zu haben. Mein Fuß drückte immer stärker auf das Gaspedal. Ich wünschte, ich würde mehr PS unter dieser Haube haben. Dann wäre ich wahrscheinlich schon längst da gewesen. Meine Gedanken kreisten wild durcheinander. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich hatte solche Angst. Angst davor, was mich gleich erwarten würde. Angst davor, ihn leiden zu sehen. Angst davor, ihn sterben zu sehen. Das rote Gemäuer des Krankenhauses kam nun immer näher. Natürlich war kein Parkplatz auf Anhieb frei. Aus den Augenwinkeln sah ich einen Nothalteparkplatz. Ohne weiter darüber nachzudenken, stellte ich meinen alten Taunus dort ab. Ich eilte den Krankenhausflur entlang bis zur Aufnahme.

„Carter!“, schrie ich der Dame entgegen während ich nach Luft schnappte. Sie gab die Buchstaben in den Computer ein. Alles kam mir vor wie in Zeitlupe. „Intensivstation. Folgen sie den roten Wegweisern auf dem Boden.“ Gesagt, getan. Die Schwester auf der Station brachte mich zu seinem Zimmer. Vor der Tür hielt ich einen Moment inne, um mich zu beruhigen. Langsam drückte ich die Türklinke hinunter und schob die Tür auf. Ich sah die Tränen in den Augen meiner Mutter. Sie saß auf der Bettkante und hielt eine Hand an die Wange meines Dad’s. Seine Augen wanderten in meine Richtung. Er sah so klein aus in diesem großen Bett. Sein Gesicht wirkte etwas eingefallen und hatte jede Farbe verloren. Dunkle Ringe zierten seine Augen und ließen erahnen, dass er schon einige Nächte nicht zur Ruhe gekommen war. Er atmete schwer. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln als er mich erblickte. Sofort ging ich auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ein dicker Kloß machte sich in meinem Hals breit. Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Ich blickte in seine eisblauen Augen, die mir so oft schon eine Wärme vermittelt hatten, wie nur er es konnte. Er nickte mir leicht zu und gab mir so zu verstehen, dass es schon in Ordnung sei. Sein Mund war nicht mehr in der Lage Wörter zu bilden. Ich hielt seinen Kopf in meinen Händen und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

 „Ich liebe dich, Dad!“, hauchte ich ihm entgegen und verließ das Zimmer. Ich wusste, dass es nun bald soweit sein würde. Ich lehnte mich draußen an die Wand und sank in die Hocke. Mein Gesicht vergrub ich in meinen Händen. Ich konnte das alles nicht verstehen. Ich fühlte mich so unglaublich schrecklich. Als würde sich mein Innerstes zerreißen. Wie könnte ich nur weiterleben ohne meinen Vater? Nun würde ich es wohl bald herausfinden. Nach wenigen Minuten kam meine Mum aus dem Zimmer. Ihr Blick verriet mir, dass es vorbei war. Mein Vater war tot.

Zu Hause angekommen höre ich schon das Gejaule von Maggie. Das Schwanzwedeln kann ich sogar durch die noch geschlossene Tür wahrnehmen. Kaum ist sie einen kleinen Spalt geöffnet, huscht sie auch schon hindurch, um mich zu begrüßen. Ihre Freude tut mir gut. Maggie wäre niemals in der Lage mir etwas vorzumachen. Sie würde mich nie belügen oder mir gar mein ganzes Leben lang etwas verheimlichen.

Ich schlängle mich an Maggie vorbei in meinen kleinen Flur und nehme sofort das Blinken meines Anrufbeantworters wahr. Ian bemerkt meinen Blick. „Das ist sicher deine Mum. Sie hat schon etliche Male angerufen“, bemerkt Ian vorsichtig.

„Sie war außer sich, dass du das Krankenhaus einfach verlassen hast“, setzt er noch hinterher.

„Ja und ich bin auch außer mir, Ian. Sag ihr Bescheid, dass es mir gut geht. Ich möchte heute niemanden mehr hören oder sehen“, sage ich leicht genervt.

„Möchtest du, dass ich bei dir bleibe?“, fragt Ian mit ernsthaft besorgter Stimme.

„Ich mache mir Sorgen Elena.“

Seine hübschen Augen blicken in die meinen und am liebsten würde ich zustimmen, aber ich brauche etwas Zeit für mich. Zeit, um über all das nachzudenken, was passiert ist. Zeit, um damit klarzukommen, dass ich wohl einen Bruder habe. So viele ungeklärte Fragen hämmern auf mein Gehirn ein.

„Nein Ian. Ich brauche etwas Zeit für mich. Das verstehst du doch oder?“, entgegne ich mit einem Anflug von Lächeln und gebe ihm einen flüchtigen Abschiedskuss. Er nimmt meinen Kopf in seine Hände und legt seine Stirn an meine.

„Natürlich, aber melde dich bitte, wenn irgendetwas ist. Ich bin immer für dich da, Elena“, wispert er mir zu und verweilt ein wenig länger auf meinen Lippen, bevor er die Tür hinter sich zu zieht.

Ohne mir die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter anzuhören, drücke ich die Taste. Alle Nachrichten gelöscht. Ich sehe aus dem Fenster und bemerke erst jetzt, dass es bereits Abend geworden ist. Mein Magen knurrt aber ich würde eh nicht einen Bissen hinunter bekommen. Also lege ich mich ins Bett. Ein Bild von meinem Dad, meiner Mum und mir steht auf meinem Nachttisch. Mein Blick schweift zu meinem Dad. Ob er die ganze Zeit über gewusst hatte, dass er einen Sohn hat? Wie hat er von mir erfahren? Oder aber weiß er gar nicht, dass ich seine Schwester bin? Er war auf der Beerdigung, also muss er schon vorher Kontakt zu meinem Dad gehabt haben. Wie alt er wohl ist? Ich habe ihn gar nicht nach seinem Namen gefragt. Ich nehme an, dass er mein Halbbruder ist. Meine Eltern hätten doch nie ihren eigenen Sohn weggegeben. Fragen über Fragen. Und nur eine Person kennt die Antworten. Meine Mum. Ich muss mit ihr reden. Gleich morgen. Nagut heute. Es ist bereits drei Uhr morgens und ich habe noch kein Auge zugetan. Maggie hingegen hat es sich an meinem Fußende gemütlich gemacht und grunzt vor sich hin. Gerade will ich zu meinem Handy greifen um Ian zu schreiben, als er leise versucht die Tür aufzuschließen. Er zieht seine Schuhe aus und schleicht durch den Flur, um mich nicht zu wecken. Ich liebe diesen Mann. Was würde ich ohne ihn machen. Wir sind in derselben Stadt aufgewachsen und sind uns damals hin und wieder über den Weg gelaufen. Das Schicksal wusste wohl schon damals, dass unser Weg uns eines Tages zusammenführt. Irgendwie war das Timing damals nie das richtige gewesen. Entweder hatte er eine Freundin oder ich einen Freund. An einem Abend ging ich mit meinem derzeitigen Liebsten ins Kino. Ich weiß noch, wir hatten die Plätze 26 und 27 in Reihe 2b. Nick wollte näher am Gang sitzen, also nahm ich Platz 27. Nachdem die Werbung zu Ende war, trudelten noch ein paar Kinobesucher ein. Ich hatte mich schon gefreut, dass die Plätze neben uns leer blieben. So hätte ich meinen leeren Popcornbecher darauf stellen können. Aber zu meinem Pech steuerten zwei der Nachzügler direkt auf uns zu. Der junge Mann setzte sich neben mich. Seine Freundin einen Platz weiter. Mit Kinositzen ist das so eine Sache. Die Armlehnen sind meist so dünn, dass sie kaum zwei Personen Platz bieten könnten. Umso besser, wenn man mit seinem Partner im Kino sitzt. Dann kann man sich ankuscheln und braucht nur eine Seite vom Sitz. Mit Nick jedoch war die Beziehung noch nicht so innig. Als ich mich hinunter beugte, um meine Tasche vom Boden zu heben, landete meine rechte Hand auf der Armlehne genau auf seiner. Diese eine Berührung ließ alles in mir kribbeln. Ich blickte ihn an. Er sah auf unsere Hände und anschließend in meine Augen. Für eine halbe Minute schien die Zeit still zu stehen. Seine kurzen, braunen Haare fielen vorne bis kurz unter seine Augenbraue. Der Pony legte sich leicht schief auf seine Stirn. Die Augen waren grün mit einem leichten Graustich, welcher ihn unheimlich geheimnisvoll erscheinen ließ. Seine Lippen zum Küssen wie gemacht. Wie gerne hätte ich in diesem Moment meine Lippen auf seine gelegt. Tausende Schmetterlinge tobten in meinem Bauch und mir war heiß und kalt zugleich.

„Kennst du den Typ?“, fragte Nick und riss mich aus meiner Trance. Unsere Hände lösten sich und ich sah verlegen nach unten.

„Nein, nur vom sehen“, entgegnete ich Nick und blickte zur Leinwand. Immer wieder riskierte ich einen Blick zu ihm. Fragte mich, wie er wohl heißen würde und ob er so richtig mit seiner Begleitung zusammen ist. Natürlich hatte ich mich nicht getraut, ihn anzusprechen. Hin und wieder begegneten wir uns auf dem Schulgelände. Ich konnte meine Augen nie von ihm lassen. Ian war drei Jahre älter als ich. Er machte seinen Abschluss und fing eine Lehre in der Firma seiner Eltern an. Ich hatte ihn seitdem nur noch selten zu Gesicht bekommen. Als ich die zehnte Klasse abgeschlossen hatte, bewarb ich mich beim Hamington Journal und wurde erstmal zur Aushilfskraft eingestellt. Zum nächsten Ausbildungsjahr startete ich eine Lehre und schon bald konnte ich meine ersten Artikel in die Zeitung bringen. Meine Eltern waren so stolz auf mich. Zum 50. Geburtstag der Firma von Ians Eltern wurde ich auf ein Interview mit seinem Dad angesetzt. Ich wartete vor seinem Büro. Als die Sekretärin mir sagte, dass ich reingehen könnte, war ich auf so etwas nicht vorbereitet. Ich blickte in jene grün-grauen Augen, die mich auch damals im Kino schon so fasziniert hatten. Sein Gesicht war in den letzten Jahren etwas markanter geworden. Männlicher. Augenblicklich setzten sich die Schmetterlinge wieder in Bewegung und ich spürte die aufsteigende Hitze, die sich als Rötung auf meinen Wangen niederließ. „Ian“, hauchte ich ihm entgegen. Ich bemerkte, wie ich ihn anstarrte und räusperte mich.

„Hallo Ian. Ich dachte ich würde mit deinem Vater sprechen“, versuchte ich meine Verlegenheit zu überspielen.

„Elena. Was für eine Überraschung. Mein Vater ist leider krank. Du musst wohl mit mir Vorlieb nehmen, wenn es dir Recht ist“, schmunzelte er mich an. Wenn es mir Recht ist. Hatte selten so gelacht. Es gab wohl niemanden, mit dem ich lieber zusammen gewesen wäre.

„Wollen wir Mittag essen gehen?“, fragte er mich mit diesem wundervollen Blick. Ich schmachtete innerlich und konnte natürlich nicht nein sagen. Wir redeten. Wir lachten. Wir aßen. Mehrere Stunden hatten wir uns nicht um unsere Arbeit gekümmert. Es war einfach wundervoll, so die Zeit zu vergessen und mich graulte es bereits jetzt vor unserem Abschied.

„Okay, ich muss langsam wirklich wieder in die Firma“, warf er nach dem Kaffee ein. Ich begleitete ihn und bestand auf mein Interview. Schließlich konnte ich ja nicht ohne Artikel zum Journal zurückkehren.

„Danke für den schönen Nachmittag“, sagte ich nun etwas schüchtern und begab mich in Richtung Ausgangstür.

„Elli!“, rief er mir hinterher und kam auf mich zu. „Sehen wir uns wieder?“, fragte er, während er meine Hand in seine legte. Meine Gedanken spielten verrückt. Die Schmetterlinge tanzten Cha-Cha-Cha.

„Natürlich!“, antwortete ich erleichtert.

„Bald schon?“, wisperte er in mein Ohr, sodass ich seinen Atem spüren konnte. Gänsehaut überfuhr meinen Nacken.

„Wie bald?“, fragte ich ebenso wispernd.

„Sehr bald!“, hauchte er, schob seine Hand an meinen Hinterkopf und zog mich ein Stück zu sich heran, um mich zu küssen. Ich bekam weiche Knie. Ist das wirklich kein Traum? Unsere Lippen verschmolzen miteinander. Es war ein unglaubliches Gefühl. Nie wieder wollte ich ohne diese Küsse sein.

„Schon seit unsere Hände sich im Kino damals zufällig berührten, träume ich davon, dies zu tun, Elli. Ich bin so froh, dass du heute hier hergekommen bist“, sagte er voller Freude im Gesicht.

„Und ich erst!“, antwortete ich ebenso freudig erregt. Wir verabredeten uns noch am selben Abend und waren seitdem unzertrennlich. Als ich Cassy von der Begegnung jetzt und damals erzählte, stempelte sie mich für bekloppt ab, weil ich nicht schon eher Kontakt zu ihm aufgenommen hatte.  

Der Artikel war ein voller Erfolg. Wochenlang lief ich mit einem dämlichen Grinsen durch die Gegend und konnte an nichts Anderes mehr denken, als an ihn. Auch meine Eltern waren begeistert und hätten uns wahrscheinlich sofort ihren Segen gegeben. Alles lief perfekt. Bis mein Vater starb.

Ian zieht sich leise aus und schlüpft unter meine Decke.

„Ich wusste, dass du nicht schlafen kannst“, sagt er und gibt mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.

„Jetzt schon“, erwidere ich und kuschle mich in seine Arme. Heute noch gehe ich zu meiner Mum und frage sie alles, was ich wissen möchte. Heute noch werde ich herausfinden, warum ich einen Bruder habe und warum er mir verheimlicht wurde. Heute noch werde ich alles erfahren. Meine Augen fallen endlich zu.

Kapitel 3

Die Tür klackt. Ich wache auf und öffne langsam meine Augen. Die Sonne blinzelt mich an. Es würde mir leichter fallen aufzustehen, wenn es regnen würde. Dieses Wetter passt momentan eigentlich gar nicht zu meiner Gefühlslage. Es müsste regnen, gewittern oder stürmen. Damit könnte ich mich wenigsten identifizieren. Ich drehe mich um, doch Ian liegt nicht mehr auf der anderen Bettseite. Statt seiner liegt dort ein Zettel mit seiner Handschrift.