Wunschnachbar Traumfrau - Uli Hannemann - E-Book

Wunschnachbar Traumfrau E-Book

Uli Hannemann

4,9
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Seht her, will ich zeigen, ich bin ganz normal, ich bin einer von euch. Ein weichgekochtes Ei zum Frühstück, Zahnseide, Telefongespräche, die man entgegen jeder Vernunft mit zeitraubenden Floskeln wie ›Hallo‹ beginnt, ein stümperhaft selbstgetöpfertes Schild an der Wohnungstür: ›Hier leben, lieben und lachen Sieglinde, Dieter und Christel Meth.‹" Uli Hannemann präsentiert in "Wunschnachbar Traumfrau" irrwitzige Schnappschüsse des Alltags – en miniature schaut er sich selbst und anderen beim Einkaufen, Fernsehen, Sport und Spazierengehen, kurz: beim Leben zu. Und zwar mit mindestens je drei lachenden und drei weinenden Augen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 146

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
17
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2017

© by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

E-Book: zweiband.media, Berlin

ISBN: 978-3-86391-180-5

www.voland-quist.de

Inhalt

Sind so kalte FüßchenLa verdad. Die WahrheitWaidgerechter FangschussSonntagsfrühstückWinterkriseDie letzten HundeKindliche BegeisterungDie MärchenbandeVomit, Noise & Stupid QuestionsKing Kong und GodzillaGeneralstreikDen Schreibern der unwichtigen SeitenDie Sprache ist vollDie Angst des Eismanns vorm ElfmeterMein BlockDem Frohsinn in die FresseSinnloser SchrottEs wird einen Scheißsturm gebenAuf dem RatwalkIm Vorderhaus des LebensIm Winde gescheitHitlers KatzenkrimisMit letzter TinteBrachiale MethodenWehret den AnfängenDie Träume der FünfjährigenDer schwarze BikiniAnstehen im OstenWunschnachbar TraumfrauBrust oder KeuleGewissensfrageVon Menschen und MäusenGemeinsam starkDen Fahrern der weißen LieferwagenIn der Höhle des MöwenDer Ernst des LebensIm GlücksgartenWir Kinder vom Imbiss ZooEin tiefes schwarzes LochLast Exit OberschenkelhalsbruchDer lange Zug nach OstenDrei Farben: GrauDie große SauseDer neue MannBesuch in UtopiaFriseurbesuch

Sind so kalte Füßchen

Ich versuche, mit dem Laptop im Park zu arbeiten. Wegen der Sonne. Einfach ist das nicht, ebenfalls wegen der Sonne. Die scheint auf den Bildschirm und ich erkenne nicht, was ich schreibe. Ein doppeltes Handicap, da ich üblicherweise auch nicht weiß, was ich schreibe, und allein schon deshalb darauf angewiesen bin, das Resultat meiner Bemühungen wenigstens sehen zu können. Dann kann ich nämlich den jeweils letzten Satz nachkontrollieren und versuchen, einen inhaltlich und formell halbwegs darauf abgestimmten Anschlusssatz zu bilden. Ich reagiere praktisch instinktiv, wie die Motte auf das Licht. Viele ahnen ja gar nicht, wie simpel Literatur funktioniert. Die denken stattdessen: »Huiuiui!« Manche denken vielleicht auch »Huiuiui, du Arschloch«, aber die sind nur neidisch und auf ihren Neid kann man im Grunde sogar stolz sein. Wer oben steht, hat nun mal die meisten Feinde.

In jedem Fall denken alle in irgendeiner Form »Huiuiui«. Da führt kein Weg dran vorbei. Als Insider kann man nun entweder lachen oder sich verzweifelt an den Kopf greifen über diese naive Bewunderung, die einem allenthalben entgegenschlägt. Die ist ja auch gefährlich. Es ist immer besser, die Leute verfügen wenigstens über ein Mindestmaß an Bildung und Selbstbewusstsein. Dann fallen sie weniger leicht auf Rattenfänger herein und suchen nicht Halt in falschen Idolen und wertlosen Symbolen. Andererseits hat die Vorstellung, dass erwachsene Leute sich wie kleine Kinder ausmalen, ein Autor würde beim Schreiben irgendetwas denken, geschweige denn seine jeweilige Arbeit im Voraus konzipieren, auch etwas irrsinnig Rührendes. »Mama, haben Regenwürmer Schuhe?« »Papa, weiß der Mann, was er da schreibt?«

Große Augen, rote Bäckchen, offener Mund. Das ist schon sehr niedlich. Ich weine oft ein bisschen bei dem Gedanken daran, doch es ist ein schönes und mit der Welt versöhntes Weinen. Kurze Momente, in denen das Glück mal eben »Guten Tag« sagt, bevor es krachend die Tür zuschmettert, um für lange Zeit wieder zu verschwinden. Angeblich Zigaretten holen, dabei weiß doch jedes Kind, dass das Glück Nichtraucher ist. Es kifft höchstens mal ein bisschen.

Jetzt muss ich also improvisieren, da ich das Geschriebene nicht lesen kann. Sämtliche Grenzen sind nun für mich aufgehoben. Der Stil, die Struktur, die Grammatik, die Orthographie: Ich sprenge alle Fesseln und finde so zu einem archaischen Kunstbegriff zurück. Es ist ja sonst schon aufregend genug, was beim Schreiben hinterher rauskommt, jetzt ist es sogar doppelt spannend. Ich lasse mich vom Ergebnis einfach später zu Hause überraschen.

Ach was: »zu Hause«. Ich schicke das Stück gleich ungeprüft an die taz weiter. Die Vorstellung ist irgendwie noch lustiger, den im völligen Blindflug entstandenen Random-Mix in gedruckter Form gemeinsam mit fünfzigtausend anderen verblüfften Lesern erstmals selber wahrzunehmen. Damit befinde ich mich immerhin in guter Gesellschaft. So schrieb Günter Grass sein famoses Israel-Poem in seinem Behlendorfer Garten mitten in der Sonne und noch dazu bei starkem Rückenwind, während Adolf Hitler in stockdunkler Gefängniszelle »Mein Kampf« verfasste – zwei absolute Meilensteine literarischer Improvisationskunst. Von der in »Stiller-Post«-Manier durch den Sandsturm gemurmelten Bibel mal ganz abgesehen.

Wenn es anfängt zu regnen, wird es schließlich noch interessanter: Welche Buchstaben geben auf der Tastatur als Erstes ihren Geist auf und welche Auswirkungen hat das auf den Text? In meinen Augen: keine.

La verdad. Die Wahrheit

Facebook ist eine Quelle stetiger Unzufriedenheit. Es funktioniert nach dem Suchtprinzip, denn jedes »Like«, das auf eine eigene Statusmeldung hin erfolgt, schüttet beim Empfänger des Lobs Botenstoffe aus, die denen beim Orgasmus ähneln, nur natürlich tausendmal stärker. Danach jedoch fühlt man nichts als Trauer und Leere, die man erst dadurch wieder vertreibt, dass man weitere ganz tolle Urlaubsfotos postet und somit bei den »Friends« (die man offenkundig verachtet, sonst würde man das ja lassen) eine nicht enden wollende »Neidspirale« (taz) in Gang setzt.

An dieser Schraube der Missgunst drehe auch ich gnadenlos weiter. Wegen der Botenstoffe. Da spielt es keine Rolle, dass das Wetter hier auf La Palma vom ersten Tag an absolut beschissen ist. Ach was, der Ausdruck »beschissen« würde angesichts dieses Wetters Scheiße noch beleidigen. Es stürmt, dass die Palmen knicken wie Streichhölzer, dazu sintflutartiger Regen, Steinschlag, Stromausfälle, Hunger, Seuchen und sogar der erste Schnee seit der letzten Eiszeit vor zehntausend Jahren.

Egal. Ein Sonnenfoto von der Terrasse eines schönen Ferienhäuschens von der Tourismuswebsite zu ziehen und mitsamt hämischem Text an die »Lieben« daheim im kalten Berlin zu posten ist Eins. Das verzweifelte Kommentargeheul der erbärmlichen Schneeeulen à la »Die Stühle sehen aber hart aus« lässt mich ihren brennenden Neid noch weiter befeuern: »Mir ist so heiß – ich muss jetzt unbedingt ins Meer.«

Schließlich weiß ja keiner, dass wir hier bei elf Grad in einer klammen Bude ohne Heizung schnattern, die, spätestens seit der Tornado die Terrasse ins Meer gefegt hat, mit dem geposteten Häuschen ungefähr so viel zu tun hat wie Neuschwanstein mit einem Termitenbau, und dass das Meer derart brodelt, dass sogar die Fische um Hilfe schreien.

Unter unseren Lügen wellen sich unsere Postkarten aus Münchhausen schon derart, dass sie kaum noch durch den Briefkastenschlitz passen. In diesem Inferno aus Kälte und Dunkelheit besteht meine einzige verbliebene Freude darin, Hass und Neid zu säen und mit weiteren Kommentaren wie »11 Uhr. La Palma. Affenhitze. Der Champagner schmeckt …« zu gießen und hochzupäppeln, bis sie zu prächtigen schwarzen Blumen, die den intensiven Duft eines verwesenden Charakters verströmen, herangewachsen sind. Der Dünger ist die Lüge, das Wasser sind die Zornestränen der Daheimgebliebenen.

Dichte Nebelschwaden wabern vom Meer herüber wie in »The Fog – Nebel des Grauens«, einem der lächerlichsten Horrorfilme aller Zeiten. Und lächerlich ist im Grunde auch unsere Situation: Wir frieren auf einer Urlaubsinsel, die den Beinamen »La Isla Bonita« trägt, im Nieselregen, der permanent auf uns herabströmt und die Ummantelung von den Nerven nagt, bis diese völlig blank liegen. Darüber, dass Liebe sich verändert, allzumal nach über fünf Jahren auch verblasst, waren wir uns zwar schon bei den ersten Regentropfen einig. Doch dass sie sich so schnell in lodernden Hass verwandelt, überrascht uns dann doch beide.

Wir rasten langsam aus, zerfleischen uns gegenseitig. »Gestern gerade noch so eine Messerattacke von Q. abgewehrt«, notiere ich in mein Tagebuch. »Dafür hat sie mir nachts, als ich schlief, mit einem großen Stein den Ringzeh meines linken Fußes gebrochen.« Ich wiederum bringe ihr den Kaffee erst ans Bett, wenn er nur noch lauwarm ist. Mein teuflisches Grinsen spricht dabei Bände.

Haben sich zwei Menschen, wochenlang zu zweit unter widrigsten klimatischen Verhältnissen und auf engstem Raum eingepfercht, jemals so gehasst? Ich fühle mich an den spanischen Film »Mad Circus« erinnert, in dem ein guter trauriger Clown und ein böser lachender Clown einander verfolgen bis zur Selbstzerstörung. Der Unterschied: Wir sind zwei böse traurige Clowns. Das Wetter hat uns dazu gemacht, der »Urlaub« unsere Seelen getötet.

Inzwischen verhindert das Unwetter, dass wir das Haus verlassen und weitere Lügen posten oder auch nur Lebensmittel kaufen können. Wir essen unsere Flipflops, die wir ohnehin nicht brauchen. Dass die Fähren und die Flieger nicht mehr gehen und wir niemals mehr zurück nach Hause kommen, ist ebenfalls kein Problem. Wir behaupten einfach, wir hätten verlängert. Weil es hier so schön ist.

Waidgerechter Fangschuss

»Horrido joho prääp.« So ungefähr klingt es, das stolze Signal der Jäger, wenn sie eines dieser Wildschweine mit besonderen Verhaltensauffälligkeiten erlegt haben: zwei paarungsbereite, nackte Schweine auf einer Wolldecke im Maisfeld; einen Keiler im Pullunder, der seine Angelausrüstung im offenen Kofferraum seines Kombis verstaut; eine Bache mit Frischlingen, die Pilzkörbchen durch den Mischwald tragen und dabei Kinderlieder singen. Natürlich ist es unabdingbar, den Genpool speziell von solchen offenkundigen Mutationen zu reinigen, um den Schwarzwildbestand gesund zu halten. Kein Wunder also, dass das Jagdhorn nach erfolgreicher Hegemaßnahme hörbare Erleichterung verströmt.

Doch leider streut die Lügenpresse auch in der soeben frisch begonnenen Jagdsaison mal wieder hässliche Gerüchte: Menschen seien es zum Teil, und keine Wildschweine, die da einer völlig ungeeigneten Jägerschaft zum Opfer fielen. Um den Anschuldigungen auf den Grund zu gehen, haben wir einen erfahrenen Jäger auf die Jagd begleitet.

Armin Schütze (52) sitzt im Vorstand des Deutschen Jagdverbands (DJV). Während wir zusammen mit Lonsdale-Terrier Siegfried durchs Unterholz von Schützes Revier streifen, räumt der Waidmann gnadenlos mit der Behauptung auf, Lizenzen würden zu leichtfertig und inflationär vergeben. »Klar gab es bei Edeka eine Zeit lang die Option ›Treueherzen oder Jagdschein?‹, was aber keinesfalls heißt, dass der Jagdschein nachgeschmissen wurde: Immerhin war dafür ein Mindestwareneinkauf von zehn Euro nachzuweisen. Und warum soll man, wie jetzt wieder gefordert wird, Fehlsichtige diskriminieren? Die Jagd an frischer Luft ist schließlich gesund – das kann dem Zustand des Patienten doch nur förderlich sein.«

Schütze redet sich in Rage: »Was soll denn schon passieren? Bei einer Sehschwäche ab minus 8,0 Dioptrien sind automatisch größere Kaliber vorgeschrieben. Außerdem sind die Jagdkameraden dazu angehalten, den Gehandicapten an die Hand zu nehmen und ihn ungefähr in die Richtung zu drehen, in der sich das Wild befinden könnte. Ich kenne ohnehin kaum blinde Jäger. Viel häufiger sind manische Depressionen, Psychosen, Angststörungen, schwere Epilepsien und galoppierender Schwachsinn.« Wie zur Bekräftigung seiner Worte gibt er ein paar scheinbar wahllose Schüsse ins Gebüsch ab.

»Bitte nicht«, schallt es da aus einem der Büsche. Ein junger Mann in Laufbekleidung tritt mit erhobenen Händen hervor. »Nicht schießen!« Er zittert am ganzen Leib.

»Ah.« Schütze freut sich. »Der ist mir gestern entkommen. Die mit den Joggingsachen sieht man meistens am frühen Morgen. Die sind bereits derart darin geübt, nur auf den Hinterbeinen zu rennen, dass sie dabei schon ein ganz schönes Tempo erreichen können. Das glaubt man gar nicht.« Mit einem kurzen Wink seines Gewehrlaufs bedeutet er dem Zweibeiner, niederzuknien und die Hände hinter dem Nacken zu verschränken.

Beeinflusst von überkommenen Denkschablonen werfen wir ein, dass es sich bei dem aufgestöberten Wild doch offenbar um einen Menschen handelt. Schon allein das Sprechvermögen und die Intelligenz …

Mit nur mühsam bezähmter Ungeduld schneidet uns der Jagdfunktionär das Wort ab: »Papperlapapp. Das hat doch mit Intelligenz nichts zu tun. Jeder Papagei kann ein paar Worte nachplappern. Ganz davon abgesehen gibt es auch superdoofe Menschen und superschlaue Schweine. Wenn ich bloß an diesen einen kapitalen Keiler denke, mit dem ich immer Schach gespielt habe. Vom Hochsitz aus hab ich dem die Züge zugerufen. Ein unheimlich pfiffiges Tier. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll: Mit der Zeit wirst du da fast so was wie Freunde.«

Eine feine Anekdote. Das Schwein in der Turnhose wird dennoch ungeduldig: »Was passiert denn jetzt mit mir?« Man kann seine Angst fast riechen.

»Das haben wir doch im Wesentlichen schon gestern besprochen.« Der Jäger spannt den Hahn seiner doppelläufigen Flinte und seufzt. »Na gut, dann eben noch mal. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine: längeres Sperrfeuer mit diversen nicht tödlichen Treffern, danach tagelange vergebliche Suche mit verschnupften Schweißhunden und schließlich einsames Verbluten irgendwo im Dickicht.«

»Und die andere?«

Es knallt. Von dem am Hinterkopf aufgesetzten Treffer dürfte der mutierte Keiler kaum etwas gespürt haben. Armin Schütze erläutert: »Der Fangschuss muss sauber und waidgerecht sein. Die quälen sich doch sonst nur. Was der Laie ja oft nicht weiß oder nicht wissen will: Wie untrennbar Tierschutzgedanke und Jagd miteinander verwoben sind.«

Sein charismatisches Sendungsbewusstsein verscheucht die letzten Zweifel. Längst müssen wir über uns selber schmunzeln. Zwar sieht der in einer Blutlache liegende Schwarzkittel einem Jogger nach wie vor täuschend ähnlich, aber ein Mensch hätte sich natürlich gewehrt. Und wir hätten um ein Haar die Polizei gerufen, nur weil hier jemand Artenschutz betreibt.

Sonntagsfrühstück

Die Sonne scheint an einem milden Novembertag. Für dieses Jahr wird es vermutlich das letzte Sonntagsfrühstück auf dem Balkon sein. Lachs, Pastete vom Iberischen Schwein, Champagner, Wachteleier: alles da.

Nach kaum einer halben Minute reißt mich der Schreck so vom Stuhl hoch, dass meine Knie grob an die Unterkante des kleinen Tischchens knallen: Tatütata, der erste Rettungswagen ist da. Ich habe noch nicht mal die Scherben zusammengefegt und kann gerade erst wieder Systole und Diastole voneinander unterscheiden, da biegt bereits der nächste um die Ecke. Was für eine Schweinerei! Anders kann, anders will ich das nicht nennen. Das ist doch Wahnsinn. Wie sollen sich die Leute hier erholen?

Tatütata! Und wieder zucke ich zusammen. Die halbe Auster hopst ungeschlürft in den Blumenkasten. Und noch mal: tatütata. Obwohl sie Grün haben, obwohl gar keiner im Weg ist – das machen die doch extra. Ich hasse diese Autos und ich hasse ihre Fahrer. »Sie tun nur ihren Job«, wird jetzt wahrscheinlich wieder irgendein Idiot behaupten.

»Sie tun nur ihren Job« – was für ein dummer, kalter Satz. Der behält im Land der Richter und Henker zu Recht auf Dauer seinen schlechten Klang.

Tatütata. Der nächste Arsch. Warum sind hier in der Gegend überhaupt so viele krank? Das ist ja nicht zum Aushalten. Erst rauchen sie und saufen, meiden die frische Luft wie der Teufel das Weihwasser und belästigen nun andere mit ihren Zusammenbrüchen. Wissen die überhaupt, wie sehr sie mich nerven? Schneiden die eigentlich noch irgendetwas mit? Garantiert ist denen gerade alles scheißegal. Statt auf sich selber achtzugeben, schiebt jeder die Verantwortung einfach auf die Gesellschaft und den Rettungswagen weiter. Das ist so asozial.

Was sie mit ihrem Körper anstellen, ist ja ihre Sache. Solange sie damit nicht über Bande andere beeinträchtigen. Gesunden Menschen, die Ballaststoffe essen, joggen und in die Sauna gehen, das Sonntagsfrühstück vergällen. An der frischen Luft. Währenddessen sitzen diese gelbsüchtigen Crackhuren in ihren Miefbuden und drehen die Augen auf kurz vor null. Statt dass sie aber wenigstens jetzt endlich das Fenster öffnen, zur Not vielleicht auch eine Aspirin nehmen, grapschen schmutzige Pfoten nach dem Hörer und theatralisch brechende Stimmen rufen wehleidig den Notarzt an: »Buhuhu. Mir geht’s so schlecht. Ich bin so krank. Bitte, kommen Sie schnell, sonst sterbe ich.«

Ich ertappe mich bei dem Wunsch, sie wären tot. Ein Leichenwagen fährt nämlich ohne Martinshorn. Ein Leichenwagen hat es nicht eilig. Der Patient hat es nicht eilig. Alle sind optimal entspannt.

Ganz kurz habe ich fast ein schlechtes Gewissen und denke, dass ich in diesem Moment womöglich auch nicht so wahnsinnig viel besser als die Jammerlappen bin, da ich völlig fremden Menschen den Tod wünsche, nur um meine Nerven zu schonen.

Doch was heißt hier »nur«? Meine Nerven sind nun mal von Bedeutung für die Gemeinschaft: Nur wenn sie optimal funktionieren, bin ich weiterhin in der Lage, unvergleichlich heitere und unbeschwerte Texte wie diesen hier zu produzieren und so, in zugegebenermaßen äußerst kleinen Schritten, eine gute und gerechte Welt zu schaffen. Außerdem wäre es bestimmt besser für die Kranken. Denn sobald hier schon alle zwei Minuten der Krankenwagen um die Ecke lärmen muss, hat das doch alles keinen Zweck mehr. Dann quälen die sich doch offenbar bloß noch. Die lauten Retter könnten im Grunde genauso gut zu Hause bleiben oder aber nur einmal kommen, um die letzte Spritze zu setzen. Danach hätten sie Feierabend, die Kranken wären vom Schmerz erlöst und ich vom Krach. Eine Win-win-Situation à trois. Dem nächsten Einsatzfahrzeug proste ich von meinem luftigen Thron aus mit dem Champagner zu, den ich erst kürzlich für herausragende Leistungen geschenkt bekommen habe.

Winterkrise

Dunkelheit, Kälte, Vitaminmangel, Depressionen sowie Vollbartträger mit kordelversehenen Säuglingsmützen. Und als wenn im Winter nicht ohnehin schon alles schlimm genug wäre, stürzt einen die dritte Staffel der britischen Adelsserie »Downton Abbey« endgültig in ein tiefes Tal aus Tränen und Leid.

Die Serie ist Kitschtantenfernsehen vom Allerfeinsten. Eine klare Zuordnung von Gut und Böse, Arm und Reich, Oben und Unten sorgt für die unvergleichliche Behaglichkeit der Selbstvergewisserung an langen Winterabenden. Doch dann passiert etwas absolut Schreckliches. Um es knallhart und kurz zu machen: In der fünften Folge stirbt Lady Sybil. Nein, nicht der böse Kammerdiener Thomas, nicht Assad oder Depardieu, für die ich eigens Tanzen gelernt hätte, um auf ihren Gräbern zu schwofen, sondern ausgerechnet die warmherzige und wunderschöne Lady Sybil. Sie stirbt einfach so weg, ich kann es nicht fassen. Gott muss völlig neben sich gestanden sein, als er Hitler und Stalin das Buch für diese Folge schreiben ließ.