You Love Me - Caroline Kepnes - E-Book

You Love Me E-Book

Caroline Kepnes

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Beschreibung

Der neue Roman von der Autorin des Serienhits YOU auf NETFLIX

Joe Goldberg hat zwei Dinge satt: Großstädte und die Liebe. Um beidem zu entfliehen, zieht er sich auf eine idyllische Insel im Pazifischen Nordwesten zurück. Hier kann er eins mit der Natur sein - und endlich wieder durchatmen. Doch als er einen Job in der örtlichen Bibliothek annimmt, trifft er sie: Mary Kay DiMarco. Fest entschlossen, die Fehler seiner Vergangenheit nicht zu wiederholen, versucht Joe, Mary Kay auf die altmodische Art zu erobern - und er kann nur für sie hoffen, dass sie auch bereit ist, sich erobern zu lassen ...

"Caroline Kepnes erschafft komplexe Charaktere, die uns dazu zwingen, uns mit unseren eigenen Fehlern und Widersprüchen auseinanderzusetzen. Joe ist zurück - und mit ihm all die Gründe, warum wir es lieben, ihn zu hassen." NICOLA YOON

Band 3 der SPIEGEL-Bestseller-Reihe

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Seitenzahl: 772

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

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Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Caroline Kepnes bei LYX

Impressum

CAROLINE KEPNES

You Love Me

Roman

Ins Deutsche übertragen von Katrin Reichardt

Zu diesem Buch

Joe Goldberg hat genug von Städten. Genug von den unechten Menschen, dem Dreck und dem Lärm. Und genug von der Liebe. Er zieht auf eine kleine Insel im Pazifischen Nordwesten, um zu einfacheren Freuden zu finden und die Natur zu genießen. Dort kann er seit Langem zum ersten Mal wieder frei atmen. Er bekommt einen Job in der örtlichen Bibliothek, mit Büchern kennt er sich schließlich aus. Und genau hier trifft er sie: die Bibliothekarin Mary Kay DiMarco. Und dieses Mal wird er nicht manipulieren, nicht von ihr besessen sein. Dieses Mal wird er sie auf die altmodische Art für sich gewinnen, indem er ihr ein Freund ist. Bald werden sie beide die Vergangenheit vergessen und ihr Happy End in der verschlafenen Kleinstadt finden. Doch es gibt ein Problem. Mary hat schon ein Leben, hat Freunde, ein Kind und wenig Zeit. Für ihn ist kein Platz darin. Joe weiß, wahre Liebe kann nur entstehen, wenn zwei Menschen bereit sind, ihr Raum zu geben. Also bereitet er sich vor und wartet mit Ermutigung und immerwährender Unterstützung darauf, dass Mary das Richtige tut, Platz für die Liebe schafft und sich von ihm erobern lässt …

Für meine Mom, die MonKon

1

Ich glaube, du bist diejenige, mit der ich telefoniert habe, die Bibliothekarin, deren Stimme so weich ist, dass ich mir anschließend sofort einen Kaschmirpullover gekauft habe. Warm und sicher. Du hast mich vor drei Tagen angerufen und mir die Stelle in der Bainbridge Public Library zugesagt. Das Gespräch hatte kurz sein sollen. Flüchtig. Du: Mary Kay DiMarco, Leiterin der Bibliothek. Ich: Joe Goldberg, ehrenamtlicher Mitarbeiter. Aber die Chemie zwischen uns hat gestimmt. Wir haben ein paarmal gelacht. Die Melodie deiner Stimme ging mir unter die Haut, und ich wollte dich googeln, habe es aber nicht getan. Frauen merken, wenn ein Mann zu viel weiß, und ich wollte gelassen wirken. Ich bin zu früh, und du bist eine heiße Frau – falls du es überhaupt bist, bist du es? –, und du unterhältst dich mit einem Stammkunden – ich rieche Mottenkugeln und Gin –, und du bist sexy, aber verhalten, versteckst deine Beine in blickdichten schwarzen Strumpfhosen, die genauso viel verbergen wie RIP Becks vorhanglose Fenster offenbart haben. Du erhebst deine Stimme  – du willst, dass der alte Mann einen Haruki Murakami mitnimmt –, und jetzt bin ich mir sicher. Du bist diejenige vom Telefon, aber, ach du Scheiße, Mary Kay.

Bist du die Richtige für mich?

Ich weiß. Du bist eine Frau, kein Gegenstand, und bla, bla, bla. Könnte durchaus sein, dass ich jetzt »projiziere«. Ich kenne dich kaum und bin durch die Hölle gegangen. Ich wurde mehrere Monate meines Lebens im Gefängnis festgehalten. Ich habe meinen Sohn verloren. Ich habe die Mutter meines Sohnes verloren. Es ist ein Wunder, dass ich nicht tot bin, und ich will verdammt noch mal sofort mit dir reden, aber jetzt übe ich mich erst in Geduld und entferne mich ein wenig. Dein Bild hängt in der Nähe der Lobby an der Wand, und es ist die endgültige Bestätigung. Du bist Mary Kay DiMarco, und du arbeitest seit sechzehn Jahren in dieser Bibliothek. Du hast einen Master in Bibliothekswissenschaft. Ich fühle mich neu. Kraftlos. Aber dann räusperst du dich – ich bin nicht mehr ganz so kraftlos –, und ich drehe mich um, du zeigst das Peace-Zeichen und lächelst mich an. Zwei Minuten. Ich erwidere dein Lächeln sofort. Lass dir Zeit.

Ich weiß, was du denkst – Was für ein netter Kerl, so geduldig –, und zum ersten Mal seit Monaten ärgert es mich nicht, dass ich mir verdammt noch mal die Mühe machen muss, nett zu sein und geduldig. Weißt du, ich habe auch keine andere Wahl mehr. Ich muss Mr Scheißfreundlich sein. Das ist die einzige Möglichkeit, um sicherzugehen, dass ich dem amerikanischen Unrechtssystem nie wieder zum Opfer falle. Jede Wette, dass du noch keine Erfahrung mit diesem System gemacht hast. Ich dagegen weiß alles über dieses abgekartete Monopoly-Spiel. Ich habe meine »Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei«-Karte eingesetzt – danke, ihr reichen Quinns! –, aber ich war auch naiv – fickt euch, ihr reichen Quinns –, und von mir aus werde ich den ganzen Tag lang auf dich warten, denn wenn auch nur eine einzige Person in dieser Bibliothek den Eindruck hätte, ich könnte eine Bedrohung darstellen … also, ich werde kein Risiko eingehen.

Dir zuliebe gebe ich mich demütig – ich schaue nicht aufs Handy, sondern beobachte, wie du dich am Bein kratzt. Du wusstest, dass du mir heute zum ersten Mal im wirklichen Leben begegnen würdest … und hast du diesen Rock für mich gekauft? Könnte sein. Du bist älter als ich, dreister als ich, wie ein Highschool-Mädchen im Vergleich zu einem Achtklässler, und ich sehe dich vor mir, in den Neunzigern, als wärest du dem Titelblatt von Sassy entstiegen. Du hast immer weitergemacht, bist durch die Zeit marschiert und hast darauf gewartet, aber doch nicht wirklich darauf gewartet, dass dir ein guter Typ über den Weg läuft. Und jetzt bin ich hier – unser Timing ist perfekt –, und die Mottenkugel »liest« den Murakami, während du mir einen Blick zuwirfst – Siehst du, was ich da gerade getan habe? Und ich nicke.

Ja, Mary Kay. Ich sehe dich.

Du bist die Mutter der Bücher, stehst steif wie ein Roboter in einem Dienstmädchenkostüm da – dein Rock ist wirklich ein wenig kurz – und du umfasst deine Ellenbogen, während die Mottenkugel im Akkord Seiten umblättert, als würdest du auf Kommission arbeiten, als wärst du darauf angewiesen, dass er dieses Buch ausleiht. Bücher sind dir wichtig, und ich gehöre hierher, zu dir und zu deinen hervortretenden Fingerknöcheln. Du bist eine Bibliothekarin, mir als Buchhändler weit überlegen, und die Mottenkugel braucht hier keine Kreditkarte zu zücken, und, ach, stimmt ja. In Amerika gibt es tatsächlich auch gute Dinge. Die Dewey-Fucking-Dezimalklassifikation hatte ich ganz vergessen, und Dewey war als tyrannisch berüchtigt, aber trotzdem darf man nicht vergessen, was er für dieses Land getan hat!

Der alte Mann tätschelt seinen Murakami. »Okay, Schätzchen, ich lass Sie wissen, wie es mir gefällt.«

Du lächelst – du magst es, »Schätzchen« genannt zu werden – und erschauerst. Du fühlst dich schuldig, weil du nicht empört bist. Du bist halb Schätzchen und halb die Chefin – und eine Leserin. Eine Denkerin. Du siehst beide Seiten. Du zeigst mir wieder das Peace-Zeichen – noch zwei Minuten –, und du ziehst noch eine kleine Show für mich ab. Du sagst zu einer Mutter, dass ihr Baby niedlich ist – hä, nicht wirklich –, und alle lieben dich, oder? Dich mit deinem unordentlichen Haarknoten hoch oben auf deinem Kopf, der lieber ein Pferdeschwanz sein würde, und deiner Kleidung, die ein Protest gegen die anderen Bibliothekarinnen in ihren sackartigen Oberteilen und langen Hosen ist. Man sollte meinen, dass du die anderen damit abschreckst, aber nein, tust du nicht. Du sagst oft klar, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sich da eine vernünftige Diane Keaton mit einer albernen Diane Keaton gepaart hat und dass diese beiden dich für mich erschaffen haben. Ich richte meine Hose – Behutsam, Joseph – und habe dieser Bibliothek einhunderttausend Dollar gespendet, um die Stelle als ehrenamtlicher Mitarbeiter zu ergattern, und du kannst den Staat Kalifornien fragen, oder den Barista vom Pegasus oder meine Nachbarin, deren Hund heute Morgen schon wieder auf meinen Rasen gekackt hat, aber sie werden dir alle das Gleiche sagen.

Ich bin ein verdammt netter Mensch.

Das ist eine richterlich bestätigte Tatsache. Ich habe RIP Guinevere Beck nicht ermordet, und ich habe RIP Peach Salinger nicht ermordet. Ich habe meine Lektion gelernt. Wenn irgendjemand das Schlechteste in mir zutage bringt, ergreife ich die Flucht. RIP Beck hätte auch weglaufen können – ich war nicht gut für sie, sie war noch nicht reif genug für die Liebe –, aber sie ist geblieben, weil sie genauso wie diese unglückseligen, dürftig charakterisierten, selbstzerstörerischen Frauen in diesen Horrorfilmen war, und auch ich bin kein Stück besser gewesen. An dem Tag, an dem ich RIP Peach kennengelernt habe, hätte ich mich von ihr abnabeln sollen. Ich hätte Love verlassen sollen, nachdem ich ihren soziopathischen Bruder kennenlernt hatte.

Ein Mädchen im Teenageralter kommt in die Bibliothek gesaust und rempelt mich an und holt mich in die Realität zurück – keine Entschuldigung – und ist so flink wie ein Erdmännchen, und du blaffst sie an: »Nicht Columbine, Nomi. Das ist mein Ernst.«

Aha, das Erdmännchen ist also deine Tochter, und ihre Brille ist zu klein für ihr Gesicht, und wahrscheinlich trägt sie sie auch nur, weil du ihr gesagt hast, dass sie nicht gut aussieht. Sie ist trotzig. Mehr streitlustiges Kleinkind als mürrischer Teenager, und sie zerrt eine dicke weiße Ausgabe von Columbine aus ihrem Rucksack. Sie zeigt dir den Mittelfinger, und du zeigst ihr den Mittelfinger. Deine Familie ist witzig. Ist da ein Ring an deinem Finger?

Nein, Mary Kay. Da ist keiner.

Du greifst nach dem Columbine des Erdmännchens, sie stürmt nach draußen, und du folgst ihr zur Tür hinaus – eine kleine, ungeplante Unterbrechung. Und mir fällt wieder ein, was du mir bei unserem Telefonat erzählt hast.

Deine Mom war eine Mary-Kay-Lady, unbarmherzig geschäftstüchtig und wettbewerbsorientiert. Du bist in Phoenix auf den Böden diverser Wohnzimmer aufgewachsen, wo du mit Barbies gespielt hast, während du ihr dabei zugesehen hast, wie sie Frauen mit untreuen Ehemännern dazu beschwatzt hat, ihr Lippenstifte abzukaufen, die ihre betrügerischen Gatten möglicherweise dazu animieren würden, zu Hause zu bleiben. Als könnte ein Lippenstift eine Ehe retten. Deine Mutter war gut in ihrem Job, fuhr einen rosa Cadillac, dann aber haben sich deine Eltern getrennt. Du bist mit deiner Mutter nach Bainbridge gezogen, und sie hat eine Hundertachtziggradwende vollzogen und begonnen, Patagonia statt Pancake-Make-up zu verkaufen. Du hast erzählt, dass sie vor drei Jahren gestorben ist, und dann hast du tief durchgeatmet und gesagt: »Okay, das waren jetzt etwas zu viele Informationen.«

Aber es war nicht zu viel, ganz und gar nicht, und du hast mir noch mehr erzählt: Dein Lieblingsplatz auf der Insel ist Fort Ward, und du magst die Bunker und hast ein Graffito erwähnt. Gott tötet jeden. Ich habe zu dir gesagt, dass das stimmt, und du wolltest wissen, woher ich komme, und ich habe dir erzählt, dass ich in New York aufgewachsen bin, und das hat dir gefallen, und ich habe erwähnt, dass ich eine gewisse Zeit in L. A. abgesessen habe, und du dachtest, ich würde das sarkastisch meinen, und wie käme ich dazu, dich zu korrigieren?

Die Tür geht auf, du bist wieder da. In Fleisch und Blut und Rock. Was immer du zu deinem Erdmännchen gesagt hast, hat sie stinksauer gemacht, und sie nimmt sich einen Stuhl und stellt ihn so hin, dass er gegen die Wand gerichtet ist, und endlich kommst du zu mir, so warm und weich wie der Kaschmir auf meiner Brust. »Entschuldige bitte die Szene«, sagst du, als hättest du nicht gewollt, dass ich alles mitbekomme. »Du bist Joe, oder? Ich glaube, wir haben telefoniert.«

Du glaubst es nicht. Du weißt es. Ja. Aber du hattest nicht geahnt, dass du mir am liebsten die Kleider vom Leib reißen würdest. Du schüttelst mir die Hand, Haut an Haut, und ich atme deinen Duft ein – du riechst wie Florida –, und die Kraft in meinem Körper ist wiederhergestellt. Ping.

Jetzt siehst du mich an. »Kann ich meine Hand zurückhaben?«

Ich habe sie zu lange festgehalten. »Tut mir leid.«

»Ach, nein«, sagst du und beugst dich zu mir, näher als Hautnah. »Mir tut es leid. Ich habe draußen eine Orange gegessen, meine Hände sind etwas klebrig.«

Ich schnuppere an meiner Handfläche und beuge mich ebenfalls zu dir. »Bist du sicher, dass es keine Mandarine war?«

Du lachst über meinen Witz und lächelst. »Verraten wir es niemandem.«

Schon heißt es, wir beide gegen die anderen, und ich frage, ob du das Buch von Lisa Taddeo ausgelesen hast – ich bin ein netter Kerl, und nette Kerle merken sich immer, was die Frau am Telefon erzählt hat –, und ja, du bist fertig, es hat dir sehr gut gefallen, und ich frage dich, ob ich dir eine Frage über deine Tochter und ihr Columbine stellen darf. Du errötest. »Klar«, sagst du. Klar. »Na ja, wie dir bestimmt aufgefallen sein wird … ist sie dezent von Dylan Klebold besessen.«

»Dem Amokschützen?«

»Oh Gott, nein«, sagst du. »Weißt du, laut meiner Tochter war er ein Poet, weshalb es ihrer Ansicht nach auch in Ordnung ist, dass sie den Aufsatz für ihre Collegebewerbung über ihn schreibt …«

»Okay, das ist eine schlechte Idee.«

»Zweifellos. Aber wenn ich ihr das sage, nennt sie mich eine ›Heuchlerin‹, weil ich, als ich in ihrem Alter war, mal Ärger bekommen habe, weil ich nicht über Jane Austen, sondern über Ann Petry geschrieben habe …« Du magst mich so sehr, dass du absichtlich mit gewichtigen Namen um dich wirfst. »Ich kann mich nicht mehr genau erinnern …« Doch, das kannst du. »Hattest du erwähnt, dass du Kinder hast?«

Stephen King muss niemanden umbringen, um den Tod zu beschreiben, und man muss keine Kinder haben, um zu verstehen, was es bedeutet, Eltern zu sein, und streng genommen habe ich sogar ein Kind, nur »habe« ich ihn eben nicht. Ich kann ihn nicht wie all die anderen verdammten Khaki tragenden Väter auf diesem öden Felsen herumtragen. Ich schüttle verneinend den Kopf, und deine Augen glänzen. Du hoffst, dass ich noch ungebunden bin, und möchtest, dass wir Gemeinsamkeiten haben, weswegen ich das Gesprächsthema zurück auf Bücher lenke. »Außerdem mag ich Ann Petry auch. DieStraße gehört zu meinen absoluten Lieblingsbüchern.«

Damit wollte ich dich eigentlich beeindrucken, aber im Grunde kennen viele belesene Menschen Die Straße, und du bist schließlich ein Fuchs. Zurückhaltend. Ich lege noch eins drauf und sage zu dir, dass ich wünschte, noch viel mehr Menschen würden The Narrows von ihr lesen. Das bringt mir ein Lächeln ein – ha, na bitte –, aber wir sind hier an unsrem Arbeitsplatz, deswegen legst du die Hände auf deine Tastatur. Du runzelst die Stirn. Kein Botox für dich. »Nanu.« Etwas in deinem Computer irritiert dich, und weißt du jetzt über mich Bescheid? Ist mein Eintrag mit einer Warnung versehen?

Bleib cool, Joe. Entlastet. Unschuldig. »Bin ich schon gefeuert?«

»Nun, das nicht, aber da ist eine Unstimmigkeit in deiner Akte …«

Du weißt nichts von dem Geld, das ich dieser Bibliothek gespendet habe, weil ich darauf bestanden hatte, anonym zu bleiben, und die Dame von der Verwaltung hat mir versprochen, mir die Unannehmlichkeiten einer eingehenden Hintergrundprüfung zu ersparen. Oder hat sie mich vielleicht belogen? Bist du auf Dr. Nickys verschwörungstheoretischen Blog gestoßen? Ist der Dame von der Verwaltung etwa aufgefallen, dass ich der Joe Goldberg bin? Hat sie durch den verfluchten Podcast irgendeiner von Morden besessenen Frau von mir erfahren?

Du winkst mich zu dir, die Unstimmigkeit in meiner Akte betrifft die Liste meiner Lieblingsautoren – puh –, und du schnalzt leise mit der Zunge. »Mr Goldberg, Debbie Macomber kann ich auf dieser Liste gar nicht entdecken.«

Ich erröte. Neulich am Telefon habe ich dir erzählt, die dämliche Cedar-Cove-Reihe von Debbie Macomber hätte mich auf die Idee gebracht, in den Pazifischen Nordwesten zu ziehen, und du hast gelacht – Ernsthaft? –, aber ich habe mich nicht von meinem wackeligen, von einem malerischen Gartenzaun eingefassten Standpunkt abbringen lassen. Ich bin kein Diktator. Ich habe dir nicht befohlen, eines ihrer Bücher zu lesen. Aber ich habe erzählt, dass Debbie mir geholfen hat, dass die Geschichten über die fromme, nach Gerechtigkeit strebende Richterin Olivia Lockhart und ihren Lokalreporter-Freund Jack mir den Glauben an die Welt zurückgegeben hätten. Du meintest, du würdest dir die Reihe mal ansehen, aber das sagen alle Leute, wenn man ihnen ein Buch oder eine Scheißfernsehserie empfiehlt, und jetzt stehst du hier und zwinkerst mir zu.

Du zwinkerst mir zu. Deine Haare sind rot und gelb. Deine Haare sind Feuer. »Keine Sorge, Joe. Ich esse das Rindfleisch und du den Brokkoli. Niemand muss etwas davon erfahren.«

»Aha«, sage ich, denn das mit dem Rindfleisch und dem Brokkoli ist eine Anspielung auf die Fernsehserie. »Klingt so, als wäre jemand in Cedar Cove gewesen, um sich das Ganze mal anzusehen.«

Deine Fingerspitzen tippen auf der Tastatur, und diese Tastatur ist mein Herz. »Ich habe doch gesagt, ich würde es tun …« Du bist eine Frau, die zu ihrem Wort steht. »Und du hattest recht …« BINGO. »Es ist ein ›schönes Gegengift gegen die höllische Realität der Welt, in der wir gerade leben‹ …« Das bin ich. Du zitierst mich. »Diese vielen Fahrräder und der Kampf um Gleichheit, davon geht der Blutdruck etwas runter.«

Du sprichst weiter über die Vor- und Nachteile von Eskapismus – du hast meine Sprache gelernt und möchtest, dass ich das merke – du bist sexy, selbstbewusst, und ich hatte ganz vergessen, wie sich sexuelle Spannung anfühlt. Anfänge. »Na gut«, sage ich. »Vielleicht können wir einen Fanclub gründen.«

»Klar …«, sagst du. »Aber zuerst musst du mir erzählen, was es war, das deine Begeisterung dafür geweckt hat.«

Ihr Frauen wollt immer etwas über die Vergangenheit erfahren, aber die Vergangenheit ist vorbei. Fort. Ich kann dir doch verdammt noch mal nicht erzählen, dass mir Cedar Cove dabei geholfen hat, die Zeit im Gefängnis zu überstehen. Ich werde dir ganz bestimmt nicht verraten, dass diese Reihe für mich so etwas wie Mayberry-Allzwecksalbe war, während ich zu Unrecht in Haft saß, und ich sollte wirklich nicht sämtliche Details preisgeben müssen. Wir alle erleben doch hin und wieder Zeiten, in denen wir uns gefangen fühlen, eingesperrt. Wo genau wir uns dabei befinden, ist nebensächlich. Ich zucke mit den Schultern. »Dahinter steckt keine große Geschichte …« Ha! »Vor einigen Monaten hatte ich eine schwierige Phase in meinem Leben …« Fakt ist: Die beste Lektüre fürs Gefängnis ist »Strandlektüre«. »Debbie war für mich da …« … als Love Quinn es nicht war.

Du löcherst mich nicht nach noch mehr Einzelheiten – ich wusste doch, dass du klug bist – und sagst, du kennst das Gefühl, und du und ich, wir sind gleich, empfindsam. »Also, ich möchte dich nicht runterziehen, aber ich muss dich warnen, Joe …« Du willst mich beschützen. »Wir sind hier nicht in Cedar Cove, ganz bestimmt nicht.«

Ich mag deinen Elan – du scheust dich nicht vor einer Auseinandersetzung –, und ich neige den Kopf in Richtung des leeren Tisches, wo du vorhin mit dem alten Mann gestanden hast. »Erzähl das der Mottenkugel, die gerade mit dem Murakami, den du ihm empfohlen hast, nach Hause gegangen ist. Das war sehr Cedar-Cove-mäßig.«

Du weißt, dass ich recht habe, und du versuchst zu schmunzeln, aber dein Schmunzeln ist ein Lächeln. »Wir werden ja sehen, wie du darüber denkst, wenn du hier erst einmal ein paar Winter durchgestanden hast, Joe.« Du errötest. »Was ist in der Tüte?«

Ich schenke dir mein schönstes Lächeln, das Lächeln, von dem ich dachte, dass ich nie wieder dazu in der Lage wäre. »Mittagessen«, antworte ich. »Und im Gegensatz zu Richterin Olivia Lockhart habe ich reichlich Essen mitgebracht. Du kannst den Brokkoli und das Rindfleisch haben.«

Das habe ich laut gesagt – DU VERDAMMTES EINGEROSTETES HIRN –, und jetzt darfst du dich in deinem Computer verstecken, während ich hier stehe und der Trottel bin, der gerade zu dir gesagt hast, dass du sein Fleisch haben darfst.

Aber du lässt mich nicht lange zappeln. »Okay«, sagst du. »Der Computer zickt. Wir kümmern uns später um dein Namensschild.«

Der Computer ist ganz schön dreist, oder vielleicht stellst du mich auch nur auf die Probe. Du führst mich zum Pausenraum und fragst, ob ich bei Sawan oder Sawandty gewesen bin. Als ich sage, bei Sawan, sieht dein Erdmännchen von ihrem Columbine auf und macht eine Kotzgeste. »Igitt. Das ist so ekelhaft.«

Nein, Kleines, unverschämt zu sein ist ekelhaft. Sie schwärmt von Sawandty, und du bist auf ihrer Seite, doch ich spreche eure Sprache nicht. Nicht in diesem Augenblick. Du legst mir eine Hand auf den Rücken – schön –, und dann legst du dem Erdmännchen eine Hand auf die Schulter – du bringst uns zusammen – und sagst mir, dass ich noch eine Menge über Bainbridge zu lernen habe. »Nomi ist extrem, aber im Grunde gibt es hier zwei Arten von Menschen, Joe. Es gibt die, die zu Sawan gehen, und dann noch Menschen wie uns, die zu Sawandty gehen.«

Du verschränkst die Arme, und bist du wirklich so kleingeistig? »Okay«, sage ich. »Aber gehören beide Restaurants nicht derselben Familie?«

Das Erdmännchen stöhnt und setzt den Kopfhörer auf – schon wieder unverschämt –, und du signalisierst mir, ich solle in die Küche mitkommen. »Klar«, sagst du. »Aber das Essen ist etwas unterschiedlich.« Du öffnest den Kühlschrank, und ich verstaue mein Mittagessen, und du verhältst dich irrational, aber das weißt du. »Ach, komm schon. Bist du nicht aus Sehnsucht nach genau solchen kleinstädtischen Marotten hierhergezogen?«

»Ach du meine Güte«, sage ich. »Ich lebe hier.«

Du legst mir die Hände auf die Schultern, und man könnte glatt meinen, du hättest nie an einem Seminar über sexuelle Belästigung teilgenommen. »Keine Sorge, Joe. Seattle liegt nur fünfunddreißig Minuten entfernt.«

Ich möchte dich küssen, und du nimmst die Hände weg, wir verlassen den Pausenraum, und ich erzähle dir, dass ich nicht hergezogen bin, um die Fähre in die Stadt zu nehmen. Du siehst mich forschend an. »Aber warum genau bist du hierhergezogen? Ernsthaft. New York … L. A. … Bainbridge … Darauf bin ich wirklich neugierig.«

Du stellst mich auf die Probe. Forderst mich heraus. »Na ja, ich mache Witze über Cedar Cove …«

»Ja, das tust du …«

»Aber wahrscheinlich hat es sich einfach richtig für mich angefühlt. Früher ging es in New York wie in den Wimmelbüchern von Richard Scarry zu.«

»Ich mag ihn.«

»Aber dieses Scarry-Gefühl ist nicht mehr da. Vielleicht sind die CitiBikes schuld …« Oder all die toten Frauen. »Und nach L. A. bin ich einfach nur gezogen, weil das viele so machen. Sie gehen von New York nach L. A …« Es ist so lange her, dass mich jemand kennen wollte, und du gibst mir das Gefühl, zu Hause und gleichzeitig weit fort zu sein. »Hey, kannst du dich noch an diese Schwarz-Weiß-Fotos von Kurt Cobain und seinen Kumpels auf der Wiese erinnern? Aus den Anfangstagen, bevor Dave Grohl bei Nirvana einstieg?«

Du nickst. Du glaubst schon, klar.

»Mir ist gerade etwas eingefallen. Als ich noch ein Kind war, hing dieses Bild bei meiner Mutter am Kühlschrank. Ich fand, es sah aus wie der Himmel, dieses hohe Gras …«

Du nickst. »Komm mit«, sagst du. »Der beste Teil der Bibliothek ist unten.«

In der Kochbuchabteilung bleibst du plötzlich stehen. Jemand hat dir eine Nachricht geschickt, du antwortest darauf, und ich kann nicht sehen, von wem sie kommt. Du schaust mich an. »Bist du auf Instagram?«

»Japp, und du?«

Es ist so verdammt einfach, Mary Kay. Ich folge dir, und du folgst mir, und du likst schon meine Buch-Posts – Herz, Herz, Herz –, und ich like dein Foto von dir und Nomi auf der Fähre, das Foto mit der verdammt noch mal besten Bildunterschrift der Welt: Gilmore Girls. Es ist Instagram-offiziell: Du bist Single.

Du führst mich zur Treppe und witzelst über meinen Account. »Versteh mich nicht falsch … Ich liebe ja ebenfalls Bücher, aber dein Leben scheint mir doch etwas einseitig zu sein.«

»Und was würdest du vorschlagen, Ms ›Gilmore Girl‹? Sollte ich mein Rindfleisch mit Brokkoli posten?«

Du wirst rot. »Oh«, sagst du. »Das ist Nomis kleiner Witz. Ich wurde auf dem College schwanger, nicht auf der Highschool.«

Du sagst das, als wäre der Vater ein namenloser Samenspender. »Ich habe diese Serie nie gesehen.«

»Sie würde dir gefallen«, sagst du. »Ich habe sie genutzt, damit mein Kind denkt, dass Lesen cool ist.«

Ich weiß, was du jetzt denkst. Du wünschst dir, dass in meinem verdammten »Feed« mehr von mir zu sehen wäre, denn ich stehe gerade hier und sehe dein ganzes Leben, Fotos von dir und deiner besten Freundin, Melanda, in diversen Weinstuben, dich und dein Erdmännchen unterwegs als #GilmoreGirls. Über mich erfährst du aber kaum etwas, und das ist ungerecht. Doch das Leben ist ungerecht, und ich werde dich nicht damit langweilen, bescheiden zu prahlen, dass ich ein »zurückhaltender Mensch« bin. Ich stecke das Handy weg und erzähle dir, dass ich zum Frühstück Corn Pops hatte.

Du lachst – ja – und schließt Instagram – juhu! –, und ich füttere dich lieber auf die richtige Art mit Informationen, aus meinem Mund in dein Ohr. Ich erzähle dir von meinem Zuhause und dem Wasser in Winslow, und du krempelst dir die Ärmel noch etwas weiter hoch. »Wir sind ja praktisch Nachbarn«, sagst du. »Ich wohne gleich um die Ecke, in Wesley Landing.«

Ich bezweifle stark, dass du alle Ehrenamtlichen so behandelst wie mich, wir gehen nach unten, und du streifst meinen Arm, und ich sehe, was du siehst. Ein Rotes Bett. In einer Nische in der Wand.

Deine Stimme ist leise. Gedämpft. Kinder sind anwesend. »Ist das nicht toll?«

»Oh, das ist ein tolles Rotes Bett.«

»Das sehe ich auch so. Und ich weiß, dass es kleiner ist als das grüne …« Das grüne ist zu grün, das gleiche Grün wie RIP Becks Kissen. »Aber mir gefällt das Rote. Außerdem hat es das Aquarium …« Wie das Aquarium in Hautnah, und du kratzt dich, obwohl es dich gar nicht juckt, weil du mich am liebsten sofort auf das Rote Bett werfen würdest, aber das kannst du nicht. »Als ich ein Kind war, hat meine Bibliothek ganz anders ausgesehen. Also, diese Kinder, die können sich gemütlich ins gemachte Nest setzen, oder?«

Deswegen wollte ich meinen Sohn auf dieser Insel großziehen, und ich nicke. »In meiner Bibliothek gab es so gut wie keine Stühle.«

Meine Stimme hat ein wenig gebebt – hör auf, verbales Vaguebooking über deine miese Kindheit zu betreiben, Joe –, und du beugst dich näher zu mir, Hautnah. »Nachts ist es hier sogar noch toller.«

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, und mit dir ist es zu gut, zu viel, wie Eiscreme zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen, und das spürst du auch und deutest auf einen Schrank. »Leider Gottes hat eines der Kinder draufgepinkelt, und der Hausmeister ist krank. Hättest du etwas dagegen, dir die Hände schmutzig zu machen?«

»Aber nein.«

Zwei Minuten später rubble ich Urin aus unsrem Roten Bett, und du bemühst dich, mich nicht zu beobachten, aber du möchtest mir zusehen. Du magst mich, und wie könntest du das auch nicht tun? Mit einem Lächeln im Gesicht mache ich die Drecksarbeit und bin hierhergezogen, weil ich dachte, dass es leichter ist, ein guter Mensch zu sein, wenn man von anderen guten Menschen umgeben ist. Ich bin hierhergezogen, weil die Mordrate niedrig ist, sprich: Seit über zwanzig Jahren gab es keinen einzigen verdammten Mord. Verbrechen sind hier so sehr nicht existent, dass der Bainbridge Islander nicht nur einen, sondern gleich zwei Artikel darüber gebracht hat, dass einige Architekten einem anderen Architekten eine Werbetafel geklaut haben. Hier leben eher ältere Leute, und das Rote Bett ist wie neu, und ich räume meine Putzutensilien weg, und du bist nicht mehr da.

Ich gehe nach oben, um dich zu suchen, und du klopfst an die Glaswand deines Büros – komm rein – und willst mich in deinem Bau haben, und es gefällt mir in deinem Bau. Zur Begrüßung winke ich deinen Postern zu – RIP Whitney Houston und Eddie Vedder –, und du bietest mir einen Platz an, und dein Telefon klingelt, und ich hätte nie gedacht, dass ich jemals wieder so empfinden würde, aber andererseits hätte ich auch nie gedacht, dass Love Quinn mein Kind entführen und mir vier Millionen Dollar dafür zahlen würde, dass ich abhaue. Wenn unsagbar schlimme Dinge möglich sind, dann sind unsagbar gute Dinge ebenfalls möglich.

Du legst auf und lächelst. »Also, wo waren wir?«

»Du wolltest mir gerade sagen, welches dein Lieblingslied von Whitney Houston ist.«

»Also, das hat sich seit meiner Kindheit nicht geändert. ›How Will I Know‹.«

Du schluckst. Ich schlucke. »Ich mag das Lemonheads-Cover von diesem Song.«

Du bemühst dich, mich nicht anzustarren, und lächelst. »Ich wusste gar nicht, dass es das gibt. Das muss ich mir mal anhören.«

»Oh ja. Das Cover ist gut. The Lemonheads.«

Du leckst dir die Lippen und äffst mich nach – »The Lemonheads« –, und ich will auf dem Roten Bett deinen Lemonhead ablecken, und ich deute auf die Zeichnung von der Front eines kleinen Ladens, die an deiner Wand hängt. »Ist das von deiner Tochter?«

»Ach nein«, sagst du. »Jetzt, wo du es sagst … Ich sollte hier drinnen etwas von ihr hängen haben. Aber, also, das habe ich selbst gezeichnet, als ich noch klein war. Ich habe mir gewünscht, meine eigene Buchhandlung zu haben.«

Natürlich hast du das, und ich bin ein reicher Mann. Ich kann dir helfen, deinen Traum zu verwirklichen. »Hatte diese Buchhandlung auch einen Namen?«

»Sieh genau hin«, sagst du. »Dort oben in der Ecke steht er … Empathy Bordello.«

Ich lächle. »Ach, Bordell?«

Du greifst etwas beschämt nach einer Perlenkette, die nicht da ist. Du spürst es ebenfalls, und dein Telefon klingelt. Du sagst, dass du rangehen musst, und ich frage, ob ich rausgehen soll, aber du willst, dass ich bleibe. Du nimmst ab, und deine Stimme verändert sich, wird hoch wie die einer Vorschullehrerin in einem begüterten Schulbezirk: »Howie! Wie geht es dir, mein Lieber, und was kann ich für dich tun?«

Howie sagt dir, was er will, und du deutest auf einen Gedichtband, und ich nehme das Buch von William Carlos Williams und reiche es dir, und du leckst über deinen Finger – das hättest du eigentlich nicht unbedingt tun müssen –, und deine Stimme verändert sich wieder. Du raunst Howie ein Gedicht zu, deine Stimme ist wie geschmolzene Eiscreme, und dann legst du auf, und ich lache. »Jetzt habe ich eine Menge Fragen.«

»Ich weiß«, sagst du. »Also das war Howie Okin …« Du hast seinen vollständigen Namen gesagt. Magst du ihn auch? »Er ist ein süßer alter Mann …« Von wegen! Er ist eine Mottenkugel. »Und er geht gerade durch die Hölle …« Niemand kennt die Hölle besser als ich. »Seine Frau ist gestorben und sein Sohn weggezogen …« Mein Sohn wurde vor vierzehn Monaten und acht Tagen geboren, und ich habe ihn noch nicht ein einziges Mal gesehen. Und er ist nicht nur mein Sohn. Er ist mein Erlöser.

»Das ist so traurig«, sage ich, obwohl meine Geschichte noch viel trauriger ist. Ich bin das Opfer, Mary Kay. Love Quinns Familie hat tief in die Tasche gegriffen, um meine Verteidiger zu bezahlen, weil Love mit meinem Sohn schwanger war. Ich dachte, ich könnte mich glücklich schätzen, jemanden mit Vermögen auf meiner Seite zu haben. Ich dachte, ich würde ein Vater sein. Ich habe in diesem verfluchten Gefängnis Gitarre spielen gelernt, und ich habe den Text von »My Sweet Lord« umgedichtet – Hare Forty, Hallelujah –, und ich erklärte Love, dass ich möchte, unsre Familie möge nach Bainbridge ziehen, in die reale Version von Cedar Cove. Ich fand das geeignete Zuhause für uns, inklusive eines beschissenen Gästehauses für ihre Eltern, obwohl sie mich immer deutlich haben spüren lassen, dass sie diejenigen sind, die die Rechnungen bezahlen, als hätten sie dafür jemals eine Hypothek auf eines ihrer verkackten Strandhäuser aufnehmen müssen.

Faktencheck: Das mussten sie nicht.

Dein Telefon klingelt. Und es ist wieder Howie. Und jetzt weint er. Du liest ihm noch ein Gedicht vor, und ich blicke auf mein Handy. Auf ein Foto, das ich gespeichert habe. Mein Sohn, an seinem ersten Tag. Nass und glitschig. Risikobereit. Ein kleiner Bengel. Ich habe das Foto nicht gemacht. Ich war nicht da, als er aus Loves »betagter« Gebärmutter schlüpfte – die Ärzte sollen sich ficken –, und ich bin ein schlechter Vater.

Abwesend. Unsichtbar. Von der Bildfläche verschwunden, und nicht deshalb, weil ich derjenige bin, der die Bilder macht.

Love rief mich zwei Tage später an. Ich habe ihn Forty genannt. Er sieht genau wie mein Bruder aus.

Ich habe dir zugestimmt. Ich liebe es, Love. Ich kann es nicht erwarten, dich und Forty zu sehen.

Neun Tage später. Meine Anwälte holten mich aus dem Gefängnis. Die Anklagen wurden fallen gelassen. Der Parkplatz. Frische, heiße, muffige Luft. Das Lied in meinem Kopf. HareForty,Hallelujah.Ich war jemandes Vater. Papa. Ich stieg in eine Limousine. Überall um mich herum meine Anwälte. WirmüssenkurzindieKanzlei,damitSiedorteinpaarPapiereunterzeichnenkönnen. Nächster Halt, das Parkhaus einer Betonfestung in Culver Fucking City. Keine Sonne unter der Erde. Kein Sohn in meinem Armen, noch nicht. NureinpaarPapiere.Wir fuhren mit dem Aufzug in den vierundzwanzigsten Stock des Gebäudes. NureinpaarPapiere,wirdnichtlangdauern. Der Konferenzraum war groß und unpersönlich. Sie schlossen die Tür, obwohl das Stockwerk ansonsten menschenseelenleer war. In der Ecke stand ein Schlägertyp. Breiter Oberkörper. Navy Blazer. NureinpaarPapiere.Und dann wurde mir klar, was ich die ganze Zeit schon hätte wissen müssen. Das waren nicht meine Anwälte. Loves Familie stellte ihre Gehaltsschecks aus. Die geldgierigen Anwälte arbeiteten für sie, nicht für mich. Nurein paar Papiere. Nein. Das waren Papiere der Ungerechtigkeit.

Die Quinns boten mir vier Millionen Dollar, damit ich verschwand.

Das Recht auf den Umgang mit dem Kind aufgab. Kein Kontakt. Kein Stalken. Keine Besuche.

Die Quinns erklären sich gern dazu bereit, mir mein Traumhaus auf Bainbridge Island zu finanzieren.

Ich schrie. Es gibt keinen Traum ohne meinen verdammten Sohn.

I schmiss ein iPad. Es prallte auf, aber es zersprang nicht, und die Anwälte schrien nicht. Love Quinn glaubt, dass es das Beste für das Kind wäre. Ich würde mein Fleisch und Blut nicht aufgeben, aber der Schläger legte seine Waffe auf den Tisch. A private dance, a dancer for money kommt mit einem Mord im vierundzwanzigsten Stock einer Anwaltskanzlei in Culver Fucking City davon. Sie könnten mich umbringen. Sie würden mich umbringen. Aber ich durfte nicht sterben. Ich bin ein Vater. Also unterschrieb ich. Ich nahm das Geld, und sie nahmen meinen Sohn, und du drehst dich auf deinem Stuhl um. Du greifst nach einem Notizbuch. Du kritzelst: Alles okay?

Ich glaube, ich lächle. Zumindest versuche ich es. Aber du siehst traurig aus. Du kritzelst noch etwas.

Howie ist so ein netter Mann. Ich fühle mich einfach nur schrecklich.

Ich nicke. Ich verstehe es. Ich war auch ein netter Mann. Dumm. Hinter Gittern, Cedar Cover wie eine Droge für mich, während ich versuchte, positiv zu bleiben. Ich hatte Love geglaubt, als sie sagte, wir würden gemeinsam hierherziehen, als Familie. Ha!

Du kritzelst erneut: Die Welt kann so unfair sein. Ich kann das mit seinem Sohn einfach nicht verstehen.

Du fährst damit fort, Howie Okin zu trösten, und ich bin kein Monster. Der Kerl tut mir leid. Aber Howie hat seinen Arschloch-Sohn erzogen. Ich habe meinen kleinen Forty nicht mal gesehen. Nicht im wirklichen Leben. Ich sehe ihn nur auf Instagram. Love ist wirklich krank, ja. Sie hat meinen Sohn entführt, mich aber nicht geblockt. Es läuft mir jedes Mal eiskalt den Rücken runter, wenn ich darüber nachdenke. Ich fahre die Lautstärke meines Handys runter und öffne Loves Live Story, und ich schaue meinem Sohn dabei zu, wie er sich mit einer Schaufel auf den Kopf haut. Seine Mutter lacht, als ob es lustig wäre – ist es nicht –, und Instagram ist zu wenig – ich kann ihn nicht riechen, kann ihn nicht halten –, und es ist zu viel – er lebt. Er tut das genau in diesem Moment.

Ich mache, dass es aufhört. Ich schließe die App. Aber es hört nicht auf, nicht wirklich.

Ich wurde ein Dad, bevor er geboren wurde. Ich habe Shel-Silverstein-Gedichte auswendig gelernt, und ich kenne sie immer noch, und das, obwohl ich sie meinem Sohn nicht vorlesen kann, und ich vermisse meinen Sohn und Silversteins Boa erwürgt mich, diese Boa schlängelt sich unter meiner Haut, meinem Gehirn, eine ständige Erinnerung an das, was ich verloren habe, was ich verkauft habe, streng genommen, und es ist so falsch, so falsch, und ich ersticke daran, und ich kann so nicht leben, und du hängst das Telefon ein, schaust mich an und schnappst nach Luft. »Joe, ist alles … Brauchst du ein Taschentuch?«

Ich wollte nicht weinen – das war meine Allergie, es war William Carlos Williams, es war die Geschichte des armen Howie Okin –, und du reichst mir ein Taschentuch. »Es ist so beruhigend, dass du es verstehst. Ich weiß, dass es nicht mein ›Job‹ ist, Gedichte vorzulesen, wenn manche Stammkunden einen schlechten Tag haben, aber das hier ist eine Bibliothek. Es ist eine Ehre, hier zu sein, und wir können helfen, und ich …«

»Manchmal brauchen wir alle ein Gedicht.«

Du lächelst mich an. Du lächelst für mich. Meinetwegen. »Ich habe ein gutes Gefühl bei dir.«

Es berührt dich, dass es mich berührt – du denkst, dass ich wegen Howie geweint habe –, und du heißt mich willkommen, und wir schütteln uns die Hände – Haut an Haut –, und in meinem Kopf verspreche ich mir etwas: Ich werde dein Mann sein, Mary Kay. Ich werde der Mann sein, von dem du denkst, dass ich es bin, der Mann, der Mitgefühl mit Howie hat, mit meiner bösen Baby-Mama, mit jedem auf diesem schrecklichen, beschissenen Planeten. Ich werde niemanden töten, der sich uns in den Weg stellt, obwohl, na ja … egal.

Du lachst. »Kann ich bitte meine Hand zurückhaben?«

Ich gebe dir deine Hand zurück, und ich verlasse dein Büro, und ich will die Regale abreißen und alle Seiten rausreißen, denn ich muss keine verdammten Bücher mehr lesen! Ich weiß jetzt, wovon all die Dichter gesprochen haben. Ich mache es, Mary Kay.

Ich trage dein Herz in meinem Herzen.

Ich habe meinen Sohn verloren. Ich habe meine Familie verloren. Aber vielleicht passieren schlimme Dinge wirklich aus einem guten Grund. All diese toxischen Frauen haben mich für sich eingenommen, mich verarscht, weil sie Teil eines größeren Plans waren, der mich auf diesen Felsen, in diese Bibliothek gebracht hat.

Ich sehe dich in deinem Büro, erneut am Telefon, die Telefonschnur zwirbelnd. Du wirkst jetzt anders auf mich. Auch du liebst mich bereits, vielleicht, und du hast es verdient, Mary Kay. Du hast so lang gewartet. Du hast ein Kind auf die Welt gebracht. Du gibst Howie Gedichte, und du konntest nie deinen Buchladen eröffnen – das kriegen wir noch hin –, und du hast deinen Murakami in die Hand dieser Mottenkugel gedrückt, als ob er jemals wertschätzen könnte, was es bedeutet, geradezu in sie hineingesogen zu sein. Du hast dein Leben in deinem Büro verbracht, die Poster angestarrt, die du seit der Highschool nicht weggeworfen hast, der Popstar und der Rockstar. Das Leben kam nie an die Texte ihrer Songs heran, an die Leidenschaft, aber jetzt bin ich ja da. Ich habe ein gutes Gefühl bei dir.

Wir sind gleich, aber verschieden. Hätte ich so jung ein Kind gehabt, wäre ich wie du gewesen. Verantwortungsbewusst. Geduldig. Sechszehn Jahre lang ein und derselbe verdammte Job auf einer verdammten Insel. Und du würdest darum kämpfen, dass es dir besser geht, wenn du so allein wärst wie ich, und heute Morgen sind wir beide aufgestanden. Wir haben uns beide lebendig gefühlt. Ich habe meinen neuen Pullover angezogen, und du hast diesen blauen BH und deine Strumpfhose angezogen, deinen kleinen Rock. Du mochtest mich am Telefon. Vielleicht hast du es dir selbst besorgt, während Cedar Cover ohne Ton im Fernsehen lief, und werde ich rot? Ich glaube schon. Ich hole mein Namensschild und mein Schlüsselband von der Anmeldung ab. Ich mag mein Foto. Ich sah nie besser aus. Habe mich nie besser gefühlt.

Ich klicke das Namensschild an das Band – wie befriedigend, wenn das Leben Sinn ergibt, wenn die Dinge klicken, du und ich, Rindfleisch und Brokkoli, das Namensschild und das Schlüsselband –, und mein Herz schlägt ein wenig schneller, und dann schlägt es etwas langsamer. Ich bin nun nicht mehr ein Vater ohne Sohn. Ich habe eine Bestimmung. Du hast mir das angetan. Du hast das für mich getan. Du hast eine besondere Bestellung aufgegeben, und hier bin ich nun, mit Namensschild. Und ich habe keine Angst, dass ich zu voreilig bin. Ich möchte mich in dich verlieben. Es war hart, ja, aber ich musste mich für ein Kind zusammenreißen. Ich bin dein längst überfälliges Buch, das, von dem du niemals gedacht hättest, dass es einmal käme. Es hat etwas gedauert, bis ich hier sein konnte, und ich wurde auf dem Weg verletzt, aber gute Dinge passieren nur Menschen wie uns, Mary Kay, Menschen, die bereit sind sich zu gedulden, zu leiden und die auf den richtigen Augenblick warten und währenddessen die Sterne an der Wand anstarren, die Betonblöcke in ihrer Zelle. Ich ziehe mir das Schlüsselband über den Kopf, und es fühlt sich an, als wäre es für mich gemacht worden, denn das war es, auch wenn es es nicht war. Perfekt.

2

Gestern habe ich mitbekommen, wie zwei Mottenkugeln uns als Turteltauben bezeichnet haben, und heute verbringen wir die Mittagspause wieder draußen an unsrem Stammplatz auf dem Zweiersofa im Japangarten. Hier essen wir jeden verdammten Tag unser Mittagessen, und im Augenblick lachst du, weil wir immer lachen, denn das hier, das ist es, Mary Kay. Du bist die Richtige.

»Nein«, sagst du. »Erzähl mir nicht, dass du tatsächlich Nancys Zeitung gestohlen hast.« Nancy ist meine fäkaläugige Nachbarin, und du bist zusammen mit Nancy auf die Highschool gegangen. Du magst sie nicht, bist aber mit ihr befreundet – Frauen –, und ich erzähle dir, dass ich ihre Zeitung stehlen musste, weil sie sich in der Schlange im örtlichen Café, das Pegasus heißt, vor mich gedrängt hat. Du nickst. »Das nennt man wohl Karma.«

»Du weißt ja, was man sagt, Mary Kay. Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.«

Du lachst wieder, und du bist begeistert, dass endlich jemand Nancy die Stirn bietet, und du kannst es noch immer nicht fassen, dass ich direkt neben ihr wohne, dass ich gleich um die Ecke von dir wohne. Du kaust dein Rindfleisch – wir essen jeden Tag Rindfleisch mit Brokkoli –, und du schließt die Augen und hebst einen Finger. Du brauchst etwas Zeit – das ist immer der stärkste Augenblick in unsren Mittagspausen –, und ich zähle zehn Sekunden herunter, dann mache ich ein Buzzer-Geräusch. »Und, Ms DiMarco? Sawan oder Sawandty?«

Du neigst nachdenklich den Kopf wie eine Gastrokritikerin. »Sawan. Das muss von Sawan sein.«

Du liegst wieder mal falsch, und ich mache noch mal ein Buzzergeräusch, und du bist temperamentvoll und sagst, dass du eines Tages verdammt noch mal gewinnen wirst, und ich lächle. »Ich finde, wir haben beide gewonnen, Mary Kay.«

Du weißt, dass ich damit nicht diesen albernen Thai-Essen-Geschmackstest meine, und du wischst dir eine Lachträne von der Wange. »Oh, Joe, du machst mich fertig. Wirklich.«

Du sagst jeden Tag solche Sachen zu mir, und wir sollten jetzt nackt auf dem Roten Bett liegen. Wir sind schon auf dem Weg dorthin. Deine Wangen sind rosig, und du hast mich schon befördert. Ich bin jetzt der Belletristik-Experte und habe einen neuen Themenbereich in der Bibliothek eingerichtet, der »Die Leisen« heißt, und in dem wir weniger bekannte Werke renommierter Autoren präsentieren, wie beispielsweise The Narrows von Ann Petry. Du hast gesagt, dass es dich freut, wenn Bücher neue Augen finden, und als du dann weggegangen bist, wusstest du, dass ich dir hinterherschaue und sehe, wie du mit dem Hintern wackelst. In der Bibliothek klebst du bei jeder sich bietenden Gelegenheit förmlich an mir, und hier klebst du auch an mir, auf dem Zweiersofa, und warnst mich, dass Fäkalauge mich womöglich auf Nextdoor anschwärzen könnte.

»Also, ich bitte dich«, sage ich. »Ich habe eine Zeitung geklaut. Ich habe doch nicht ihren Hund gestohlen. Und die Leute auf Nextdoor sind doch auch nicht anders als ihr hier. Um zehn Uhr abends gehen die Lichter aus.«

»Also, ich bitte dich«, entgegnest du frech. »Du genießt es doch, die rebellische Nachteule zu mimen. Ich wette, du bleibst die ganze Nacht wach, rauchst Kette und liest Bukowski.«

Ich mag es, wenn du mich neckst, und ich lächle. »Da wir gerade davon sprechen. Mit Bukowski könntest du Nomi vielleicht von ihrem Columbine-Trip herunterholen.«

»Gute Idee. Vielleicht fange ich mit Das Liebesleben der Hyäne an …« Du weißt meine Einfälle immer zu schätzen – ich liebe dein Gehirn – und frage dich, was Bukowski deiner Meinung nach von meiner fäkaläugigen Nachbarin gehalten hätte, und du lachst und verschluckst dich dabei an deinem Rindfleisch, meinem Fleisch, und du hältst dir den Bauch – neuerdings schmerzt er öfter, wegen der Schmetterlinge und unsrer Insiderwitze. Ich klopfe dir auf den Rücken – ich bin fürsorglich –, und du trinkst etwas von deinem Wasser und atmest tief durch. »Vielen Dank«, sagst du. »Ich dachte schon, ich werde ohnmächtig.«

Gern würde ich deine Hand halten, aber das kann ich nicht tun. Noch nicht. Du nimmst dein Handy – nein – und lässt die Schultern hängen, und ich kenne deine Körpersprache. Ich kann dir ansehen, wann das Erdmännchen dir schreibt – du setzt dich dann immer etwas gerader hin –, oder wann es nicht das Erdmännchen ist, so wie jetzt. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, Mary Kay – es ist wirklich unglaublich, wie einfach es ist, eine Frau kennenzulernen, die einem online folgt! –, und ich kenne die Menschen in deinem Leben, in deinem Handy.

»Alles in Ordnung?«, frage ich.

»Na klar«, sagst du. »Entschuldige, das ist mein Freund Seamus. Dauert nur einen Augenblick.«

»Ach was«, sage ich. »Lass dir ruhig Zeit.«

Ich weiß, Mary Kay. Du hast hier ein »Leben«, und das dreht sich hauptsächlich um deine Tochter. Aber du hast auch noch Freunde, zu denen unter anderem Seamus Fucking Cooley gehört. Du bist mit ihm auf der Highschool gewesen – gähn –, und ihm gehört ein kleiner Baumarkt. Korrektur: Er hat den Markt von seinen Eltern geerbt. Jedes Mal, wenn er dir schreibt, jammert er über irgendeine Zweiundzwanzigjährige, die ihm das Hirn verwirrt – ha! –, und du bedauerst ihn. Du sagst immer, dass er sensibel ist, weil er relativ klein ist und deswegen früher gepiesackt wurde – ich wette, diese idiotischen Bullys haben ihn immer Shortus genannt –, und ich verkneife mir jedes Mal, einen Kommentar abzugeben: Schau dir doch mal Tom Fucking Cruise an! – und du schreibst noch immer.

»Tut mir leid«, sagst du. »Ich weiß, das ist unhöflich.«

»Auf keinen Fall.«

Wenn ich dafür sorge, dass du dich besser fühlst, fühle auch ich mich besser. Aber das ist nicht so einfach, Mary Kay. Jedes Mal, wenn ich dich frage, ob wir einen Kaffee trinken wollen, oder ich dich einlade, kurz vorbeizuschauen, sagst du, dass du wegen Nomi nicht kannst, wegen deiner Freunde. Ich weiß, dass du mich willst – deine Röcke werden jeden Tag kürzer, deine Murakami ist scharf auf mich –, und ich komme früher und bleibe noch, wenn meine Schicht schon zu Ende ist. Du kannst nicht genug von mir bekommen und bist verwöhnt, weil ich fast jeden Tag hier bin. Du schickst mich nie nach Hause, und wenn du darüber witzelst, dass wir beide noch auf dem Parkplatz herumlungern, sage ich, dass wir eine Weile dort bleiben. Das gefällt dir. Und obendrein gefallen dir auch noch all meine verdammten Fotos.

@LadyMaryKay gefällt dein Foto.

@LadyMaryKay gefällt dein Foto.

@LadyMaryKay WILLDICHFICKEN, UNDSIEISTWÄHLERISCHUNDZURÜCKHALTENDUNDGEDULDIG, UNDSIEHATENDLICHEINENGUTENMANNGEFUNDEN, UNDDERBISTDU, JOE. DUBISTDERRICHTIGE. SEIGEDULDIG. SIEISTMUTTER. SIEISTDEINBOSS. WENNSIEDICHANBAGGERT, KÖNNTESIEDAFÜRGEFEUERTWERDEN!

Endlich steckst du das Handy in die Tasche zurück. »Uff, ich glaube, ich brauche einen Drink.«

»So schlimm, hm?«

»Ja«, sagst du. »Ich habe dir, glaube ich, doch schon mal erzählt, dass er eine Hütte in den Bergen hat …«

Du hast mir schon von seiner dämlichen Hütte erzählt, und ich bin nicht unbedingt begeistert. Ich habe sein Instagram-Profil gesehen. Er liest nicht gern und hat sich seinen Bizeps bei CrossFit gekauft. »Ich denke schon, ja, klar.«

»Er hat diese Frau mit dorthin genommen, und sie hat sich die ganze Zeit über nur beschwert, dass sie kein WLAN hatte. Und dann hat sie ihn auch noch sitzen lassen.«

»Ach du Schande.«

»Ja«, sagst du. »Und ich weiß, wie übel das klingt, die übliche Geschichte von einem Kerl mittleren Alters, der sich an zweiundzwanzigjährige Frauen ranmacht, aber« – es gibt kein aber, das ist einfach nur übel – »du weißt doch, wie das ist. Er ist wie ein Bruder für mich. Er ist unsicher …« Nein. Er ist einfach nur ein Mann. »Und er tut mir leid. Er tut so viel für diese Insel. Er ist wirklich ein Heiliger. Andauernd spendet er Bücher …« HUNDERT RIESEN, SCHÄTZCHEN. »Er ist für uns so etwas wie Der freigebige Baum …«

Kein Mann ist eine Insel oder ein Baum, aber ich lächle. »Den Eindruck habe ich auch«, sage ich. »Ich habe Plakate für seinen Cooley – Fünftausendmeterlauf und die Cooley – ›Straßenreinigungstruppe‹ gesehen. Aber vielleicht sollte er, anstatt so viel für andere zu tun …« Oh Mann, das tut weh. »Vielleicht sollte er mal allein zu dieser Hütte fahren, damit er wieder einen klaren Kopf bekommt.«

»Klar«, sagst du. Klar. »Und das wäre bestimmt das Klügste, weil er mit Frauen nämlich immer unglaubliches Pech hat.«

Sorry, Mary Kay, aber wenn du meine Ex-Frauen kennen würdest … »Er hat Glück, dich zu haben.«

Du errötest. Du bist still, zu still, und du willst diesen verdammten Mann doch nicht, oder? Nein. Wenn du ihn wolltest, dann hättest du ihn schon, denn sieh dich doch nur an. Du seufzt. Seufzer sind ein Zeichen für Schuldgefühle – und okay. Er will dich, und du willst ihn nicht – du willst mich –, und du zuckst mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Es ist einfach selbstverständlich für mich, anderen zu helfen, für sie da zu sein …«

In dieser Hinsicht sind wir gleich, Mary Kay. Nur pflegen wir einen unterschiedlichen Stil. »Das kann ich nachfühlen.«

Wir sind wieder still, uns näher als noch vor einer Stunde. Bei meinem Mr-Saubermann-Plan geht es inzwischen nicht mehr nur um mich allein. Es geht um uns und darum, dass wir zusammen gut sein können. Ich habe geschworen, dass ich niemals jemandem deinetwegen Schaden zufügen werde, nicht mal dem Kerl, dem der Baumarkt gehört, wo die weiblichen Angestellten in engen Jeans und engen Shirts mit dem Cooley-Namenszug umherschweben. Ich bin so freundlich wie du. Ich bin so gut wie du. Ich schlucke. Ich wage es. »Vielleicht könnten wir später etwas trinken gehen …«

Du drückst die Hand auf dein Oberteil. Heute ist es ein Pullover mit tiefem V-Ausschnitt, ziemlich tief für eine Bibliothekarin, die sich oft bückt. Sag Ja. »Ich wünschte, das ginge«, sagst du und stehst auf. »Aber wir haben heute Mädelsabend, und ich sollte lieber wieder reingehen.«

Ich stehe auf, weil ich stehen muss. »Kein Thema«, sage ich. »War nur so eine Idee.«

Wir verweilen noch bei dem Sofa, als könnten wir es nicht ertragen hineinzugehen, und die Zeit verlangsamt sich, wie es immer vor einem ersten Kuss passiert, und wir müssen uns unbedingt küssen. Du solltest mich küssen, oder ich sollte dich küssen, und es ist Herbst, und du verliebst dich gerade in mich, und ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt, wie wenn ich mit dir zusammen bin. Ein unsichtbarer Faden zieht unsre Körper zueinander, doch du gehst zur Tür. »Hey, falls wir uns nicht mehr sehen sollten: Ich wünsche dir ein schönes Wochenende!«

Sechs Stunden später, und ich HABE VERDAMMT NOCH MAL KEIN SCHÖNES WOCHENENDE, MARY KAY. Ich möchte meine Freizeit mit dir verbringen und, okay. Du hast mich nicht belogen. Du bist nicht mit Seamus ausgegangen – er sitzt in einer Bar herum und schaut sich ein Fußballspiel an, weil die Leute hier Fußball mögen –, sondern du bist mit Melanda in der Eleven Winery.

Sie ist deine »beste Freundin«, und auf Instagram ist sie @MelandaMatriarchat – o weh – und hat Gloria Steinems Geburtstag gefeiert, indem sie ein Bild gepostet hat von … Melanda. Die Frau ist Englischlehrerin, sie ist die Lehrerin deiner Tochter und nervt in den Kommentaren dein Erdmännchen ständig, dass sie aufhören soll, Dylan Klebold zu verklären – schon mal was von Grenzen gehört? –, aber du siehst nur das Beste in den Menschen. Melanda war deine erste Freundin auf Bainbridge, und sie hat dir auf der Highschool »das Leben gerettet«, und wenn sie Instagram-Befehle ausgibt wie GLAUBT ALLEN FRAUEN – in diesem Fall steht dieser Befehl auf einem T-Shirt, das sich über ihren unnötig großen Brüsten spannt –, na ja, dann likst du verdammt noch mal jeden einzelnen.

Und das tust du, obwohl sie nicht jedes deiner Bilder likt – du bist ein besserer Mensch, genau wie ich – und wenn sie in die Eleven Winery gehen und über ihre OkCupid-Dates meckern will – regelmäßig jeden Dienstag und Freitag –, dann gehst du mit.

Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass ich mit dir zusammen sein sollte, dass Melanda mit Shortus zusammen sein sollte. Aber die beiden sind zwei Seiten derselben Münze. Ihr gefällt es, Männer zu verabscheuen, weil sie zu reserviert ist, um wahre Liebe zu finden – deine Worte, nicht meine –, und dieser Waschlappen will ein Mädel, das ihm seinen Shortus lutscht. Und dann vibriert mein Handy. Du bist es.

Du: Wie ist dein Abend?

Ich: Ich beiße mich so durch. Wie ist der Mädelsabend?

Du: Du meinst Frauenabend.

Das sind die ersten Nachrichten, die wir miteinander austauschen – JUHU! –, und ich merke, dass du etwas angetrunken bist. Ich möchte mir am liebsten auf die Brust trommeln und die Faust in die Luft recken, weil ich darauf gewartet habe, dass du dich bei mir meldest, und ich habe mich nicht bei dir gemeldet, weil ich paranoid sein muss. Ich weiß, wie es in dieser antiromantischen Welt läuft. Ich durfte nicht derjenige sein, der sich auf deinem privaten Handy meldet, weil mir das Unrechtssystem diese harmlose Geste als »Stalking« auslegen könnte. So ist das Leben, wenn man keine »Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei«-Karte hat, aber es sieht ganz so aus, als wäre das Leben schön. Du hast es getan, Mary Kay! Du hast die Grenze überschritten und mir nach Feierabend eine Nachricht geschickt, und die Bibliothek ist geschlossen, aber du bist offen. Und was für ein Glück, dass ich mich heute Abend ins IslaBonita gequält habe – noch ein Volltreffer! –, denn jetzt weißt du, dass ich nicht nur zu Hause herumsitze und mich nach dir verzehre. Ich bin genau wie du, bin mit meinen Freunden in der Stadt unterwegs – auf den Aufnahmen der Überwachungskamera würden die anderen Männer in der Bar wie meine »Freunde« wirken –, und jetzt hast du meinetwegen FOMO – oder besser gesagt: Angst, ich könnte dir durch die Lappen gehen.

Ich: Also ich habe heute JUNGSabend. Bier und Nachos und Fußball im Isla.

Du brauchst einen Moment. Es macht dich fertig zu wissen, dass ich mich ebenfalls im Winslow Way aufhalte, fünfundsiebzig Meter von dir entfernt. Na los, Mary Kay. Kipp den Wein weg und komm zu mir.

Du: Du bringst mich zum Lachen.

Ich: Gelegentlich genehmigen sich Jungs und Frauen in der gleichen Bar ein Gläschen.

Du: Melanda hasst Sportbars. Ist eine lange Geschichte. Der Barkeeper war mal unhöflich zu ihr.

Ich möchte wetten, dass jeder Barkeeper im ganzen Staat schon mal unhöflich zu Melanda war, aber andererseits ist es bestimmt auch nicht einfach, Melanda zu sein. Ich mache ein Foto von den Autoaufklebern hinter der Bar – MEIN BARKEEPER KANN DEINEN THERAPEUTEN IN DIE TASCHE STECKEN, und ICH HABE KEIN GESINNUNGSPROBLEM – DU BIST EIN ARSCHLOCH –, und ich schicke es dir, und dann schreibe ich dir.

Ich: Sag deiner Freundin Melanda, dass ich das verstehen kann.

Du: Ich liebe dich.

Ich: Benommen. Liebestrunken. Sprachlos. Auf Wolke 9000. Ich starre das Handy an, die Pünktchen, die anzeigen, dass gleich noch mehr kommt, und dann bumm.

Du: Vertippt.Ichwollteschreiben,ichliebedeinFoto.UngeschickteFinger.Lol,sorry,istnur,weil …klar …Wein.

Mein Herz hämmert, und du liebst mich. Du hast es gesagt. Die Leute um mich herum ahnen nichts, aber Van Morrison feuert uns aus den Lautsprechern an – an diesem Abend scheint alles brandneu zu sein, und es fühlt sich alles brandneu an –, und was zum Teufel soll ich tun?

Du willst mich. Ich will dich. Scheiß drauf.

Ich bin draußen, auf dem Weg zur Eleven Winery, schon bald näher als Hautnah, doch dann bleibe ich ganz plötzlich stehen.

Ja, du hast mir geschrieben, wo du bist, aber du hast mich nicht eingeladen, zu euch zu stoßen. Und nehmen wir mal an, ich würde euren Frauenabend stören. Soll so unsere Liebesgeschichte beginnen? Tief drin weiß ich, dass die Insel-Verhaltensregel für nette Kerle es gebietet, dir verdammt noch mal »Freiraum« zu gewähren. Die Wände des Eleven sind dünn, und ich höre Gelächter in »deiner Bar«. Du bist nicht nur mit deiner besten Freundin zusammen. Du kennst viele der Flanell tragenden Stadtbewohner dort drinnen, und ich möchte dich von dieser geräuschvollen Langeweile retten, die mit unserem Turteltauben-Mittagessen im Garten auf keinen Fall mithalten kann.

Aber ich kann dich nicht retten, Mary Kay. Heute Abend haben wir einen Fortschritt gemacht – du hast mir geschrieben, du hast es begonnen –, und ich will das sein, woran du morgen früh denkst, wenn du aufwachst. Es fällt mir nicht leicht, aber ich stehle mich in die dunklen Straßen davon, entferne mich vom Klang deiner Stimme. Bevor ich zu Hause ankomme, lächle ich wieder, denn, hey, heute war trotzdem ein wichtiger Abend für uns. Da waren all diese Leute, mit denen du dich hättest unterhalten können, sogar deine verfluchte beste Freundin, aber das hat dir nicht genügt, nicht wahr? Du hast das Handy genommen und mir geschrieben. Unhöflich. Besessen. Frech. Aber natürlich konntest du nicht anders.

Schließlich liebst du mich.

Und du kannst mir erzählen, dass du es nicht so gemeint hast. Du kannst es darauf schieben, dass du getrunken hast. Du kannst sagen, dass du nicht aufgepasst hast. Aber jede Person mit einem Handy weiß, dass es sehr wenige echte Fehler gibt, wenn es darum geht, was wir aufschreiben, vor allem nachdem wir ein paar Drinks intus haben. Du hast es gesagt, und zu einem gewissen Grad hast du es so gemeint, und deine Worte sind nun meine, und in der Dunkelheit leuchten sie auf meinem Display.

Ausnahmsweise schlafe ich gut, als ob deine Liebe bereits ihre Magie wirkt.

3

Alle, die nur fürs Wochenende arbeiten, können mich mal kreuzweise. Ich hasse die Wochenenden auf dieser Insel, tonnenweise dröge, brunchige Zeit, in der Familien und Paare zusammenkommen, um die gemeinsamen Stunden zu genießen, ohne Rücksicht auf mich zu nehmen, während ich allein bin und dich so sehr vermisse, dass ich zum Town & Country-Supermarkt laufe – zu deinem Supermarkt – in der Hoffnung, dich irgendwann an diesem Wochenende zufällig zu treffen, solange dein Ich-Liebe-Dich noch frisch ist, noch neu.

Leider haben wir uns am Samstag und auch am Sonntag verpasst. Aber leckt mich, ihr Wochenendfanatiker, denn endlich ist es Montag.