Die Wolf - Jan-Hillern Taaks - E-Book

Die Wolf E-Book

Jan-Hillern Taaks

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Beschreibung

"Die Wolf" oder "Otto Mundt und seine Familie" ist die Geschichte eines komplizierten Vater-Tochter Verhältnisses und komplizierter Familienverhältnisse. Die Wolf, genauer: Frau Dr. Helene Wolf, ist eine bekannte und auch gefürchtete Anwältin. Otto Mundt, der sich lange Zeit als ihr Onkel Otto ausgab, ist in Wirklichkeit ihr Vater, der sie unterstützt, ihr hilft, ohne sich aufzudrängen. Die Wolf heiratet, ohne das Leben einer verheirateten Frau zu führen. Und sie hat mit ihrem Mann, der nur gelegentlich auftaucht, vier Kinder, von denen eines tödlich verunglückt. Die Wolf ist eine widersprüchliche Frau, groß, hager, schmucklos und sehr ehrgeizig. Das ist die eine Seite. Als Strafverteidigerin kämpft sie für die Beschuldigten, ruhig, sachlich und unerbittlich. Als Mutter versucht sie ihren Kindern das zu sein, was Otto Mundt für sie ist. Sie unterstützt die Kinder, ohne sich aufzudrängen. Otto Mundt hat zwei ältere Schwestern, die ihn ablehnen, weil er in jungen Jahren eine Haftstrafe antreten muss. Nach seiner Entlassung schafft er es, sich zu einem beachteten und vor allem sehr reichen Unternehmer zu entwickeln. Die Nachkommen seiner Schwestern tauchen auf, um - vielleicht von Ottos Reichtum zu profitieren.

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Seitenzahl: 316

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Jan-Hillern Taaks

Die Wolf

Otto Mundt und seine Familie

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Jan-Hillern Taaks

Die Wolf

oder

Otto Mundt und seine Familie

Kennen Sie die Wolf? Nein? Die meisten kennen sie nicht. Im Straßenbild fällt sie trotz ihrer Größe nicht auf. Fragt man allerdings Leute von der Hamburger Staatsanwaltschaft, so hört man:

"Die Wolf? Ja, die kennen wir. Die ist gefährlich."

Nicht alle sagen so, aber es gibt kaum einen Staatsanwalt, der nicht nervös wird, wenn sie auf der anderen Seite sitzt, als Verteidigerin zum Beispiel. Und es gibt auch einige Psychologen, die mit ihr nichts zu tun haben wollen. Wer ist "die Wolf?"

Frau Dr. Helene Wolf, 1965 als Helene Marquart geboren, war mehrere Jahre Mitarbeiterin der Kanzlei Abelt, Abelt, Rossmer und Partner, und sie ist dort immer noch. Wenn man ihr in späteren Jahren begegnete, so schien sie eine nüchterne, schmucklose Person zu sein, die aber auch im reiferen Alter Menschen durch unerwarteten Charme gefangen nehmen konnte. Sie war schlank, fast hager, und über 1,80 cm groß. Meistens trug sie ein graues Kostüm und eine weiße Bluse, dazu einfache Schuhe mit flachen Absätzen. Ihr längliches Gesicht war ausdrucksstark, und wenn sie lächelte, so lächelte das ganze Gesicht. Die sanften, braunen Augen, die gerade, lange Nase, der breite Mund wirkten sympathisch, aber auch abweisend. Die mit Grau durchsetzten Haare trug sie streng in einem Knoten gebunden. Es war auffallend, dass sie keinen Schmuck trug. Es gab keine Kette, keine Brosche, keinen Ring, auch keinen Ehering.

Helenes Mutter war Louise Marquart, die einen Ralf Boring geheiratet hatte, als sie bereits im fünften Monat schwanger war. Der Mann, den sie heiratete, war nicht der Vater des Kindes, und so war auf der Geburtsurkunde zu lesen, dass der Vater unbekannt sei. Später wurde bekannt, dass sowohl Louise als auch Ralf sehr wohl wussten, wer der Vater gewesen war, aber sie hatten aus Gründen, die nicht ganz klar waren, darüber geschwiegen. Beide, Louise als auch Ralf liebten das Mädchen, sie waren mit ihr glücklich. Die kleine Helene war der Mittelpunkt der kleinen Familie. Weitere Kinder kamen nicht.

Die Religion spielte in diesen Jahren keine große Rolle. Ralf kam aus einem protestantischen Elternhaus, aber er war in jungen Jahren aus der Kirche ausgetreten. Louise Marquardt kam aus einem katholischen Haushalt, aber die Bindung zur Kirche hatte sich sehr früh gelockert. Sie und Ralf waren nicht kirchlich getraut worden. Allerdings war Helene nach katholischer Konfession getauft worden, und in den ersten Jahren ging Louise regelmäßig mit der Kleinen zum sonntäglichen Gottesdienst.

Louise war an den Folgen eines Unfalls gestorben, als Helene gerade sieben Jahre alt gewesen war. Ralf hatte es dann übernommen, das Kind allein zu erziehen, was zunächst gar nicht so einfach gewesen war. Ralf war ein vielbeschäftigter Mann, denn als Filialleiter eines Supermarktes hatte er für das Mädchen nicht so viel Zeit, wie es vielleicht erforderlich gewesen wäre. Es half, dass Helene sehr ruhig war. Es war, als würde Helene verstehen, dass ihr Stiefvater sich alle Mühe gab, ihr ein Zuhause und Geborgenheit zu bieten. Für den Haushalt gab es noch eine Reinigungskraft, die natürlich kein Ersatz für die Mutter war.

Der Abschied von der Mutter war für Helene sehr schwierig gewesen. Die Mutter hatte sie Abend für Abend zu Bett gebracht, sie hatte mit ihr gesungen, sie hatte das Abendgebet gesprochen und sie hatte ihr Geschichten erzählt oder vorgelesen. Helene hatte diese abendlichen Stunden geliebt, und manchmal hatte sie gedrängt, ins Bett gehen zu dürfen - nur um den Abend mit der Mutter zu genießen. Nun war die Mutter nicht mehr da. Helene versuchte, tapfer zu sein, denn sie spürte, dass auch Ralf Probleme hatte, den Abschied von der Mutter zu verkraften.

Helene war ein sehr ruhiges Mädchen, das sehr früh lernte, selbständig zu sein. Sie half im Haushalt mit, und sehr früh begann sie, für Ralf und für sich das Frühstück vorzubereiten, und sie kümmerte sich bereits als elfjähriges Mädchen um die Wäsche. Täglich kam eine ältere, nette Frau, die mehr oder weniger den Haushalt versorgte. Sie hieß Irene, war mittelgroß und sehr rundlich mit einem enormen Busen. Wo Ralf diese Frau kennengelernt hatte, war nicht ganz klar. Aber sie kümmerte sich um das Mädchen, soweit es ging, und sie war auch da, wenn Helene ihre Schulaufgaben machte. Das Mädchen war eine fleißige Schülerin, von der die Lehrer sagten, sie sei manchmal zu ruhig, und es wäre besser, wenn sie sich mehr am Unterricht beteiligen würde.

Es gab dann noch eine Tante Adelheid, die Schwester der Mutter, aber sie erschien bestenfalls einmal pro Monat, um "nach dem Rechten zu schauen", wie sie sich ausdrückte. Diese Aufgabe nahm sie nicht ganz ernst, denn ihre Besuche waren stets sehr kurz, und sie hatte keine Streicheleinheiten für das Mädchen übrig. Sie hatte Ralf einmal gesagt, dass sie mit Kindern nichts anzufangen wisse. Sie war verheiratet, aber sie hatte selbst keine Kinder und wollte auch keine haben, wie sie immer wieder betonte. Später kam sie nicht mehr. Und diese Tante Adelheid geriet in Vergessenheit.

Dann gab es noch einen Onkel Otto, von dem es hieß, er sei ein Verwandter der Mutter, was Tante Adelheid aber abgestritten hatte. Im Grunde war es Helene gleichgültig, wie nah oder fern Onkel Otto mit wem verwandt war, aber er war da, und er hatte für das heranwachsende Mädchen immer nette, fast liebevolle Worte. Für Helene gehörte Otto zu ihrer kleinen Familie, und wenn er kam, war er ihr willkommen. Onkel Otto und Ralf mochten sich, und sehr oft saßen die beiden fast gleichaltrigen Männer lange Abende beisammen und diskutierten. Andere Verwandte schien es nicht zu geben, jedenfalls spielten sie im Leben der heranwachsenden Helene keine Rolle.

2. Kapitel

Wegen ihrer guten Leistungen auf der Grundschule war es für Ralf und Onkel Otto eine Selbstverständlichkeit, das Mädchen aufs Gymnasium zu schicken. Helene war auch auf dem Gymnasium eine recht gute Schülerin, vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern. Der Klassenlehrer hatte mal zu Ralf gesagt, dass Helene ein fabelhaftes Gedächtnis habe, und dass sie analytisch denken könne. Sie war vielleicht nicht die Klassenbeste - das wollte sie auch nicht sein - aber in ihren Zeugnissen fanden sich keine "ausreichend" oder gar "mangelhaft". Im Sport zeichnete sie sich beim Wassersport und im Turnen aus, während sie den Mannschaftssport wie Handball oder dergleichen mied.

In diesen Jahren hatte sie seit der Volksschule eine Freundin namens Lilly. Lilly, ein Jahr älter als Helene, war ebenfalls ein Einzelkind, ihre Mutter, geschieden, war Altenpflegerin. Helene, obgleich jünger als Lilly, war sehr groß, und in der Schule hatte sie den Spitznamen "Bohnenstange", was sie aber nicht störte. Auch Lilly störte das nicht weiter. Helene besuchte ihre Freundin recht oft oder umgekehrt, Lilly besuchte sie, und Ralf fand die beiden Mädchen oft zusammen im sogenannten Mädchenzimmer, wo sie sich endlose Geschichten erzählten oder auch gemeinsam Schularbeiten machten.

Gemeinsam besuchten die Mädchen die Tanzschule, Lilly war 16 Jahre alt, Helene 15. Lilly entdeckte sich in dieser Zeit selbst, ihren Körper, und sie entdeckte ihre erste Liebe. Damit endete nicht die Freundschaft der beiden Mädchen, aber sie kamen nicht mehr so oft zusammen. Lilly verabredete sich recht oft mit ihrem jungen Freund, und mit einigem Erstaunen stellte Helene fest, dass Lilly eines Tages einen anderen Freund hatte. Freunde wechselten. Helene merkte, dass es Lilly auch um die körperliche Liebe ging, und dass Lilly von einer rein platonischen Freundschaft mit einem Mann nichts hielt. Lillys Mutter hatte nichts gegen die körperliche Beziehung zwischen Frauen und Männern - oder zwischen Mädchen und Jungen. Sie hielt es für sehr vernünftig, wenn junge Menschen auch diese Seite des Lebens kennenlernen würden. Sie hatte Lilly gründlich über die körperliche Liebe und deren Gefahren aufgeklärt. Lilly gab das Wissen natürlich ihrer besten Freundin weiter, denn Lilly wusste, dass Helene keinen anderen Menschen hatte, mit dem sie darüber reden könnte, oder der sie in die Geheimnisse des "schönen" Lebens der Erwachsenen einweisen könnte.

Helene war neugierig - nein: wissbegierig, und sie verfolgte mit Interesse dem, was Lilly zu erzählen und zu zeigen hatte. Aber sie hatte keinen Freund, zumindest keinen Mann, mit dem sie mal den Versuch machen könnte, ins Bett zu steigen. So wissbegierig sie war, sie wollte mit keinem Menschen ins Bett steigen, der ihr nicht sympathisch war. Der Mann musste nett sein, gut aussehen, und kein dummes Zeug reden. Und so einen Mann hatte Helene auch noch nicht gefunden.

Es war Onkel Otto, der bei einem seiner Besuche Ralf fragte, ob das Mädchen inzwischen einen "festen Freund" habe, denn seines Wissens hätten junge Mädchen in dem Alter einen Freund.

"Was? Nein, Helene hat keinen festen Freund", entgegnete Ralf, aber so sicher war er sich nicht. Immerhin hatte er nie einen Freund gesehen, und Helene hatte darüber auch nie gesprochen.

3. Kapitel

Helene stand kurz vor dem Abitur. Lilly hatte die Schule verlassen, sie wollte kein Abitur, sie wollte keine Schule mehr, sondern sie wollte eine Schneiderlehre machen - ihre Mutter hatte zugestimmt, wie Lilly erklärte. Das war auch so etwas wie eine Trennung, denn Lilly mit wechselnden Freunden und einem Berufs- und Lebensweg, der ganz anders war, war einfach nicht mehr da. Man traf sich nicht mehr so oft, was Helene leidtat, wenngleich sie sehen konnte, dass Lilly einfach keine Zeit hatte.

Helene jedoch wollte ihr Abitur machen, obwohl sie nach Lillys Ausscheiden aus der Schule nicht gerne dorthin ging. Sie fühlte sich allein. Nun kam ihre schlanke Größe hinzu, die ihr den Spitznahmen "die Bohnenstange" eingebracht hatte. Das hatte ihr bisher nichts ausgemacht, aber nun, wo es keine Lilly mehr gab, ärgerte sie sich darüber. Die Schule wurde ihr noch unsympathischer. Aber sie wollte weitermachen, denn sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, Jura zu studieren. Warum Jura, hatten sowohl Ralf als auch Onkel Otto gefragt. Helene hatte keine sehr klare Antwort darauf, sie sagte aber, dass sie in der Tageszeitung - es war das "Hamburger Abendblatt" - die Nachrichten über Verbrechensbekämpfung und Gerichtsverfahren mit kritischem Interesse gelesen habe.

"Ich finde, dass Jura sehr interessant ist", behauptete sie, "und das möchte ich lernen."

Onkel Otto machte ihr klar, dass man zwischen dem Strafgesetzbuch, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, dem Handelsgesetzbuch und anderen gut zu unterscheiden habe.

"Woher weißt du das?", fragte Helene, als Otto mehr in Einzelheiten ging und meinte, dass es nicht nur auf die vielen Gesetze ankomme, sondern auch auf die Rechtssprechung. Auf Helenes Frage hatte Onkel Otto keine Antwort, er meinte nur, dass er im Laufe der Zeit recht oft mit Gesetzen zu tun gehabt hatte.

Und nur wenig später besorgte er einige Gesetzestexte und gab sie ihr. Ja, sagte sie, sie werde die Texte lesen, und das tat sie auch. Sehr zum Erstaunten von Ralf und Onkel Otto. Onkel Otto, der eigentlich nicht viel Zeit hatte, gab ihr 200,00 Mark und sagte, sie solle doch in die Buchhandlung gehen, um sich in der Literatur umzuschauen. Das tat sie auch. Das Abitur schien auf einmal Nebensache zu sein, so sehr befasste sie sich mit juristischen Texten, die sie hoch spannend fand. Ralf schüttelte staunend den Kopf. Er selbst hatte kein Abitur. Er hatte eine kaufmännische Lehre durchgemacht, und damit war er sehr zufrieden gewesen, denn als Filialleiter hatte er einen guten Posten.

Die mündlichen und schriftlichen Prüfungen zum Abitur bestand sie mit sehr guten Noten. Sie hatte, wie ihr Klassenlehrer ihr zum Abschluss bestätigte, eine klare Art, sich auszudrücken. Nein, sie war nicht die beste Schülerin, aber sie rangierte unter den ersten fünf Abiturienten, und das war ihr genug, wie sie sagte. Waren die Prüfungen schwer gewesen? Als Onkel Otto sie das fragte, winkte sie ab, und sie bestätigte, dass sie sich jetzt um einen Studienplatz kümmern werde.

"Tue das", sagte Onkel Otto, dem es gefiel, dass Helene ein Ziel vor Augen hatte, und offensichtlich dabei war, das Ziel auch zu erreichen.

4. Kapitel

Helene Marquart bekam einen Studienplatz, sehr zur Freude von Ralf und Onkel Otto. Und dann passierte etwas, womit Helene am wenigsten gerechnet hatte: Sie verliebte sich in Bernd Wolf, einen Gärtner. Helene war mit der S-Bahn zur Gärtnerei gefahren, so wollte ganz einfach ein paar Blumen für die Wohnung kaufen. Ohne Blumen sah die Wohnung traurig aus, fand sie, und weder Ralf noch Onkel Otto fanden die Zeit und Muße, Blumen zu besorgen.

Sie sah Bernd, und sie glaubte, auf einmal in einer anderen Welt zu sein. Bernd Wolf war groß, sicher fast zwei Meter groß, breit in den Schultern und schmal in den Hüften, er hatte ein längliches, fast kantiges Gesicht und strahlte eine spürbare animalische Wärme aus. Seine starken Muskeln zeugten von Sport und körperlicher Arbeit. Bernd hatte braune Haare, tief liegende hellbraune Augen, eine gerade Nase und einen breiten Mund, der immer zu lächeln schien. Als Helene ihm gegenüberstand, vergaß sie, was sie eigentlich wollte. Sie wollte den Mann berühren, und sie glaubte, ihr ganzer Körper verlangte ihn, einen Mann, den sie noch nicht einmal kannte, von dem sie nichts wusste.

"Kann ich etwas für sie tun", fragte er. Er hatte eine einschmeichelnde Stimme, die für Helene wie Musik klang. Sie nahm sich zusammen, sie errötete, und schließlich sagte sie:

"Eigentlich wollte ich ein paar Blumen." Wie dumm, sie schalt sich, denn was heißt "eigentlich"?

Bernd schien zu verstehen, was in ihr vorging. Sein Lächeln vertiefte sich, als er sie zu einer Tasse Kaffee einlud - wo? Ja, hinten, im kleinen Büro. Bernd bat eine Mitarbeiterin, den Laden zu übernehmen, dann führte er Helene ins Büro. Das, was sich Büro nannte, war ein kleiner Raum, in dem sich ein Schreibtisch, drei Stühle und viele Regale befanden, und Papier gab es überall.

Bernd nahm Helene in seine Arme, sanft, wie selbstverständlich aber keineswegs fordernd. Sie schloss die Augen, und ihr war, als lebe sie in einer Märchenwelt, in einer Welt, die sie bisher noch nicht kennengelernt hatte, die sie aber sehr glücklich machte. Mit seiner breiten Hand fuhr er über ihre Haare, die Hand glitt vorsichtig den Nacken hinab und landete leicht auf ihrem Rücken. Für Augenblicke war sie völlig willenlos - aber diese Augenblicke gingen vorüber. Sie gab sich einen Ruck und löste sich - langsam, fast liebevoll. Mit einem Lächeln sagte sie schließlich:

"Es tut mir leid - aber ich wollte wirklich nur ein paar Blumen kaufen."

Er lachte laut auf. Das Lachen steckte an, auch sie lachte.

Sie kaufte ein paar Blumen und sie verabschiedete sich - aber nicht, ohne sich mit Bernd für den Abend zu verabreden. Helene lächelte, als sie zu Hause die Blumen arrangierte, und sie konnte es kaum abwarten, am Abend auszugehen. Ralf merkte ihre Veränderung, als er nach seiner Arbeit nach Hause kam. Sie strahlte eine stille Heiterkeit aus, die er vorher noch nicht entdeckt hatte. Ja, sie sagte ganz offen, dass sie sich mit einem jungen Mann getroffen habe, ja, und nun sei sie verliebt, ja, sie sei sich sehr sicher, verliebt zu sein. Ralf freute sich, und das sagte er auch, und zum Abschied wünschte er ihr einen sehr schönen Abend.

Kaum hatte Helene das Haus verlassen, rief Ralf bei Otto an, aber es meldete sich ein Mitarbeiter von Otto, und der sagte, Herr Mundt sei in London, er habe wegen eines Geschäftes plötzlich abreisen müssen. Ralf bedankte sich. Ja, Otto hatte ihm gesagt, dass er in letzter Zeit viel unterwegs sein müsse. Was Otto beruflich machte, wusste Ralf nicht so genau. Er war Makler - aber was er kaufte, verkaufte oder vermittelte, war ihm nicht klar, und Otto redeten darüber auch nur sehr wenig.

5. Kapitel

Ralf wachte auf, als Helene nach Mitternacht wieder nach Hause kam. Helene sang leise vor sich hin. Ralf lächelte und er dachte, dass "unsere" Helene einen schönen Abend gehabt haben musste. Ja, das hatte sie auch verdient, sagte er sich noch, ehe er wieder einschlief. Als er wie üblich kurz nach sechs Uhr aufstand, hatte Helene das Frühstück bereits gemacht, und es war, als kenne sie keine Müdigkeit. Warum hätte sie länger schlafen sollen, sagte sie auf seine Frage hin. Sie habe heute früh eine Vorlesung, und die wolle sie nicht verpassen. Sie sagte nichts von der vergangenen Nacht, und Ralf fragte auch nicht. Wenn es nötig sei, würde sie reden, dachte er sich.

Ralf hatte nie bedauert, das Mädchen, das nicht seine Tochter war, großgezogen zu haben - gewiss, in den ersten Jahren zusammen mit seiner Frau Louise, dann mit Ottos Hilfe. Aber sie lebte bei ihm, und immer wieder stellte er freudig fest, dass sie sein Leben schöner machte, reicher. Es hatte natürlich auch Momente gegeben, da er sich über sie geärgert hatte. Vor allem hatte er sich sehr früh daran gewöhnen müssen, dass sie in vielen Dingen einen eigenen Kopf hatte. Aber unterm Strich war sie eine reine Freude. Natürlich vermisste Ralf gelegentlich eine Frau, mit der er sein Bett teilen könnte. Sehr gelegentlich besuchte er eine Freundin, mit der ihn nichts verband als ein intimes Beisammensein.

Helene war Abend für Abend außer Haus. Sie sagte, sie gehe zu ihrem Freund. Ralf fand, dass Helene eine Freude ausstrahlte, wie er es bei ihr noch nicht erlebt hatte. Ganz offensichtlich war sie glücklich - sie war es. Sie war von Bernd fasziniert. Allein die Berührung seiner leicht behaarten, goldbraunen Haut versetzte sie in Ekstase. Bernd nahm sie mit auf seine "Bude", und das war nichts als ein Raum mit einem Bett und zwei Stühlen drin. Nebenan gab es das Bad. Das sei so etwas wie eine Absteige, sagte er ihr - ihr war das recht. Sie hatte nie auch nur geahnt, dass der Geschlechtsverkehr mit Bernd einen so unglaublichen Spaß machen könnte. Dieses Erlebnis war ganz anders als das, was einst Lilly ihr erzählt hatte.

So verfallen sie der körperlichen Berührung auch war, sie verfolgte ihr Studium mit großem Ernst. Vorlesungen und Seminare nahm sie wahr, sie verpasste keine Termine, und sie arbeitete auch zu Hause - bis eben die Zeit gekommen war, zu Bernd zu gehen. Es war Onkel Otto, der Helene einmal bat, Bernd doch einmal mitzubringen und ihm vorzustellen. Otto war einige Wochen unterwegs gewesen, und als er mit Ralf wieder einmal zusammensaß - Helene war unterwegs gewesen - erfuhr er von Helenes Liebesbeziehung zu einem Gärtner. Seine Reaktion war mit der von Ralf vergleichbar, als er sagte:

"Endlich!"

Ralf musste lachen. Otto aber meinte ernsthaft:

"Ich hatte schon gedacht, dass Helene keine Neigung zu den schönen Seiten des Lebens haben würde. Hast du den Freund einmal kennengelernt?"

Am nächsten Tag, es war ein Samstag, war Otto zum Mittagessen erschienen. Helene hatte eine Gemüsesuppe - mit guten Einlagen - gekocht, und sie saßen ganz gemütlich in der geräumigen Küche und aßen ihre Suppe. Helene mochte Onkel Otto, der in Wahrheit sehr wenig sagte, und der einfach da war. Gelegentlich erzählte er amüsante Geschichten, so jetzt von dem, was er in London gesehen hatte und von dem, was in London eben anders als in Hamburg war.

Das Essen war beendet, als Otto, der beim Abräumen des Geschirrs geholfen hatte, fragte, ob man den Freund einmal kennenlernen könnte.

"Ja, warum eigentlich nicht?" entgegnete sie spontan. Dann fügte sie etwas nachdenklich hinzu:

"Er ist eigentlich kein Typ, der in der Gesellschaft einen Platz hat - ich will sagen, er ist so etwas wie ein Einzelgänger, glaube ich."

"Na ja, macht nichts. Lade ihn einmal ein, und wenn ihm das nicht recht ist, wird er ja etwas zu sagen haben", meinte Onkel Otto ganz gelassen.

"Mach ich", entgegnete Helene fröhlich. Ja, sie würde ihn einladen, aber sie bezweifelte, ob er auch kommen würde. Vermutlich nicht. Komisch, wenn sie mit ihrem Bernd zusammen war, wurde nie von der Familie gesprochen, weder von ihrer, noch von seiner Familie.

6. Kapitel

Es dauerte dann doch ganze vier Wochen, ehe Bernd Wolf dann doch kam. Er hatte Helene gleich gesagt, dass er nicht lange bleiben wolle, denn was solle er in Gesellschaft zweier alter Herren bloß tun - damit könne er nichts anfangen.

"Du, die Gesellschaft zweier alter Herren ist mein Zuhause, das ist das, was ich an Familie habe", hatte sie gesagt, worauf er schließlich gesagt hatte, dass er mitkommen werde.

"Können wir uns denn dort auch so liebhaben wie bei mir?", hatte Bernd gefragt. Helene hatte lachen müssen, hatte aber nichts gesagt. Warum eigentlich nicht? Sie würde natürlich bescheid geben müssen, aber sie war sich sicher, dass die "beiden alten Herren" nichts dagegen einzuwenden hätten.

Bernd zog sich für diese Vorstellung nicht besonders "anständig" an. Er war in Jeans, in einem Hemd, in Turnschuhen - so, wie er auch in der Gärtnerei arbeitete. Helene wusste inzwischen, dass Bernd keine andere Kleidung hatte. Er hatte nie etwas anderes gehabt. Es waren immer Jeans, und immer ein T-Shirt oder ein Hemd - gewaschen, gewiss, aber andere Kleidung hatte er und wollte er nicht. Ihr war bewusst, dass sie Bernd nicht überall vorstellen konnte, zumindest nicht in seinem Räuberzivil. Aber, so sagte sie sich, Bernd war so, und sie wollte nichts daran ändern. Immerhin hatte Bernd versucht, seine Haare zu bändigen, und er war rasiert.

Bernd füllte mit seiner körperlichen Größe das Wohnzimmer der Wohnung. Aber es war nicht nur seine Größe, es war nicht nur sein lässiges Auftreten - es war das Ungewöhnliche an ihm, die sanfte Stimme, der muskelbepackte Körper und die warme Ausstrahlung, die auch auf Otto und Ralf nicht ohne Wirkung blieb. Schnell stellte sich für Ralf und Otto heraus, dass Helene hoffnungslos dem Mann verfallen war, der nichts gelernt hatte, und er nichts hatte außer seinem Körper, so zumindest schien es. Er arbeitete in der Gärtnerei, aber er war so etwas wie eine attraktive Aushilfskraft, sonst nichts. Bernd hatte kein Ziel, er lebte in den Tag hinein und genoss das Leben, wie es sich ihm bot. Er war nicht dumm, dieser junge Mann, aber er hatte keine Interessen außer dem, was er mit sich und seinem Körper tun konnte - das war der Eindruck, den Bernd zunächst machte.

Was ihn besonders interessiere, fragte Otto, und als Bernd nicht antwortete oder nicht richtig verstanden hatte, fragte Otto, welche Hobbys er habe. Keine, antwortete Bernd. Was er denn besonders gern tue, bohrte Otto weiter. Nach einer Pause sagte er, dass er schnitze - Holzschnitzereien seien es. Er sei glücklich, wenn er mit seinen Händen aus einem Stück Holz eine Figur herstellen könne. Zum Verkauf? Als Geschenk? Nein, für sich, und die Figuren seien seine Geschöpfe, geboren aus seinen Träumen. Sie seien nicht für andere Menschen bestimmt. Otto war sehr nachdenklich. Er hatte das Gefühl, als würde er Bernd verstehen können. Mehr noch, er glaubte zu spüren, dass Bernd mehr war als nur ein Körper. Aber war er der richtige Mann für Helene?

Schon bald nach dem Abendessen verschwanden Helene und Bernd - wohin? "Zu Bernd", hieß es lapidar. Ralf wollte etwas dazu sagen, aber Otto gab ihm indirekt zu verstehen, dass er den Mund halten sollte, und das tat er denn auch. Mit einem freundlichen Lächeln verabschiedeten die mittelalterlichen Freunde den Liebhaber der geliebten Helene - und Helene, die Bernd begleiten wollte.

"Was sollen wir tun?", fragte Ralf, als die beiden jungen Leute die Wohnung verlassen hatten.

"Nichts", entgegnete Otto ernsthaft, fast traurig. Er fuhr fort: "Du kannst nichts tun. Wenn du unserer Helene die Beziehung zu Bernd untersagst, wird sie zu ihm ziehen. Sie ist ihm ganz verfallen."

Die beiden Männer, die sich über viele Jahre um Helene gekümmert hatten, schwiegen lange. Es war Otto, der sagte: "Helene verfolgt nach wie vor ernsthaft ihre Studien, soweit ich es mitkriege."

Ralf bestätigte das.

"So, und dabei sollen wir sie unterstützen, wenn sie Unterstützung braucht, und die wird sie auch brauchen. Was hat sie in den Semesterferien vor? Ist sie in den Ferien immer noch in der Kanzlei?"

"Sie arbeitet bei Abelt, Abelt und Rossmer und Partner, ja, bei denen ist sie immer noch."

"Und was genau macht sie da?", fragte Otto. Ralf hatte keine Antwort. Er wusste, dass Helene dort gutes Geld verdiente, aber was sie dort genau tat, wusste er nicht.

"Nun, ich werde mich darum kümmern", erklärte Otto ganz bestimmt, aber er sagte nicht, was er tun werde. "Übrigens noch etwas: Dieser Bernd ist bestimmt kein schlechter Typ. Er raucht nicht, und ich glaube auch nicht, dass er Drogen nimmt. Für mich ist die Beziehung zu Bernd ein wenig seltsam, aber er ist kein schlechter Mann. Das sollte uns zufrieden stellen."

"Und was ist, wenn Helene schwanger wird?", fragte Ralf besorgt. Otto grinste und zuckte die Schultern. Er hatte keine Antwort darauf.

7. Kapitel

Helene studierte tatsächlich ernsthaft und sehr zielbewusst. Mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen hatte sie kaum Verbindung. Sie bildete auch keine Arbeitsgemeinschaften oder schloss sich irgendwelchen Gruppen an. Sie war, für alle erkennbar, ein Außenseiter. In der Kanzlei schien es etwas anders zu sein, denn dort hatte sie mit einem Dr. Abelt Junior einen sehr guten Fachdialog. Dr. Abelt war ein mittelgroßer Mann, dem es Spaß machte, der jungen Aushilfskraft die Komplexität der Jurisprudenz klarzumachen. So kam es, dass Helene verstand, was sie tat. Dr. Abelt sorgte auch dafür, dass sie auch einigen Gerichtsverfahren beiwohnte, um zu lernen, wie mit dem juristischen Instrumentarium umzugehen sei. Unter Kollegen war er "Abelt Junior", dabei war er fast 50 Jahre alt. Dieses Etikett "Junior" hatte er zu einer Zeit erhalten, als sein Vater noch die Kanzlei geführt hatte.

Anfang 1985 wusste Helene, dass sie schwanger war. Sie merkte es an Kleinigkeiten, an morgendlicher Übelkeit und am Ausbleiben ihrer Periode. Zunächst wusste sie nicht, wie sie damit umzugehen habe. Sie war verwirrt, und schließlich vertraute sie sich Ralf an. Ralf war entsetzt, sehr unsicher, und er fragte Helene: "Was nun?" Helene musste lachen. Sie hatte von Ralf wissen wollen, was sie zu tun habe, und nun war Ralf ebenso ratlos wie sie selbst.

"Und was sagt Bernd dazu?", fragte Ralf.

"Nichts - er weiß es noch gar nicht", war die Antwort.

"Das sollten wir mit Otto bereden. Er wird wissen, was zu tun ist", sagte Ralf. Es war nicht das erste Mal, dass er seinen Freund hinzuzog, auch wenn es sich um sehr private Dinge handelte. Otto, so schien es, wusste in vielen Fällen, was zu tun war.

Am nächsten Abend kam Onkel Otto, der die Hilflosigkeit von Ralf und die Unsicherheit von Helene sogleich erfasste. Erst wollte er natürlich wissen, ob Helene sich sicher sei, oder ob sie nicht besser einen Arzt aufsuchen solle. Nein, Helene war sich sehr sicher.

"Ich glaube, wir sollten nicht an eine Abtreibung denken", erklärte Onkel Otto, und er schaute Helene mit einem Lächeln an.

"Der Meinung bin ich auch", bestätigte Helene. Sie fuhr fort: "Ich habe keine Ahnung, wie ich mit einem Kind und dem Studium fertig werden soll, aber eine Abtreibung kommt nicht in Betracht. Ich möchte das Kind behalten."

"Gut", kommentierte Otto, und er sagte weiter: "Wir helfen dir, und wenn es sein muss, auch finanziell."

Ralf schaute von Helene zu Otto und wieder zurück. Onkel Otto fragte, ob Helene an eine Heirat mit Bernd vor der Geburt des Kindes denke.

"Bernd will von Heirat nichts wissen", sagte sie.

"Wann habt Ihr darüber gesprochen?", wollte Onkel Otto wissen.

Vor ein paar Wochen sei es gewesen. Da habe auch sie noch nichts von einem Kind gewusst.

Onkel Otto dachte eine Weile nach, dann fragte er, was Helene wolle. Wolle sie eine Heirat?

Helene errötete leicht. Schließlich meinte sie:

"Ich möchte eine Ehe mit Bernd, allerdings weiß ich auch, dass wir nicht zusammenleben werden. Bernd braucht sein Leben, und ich habe auch nicht vor, mein Leben wegen einer Ehe aufzugeben. Wenn ich eine Ehe möchte, so wegen des Namens, wegen des Kindes."

Was das heiße, wollte Ralf wissen.

"Ganz einfach: Auch nach der Eheschließung, wenn es sie denn gibt, möchte ich hier wohnen, und Bernd wird in seiner Bude bleiben. So etwas - oder doch etwas Ähnliches - habe ich mir vorgestellt."

"Aber dann brauchen wir keine Eheschließung", protestierte Ralf.

"Ich möchte, dass das Kind einen Namen hat, und ich möchte nicht, dass auf dem Geburtsschein Vater: Wolf; Mutter: Marquardt zu lesen ist."

Otto und Ralf schauten sich an. Die Wohnung in Hoheluft, in der Ralf und Helene wohnten, war mit drei Schlafzimmern recht groß, und selbst dann, wenn jetzt ein Kind hinzukommen würde, wäre die Wohnung groß genug. Es war eine Mietswohnung in der ersten Etage, und der Eigentümer war ein Fonds, mit dem sie noch nie Schwierigkeiten gehabt hatten. Wenn Helene mit Kind hier wohnen wolle - warum eigentlich nicht?

"Natürlich, wenn du mit dem Kind hier wohnen möchtest, so geht das in Ordnung", sagte Ralf. "Was aber wird mit deinem Studium?" Helene zuckte mit den Schultern. Nach einer Weile sagte sie, dass sie das Studium auf gar keinen Fall aufgeben werde. Wie sie alles regeln werde, wisse sie noch nicht. Dann sagte sie, sich an Otto wendend:

"Weißt du, in Wahrheit werde ich wohl Eure Hilfe brauchen."

Helene errötete, dann kamen ihr die Tränen, die sie trotzig wegwischte.

8. Kapitel

Onkel Otto war wieder unterwegs, wo, das sagte er nicht. Er deutete an, er habe in New York zu tun, es sei eine "dumme" Sache, die er zu regeln habe, und er reise höchst ungern. Und so war er nicht da, als Helene zu Hause Ralf sagte, dass Bernd keine Eheschließung wolle.

"Nun, das macht nichts", sagte Helene tapfer, "dann wächst das Kind eben mit meinem Namen auf." Sehr nachdenklich sagte sie: "Vielleicht ist es ganz gut so, ich weiß es nicht. Ich kann Bernd ohnehin nicht halten, und er wäre wohl auch kein guter Vater - nicht im traditionellen Sinn."

Als runde zehn Tage später Otto davon erfuhr, fragte er Helene direkt:

"Wie wichtig ist dir eine Ehe?"

"Aber Onkel Otto, diese Frage hat sich erübrigt", entgegnete Helene ein wenig ungeduldig.

"Das ist keine Antwort auf meine Frage. Wie wichtig ist dir die Ehe?" Onkel Otto war es ernst, wie Helene verwundert feststellte. Er war bislang immer so etwas wie der freundliche Onkel gewesen. Der Eindruck schien sich zu ändern.

"Natürlich, mir ist die Ehe wichtig, aber ich kann ihm ja nicht sagen, du musst mich heiraten. Er würde lachen. Er muss es auch wollen."

Onkel Otto tat etwas, was er bislang noch nie getan hatte. Bereis am nächsten späten Nachmittag suchte er die Gärtnerei auf, sah, wie Bernd eine Kundin bediente. Er wartete geduldig, dann ging er auf Bernd zu und fragte, ohne ihn zu begrüßen:

"Hast du ein paar Minuten für mich Zeit? Ich will mit dir reden."

Bernd hatte Zeit, wenngleich er keine große Lust hatte, sich mit dem Onkel seiner Helene zu unterhalten. Er vermutete mit Recht, dass der Onkel mit ihm über die Ehe mit Helene reden wollte. Er wollte keine Komplikationen, vor allem wollte er sein bisheriges Leben nicht ändern. Genau das würde er auch dem Onkel von Helene sagen.

Otto und Bernd gingen auf den Hof der Gärtnerei. In einer windgeschützten Ecke standen sich die unterschiedlichen Männer gegenüber. Der schöne, große Bernd in Jeans und T-Shirt auf der einen Seite, der schlanke, ebenfalls sehr große, mittelalterliche Otto im grauen Anzug mit dem Gesicht eines Raubvogels auf der anderen Seite. Otto brauchte keine vielen Worte. Aus seiner Brusttasche holte er einen Umschlag heraus und hielt ihn Bernd praktisch vor die Nase.

"In diesem Umschlag sind DM 10.000,00 bar." Otto steckte den Umschlag wieder ein. Leise fuhr er fort: "Sobald du vor dem Standesamt deine Unterschrift geleistet hast, gehört der Umschlag dir." Otto machte eine Pause, dann fuhr er fort:

"Du brauchst nicht mit Helene zu wohnen, sie und das Kind bleiben bei dem Stiefvater, bei Ralf. Du kannst dein bisheriges Leben fortführen, und du gehst auch sonst keine Verpflichtungen ein. Aber du gehst zum Standesamt und unterschreibst."

Bernd schaute Onkel Otto erst ganz verdutzt, dann lächelnd an. Er entgegnete fast freundlich:

"Weshalb denkst du, du könntest mich kaufen? Ich bin nicht käuflich."

Onkel Otto nickte. Auch er lächelte.

"Das freut mich zu hören. Ich bin es auch nicht gewohnt, Leute zu kaufen. Dass ich es jetzt versucht habe, zeigt dir hoffentlich, wie wichtig mir das Wohl von Helene ist. Ich will dir auch sagen, weshalb es Helene wichtig ist, einen Trauschein zu haben." Onkel Otto erzählte, dass Helenes Geburtsschein zeige: Vater unbekannt. Er fuhr fort: "Wenn sie ein Kind von dir bekommt, so soll das Kind einen Namen haben, einen Geburtsschein, auf dem unter Vater wie auch unter Mutter der Name Wolf steht. Das klingt in der heutigen Zeit verrückt, aber ich verstehe Helene."

"Es ist ihr wirklich so wichtig?", fragte Bernd nach einer Weile ein wenig verwundert.

"Ja, so ist es", erklärte Otto. "Und ich wiederhole: Helene bleibt bei uns wohnen, ebenso das Kind, und wir helfen ihr, das Kind auch großzuziehen. Aber es soll einen Namen haben - das sind Helenes Gedanken. Sie will dich nicht drängen, und sie hat keine Ahnung, dass ich jetzt mit dir rede. Auch ihr Stiefvater weiß von nichts. Und dabei soll es auch bleiben."

Bernd nickte mehrfach, immer noch verwundert. Schließlich sagte er:

"Wenn ich heirate, wird ein Teil meiner Freiheit, meines Lebens, verloren gehen."

Otto schüttelte den Kopf. "Nein", betonte er, "du wirst nichts verlieren." Und nach einer Pause sagte er weiter: "Mein Angebot steht. Deine Unterschrift, und du hast das Geld. Erst wollte ich dich einfach kaufen. Jetzt aber habe ich meine Meinung über dich geändert. Nein, du bist nicht käuflich, aber ein Hochzeitsgeschenk würdest du doch nicht ablehnen."

Bernd lachte laut auf und schlug Otto auf die Schulter. Dann nickte er. Ja, es war ein Deal. Dann sagte Bernd noch: "Ich will dir sagen, was ich mit dem Geld tun werde. Ich werde mir eine kleine Werkstatt für meine Holzschnitzereien zulegen und vor allem Geräte kaufen."

Otto sagte ernsthaft: "Tu das, und mir gefällt, dass du daran denkst."

Helene ahnte nichts von der Vereinbarung. Sie freute sich ganz einfach, als Bernd ihr sagte, dass er sie heiraten wolle, und dass die Ehe noch vor der Geburt des Kindes stattfinden solle. Etwas ungehalten erklärte er, dass sich an seinem bisherigen Leben nichts ändern werde. Und dann nahm er sie in seine Arme, und sie wusste, dass sie ihm immer noch verfallen war. In seiner Gegenwart war sie nicht frei, nicht zielbewusst, sondern sie gehörte ihm. Aber sie wusste doch, dass sie ihr eigenes Leben führen müsse, dass sie sich etwas Freiraum bewahren müsse, um nicht "unterzugehen" - nun, der Gedanke war vielleicht zu dramatisch ausgedrückt, aber so ähnlich empfand sie es.

Die Hochzeit fand genau vier Wochen vor der Geburt von Heinrich Wolf statt. Zur Hochzeit gab es nichts, was feierlich gewesen wäre. Es gab das Brautpaar und die Trauzeugen, sie kamen im Standesamt zusammen und gingen anschließend wieder auseinander. Bernd hatte als Trauzeugen eine Kollegin mitgebracht, für Helene war es ihr Stiefvater, begleitet von Onkel Otto, der Bernd den Umschlag mit dem Geld heimlich zusteckte. Bernd nahm den Umschlag entgegen, und er verabschiedete sich von Helene mit einem sehr flüchtigen Kuss.

Helene war nicht enttäuscht. Irgendwie verstand sie, dass Bernd die Trauung nicht gewollt hatte, und dass ihn irgendetwas dazu gezwungen hatte. Dennoch war sie froh, jetzt Helene Wolf zu sein, und ihr Kind sollte auch Wolf heißen. In der Geburtsurkunde sollte nicht "Vater unbekannt" stehen, wie bei ihr selbst.

"Und was machen wir jetzt?", fragte Ralf nach dem Nachhauseweg.

Otto lud Ralf und Helene zu einem Essen ein, dann allerdings müsse er sich seiner Arbeit widmen. Und Helene sagte, sie habe noch an einer Seminararbeit zu arbeiten, und sie sei froh, dass sie dafür die Zeit habe.

Eine kirchliche Trauung hatte es nicht gegeben. Es wurde darüber gar nicht gesprochen. Helene wusste nicht einmal, welcher Konfession Bernd angehörte. Vielleicht war er aus der Kirche ausgetreten, wie Ralf. Das würde zu ihm passen, sinnierte Helene flüchtig.

9. Kapitel

Die Geburt des Jungen Heinrich fand im Krankenhaus statt, es gab keine Komplikationen. Helene war auch während des Geburtsvorganges voller Freude, und als sie das kleine Bündel im Arm hielt, war sie ganz einfach glücklich. Nur zwei Tage später war sie wieder zu Hause - und sie war zunächst ein wenig ratlos. Sie hatte den Jungen, sie hatte auch genügend Milch für ihn, sie hatte das Studium, und sie hatte auch den Haushalt. Gewiss, für den Haushalt gab es Hilfe, was aber sollte sie nun mit ihrem Studium tun, und was mit ihrer Arbeit in der Kanzlei? Es war wunderbar, dass sowohl Ralf als auch Onkel Otto zuhörten und Hilfe schafften. Helene wusste, dass es nicht selbstverständlich war, so viel offene Ohren und Hilfe zu bekommen. Sie wusste es zu schätzen, und sie sagte es auch - und sie zeigte es auch.

Ralf stellte Gerlinde vor, eine Frau von 32 Jahren, die in der Filiale gearbeitet hatte, die Ralf leitete. Die Filiale sollte im kommenden Jahr, spätestens in zwei Jahren, geschlossen werden, was Ralf seinen Mitarbeitern in einer Versammlung ganz offen gesagt hatte. Gerlinde war geschieden, sie hatte vor drei Jahren ihr Kind verloren, und sie hatte vor einiger Zeit ihrem Chef gestanden, dass sie am liebsten Kindergärtnerin oder "Kinderfrau" sei, was immer dass heißen mochte. Ralf hatte zugehört, und jetzt hatte er sich an das Gespräch erinnert.