Wolf - Jan-Hillern Taaks - E-Book

Wolf E-Book

Jan-Hillern Taaks

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Beschreibung

Es ist die Geschichte von Wolf Heckenborg und Jens Hansen. Es ist die Geschichte zweier Homosexueller, die sich finden, sich wieder verlieren, sich erneut finden. Und es ist die Geschichte zweier Menschen, die versuchen gegen jeden Widerstand ein gemeinsames Leben zu führen.

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Von der Einsamkeit

der

Außenseiter

Außenseiter, es gibt sie. Es sind Menschen, die nicht ganz in die Schubladen unserer menschlichen Gesellschaft passen. Die Gründe hierfür können vielfältig sein. Die Gesellschaft hat bestimmte Normen des Zusammenlebens, in die die Außenseiter nicht oder nicht ganz passen. Viele Homosexuelle gehören dazu. Homosexuelle werden heute nicht mehr ausgestoßen, und doch sind viele von ihnen Außenseiter, weil ihr Leben oft anders verläuft als das der Nicht-Homosexuellen. Wenn bei Homosexuellen noch bestimmte und außergewöhnliche Eigenschaften und Verhaltensweisen hinzukommen, so wird das Leben von und mit ihnen schwierig.

Diese Geschichte handelt von der Einsamkeit zweier Homosexueller unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Neigungen und Verhaltensweisen. Beide sind im üblichen Sinne tüchtige und erfolgreiche Menschen, aber sie passen nicht ganz in die Welt der Normalität. Die Beiden werden beachtet und geachtet, sogar geliebt, und doch bleiben sie Randfiguren ihrer Umgebung. Es ist nicht so, dass die Gesellschaft sie unbedingt ablehnt, sondern eher so, dass die Beiden die allgemeingültigen Normen nicht akzeptieren wollen oder können, und das wiederum verstärkt die Außenseiterposition.

Es ist die Geschichte von Wolf Heckenborg und Jens Hansen. Außergewöhnlich? Vielleicht.

01. Kindheit und Jugend des Wolf Heckenborg

Wolf Heckenborg kam am 13. April 1982 zur Welt. Er ist das vierte und letzte Kind der Eheleute Rudolf Heckenborg und seiner Ehefrau Irene, geborene Obartz. Eigentlich hatten die Eltern kein viertes Kind haben wollen. Die Eltern machten sich gegenseitig Vorwürfe, denn das Kind passte nicht mehr in ihr Leben, das von gesellschaftlichen und geschäftlichen Verpflichtungen geprägt war. Mutter Irene, eine elegante, schöne Frau mit der Figur und dem Gesicht einer 20-Jährigen hatte sogar daran gedacht, sich das Kind "wegmachen zu lassen". Das hatte sie denn doch nicht getan, weil ihr letztlich der Gang zum Arzt peinlich gewesen war. Welche Gründe hätte sie dem Arzt sagen sollen? Sie war gesund, es gab keine finanziellen Probleme und sie hatte ein großes Haus. Gründe zur Abtreibung wären bestenfalls dünne Fabrikate. Religiöse Betrachtungen spielten keine Rolle. Ja, man ging zur Kirche bei Trauungen, Taufen und bei Trauerfeiern, aber das auch nur, um gesehen zu werden, und man zahlte die Kirchensteuer.

Aber nun war Wolf da, es wurde getauft, bewundert und beiseitegelegt. Wolf war ein Kind, das den Eltern nicht nur Freude brachte, im Gegenteil. Schon als kleines Kind hatte er ein ausgeprägtes Eigenleben, und er hatte Probleme, sich in die Familie einzupassen. Der Junge galt als schwierig, und man vermied es, ihn vorzuzeigen, wenn die Eltern Gäste empfingen. Er wurde weggesperrt. Irene hatte seinetwegen ein weiteres Kindermädchen eingestellt, aber auch das Kindermädchen hatte Mühe, mit dem Jungen fertig zu werden.

Der sehr gut aussehende Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er galt in der Fachwelt als "gerissener Geschäftemacher", als ein Mann, der wusste, wie man Geld macht. Er war auf Empfängen und Gesellschaften ein gern gesehener und charmanter Gast. Er hatte mit der Hilfe seines Schwiegervaters Alfons Obartz ein Handelsunternehmen aufgebaut, das sich mit der Einrichtung von Arztpraxen und Krankenhäusern befasste. Musste ein Krankenhaus modernisiert werden, Herr Heckenborg hatte stets die entsprechenden Geräte verschiedener Hersteller zur Hand, wenn sie gebraucht wurden. Galt es, irgendwo eine Radiologie aufzubauen, er lieferte die Geräte und installierte sie in Rekordzeit. Das Unternehmen Heckenborg unter dem Namen "Medical Equipment and Supplies" war inzwischen weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Während der Aufbauphase hatte Irene mitgeholfen, jetzt hatte Rudolf einen tüchtigen Geschäftsführer eingesetzt, und er sowie Irene ließen es ruhiger angehen, was die geschäftlichen Anforderungen betraf. "Man hatte ja Jemanden", so sagten sie, und sie lebten entsprechend.

Mit wachsendem Geschäftserfolg und wachsendem Reichtum gönnte sich die Familie zunehmend mehr Luxus. Sie bewohnte bei Harburg eine große Villa mit einem parkähnlichen Garten. Die Einrichtung des Hauses war "vom Feinsten", dafür hatte bereits Irene gesorgt. Irene hatte nun zwei Haushaltshilfen und einen Gärtner, Rudolf leistete sich einen Chauffeur. Und nun gab es auch das Kindermädchen und ein Fräulein für die älteren Kinder. Wahrhaftig, so dachten viele außenstehende Menschen: Die Heckenborgs waren eine glückliche Familie mit vier offensichtlich gesunden Kindern.

Irene und Rudolf waren ein schönes und gut aussehendes Paar, und sie passten gut zueinander, so hieß es allgemein. Sie waren überall zu finden, wo sich die elegante Welt aufhielt, sie waren in den richtigen Clubs, sie spielten Tennis und Golf, und sie waren da zu finden, wo sich auch die Geschäftswelt aufhielt. In der Tat, manches Geschäft wurde in diesen Clubs oder bei Veranstaltungen in die Wege geleitet. Es waren kurze Sätze, fast Nebensätze, und dann traf man sich in der passenden Umwelt wieder - in Arztpraxen oder Krankenhäusern, wo man über Investitionen sprach und über Geld.

Für Rudolf hatte das Glück im Jahr 1967 angefangen, als er Irene Obartz auf einer Party bei Freunden traf. Sie war schön, wunderschön, und nach einem Tanz mit ihr stand für ihn fest, dass Irene die Frau seines Lebens war. Er traf sie am nächsten Abend in einem griechischen Restaurant wieder, es sah zufällig aus, war es aber nicht. Er merkte schnell, dass die schöne Irene ihn mochte, und es dauerte auch nicht lange, da machte er seinen Antrittsbesuch bei Alfons Obartz, dem verwitweten Vater.

Alfons hatte im Laufe der letzten drei oder vier Jahre viele Freunde und Bewunderer von Irene kennengelernt. Als sich Rudolf vorstellte, hatte er gleich das Gefühl gehabt, dass er der richtige Mann für sie sei. Er mochte ihn, weil er gut aussah, aber vor allem, weil er politisch und geschäftlich gut informiert war. Gewiss, er war Bankangestellter in gehobener Position, aber er konnte in allen Fragen der Wirtschaft mitreden, und das gefiel Irenes Vater so sehr, dass er ihm anbot, mit ihm in der "Medical Equipment and Supplies GmbH" mitzuarbeiten. Rudolf hatte damals nicht sofort zugestimmt. Er hatte sich die Mühe gemacht, sich das Unternehmen genauer anzusehen, und er hatte schnell erkannt, dass das Unternehmen eine große Zukunft haben würde.

Rudolf trat schließlich in das Unternehmen als stellvertretender Geschäftsführer ein, kurz darauf wurde die Verlobung gefeiert, und kaum ein Jahr später heiratete Rudolf seine Irene. Er war glücklich, und er sah sich und seine Zukunft gesichert. Auch Vater Alfons war sehr zufrieden, denn Rudolf entpuppte sich als ein tüchtiger Geschäftsmann, der seine Ideen gewinnbringend umzusetzen verstand.

*

Walter, geboren 1970, war das erste Kind der Heckenborgs, der Stolz des Ehepaares. Er war bereits als Säugling "ein lieber Kerl", und er entwickelte sich prächtig. Vor allem Mutter Irene verbrachte viel Zeit mit dem Jungen, und sie förderte seine frühe Entwicklung mit großer Hingabe und einer gehörigen Portion Ehrgeiz. Walter war still, er konnte gut zuhören, und er wusste, wann er den Eltern zu gehorchen hatte. In der Schule zeigte er Leistungen im oberen Durchschnitt, er studierte an der Universität Betriebswirtschaft, dann absolvierte er noch eine Banklehre, ehe er in dem väterlichen Betrieb tätig wurde.

Walter sah ungewöhnlich gut aus, wie den Eltern von allen Seiten immer wieder bestätigt wurde. Er war groß, blond, blauäugig, sportlich, und er hatte ausgesprochen gute Manieren. Er konnte sehr charmant sein und er vermittelte dennoch den Eindruck, als wisse er immer, was er wolle. Er lachte viel, und er war der Liebling nicht nur seiner Eltern, sondern auch seines Großvaters Alfons, der leider starb, als Walter gerade 13 Jahre alt war.

Walter nahm bereits in frühen Jahren an allen gesellschaftlichen Veranstaltungen und Verpflichtungen der Eltern teil, und er erwarb sich das, was die Eltern den gesellschaftlichen Schliff nannten. Auf einer der abendlichen Veranstaltungen im Hause der Heckenborgs lernte Walter, inzwischen 22 Jahre alt, auch seine spätere Frau Karola gleichen Alters kennen. Sie war die Tochter eines bekannten Immobilien- und Kunsthändlers, und sie brachte gutes Geld mit in die Ehe. Karola war eine fast vollkommene junge, gut aussehende Dame, stets bestens gebildet und informiert, und sie spielte sehr gut Klavier, wie Irene immer wieder liebevoll betonte. Walter und Karola zogen nach ihrer in besten Kreisen gefeierten Vermählung in eine Villa ein, die sich ebenfalls in Harburg und ganz in der Nähe der väterlichen Residenz befand.

Das zweite Kind des Ehepaares Heckenborg war Elisabeth, so stand es auf dem Geburtsschein. Elisabeth hieß auch die jüngere Schwester von Rudolf, und Rudolf dürfte an sie bei der Namensgebung gedacht haben. Die Tochter wurde jedoch sogleich Lisbeth genannt, keiner war je auf den Gedanken gekommen, sie Elisabeth zu nennen. Lisbeth war ein gutes Jahr nach Walter zur Welt gekommen, im Jahr 1971. Sie war ein lebhaftes Mädchen, ganz anders als der ruhige und wohlerzogene Walter. Lisbeth war so etwas wie ein kleiner Kobold. Bereits im Kindergarten machte sie allerlei Unfug, und in der Grundschule hatte sie die unglaubliche Fähigkeit, mit ihrem Unfug die Lehrer auf Trab zu halten. Auf der höheren Schule wurde es auch nicht viel besser. Sie hatte oft wechselnde Freundinnen, und sie hatte auch sehr früh Bekanntschaften mit dem anderen Geschlecht, sehr zum Entsetzen der Eltern, denn diese Bekanntschaften waren in den Augen der Eltern meist recht fragwürdig, was Lisbeth nicht störte. Sie entwickelte sich zu einer sehr schönen, jungen Frau, die nicht gewillt war, in die Fußstapfen der Mutter zu treten.

In Wahrheit hatte die Mutter kaum Zeit für die "wilde" Lisbeth. Ihre Zeit, wenn sie denn mal Zeit für ihren Nachwuchs hatte, galt dem Erstgeborenen, während die eigenwillige Lisbeth dem Kindermädchen überlassen blieb. Lisbeth entwickelte bereits sehr früh ein lebhaftes Interesse an der Mode, und sie entwarf mit einigem Talent Damenbekleidung, wobei sie sich auch Gedanken darüber machte, wie die Kleider und Blusen herzustellen seien, welche Stoffe und vor allem auch, wie viel von den Stoffen zu verwenden sei. Liesbeth war ganze 12 Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal selbst ein Kleid nähte, das sie auch anzog und ihren Freunden und Freundinnen vorstellte. Dieses Talent fand allgemeine Bewunderung, allerdings nicht bei den Eltern. Sie waren der Meinung, dass sie lieber in der Schule lernen sollte, als sich der Mode hinzugeben.

Vier Jahre nach Walter, im Jahr 1974, kam Herbert zur Welt, der schon sehr früh eine an Neugier grenzende Wissbegierigkeit entwickelte, die alle Welt in Erstaunen versetzte.

"Das ist unser Wissenschaftler", flötete Mutter Irene voller Stolz, wenn sie den Jungen den Gästen vorstellte, was nicht sehr oft vorkam. Für den Jungen hatte sie ebenfalls wenig Zeit, und mit seinen vielen Fragen konnte sie herzlich wenig anfangen. Wie seine Schwester wurde er der Kinderschwester überlassen. Er war nicht so lebhaft wie Lisbeth, aber er war praktisch überall da zu finden, wo man ihn nicht vermutete. Seine Neugier war sehr groß, und als Kleinkind krabbelte er überall herum, still, fast immer mit einem interessierten Gesicht.

Bereits auf dem Gymnasium entwickelte sich bei Herbert der Wunsch, Medizin zu studieren. Herbert war beliebt, allerdings nicht bei den Eltern, die er kaum zu sehen bekam und für die er viel zu neugierig war. Er sah gut aus, war groß gewachsen und sportlich. Er hatte Freunde und bald auch Freundinnen, er absolvierte die Tanzschule mit einigem Schwung und großer Freude. Man kannte ihn als einen Menschen, der stets freundlich und fröhlich war. Ja, er konnte ärgerlich werden, aber richtig wütend hatte ihn noch keiner erlebt. Auf dem Gymnasium erbrachte er Bestleistungen, und sein Studium verfolgte mit großem Ehrgeiz, ohne jedoch gelegentliche Tanzvergnügungen mit Freunden und Freundinnen zu vernachlässigen. Gelegentlich nahmen ihn die Eltern wahr. Aber sie wussten nicht so recht, was sie mit ihm anfangen sollten. Als er schließlich nach dem Medizinstudium seinen Doktortitel bekommen hatte, waren sie voller Stolz. Ein Doktortitel? Das war doch etwas!

*

Zwölf Jahre nach Walter kam Wolf zur Welt. Mit Staunen betrachtete er nach der Geburt die Welt um sich herum, aber er ließ die Gesichter, die sich zu ihm beugten, nicht an sich heran. Als er ein Kleinkind war, weinte er, wenn man ihm zu nahe kam, etwas später wehrte er die Menschen ab, und er zögerte auch nicht, Gesichter, die ihm zu nahe kamen, zu schlagen und zu zerkratzen. Besonders wütend wurde er, wenn sich Walter ihm näherte. Niemand konnte erklären, warum das so war. Kam Walter in seine Nähe, schrie der kleine Wolf, und später attackierte er ihn sogar. Gesine, eine der beiden Kinderschwester, hatte einmal angedeutet, dass Walter den Kleinen quäle, wenn niemand zuschauen würde. Irene war empört, als sie das hörte, und die Kinderschwester wurde bald ersetzt.

Wolf wehrte auch seine Eltern und Lisbeth ab, wenn sie in seine Nähe kamen, wenngleich nicht mit der gleichen Heftigkeit. Es gab eine Ausnahme. Herbert ließ er an sich heran, mehr noch, war Herbert in seiner Nähe, so freute er sich, und wenn Herbert ihn einmal hochnahm, so kuschelte sich der kleine Wolf an ihn. Wolf schien zu wissen, dass er bei den Eltern und den älteren Geschwistern nicht willkommen war, Herbert war die Ausnahme. Herbert nahm gelegentlich den Kleinen zu sich hoch, nahm ihn auch mit in sein Zimmer, Herbert erzählte interessante Geschichten, und Herbert konnte sehr gut zuhören, wenn Wolf etwas zu sagen hatte. Oft krabbelte Wolf in Herberts Bett, auch wenn Herbert nicht da war, und er wartete auf ihn.

Wolf kam als Dreijähriger in den Kindergarten. Bereits nach vier Monaten musste Irene den Jungen wieder aus dem Kindergarten nehmen. Er war untragbar geworden. Er prügelte sich, und wenn er wütend war, kannte er keine Grenzen. Die Eltern der anderen Kinder forderten vehement seine Entlassung, nein, Entlassung sagten sie nicht - sie sagten: Entfernung. Es war Hilde, das geplagte Kindermädchen, das mit der Leitung des Kindergartens zu sprechen hatte, weil die Eltern dafür keine Zeit gehabt hatten. Wolf blieb nach seiner Entfernung vom Kindergarten zu Hause, und Hilde musste sich um nichts anderes kümmern als eben um Wolf, der nie das tat, was man von ihm wollte.

Nach der Einschulung wurde das Verhalten von Wolf nicht viel besser. Alle drei oder vier Monate wurden die Eltern zitiert, und die wiederum schickten Hilde, die mit dem Klassenlehrer und dem Schulleiter zu reden hatte. Die Mutter konsultierte auch einen Kinderpsychologen, der außer mit guten Ratschlägen und hohen Rechnungen nicht helfen konnte. Der Psychologe hatte sogar vorgeschlagen, den Jungen in eine Anstalt zu stecken. Aber davon wollten die Eltern nichts hören, denn ihn in eine Anstalt zu schicken war gesellschaftlich "irgendwie" anrüchig.

Hilde brachte den Jungen zur Schule und holte ihn auch wieder ab, nur um sicherzugehen, dass er auch nach Hause kam. Die Eltern waren mit dem Kindermädchen der Meinung, dass man den Jungen nicht allein lassen könne, und so sperrten sie ihn oft ein, nur um Ruhe vor ihm zu haben und um sicherzugehen, dass er nicht davon lief.

Schließlich kam Wolf aufs Gymnasium, wo man die älteren Brüder Walter und Herbert in guter Erinnerung hatte. Wolf blieb schwierig, auch im Gymnasium wurde er bald untragbar. Nein, er prügelte sich nicht mehr so oft mit Mitschülern. Es waren die Mitschüler, die einem Streit mit ihm aus dem Wege gingen, denn der "wilde Wolf" kannte so gut wie keine Grenzen, wenn er mal ausrastete. Aber Wolf wurde vor allem bei den Lehrern bekannt, weil er das, was die Lehrer vortrugen, nicht so einfach akzeptieren wollte oder konnte. Was kein Mensch so richtig wahrnahm: Wolf lernte schnell und war oft besser informiert als die Lehrer, und so kritisierte er sie oft, weil er es besser wusste. In Fächern, die ihn interessierten, bereitete er sich zu Hause auf die Stunden vor. Zu den Fächern übrigens gehörten Mathematik und Geschichte - diese Fächer schienen nicht zusammenzupassen, aber Wolf interessierte sich dafür, und er erwarb sich ein erstaunliches Wissen in diesen beiden Fächern. Er machte dabei auch vom Internet Gebrauch, und er holte sich von dort viele nützliche Informationen. So gut er mit dem PC umzugehen verstand, er legte keinen großen Wert auf Computerspiele, die er als seelenlos empfand.

Wolf wuchs zu einem kräftigen Jungen heran, breit, muskulös und auf eine merkwürdige Art attraktiv. Er hatte ein fast rundes Gesicht, kleine, tief liegende Augen, die beim Grinsen fast ganz verschwinden konnten, eine leicht nach oben gebogene Nase und einen breiten Mund mit breiten Lippen. Die einst blonden Haare waren dunkler geworden, und die grau-grünen Augen hatten eine gewisse Anziehungskraft. Eine Schönheit? Beim besten Willen konnte man das nicht sagen. Aber er war ein Mensch, auf den man aufmerksam wurde, und man drehte sich nach ihm um. Woran das lag, konnte man nicht so einfach sagen.

Wolf musste die Schule verlassen, nachdem er sich ganz wider Erwarten mit einem Lehrer geprügelt hatte, und das auf dem Schulhof. Der Lehrer hatte ihn angesprochen, Wolf hatte keine Antwort geben wollen, dann hatte ein Wort das andere gegeben, schließlich hatte der Lehrer ihm eine Ohrfeige gegeben. Das Resultat war eine Prügelei gewesen, sehr zur Belustigung der herumstehenden Schüler. Zwei Lehrerkollegen, die herbeigeeilt waren, hatten die Kontrahenten getrennt.

"Wie ein Tier ist der Typ auf mich gesprungen", hatte der aufgebrachte Lehrer der Polizei gesagt. Der Lehrer hatte Wolf natürlich unverzüglich angezeigt. Die geplagten Eltern zahlten dem Lehrer eine gute Summe, um die Sache beizulegen, was den Lehrer veranlasste, die Anzeige zurückzuziehen. Wolf wurde in ein Internat geschickt. Da war 1995, Wolf war 13 Jahre alt. Der Abschied von zu Hause war ihm leicht gefallen. Walter und Liesbeth waren einfach nicht da, und Herbert, der jetzt vor den Abiturprüfungen stand, hatte nicht viel Zeit. Dennoch saßen die Beiden am letzten Abend in Herberts Zimmer, beide ein wenig traurig. Herbert tröstete Wolf, und er meinte, vielleicht sei es ganz gut, wenn "der Kleine" mal in eine ganz andere Umgebung komme.

"Aber sei ein wenig vorsichtig", mahnte Herbert. Es war gut gemeint, Wolf wusste das.

*

Das war in dieser Zeit, als Rainer Wolter, Ehemann von Rudolf Heckenborgs Schwester Elisabeth, verstarb. Die Familie von Rudolf hatte keine engere Verbindung zu Rainer gehabt, obgleich Tante Elisabeth regelmäßig die Familie ihres Bruders besuchte. Das hatte sie vor ihrer Ehe mit Rainer getan, und das hatte sie auch während der Ehe beibehalten. Rainer jedoch hatte nichts von diesen Familienbesuchen gehalten, er hatte andere Interessen. Die Heckenborgs und die Wolters bewegten sich nicht in den gleichen Kreisen. Die "gute Gesellschaft" war für die Heckenborgs sehr wichtig, aber die Wolters hielten nichts davon. Wenn sie einmal bei einem Empfang oder Konzert oder einem Vortrag erschienen, so galt ihr Interesse dem, was geboten wurde, nicht den Menschen, die dorthin gingen.

Rainer war einem Herzschlag erlegen, was für alle Beteiligten sehr überraschend, vor allem unerwartet gekommen war. Niemand hatte damit gerechnet, denn Rainer war groß, schlank, sah nicht nur sportlich aus, sondern war auch sportlich aktiv gewesen. Rainer Wolter war als Anwalt nach einigen sehr spektakulären Prozessen in der anscheinend heilen und oft auch schillernden Welt sehr bekannt und damit auch sehr reich geworden. Er galt als ein Staranwalt, der sich vor allem auf Finanz- und Steuergeschäfte spezialisiert hatte. Die Höchstsätze für rechtlichen Beistand und Beratung lagen bei € 500,00 pro Stunde.

Er war erst 53 Jahre alt gewesen, als er starb. In der Presse gab es Nachrufe, und seine Witwe, Tante Elisabeth, kämpfte sich durch die Trauerfeierlichkeiten und die behördlichen Erfordernisse. Als das endlich erledigt war, verreiste sie für drei Monate. Wie sie ihrem Bruder sagte, wolle sie für eine Weile unerreichbar sein. Sie hatte eine überaus glückliche Ehe geführt, die Trennung durch den Tod war ihr sehr schwer gefallen, was sie nach außen hin nicht zeigen wollte, und was in Wahrheit auch keinen Menschen etwas anging. Und so war sie ganz einfach weg und unerreichbar gewesen, was Irene nicht so ganz verstehen konnte.

Rainer Wolter hinterließ Elisabeth sein recht beträchtliches Vermögen in Millionenhöhe. Kinder hatte es in dieser sehr guten Ehe nicht gegeben, Rainers Eltern lebten nicht mehr, und andere Erben gab es nicht. Wie hoch das Vermögen war, war zumindest den Heckenborgs nicht bekannt, Elisabeth sprach nicht darüber, und sie wurde auch nicht darüber befragt - außer vom Finanzamt. Und den Dialog mit dem Finanzamt regelte Elisabeths Steuerberater. Irene hätte natürlich gern mehr gewusst, und sie meinte einmal, dass Elisabeth "gut betucht" sein müsse, obwohl sie offensichtlich sehr bescheiden in Klein-Flottbek wohne, und obwohl man sie auf keiner Gesellschaft sehe. Ja, sie hatte die Villa, in der sie mit Rainer gelebt hatte, verkauft.

"Für mich reicht eine Wohnung, mehr brauche ich nicht", hatte sie Rudolf gesagt.

Insgesamt wusste die Familie Heckenborg so gut wie nichts über Elisabeth, obgleich sie mindestens einmal pro Monat Rudolf und Irene besuchte. Gewiss, es waren Pflichtbesuche, aber sie kam. Elisabeth war etwas jünger als Irene, sah noch recht gut aus, aber sie schien sich nicht für eine zweite Ehe zu interessieren. Sie war eine großgewachsene Frau mit einem herben Gesicht, die gerne lachte, die gern in Konzerte ging und die im Übrigen sehr zurückgezogen in Klein Flottbek in einer Vierzimmerwohnung zur Miete lebte. Weder Rudolf noch Irene kannten die Wohnung, Elisabeth hatte sie auch noch nie eingeladen. Das hinderte Elisabeth aber nicht, mit ihrem Wagen alle vier Wochen nach Harburg hinauszufahren. Es war so etwas wie eine manchmal lästige Pflichtübung, denn Elisabeth mochte Irene nicht besonders gut leiden, und Irene konnte mit ihrer Schwägerin gar nichts anfangen. Die Interessen lagen viel zu weit auseinander. Warum tat sie es dennoch? Warum fuhr sie nach Harburg hinaus zu einer Frau, zu der sie keine innere Beziehung hatte? Sie selbst hatte keine Antwort darauf. Aber Rudolf und Irene waren nun einmal "Familie", und das allein beinhaltete Verpflichtungen.

Von Irene erfuhr Elisabeth natürlich, wie sich die Kinder entwickelten. Kinder waren immer ein guter Gesprächsstoff, denn Elisabeth zeigte sich stets interessiert. Sie war auch interessiert, vielleicht, weil sie keine eigenen Kinder hatte. Walter war im Jahr 1996 ein junger Mann von 26 Jahren, schlank, großgewachsen, der sich geschäftlich prächtig entwickelt habe, so jedenfalls sagte Irene. Seine Frau Karola hatte einen Sohn zur Welt gebracht, der der Liebling der ganzen Familie war. Wenn Irene über ihren Enkel erzählte, so schien sie vor Rührung feuchte Augen zu kriegen. Der Enkel hieß, dem Wunsch von Karola entsprechend, Karl, und er werde Karu genannt, denn der zweite Name war Rudolf. Karola und Irene verstanden sich sehr gut, beteuerte Irene, und sie sagte, dass sie die gleiche Interessen hätten. Karola hatte noch einen Bruder, der vermutlich das Geschäft des Vaters übernehmen werde.

"Das ist verständlich, denke ich", meinte Elisabeth, und sie sagte weiter, dass Walter wohl auch Rudolfs Unternehmen weiterführen werde.

Das war auch der Plan der Familie Heckenborg. Der elegante Walter war der Kronprinz und Erbe. Walter arbeitete bereits seit einigen Jahren im Unternehmen des Vaters unter der Leitung des Geschäftsführers Henri Harper. Darauf hatte Rudolf bestanden. Henri Harper, ein Niederländer, war bereits seit mehr als 10 Jahren im Unternehmen, und war inzwischen auch ein Freund und Vertrauter von Rudolf. Rudolf war nicht blind. Walter war noch viel zu unerfahren und zu wenig aggressiv, um führend im Unternehmen mitzuarbeiten. Aber er würde gewiss lernen, wie Rudolf hoffte und wie Herr Harper bestätigte. Herr Harper hatte aber auch einige Bedenken, über die er nicht sprach. Walter konnte hinterhältig sein, und einigen Mitarbeitern gegenüber benahm er sich überaus schäbig. Einmal hatte Herr Harper darüber reden wollen, aber Rudolf hatte davon nichts wissen wollen. Und so war es bei vorsichtigen Andeutungen geblieben, die zu nichts führten.

Lisbeth, jetzt 25 Jahre alt, lebte in Berlin und arbeitete in einem bekannten Modesalon. Irene war stolz auf die einst so wilde Liesbeth, die in Fachkreisen trotz ihrer Jugend bereits einen gewissen guten Ruf genoss. Irene und ihre Tochter telefonierten von Zeit zu Zeit, aber die Tochter schien viel zu beschäftigt zu sein, um die Eltern mal in Hamburg zu besuchen. Irene bedauerte das natürlich sehr, aber sie meinte auch:

"Wir dürfen uns nicht beklagen." Und dann fuhr sie fort: "Manchmal lese ich in der Presse über Lisbeth, und neulich fand ich auch mehrere Photos von ihr in unserer Zeitung - man hatte sich sehr positiv über ihre Entwürfe geäußert. Und wenn ich so etwas lese, so bin ich froh."

Der jetzt 22-jährige Herbert studierte Medizin. Er hatte ein sehr gutes Abitur gemacht, und er hatte ohne Probleme die Zulassung zum Studium der Medizin erhalten. Herbert wohnte nicht mehr zu Hause. Er hatte sich in der Nähe der Universität eine kleine Wohnung gemietet, die er mit drei anderen Studenten in einer Wohngemeinschaft teilte. Irene hatte ihn einmal dort besucht, hatte sich aber nicht lange aufgehalten. Sie sagte zu Elisabeth, dass die Welt der Studenten eine andere Welt sei, das sei nicht ihre Welt. Ihrer Meinung nach fehle der Wohngemeinschaft jeder Stil. Was sie damit meinte, war Elisabeth nicht ganz klar, aber sie fragte nicht.

Und Wolf? Irene hoffte, dass er sich im Internat entwickeln würde. Noch habe man nichts gehört, was negativ sein könnte. Sie wusste, dass Herbert mit Wolf Verbindung hatte, aber Herbert erzählte nie viel, wenn er mal telefonierte. Sie selbst wusste nichts von Wolf, und sie musste auch zugeben, dass ihr Jüngster für sie ein Fremder sei.

"Wolf ist eben anders", sinnierte Irene. "Ich weiß nicht, was da passiert ist. Wie konnte er sich so anders entwickeln als Herbert oder Walter."

Elisabeth hatte natürlich keine Antwort. Ihrer Meinung nach hatten die Eltern einfach viel zu wenig Zeit für Wolf gehabt. Aber, so sagte sie sich auch, sie habe keine Erfahrung mit Kindern. Sie dürfe nicht mitreden, auch wenn sie eine eigene Meinung hatte, die von der ihrer Schwägerin sehr oft abwich.

*

Für die nächsten drei Jahre ging alles gut, was Wolf betraf, so glaubten die Eltern, weil sie nichts hörten. Sie wussten ganz einfach nicht, was passierte, soweit es Wolf anging. Zumindest Irene war über die Neuerungen der Mode besser informiert als über ihren jüngsten Sohn. Wolf schrieb nicht, er reagierte nicht auf die E-Mails der Eltern, und er telefonierte nicht. Während der Schulferien kam Wolf nach Hause, wo ihn nichts zu Hause halten konnte. Er verließ das Haus, wann es ihm passte. Er trieb sich oft in Hamburg herum und kam spät wieder zurück, gelegentlich blieb er auch über Nacht fort. Wo er gewesen war, sagte er nicht, und die Eltern hatten es aufgegeben, ihn danach zu fragen, denn er Junge würde bestenfalls freche Antworten geben. Wie es im Internat sei? Wie in der Schule? Wolf erzählte so gut wie gar nichts, und die Mutter, die vorgab, verzweifelt zu sein, erfuhr nichts vom Leben ihres Jüngsten. Er lieferte die Zeugnisse ab, die durchschnittlich waren mit Ausnahme von Mathematik, da stand sehr oft eine Eins oder eine Zwei zu lesen. Aber regelmäßig stand auch zu lesen, dass sein Sozialverhalten den Lehrern und den Mitschülern gegenüber zu wünschen übrig lasse.

Das Verhältnis zwischen Wolf und Herbert jedoch war unverändert gut, auch wenn Herbert nicht mehr zu Hause wohnte. Wolf besuchte ihn während der Ferien in der Wohngemeinschaft. Herbert hatte nie viel Zeit, aber wenn er sie hatte, und wenn Wolf mit ihm zusammenkam, so herrschte Harmonie, mehr noch, geschwisterliche Zuneigung. Wolf erzählte über sich, und seinerseits wollte er wissen, was Herbert mache. Wolf wusste, dass er sich seinem Bruder öffnen konnte, denn Herbert konnte zuhören, und er konnte schweigen. Die Eltern ahnten gar nicht, dass sich die beiden Brüder so gut verstanden, und dass Herbert für den Jüngsten die Bezugsperson war. Sie wussten noch nicht einmal, dass Wolf den älteren Bruder besuchte.

"Ich bin schwul", erklärte Wolf eines Tages seinem Bruder. Für Wolf war das ein großes Problem gewesen, und er hatte lange gebraucht, um seine Neigung zum gleichen Geschlecht zu erkennen und um mit irgendeinem Menschen darüber zu reden. Erst hatte er nicht glauben wollen, dass ihn Jungen und Männer mehr anzogen als Mädchen und Frauen. In seiner aggressiven Art hatte er es mal mit einer Frau probiert, aber es war völlig daneben gegangen. Die Frau hatte gelacht, was ihn tief verletzt hatte. Er war sich so sicher gewesen, er hatte geglaubt, er sei unwiderstehlich, was Männer wie Frauen angehe, und er könne "es mit Jedem". Im Internat machte man es miteinander, aber man lachte auch über die, die schwul waren. Er war es, wie er schmerzhaft erkannte.

Wolf war völlig überrascht als Herbert lachte und ihm auf die Schulter schlug.

"Na, und?", fragte Herbert schließlich, und er fragte weiter: "Hast du ein Problem damit - und wer sollte damit ein Problem haben?"

"Im Internat könnte es ein Problem geben", antwortete Wolf gedehnt, und er sagte, dass er sich auch vorstellen könnte, wenn "die Leute zu Hause", und damit meinte er vor allem die Eltern, ein Problem haben könnten.

"Ja, vielleicht", gab Herbert zu. Er sagte aber auch: "Lass sie ruhig ihr Problem damit haben. Es ist dein Leben, nicht das Leben unserer Eltern."

Für Wolf war das Thema so leicht nicht beendet, und seine Zweifel und die vielen Fragen konnte er nicht so richtig in Worte fassen. Aber es beruhigte ihn, dass Herbert das Schwulsein nicht so wichtig nahm.

*

Der große Knall kam, als die Eltern telefonisch aufgefordert wurden, den Jungen sofort aus der Schule und aus dem Internat zu entfernen, und ihn bei der Polizei abzuholen. Es war der Schulleiter gewesen, der Rudolf angerufen hatte, aber er wollte telefonisch keine Details geben. Ja, die Polizei habe man einschalten müssen, denn das Geschehen gehöre in den Bereich der Kriminalität. Rudolf fuhr sofort nach Kiel und meldete sich beim Schulleiter. Der sagte unverblümt, dass Wolf sich mehrfach sexuell an Mitschülern vergangen habe, und dass er dabei so brutal vorgegangen sei, dass einer der Mitschüler ins Krankenhaus gebracht werden musste.

"Wir haben das natürlich zur Anzeige gebracht, und Ihr Sohn wurde vorläufig in Gewahrsam genommen."

Rudolf war sprachlos. Er war so betroffen, so entsetzt und aufgewühlt, dass er glaubte, einen Herzanfall zu erleiden. Schließlich kam es aus ihm heraus:

"Und was mache ich jetzt?" Diese dumme Frage zeigte sein Entsetzen, seine Fassungslosigkeit.

Der Schulleiter war sehr ernst, aber auch er war wütend, denn das, was Wolf getan habe, sei noch nie vorher in der Schule passiert, sagte er. Er fuhr fort, dass einer der Erzieher die beiden Koffer des Jungen gepackt habe, der Vater könne sie gleich mitnehmen, und dann sollte er den Jungen von der Polizei holen. Der Schulleiter sagte weiter:

"Ob Sie Ihren Sohn so einfach mitnehmen können, weiß ich natürlich nicht. Vielleicht sollten Sie sich einen Anwalt nehmen." Der Schulleiter lehnte sch zurück und sagte: "Es gibt Schäden. Ihr Sohn muss zumindest die Arzt- und Behandlungskosten für den Verletzten aufkommen, und dann ist damit zu rechnen, dass sich noch andere Schüler oder deren Eltern melden werden. Inzwischen weiß ich, dass Ihr Sohn auch mit anderen Schülern intimen Verkehr hatte. Ihr Sohn ist gewalttätig, anders kann ich es nicht bezeichnen, und er hat einen sexuellen Appetit, der hier nicht hergehört. Ihr Sohn ist krank."

"Das ist das erste Mal, dass ich davon höre", stöhnte der Vater.

"Ich kann Ihnen nur dringend empfehlen, den Jungen behandeln zu lassen", sagte der Schulleiter. "Ihr Sohn ist krank und möglicherweise eine Gefahr für andere Menschen."

Rudolf lud die beiden Koffer von Wolf ins Auto, dann fuhr er zur Polizeistation. Er musste sich dort ausweisen, er musste sich einverstanden erklären, für den Schaden, den der Junge angerichtet habe, aufzukommen, und er sollte sich mit dem Sohn in Harburg bei der zuständigen Polizei melden. Ein Wachtmeister holte Wolf, der sich körperlich zu einem kräftigen jungen Mann entwickelt hatte, aus der Zelle. Er war etwas größer als sein Vater und gewiss doppelt so breit, meinte der Wachtmeister.

Rudolf sah Wolf an, dann schlug er ihm mit der Faust ins Gesicht.

"Bitte, lassen Sie das", sagte der Wachtmeister energisch. "Nehmen Sie Ihren Sohn. Wenn das nicht geht, schalten wir das Jugendamt ein."

Rudolf holte tief Luft. Er wies mit einer Handbewegung auf seinen Wagen.

Und dann noch: "Und mach keinen Ärger, das zahlt sich nicht aus."

Wolf grinste, nickte dem Wachtmeister zu und ging hinaus. Er stieg wortlos ins Auto.

"Was soll ich bloß tun?", fragte Rudolf ein wenig hilflos, und er blickte den Beamten an, der sich mit Kommissar Wagner vorgestellt hatte.

"Das weiß ich auch nicht", antwortete dieser. "Vielleicht sollten Sie in Harburg das Jugendamt aufsuchen, vielleicht kann ein Psychiater helfen." Und dann fügte er hinzu: "Da kommt natürlich noch Schriftverkehr auf Sie zu, immerhin war Ihr Sohn hier bei uns, und dann liegt auch eine Anzeige vor."

Rudolf und Wolf schwiegen während der Fahrt. Es gab auch nichts zu sagen. Und so kamen sie am späten Nachmittag in Harburg an. Irene empfing sie. Sie wollte Wolf umarmen, was sie vielleicht ein- oder zweimal im Leben getan hatte, aber als sie das Gesicht ihres Mannes sah, erstarrte sie.

"Du gehst am Besten gleich auf dein Zimmer", sagte er zu Wolf ohne ihn anzuschauen. Wolf zuckte mit den Schultern und ging in sein Zimmer. Nach einer Stunde kam er wieder, er sagte, er gehe mal aus, und verschwand einfach, ehe die Eltern überhaupt etwas sagen oder tun konnten.

*

Was folgten waren zwei ausgesprochen schwierige Monate. Wolf ging nicht zur Schule, in die sein Vater ihn angemeldet hatte. Er verließ morgens das Haus und kam irgendwann im Laufe des Tages oder der Nacht wieder nach Hause. Weder Rudolf noch Irene konnten damit umgehen. Wann immer Tante Elisabeth die Familie ihres Bruders besuchte, hörte sie die fast unglaublichen Geschichten über Wolf. Es gab kein anderes Thema. Auch das Jugendamt konnte nicht viel helfen. Das Amt schaltete einen Sozialpsychologen ein, aber Wolf weigerte sich, mit ihm zu sprechen. Das tat er nicht offen. Bei den Gesprächen hielt er ganz einfach den Mund, und der Fachmann kam nicht an ihn heran. Einmal fragte Wolf:

"Was wollen Sie? Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit. Und im Übrigen: Sie taugen nichts." Der Sozialpsychologe gab es auf.

Herbert hatte für Wolf so gut wie keine Zeit, er war voll mit seinem Studium, das vor dem Abschluss stand, beschäftigt. Wolf war nachts kaum zu Hause. Hatte er nichts weiter vor so fuhr er zu Herbert, der immer noch in der WG wohnte, und schaute schweigend zu, wie Herbert arbeitete. Herbert ließ sich nicht stören. Hatte er die Arbeit beendet, so unterhielten sich die Beiden, leise, und voller Vertrauen zueinander. Wolf konnte Herbert gegenüber von seiner Leere berichten, von der Suche nach etwas - aber was? Herbert fühlte, dass sein kleiner Bruder litt, aber er konnte ihm nicht viel helfen. Aber er hörte zu, er schlug ihm auf die Schulter, und nahm ihn auch mal in die Arme, um zu zeigen, dass er ihn gern hatte.

Mit seinen anderen beiden Geschwistern hatte Wolf so gut wie keinen Kontakt. Lisbeth lebte in ihrer Modewelt in Berlin, er hörte von ihr, sah sie aber nicht. Walter und er liefen sich gelegentlich über den Weg, wenn Walter mal bei den Eltern war, was mindestens einmal pro Woche der Fall war. Walter ignorierte meistens den kleinen Bruder. Gelegentlich jedoch gab es einen unangenehmen Wortwechsel, wobei Walter deutlich zu erkennen gab, dass er Wolf für einen Kriminellen hielt, den man wegsperren müsse. Wolf lachte nur darüber, was Walter ihm sehr übel nahm, so sehr, dass er sogleich zum Vater ging und ihm sagte, dass Wolf in eine geschlossene Anstalt gehöre. Er sei eine Gefahr für die Familie, und eine Gefahr für die Menschheit. Er könne sich gut vorstellen, dass Wolf eines Tages ihn oder die Eltern umbringen würde.

Wolf trieb sich fast täglich in Hamburg herum und war in den "interessanten" Stadtvierteln anzutreffen, die Rudolf für Sammelpunkte der Verwerflichkeit hielt. Wolf trieb sich gelangweilt herum, er war in einschlägigen Bars und wurde von Männern freigehalten, die Interesse an ihm oder an seiner Jugend hatten - oder umgekehrt, für die er sich interessierte. In den Kreisen der Fetischisten und Lederfanatiker war Wolf sehr bald bekannt, nicht nur wegen seines Jugend und seines Aussehens, sondern auch wegen seiner Aggressivität und Grausamkeit, die manche Männer suchten. Gelegentlich wurde er aufgegriffen und von der Polizei nach Hause gebracht, was die Eltern verzweifeln ließ.

*

Wolf war 15 Jahre alt, als er einen 25-jährigen Elektriker in einer Sauna traf. Eigentlich hätte man ihn nicht in die Sauna hineinlassen dürfen, aber man kannte ihn, und man fragte nicht, und im Übrigen sah er viel älter aus als gerade 15. Es war ein nasser Samstag, und es war noch etwas zu früh, um in eine Bar zu gehen. Das war 1997. Der Elektriker hieß Johannes, er war ein großer, sehr schmaler Mann mit einem sympathischen Babygesicht. Er sah, so fand Wolf, sehr gut aus, so gut, dass Wolf ihn im Erfrischungsraum ansprach Wolf war nicht schüchtern, wenn er etwas wollte, und er hatte keine Hemmungen, Menschen anzusprechen.

Wolf und Johannes verstanden sich auf Anhieb sehr gut. Sie waren sich äußerlich überhaupt nicht ähnlich, aber sie hatten die gleichen ausgesprochen sadistischen Neigungen, wobei Johannes wohl auch den masochistischen Partner darstellen konnte. Das festzustellen hatte nur wenige Minuten gedauert. Es war Wolf, der direkt fragte, und Johannes, der lächelnd antwortete. Noch in der Sauna hatten sie ihre erste intime Berührung, und Wolf wusste, dass er Johannes wiedertreffen wollte. Er wollte ihn zum Freund und Partner haben, denn wechselnde Partner zu haben war ausgesprochen anstrengend.

Johannes arbeitete auf einer Werft, und das bedeutete Schichtarbeit. Er war nicht immer frei, was Wolf respektieren musste, obgleich es ihm nicht leicht fiel. Wenn Johannes nicht frei war, so lief Wolf oft in der Stadt herum, vor allem im St. Georg Viertel der Stadt. Nein, er suchte noch nicht einmal Kontakte, obgleich Johannes nichts gesagt oder sich beschwert hätte. Johannes hielt nichts von "Schwüren der Treue" und dergleichen. Das, worauf Johannes achtete, war "safer sex", wie er es nannte. Er wollte keine Ansteckung - und Wolf wollte das auch nicht. Vor allem in der Anfangsphase ihrer Beziehung wollte Wolf keinen anderen Menschen berühren als Johannes.

Johannes brachte ihn hier und da auch mit anderen Gleichgesinnten in Verbindung, aber Johannes war kein Freund der lauten und schrillen Partys, und er mied auch das, was er die "schräge Welt" nannte. Dazu war er beruflich zu ehrgeizig Meist verabredeten sie sich bei Johannes in dessen kleinem Apartment. Dort war es sauber, gemütlich, und sie hatten alles, um auch harten Sex zu machen.

Wolf hatte allerdings ein Problem: Geld. Zu Hause bekam er kein Geld. Er hatte nie genügend Geld, und ohne Geld ging gar nichts. Deshalb ging er gelegentlich auf den Strich, und dank seiner Jugend und seines Aussehens fand er immer einige Menschen, die "Gönner" oder "Freier" genannt wurden, und die für Sex auch Geld zahlten, und diese Leute fragten auch nicht, ob er volljährig sei. Wolf war sehr gut, wie ihm diese "Gönner" bestätigten, und es gab einige, die ein Treffen mit Wolf wiederholen wollten. Das lehnte Wolf meistens ab, denn er wollte keine innere Bindung. Er wollte frei sein, frei für Johannes.

Wolf war für sich selbst nicht anspruchsvoll, weder beim Essen noch bei seiner Kleidung. Er aß ein Würstchen oder einen Burger oder irgendetwas, was in einem Schnellrestaurant preiswert zu bekommen war. Und was die Kleidung anging, so trug er Jeans, ein T-Shirt und eine schwarze Lederjacke, die nicht mehr ganz neu war, und an den Füßen trug er Schuhe, die einst Herbert gehört hatten. Alkohol trank er so gut wie gar nicht, weil er ihm nicht schmeckte. Bier mochte er gar nicht, und sogenannte scharfe Sachen waren ihm zuwider. In Bars trank er meistens Rotwein, auch wenn er kein Weinkenner war. Auch Drogen und Zigaretten konnten ihn nicht reizen, obgleich er natürlich alles einmal probiert hatte. Er war ganz einfach nicht empfänglich für derartige Dinge.

Die Freundschaft mit Johannes hatte einen guten Einfluss auf Wolf, glaubte Herbert feststellen zu können, obgleich das nicht gleich offensichtlich war. Johannes war beruflich ehrgeizig, was Wolf ganz gewiss nicht war. Ganz gleich, welchen sexuellen Eskapaden Johannes sich hingab, er wollte seinen Meistertitel erwerben, und er besuchte einen Meisterkurs. Dafür lernte er. Er hatte eine sturmfreie Bude, in die er Wolf mitnahm, und dort lernte er täglich "sein Pensum", auch wenn Wolf dabei war. Vielleicht war es das, was Wolf - zunächst sehr gelegentlich - an seine eigene Zukunft denken ließ. Herbert, dem Wolf von Johannes erzählte, freute sich sogar über die Freundschaft. Er meinte, Wolf solle Johannes als Freund "gut festhalten", denn er sei doch so etwas wie ein Glücksfall.

Das Zuhause bei den Eltern war für Wolf weit weg. Das Zuhause in Harburg war zur Absteige geworden, ein Platz, wo er schlafen konnte, wo er sich waschen konnte, mehr aber nicht. Mehr schien er nicht zu wollen. Ein Gespräch mit den Eltern gab es nicht. Es ergab sich einfach nicht. Waren Gäste im Hause, so war Wolf unsichtbar und unhörbar - meistens war er nicht da, oder wenn, war er in seinem Zimmer. Und was die Eltern anging, so war ihnen die Anwesenheit von Wolf peinlich. Sie suchten ihn nicht, sie wollten keine Diskussion mit ihm, weil sie den Streit mit ihm fürchteten, und weil sie ihn nicht verstanden.

Für Lisbeth war Wolf kein Thema, wenn sie denn mal zu Hause war. Sie lebte in der Welt der Mode, und da gab es, so meinte sie, die merkwürdigsten Menschen. Es waren Menschen, die ihrer Meinung nach außerhalb der spießigen und bürgerlichen Welt lebten, Menschen mit Träumen, Visionen und Drogen. Und wenn Wolf in die gleiche Kategorie gehörte, auch wenn er sich nicht mit Mode befasste, so war ihr das gleichgültig. Hatte sie mal den Eltern gesagt:

"Wolf ist Euer Problem, nicht mein Problem."

Bei Walter war es etwas anders, denn er betrachtete Wolf aus irgendwelchen Gründen auch als sein Problem. Für ihn war Wolf ein Krimineller und ein psychisch kranker Mensch, der entweder in eine Anstalt oder in ein Gefängnis gehörte. Das sagte er nicht zu Wolf, denn das wagte er nicht. Aber das predigte er seinen Eltern vor.

"Er ist eine Gefahr für meine Familie", klagte Walter, der sich glücklich schätzte, nicht zu Hause wohnen zu müssen, das sagte er zumindest.

*

Er war in der "Scum-Bar" in St. Georg, als er bei einer Polizeikontrolle wieder einmal aufgegriffen wurde. Es war März, nasskalt und sehr windig. Die Polizei hatte eine Gruppe von Drogendealern gesucht, und man hatte einen Tipp bekommen, dass sich mindestens zwei der gesuchten Dealer in der "Scum-Bar" aufhalten würden. Die Bar war einschlägig als "Lederbar" oder "S/M-Bar" oder auch als "S/M Club" bekannt. Die Polizei tauchte mindestens dreimal pro Monat dort auf, fast immer wurde auch der eine oder andere der Gäste mitgenommen. Dieses Mal wurden zwei der Dealer und drei noch jugendliche Männer festgenommen, einer davon war Wolf.

Zwei Tage später wurde Wolf bei den Eltern, die ihn nicht vermisst hatten, in Harburg abgeliefert. Die Eltern wurden informiert, dass man Wolf in einer einschlägig bekannten Bar für Homosexuelle aufgegriffen habe, und dass er unter dem Verdacht des Drogenhandels stehe. Die Staatsanwaltschaft würde ermitteln, wie einer der Beamten den entsetzten Eltern sagte. Es war reiner Zufall, dass das an einem Vormittag passierte, als Tante Elisabeth ihren monatlichen Besuch bei Irene machte und Zeuge wurde, wie zwei Beamte den Jungen brachten. Rudolf war zu Hause, und er war es, der die Polizei und den Jungen empfing und ins Wohnzimmer bat, wo sich Irene und Tante Elisabeth aufhielten. Der Vater, obwohl außer sich, sagte nicht viel in Gegenwart der Polizei. Er versicherte der Polizei, dass er sich um seinen "missratenen Sohn" kümmern werde. Ehe sich die beiden Polizisten verabschiedeten, sagte der Ältere der Beiden, dass sich die Staatsanwaltschaft vielleicht melden würde, der Junge werde vielleicht aussagen müssen.

Kaum war die Polizei fort, gab es eine unerfreuliche Szene. Der Vater holte aus dem Flur seinen recht derben Spazierstock und begann, auf den größeren und stärkeren Jungen einzuschlagen, und mit jedem Hieb, den Wolf mühelos abzuwehren verstand, würde der Vater nur noch wütender. Es war wohl auch seine Ohnmacht, die ihn blind machte. Und als Wolf anfing zu lachen, schrie Rudolf, und hieb umso heftiger auf den Sohn ein. Es endete damit, dass Rudolf, heiser geworden, schrie, Wolf solle das Haus verlassen und sich nie wieder blicken lassen.

Tante Elisabeth war zunächst erstarrt. Sie hatte kaum glauben wollen, dass ihr Bruder so sehr die Beherrschung verlieren würde. Zugegeben, Wolf war schwierig, mehr noch, er war einfach nicht erziehbar, und er hatte vielleicht auch etwas Kriminelles an sich. Und der Junge hatte mit seinem Lachen den Vater auch noch unnötig provoziert. Aber den Jungen auf die Straße zu setzen, war gewiss auch nicht richtig, auch dann nicht, wenn er sich bereits zu einem Straßenjungen entwickelt haben sollte. Kaum war Wolf aus dem Haus, wurde Tante Elisabeth sehr lebendig, sie rannte hinter Wolf her und erwischte ihn am Gartentor.

"Wolf, einen Augenblick", rief sie atemlos. Dann war sie bei ihm. "Wolf, geh nicht weg. Ich hole meine Tasche, dann fahren wir zu mir."

"Lass nur, ich gehe", sagte er mit fast normaler Stimme. Es war, als sei nichts passiert und als ginge ihn das häusliche Theater nichts an.

"Nein, bitte - ich hole schnell meine Jacke und die Handtasche, dann - lauf nicht weg, ich bitte dich darum."

Tante Elisabeth eilte ins Haus und kam Augenblicke später wieder. Wolf hatte tatsächlich gewartet. Warum - er wusste es selbst nicht. Er mochte Tante Elisabeth, obgleich er sie nicht sehr oft gesehen und kaum mit ihr gesprochen hatte. Sie war ruhig, nicht so "überkandidelt" wie sein Vater, oder so etikettenbewusst wie die Mutter. Auf der anderen Seite glaubte er, er würde immer irgendwo unterkommen, und wenn nichts funktionierte, würde er einen Gönner finden.

02. Der Engel namens Elisabeth

Tante Elisabeth und Wolf fuhren schweigend nach Klein Flottbek, denn keiner wusste so recht, was zu sagen wäre. Nur wenig später waren sie in der Wohnung von Tante Elisabeth.

"So, mein Junge, ich zeige dir erst mal dein Zimmer, dann mache ich uns etwas zu essen. Ich jedenfalls habe Hunger." Wolf nickte. Er hatte auch Hunger, denn seit seiner Festnahme hatte er nicht richtig gegessen. Es gab ein Fertiggericht aus der Tiefkühltruhe. Tante Elisabeth war keine gute Köchin, wie sie oft genug gesagt hatte, und sie lebte praktisch aus der Tiefkühltruhe von Fertiggerichten. Das Essen war schnell hergerichtet, und aus Bequemlichkeit aßen die Beiden in der Küche.

Zunächst redeten sie nicht sehr viel. Der erste Hunger war gestillt, als Tante Elisabeth sagte:

"Du kannst hier bleiben, solange du willst."

"Ich möchte dir nicht zur Last fallen", erwiderte er, und dann sagte er noch: "Ich will keinem Menschen zur Last fallen. Ich weiß, wo ich unterkommen kann."

"Das mag ja sein", meinte sie fast ungerührt. "Aber du fällst mir nicht zur Last, das kannst du mir ruhig glauben. Und was mich angeht, ich bin ja viel zu faul, um große Umstände zu machen."

Wolf musste lächeln. Er lächelte auch, als sie fortfuhr: "Ich gebe dir den Schlüssel, und du kommst und gehst, wie du es für richtig hältst. Du wirst in Kürze 17 Jahre alt, und du wirst wissen, was du tust."

Wolf half beim Abräumen des Geschirrs, ohne dass Elisabeth etwas gesagt hatte. Er fragte, ob er abwaschen sollte. Lachend antwortete sie, dass sie eine Spülmaschine habe, und da tue sie alles herein. Spülen? Abwaschen? Das habe sie sich schon längst abgewöhnt.

"So, und nun mache ich meinen Mittagsschlaf", erklärte sie. Dabei machte sie normalerweise keinen Mittagsschlaf. Sie wollte aber dem Jungen Zeit geben, seine Gedanken zu sammeln, und sie wollte auch selbst nachdenken. Sie hatte keine Erfahrung mit jungen Menschen, und über Wolf hatte sie nur das erfahren, was Irene ihr gesagt hatte, und das war nicht viel gewesen. Sie gab Wolf den Wohnungsschlüssel, aber er wollte gar nicht fort, zumindest nicht jetzt. Er wollte auch ins Bett gehen, denn er hatte zwei Nächte hindurch kaum geschlafen, In der Zelle sei es nicht besonders gemütlich gewesen. Er war, wie es sagte, hundemüde. Das war richtig, denn kaum war er in seinem Bett, schlief er auch schon, fest und traumlos. Tante Elisabeth hingegen legte sich zwar ins Bett, an Schlaf jedoch war nicht zu denken. Wie würde die Zukunft aussehen? Würde Wolf einen Tag, zwei Tage oder wie lange bleiben? Was würde sie tun, wenn er einfach weglaufen würde? Nein, an Schlaf war nicht zu denken. Ihr war auf einmal bewusst, dass sie eine Verantwortung übernommen hatte, aber wie man damit umzugehen hat, war ihr keineswegs klar.

*

Elisabeth und Wolf saßen an ihrem ersten gemeinsamen Abend gemütlich zusammen und ließen sich gehen. Sie trank etwas Wein, er zog Wasser vor. Warum trinke er kein Alkohol, hatte sie gefragt. Er hatte mit den Schultern gezuckt. Sie fragte nicht weiter nach dem "warum", und so sagte sie, dass sie weder Regeln noch Erfahrung eines Zusammenseins mit jungen Menschen habe. Während ihrer Ehe sei das anders gewesen, denn sie habe mit Rainer im Geschäft gearbeitet, mal als Sekretärin, mal als Protokollführerin, was auch immer. Aber nach dem Tod ihres Mannes habe sie sich an das Alleinsein sehr gewöhnt. Das Alleinsein habe sie sogar genossen.

"Du, ich will nicht stören, und ich kann auch wieder verschwinden", sagte Wolf. Er schaute sie an. Sie wusste, dass er es ernst meinte.

"Ich würde mich freuen, wenn du hier bleiben würdest, denn du störst nicht", entgegnete sie. Und sie sagte weiter: "Du hast den Schlüssel, und du kommst und gehst, wie du möchtest. Ich frage dich nicht, was du tust - aber wenn du von dir aus sagst, was du tust oder was dich bewegt, so hast du sehr offene Ohren. Aber eine Frage: Hast du einen Freund?"

Wolf hatte diese Frage nicht erwartet. Er war überrascht und zögerte mit der Antwort, dann erzählte er, dass er einen Elektriker zum Freund habe. Der heiße Johannes Ederling. Johannes bereite sich auf seine Meisterprüfung in seinem Fach vor.

"Das klingt doch gut. Solltest du ihn mal mitbringen wollen, so ist er willkommen."

"Der ist schwul, wie ich auch", erklärte Wolf. Er schaute Tante Elisabeth an.

"Na, und?" Tante Elisabeth lachte.

Mehr wurde nicht darüber gesagt. Während der Zeit ihrer Ehe und ihrer beruflichen Tätigkeit hatte sie durchaus Verbindung zu homosexuellen Menschen gehabt, und die Begegnung mit ihnen war positiv gewesen.

Nach dem Abendessen verschwand Wolf, er sagte, er müsse noch weggehen - er sagte nicht, wohin oder warum, und Elisabeth fragte auch nicht. Sie sah Wolf nach, und sie freute sich, dass er sich ihretwegen nicht verbog oder etwas vorgab, was nicht existierte.

Wie jeden Abend vorher war sie auch jetzt allein. Sie schaltete das Fernsehgerät an und sah die Nachrichten, dann las sie in einem Buch, das ihr sehr gefiel. Eigentlich brauchte sie kein Fernsehgerät, und meist sah sie nur die Nachrichten, diese allerdings mit einigem Interesse. Dieses Mal ertappte sie sich dabei, dass ihre Gedanken immer wieder zu ihrem Neffen wanderten. War es richtig, was sie tat? Sie war sich nicht ganz sicher, aber sie wusste, dass sie ihn nicht auf die Straße setzen würde. Wolf brauchte so etwas wie einen Hafen, zu dem er zurückkehren konnte, dessen war sie sich sicher.

*

So ähnlich ging das während der nächsten Tage zu. Wolf war abends meistens außer Haus, aber er kam immer wieder zurück, sodass er und seine Tante zumindest gemeinsam frühstücken konnten. Tante Elisabeth frühstückte ziemlich pünktlich gegen 8.00 Uhr. Wolf richtete sich danach, ohne darum gebeten worden zu sein. Was er den ganzen Tag über machte, wusste sie nicht, sie fragte auch nicht, denn sie wollte Wolf nicht zum Lügen verleiten, und noch weniger wollte sie eine Trotzreaktion erleben.

Das gemeinsame Frühstück wurde zu einer Routine, und Wolf ertappte sich dabei, dass er sich auf das Frühstück mit seiner Tante sehr freute. Die Tante stellte nach und nach seine Familie dar, und das Frühstück gehörte ganz einfach dazu. Manchmal erzählte er, was er am Abend oder in der Nacht zuvor gemacht hatte, sie hörte zu. Er ertappte sich dabei, dass er auch Dinge erzählte, die er sonst immer für sich behalten hatte. Gelegentlich erzählte sie von sich oder von dem, was am Vortag passiert war, wenn überhaupt etwas passiert war. Es war einfach gemütlich, dieses Frühstück mit Tante Elisabeth.

Im Wohnzimmer gab es auf der Kommode einen Platz, wo sie € 500,00 in kleineren Scheinen hingelegt hatte. Sie sagte Wolf, dass er jederzeit das Geld nehmen könne, wenn er es brauche. Und wenn er alles oder einen Teil davon genommen habe, werde sie es wieder ergänzen.

"Du sollst nie ganz ohne Geld sein - und ich will auch nicht wissen, was du damit tun wirst", hatte sie erklärt.

Ohne dass er es sich eingestehen wollte, war Wolf gern bei seiner Tante. Sie nahm ihn so, wie er war, und das gab ihm ein Gefühl der Geborgenheit. Nach und nach dehnte sich die Zeit des Frühstücks aus. Er begann, ein wenig von sich und seinem Freund Johannes zu erzählen, und er erklärte, dass sein Freund ehrgeizig sei, und dass er bald einen Meistertitel haben dürfte, während er selbst noch nicht einmal einen vernünftigen Schulabschluss hatte. Das erkannte er nicht nur, sondern sprach auch darüber. Aber er hatte nicht vor, noch einmal die Schulbank zu drücken. Dennoch denke er über seine Zukunft nach, und ganz sicher werde ihm auch etwas einfallen, sagte er.

Nach etwa drei Wochen erschien Herbert zur großen Überraschung von Tante Elisabeth. Er wusste natürlich, wo er seinen kleinen Bruder finden würde, und so erschien er eines Abends unangemeldet. Er hatte sogar Glück, denn Wolf war zu Hause. Herbert öffnete seine Arme, und Tante Elisabeth sah mit Vergnügen und Genugtuung, wie sich die Brüder voller Wärme umarmten. Gemeinsam saßen sie im Wohnzimmer, wo sie sich über Belanglosigkeiten unterhielten - und doch waren es wichtige Belanglosigkeiten. Über die Eltern wurde allerdings nicht gesprochen. Elisabeth wollte sich erst zurückziehen, aber die Brüder protestierten heftig. Nein, es sei so gemütlich, und sie gehöre dazu, erklärte Wolf mit einem Lächeln. Herbert stimmte zu.