Zaubernacht - Steven Millhauser - E-Book

Zaubernacht E-Book

Steven Millhauser

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Beschreibung

Im Schein eines magischen Vollmonds entfliehen die rastlosen Träumer und Liebenden einer Kleinstadt in Connecticut ihren friedlichen Häusern. Wir begegnen einem Mann, der auf dem Dachboden seiner Mutter lebt, wo er seit Jahren jede Nacht an seinem Opus Magnum schreibt, einer Mädchenbande, die in Häuser einbricht und die Nachricht "Wir sind eure Töchter" hinterlässt, und einer jungen Frau, die auf der Schaukel in ihrem Garten einen traumhaften Geliebten findet. Eine wunderschöne Schaufensterpuppe steigt aus ihrem Kaufhausschaufenster und die Kinder der Stadt werden von einem Flötenspieler aus ihren Betten gelockt, während auf dem Dachboden ihre längst vergessenen Puppen wie durch Zauberhand lebendig werden. Mit Zaubernacht präsentiert Pulitzer-Preisträger Steven Millhauser eine bemerkenswerte Geschichte über Einsamkeit und Sehnsucht, die durch ihre hypnotische, melodische und detailreiche Sprache besticht. Indem er die banale Nachbarschaft einer sicheren, langweiligen Vorstadt mit einem Hauch des Aufregenden und Phantastischen durchtränkt, lädt er die Leser in eine zauberhafte Welt ein, in der nichts unmöglich scheint.

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Seitenzahl: 452

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autor und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

Leseproben

Steven Millhauser - Edwin Mullhouse

Steven Millhauser - Stimmen in der Nacht

Jan Kjaerstad - Der König von Europa

Jan Kjaerstad - Ich bin die Walker Brüder

Shusaku Endo - Schweigen

Shusaku Endo - Samurai

Rodrigo Rey Rosa - Die Gehörlosen

José Luís Peixoto - Das Haus im Dunkel

Ryu Murakami - Coin Locker Babys

Ryu Murakami - Das Casting

Andrea Stefanoni - Die erinnerte Insel

Peter Rosegger - Weltgift

Fußnoten

Originaltitel: Enchanted Night: A Novella

© 2000 by Steven Millhauser

© der deutschen Ausgabe: 2016, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Christie Jagenteufel

Cover und Satz: Jürgen Schütz

Cover bild: © hitdelight – Fotolia.com

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-90306-38-5

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-54-0

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twittter.com/septimeverlag

Steven Millhauser

geboren 1943, verbrachte seine Kindheit in New York und Connecticut. Er studierte bis 1965 an der Columbia University. Von 1968 bis 1971 studierte er an der Brown University mit dem Ziel einer Promotion über die Literatur des Mittelalters und der Renaissance. 1971 brach er dieses Studium ab und wandte sich der Schriftstellerei zu. 



Steven Millhauser erhielt für Edwin Mullhouse unter anderem 1975 den französischen »Prix Médicis Étranger«, es folgten 1990 der World Fantasy Award und 1997 der Pulitzerpreis für seinen Roman Martin Dressler.



Millhauser ist Mitglied der American Academy of Arts and Sciences.



Klappentext

Im Schein eines magischen Vollmonds entfliehen die rastlosen Träumer und Liebenden einer Kleinstadt in Connecticut ihren friedlichen Häusern. Wir begegnen einem Mann, der auf dem Dachboden seiner Mutter lebt, wo er seit Jahren jede Nacht an seinem Opus Magnum schreibt, einer Mädchenbande, die in Häuser einbricht und die Nachricht »Wir sind eure Töchter« hinterlässt, und einer jungen Frau, die auf der Schaukel in ihrem Garten einen traumhaften Geliebten findet. Eine wunderschöne Schaufensterpuppe steigt aus ihrem Kaufhausschaufenster und die Kinder der Stadt werden von einem Flötenspieler aus ihren Betten gelockt, während auf dem Dachboden ihre längst vergessenen Puppen wie durch Zauberhand lebendig werden.

Mit Zaubernacht präsentiert Pulitzer-Preisträger Steven Millhauser eine bemerkenswerte Geschichte über Einsamkeit und Sehnsucht, die durch ihre hypnotische, melodische und detailreiche Sprache besticht. Indem er die banale Nachbarschaft einer sicheren, langweiligen Vorstadt mit einem Hauch des Aufregenden und Phantastischen durchtränkt, lädt er die Leser in eine zauberhafte Welt ein, in der nichts unmöglich scheint.

»Wundervoll … eine Mini-Oper … die kollektiven Dramen, aus denen Zaubernacht sich zusammensetzt,

sind geradezu verblüffend akustisch, visuell und symbolhaft … von der ersten bis zur letzten Seite ist Millhausers Stil sinnlich, rhythmisch und unglaublich farbenfroh.«

Newsday

»Ein unwiderstehliches Kammerstück in Form einer Novelle … Millhauser ist ein Virtuose darin, Träumen Leben einzuhauchen.«

The New Yorker

Steven Millhauser

Zaubernacht

Novelle

Aus dem Englischen von Sabrina Gmeiner

Mach zum Tag die Finsternis,

Göttin strahlend von Gesicht.

Rastlos

Eine heiße Sommernacht im Süden Connecticuts. Das Meer zieht sich zurück und der Mond steigt noch immer auf. Laura Engstrom, vierzehn Jahre alt, richtet sich in ihrem Bett auf und schlägt die Bettdecke zurück. Ihre Stirn ist feucht, ihr Haar fühlt sich nass an. Durch die Fliegengitter der beiden halb geöffneten Fenster hindurch hört sie das raue Zirpen der Grillen und den dumpfen Verkehr von der weit entfernten Schnellstraße. Fünf nach zwölf. Wissen Sie, wo Ihre Kinder sind? Im Zimmer ist es so heiß, dass die Hitze ihr einer Hand gleich die Kehle zuschnürt. Raus hier, los jetzt. Durch die Zwischenräume der leicht hochgezogenen Jalousien fließt Mondlicht ins Zimmer. Sie kann nicht atmen in diesem Zimmer, in diesem Haus. Um Himmels willen, unternimm etwas. Mach schon. Die Grillen werden lauter. Der Duft des frisch geschnittenen Grases vermischt sich dank der Ebbe mit dem salzigen Duft des vier Wohnblocks entfernt liegenden Meeres. Sie stellt sich vor, sie wäre dort draußen, am nächtlichen Strand, sanft brechende Wellen, knirschender Sand, die Stühle der Rettungsschwimmer ragen weiß und blank unter dem Mond in den Himmel, doch der Gedanke beunruhigt sie – sie fühlt sich entblößt, ein Mädchen im Mondschein, da draußen im Freien, den Blicken anderer ausgesetzt. Sie will nicht, dass jemand sie ansieht. Niemand darf an ihren Körper denken. Doch sie kann nicht in ihrem Zimmer bleiben, oh nein. Wenn sie nicht sofort etwas unternimmt, auf der Stelle, wird sie losschreien. Es juckt sie unter der Haut. Es juckt bis in die Knochen. Nur, wie kratzt man seine Knochen? Laura tritt auf den geknüpften Teppich neben ihrem Bett und schlüpft in ihre Jeans. Sie sind so eng, dass sie ihren flachen Bauch einziehen muss, um den kupfernen Knopf durch das Loch drücken zu können. Sie zieht ihr Nachthemd aus und streift ein T-Shirt über – ohne BH – und eine Jeansjacke mit einer Beule in der Tasche: Eine halbe Rolle Life-Savers-Bonbons. Sie muss hier raus, sie muss atmen. Wenn du nicht atmest, bist du tot. Dieses Zimmer bringt sie um. Sie wird nicht weit weggehen.

Chor der Nachtstimmen

Dies ist die Nacht der Offenbarung. Dies ist die Nacht, da die Puppen erwachen. Dies ist die Nacht des Träumers auf dem Dachboden. Dies ist die Nacht des Flötenspielers im Wald.

Der Mann auf dem Dachboden

Als seine armbandlose Uhr exakt Mitternacht zeigt, legt Haverstraw seinen sechskantigen gelben Bleistift, Härte 2, neben sein spiralgebundenes Notizbuch, das er geöffnet auf dem Tisch liegen lässt, und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Für einen kurzen Augenblick überkommt ihn ein Schwindel und er hält sich an der Kante des Schreibtisches fest. In der Dachbodenkammer ist es heiß und die Luft wirkt abgestanden und stickig, obwohl der vierundzwanzig Jahre alte ratternde Fensterventilator die warme Luft hinausbefördern und stattdessen kühle Luft zurücklassen sollte. Die Dachbodenkammer, deren Wände mit Bücherregalen gesäumt sind, befindet sich über der zweiten Etage des Hauses, in der sich das Schlafzimmer seiner Mutter befindet. Auch Haverstraws Schlafzimmer ist in der zweiten Etage, doch er zieht es vor, in dem alten Gästebett seines Arbeitszimmers auf dem Dachboden zu schlafen. Die Matratze hängt durch, seine Füße ragen über den Bettrand und der Raum ist im Winter schlecht beheizt, doch Haverstraw legt keinen Wert auf Komfort. Haverstraw ist neununddreißig Jahre alt und lebt bei seiner sechsundsechzigjährigen Mutter. Die vergangenen neun Jahre verbrachte er mit der Arbeit an einem bedeutenden Projekt, einem Gedankenexperiment, das sein Verhalten rechtfertigen wird. Heute Nacht kam er mit dem Schreiben gut voran, zumindest nicht schlecht, obwohl ihn seine Gedankengänge womöglich etwas irregeleitet hatten. Plötzlich hat er das Gefühl, sein gesamtes Projekt wäre irregeleitet, sein ganzes Leben wäre irregeleitet, doch dieser Gedanke ist so furchteinflößend, dass er ihn sofort wieder unterdrückt. Er muss hinaus und einen nächtlichen Spaziergang machen. Seine wachen Stunden sind in drei Abschnitte gegliedert: Von ein Uhr nachmittags bis sechs Uhr abends bringt er den Tag so schnell wie möglich hinter sich, von sieben Uhr bis Mitternacht schreibt er, und von Mitternacht bis fünf Uhr morgens bringt er die Nacht so schnell wie möglich hinter sich. Von fünf Uhr morgens bis ein Uhr nachmittags schläft er. Abendessen mit seiner Mutter ist von sechs bis sieben Uhr – immer. Seine Arbeit wird sein Verhalten rechtfertigen. Die Leute werden verstehen. Sein guter Ruf wird wiederhergestellt sein. Erinnert ihr euch an den alten Haverstraw? Der Typ, der auf dem Dachboden gelebt hat? Nun ja! Offenbar hat er –. Wie sich nun herausstellt, war er –. Haverstraw muss ins Freie und sich die Beine vertreten. Er knipst die nach unten geschwungene Stehlampe aus, schiebt seinen Stuhl zurück – ein alter Küchenstuhl mit einem Sitzkissen – und steht auf, wobei er sich fragt, ob er sich wegen dieser leichten Schwindelanfälle Sorgen machen sollte. Immerhin ist er ein beinahe vierzig Jahre alter Mann, der in einer Sackgasse steckt. Sein Rücken schmerzt. Seine Augen brennen. Sein Leben schmerzt. Die Leute werden sein Verhalten verstehen. Er nimmt seine armbandlose Uhr und steckt sie in die Tasche. Haverstraw geht durch das Zimmer, schaltet das Licht aus und geht durch den unfertigen Teil des Dachbodens, der mit den zurückgelassenen Spielsachen seiner Jugendtage und den Stofftieren seiner Kindheit vollgestopft ist. Er wirft niemals etwas weg. Irgendwo in einem Schuhkarton sind dreißig Jahre alte Überraschungen aus Frühstücksflockenkartons, immer noch in der transparenten, knisternden Kunststoffverpackung. In einer der Schubladen der alten Kommode stapeln sich alte Sammelkarten aus Kaugummipackungen, von denen noch nie jemand etwas gehört hat: Science-Fiction-Karten, Karten mit Filmstars, Karten mit Feuerwehrautos. Noch immer hat er sein altes Schülerlotsenabzeichen auf dem weißen Band, seine alten, von Kunststoffpatronen durchlöcherten Papierzielscheiben. Er sollte den ganzen Kram in den Müll werfen, doch das wäre, als werfe er seine Kindheit in den Müll. Auf Zehenspitzen schleicht Haverstraw die hölzerne Dachbodentreppe hinunter, bewegt sich in der Dunkelheit durch den Flur im zweiten Stock, an seiner schlafenden Mutter vorbei – er kann sie atmen hören – und steigt die mit Teppich ausgelegte Treppe hinunter. Auf dem dunklen Treppenabsatz passiert er ein unsichtbares schwarzes Bild: Hokusais Große Welle. Vor seinem inneren Auge kann er deutlich die kleinen gelben Boote sehen, die kleinen weißen Köpfe, die sich aufbäumenden Wellen, die er als Kind als so furchterregend empfunden hatte, und weit in der Ferne die wellengleiche Spitze des Fujiyama. Er nimmt die Treppe weiter bis zum Eingangsbereich. Von einem Haken des wackeligen Garderobenständers nimmt er seine blaue Nylonwindjacke. Leise öffnet er die Haustür, seine Mutter hat einen leichten Schlaf. Als er hinaustritt, sieht er, hoch oben am tiefblauen Himmel, den großen weißen Sommermond. Sein Herz macht einen Sprung. Die Nacht wird ihm Vergebung schenken.

Der Traum der Schaufensterpuppe

In der Auslage des Kaufhauses der Main Street steht die Schaufensterpuppe in ihrer nächtlichen Pracht. Ihre dunkelgrünen Sonnenbrillen, schwarz im rot beleuchteten Fenster, geben ihr Geheimnis preis: Sie sind eine Form von Schmuck, den sie lediglich trägt, um ihrer kleinen, zarten Nase und ihren wunderschön geformten Lippen mehr Eleganz zu verleihen, um sie in eine verführerische, geheimnisvolle Aura zu hüllen. Ihr helles Sommerkleid, weich wie Rosenblätter, schmiegt sich an ihre schmalen Hüften und an ihre langen, langen Beine, das eine etwas vor das andere geschoben. Sie trägt einen weißen Strohhut mit breiter Krempe, der leicht schräg sitzt, und weiße Ledersandalen. Während die Ampel zwischen Rot und Grün wechselt, leuchtet ihre harte, samtige Haut mal rot, mal grün. Sie hält einen nackten Arm vor sich erhoben, die Finger graziös ausgestreckt, in einer Geste, die bei einer gewöhnlichen Person einen Gruß darstellen könnte, bei ihr jedoch den Kreis ihrer perfekten Selbstinszenierung schließt. Die Starre ihrer Haltung weckt in der Schaufensterpuppe eine geheime Begierde: Sie träumt davon, befreit zu werden, davon, ihre Deckung aufzugeben, sich genussvoll in die Bewegung fallen zu lassen. Manchmal kommt es ihr vor, als warte sie einfach nur – als warte sie auf den Moment, in dem sie ihre Beherrschung ein wenig lockern könne. Dann wird der schöne Arm hinabfallen, ihre ernste Reglosigkeit wird sich in Bewegung auflösen. In diesem Augenblick der undenkbaren Ohnmacht wird sich alles ändern: Sie wird ihr Ich für immer zurücklassen. Und bei diesem Gedanken, bei dem ihre Beine zu kribbeln beginnen, überkommt sie erneut eine wachsame Starre, denn das Einzige, was sie niemals tun darf, ist, sich zu verraten.

Gesetzlose

Als Haverstraw auf seinem Weg zu Mrs. Kasco unter der Schnellstraßenüberführung hervortritt, nimmt er in den schwarzen Bäumen neben dem flachen weißen Ziegelgebäude, das umsichtig von der Straße abgerückt errichtet worden war, eine Bewegung wahr. Haverstraw bezeichnete es in Gedanken stets als das Dings-Gebäude, obwohl er wusste, dass es die Zentrale eines Konzerns war, der Kugellager produziert. Er erinnert sich noch daran, als das Grundstück eine bewaldete Parzelle zwischen dem Fahrdamm der Schnellstraße und einem Hinterhof mit einem Picknick-Tisch war. Von den Straßenlaternen auf dem Parkplatz fällt dumpfes Licht auf die Bäume und hinterlässt verlockende schwarze Schattenbüschel. Haverstraw fragt sich, ob er die Gestalt eines Mädchens in der Dunkelheit verschwinden sieht. Er denkt an die Bande von Gesetzlosen, von der die Stadt seit Kurzem heimgesucht wird: Eine Highschool-Mädchen-Gang, fünf oder sechs an der Zahl, die in der Nacht in Häuser einbricht, Lebensmittel aus den Küchen entwendet und kleine, unbedeutende Dinge wie Kühlschrankmagneten, Zahnbürsten und Brillenetuis stiehlt. Jedes Mal hinterlassen sie, fein säuberlich in Großbuchstaben geschrieben, die Nachricht: Wir sind eure Töchter. Die Mädchen sind raffiniert und bestens vorbereitet: Sie dringen durch unverschlossene Hintertüren oder Kellerfenster ein, gelangen geräuschlos ins Haus und lassen sich immer im Wohnzimmer nieder, bevor sie sich wieder davonstehlen. Einmal wurden drei von ihnen gesichtet, als sie durch eine dunkle Küche huschten, doch als die Frau, die um ein Uhr nachts mit einem Glas Johnny Walker Red in der Küche saß, schreiend aufsprang und das Licht anknipste, waren die Mädchen verschwunden. Die Mütter der Stadt machen sich Sorgen und rufen regelmäßig die Polizei, doch Haverstraw ist fasziniert: Er beneidet die Mädchen um ihre Freiheit, ihre Verwegenheit, ihr Vergnügen am Gesetzesbruch, ihren Hang zur Ironie. Er hofft, dass sie dieses Haus überfallen und etwas stehlen werden.

Das Fenster

Halb eins. Die Digitaluhr wirft einen blauen Schimmer auf ihr auf dem Kissen ausgebreitetes Haar. Janet Manning, zwanzig Jahre alt, erwacht mit einem Mal in ihrem großen Schlafzimmer in der zweiten Etage. Ein Kieselstein war gegen ihr Fenster geschlagen. War ein Kieselstein gegen ihr Fenster geschlagen? Sie eilt zum Fenster neben dem dunklen Tisch, auf dem eine eingefallene Strandtasche steht, zieht das Rollo hoch und sieht hinunter auf den vom Mondlicht erhellten Garten hinter dem Haus. Die Seilschaukel hängt vom Silberahorn hinab. Im Garten, mondbeschienen und leer, ist lediglich der Schatten der Garage und das bläulich glänzende Grün des mondhellen Grases zu sehen. So grün, das Gras, so merkwürdig mondgrün, dass es grüner als grün erscheint: seidenblusengrün, augenlidgrün, das Grün durchsichtiger Murmeln aus ihrer Kindheit, die durch Sonne und Schatten rollen. Es gab keinen Plan, keine Vereinbarung, und doch hatte er sie, als er mit einem weißen Handtuch um den Hals am Strand gestanden hatte, auf eine gewisse Art angesehen und gesagt: Ich kann nicht bis morgen warten. Und sie hatte gesagt: Dann tu’s nicht! – und dabei gelacht. Dämliches Lachen! Das Lachen einer Vollidiotin. Sie findet ihn so schön, dass sie beim Gedanken an seinen Wangenknochen, der vom Wasser feucht in der Sonne funkelt, am liebsten aufschreien würde. Nervös fährt sie mit der Hand durchs Haar, zieht sie ruckartig wieder zurück. Ihr Haar ist eine Katastrophe. Es wäre besser, zurück ins Bett zu gehen, die Decke über den Kopf zu ziehen, allein zu leben, allein zu sterben, doch sie bleibt weiter auf ihren Knien vor dem Fenster, im Halbschlaf, erfüllt von Sehnsucht. Die Nacht erinnert sie an ein Gemälde, an das eine, das nur aus einem blauen Nachthimmel besteht, mit einem großen weißen Mond ganz oben und einem Clown im weißen Kostüm am unteren Rand. Schneekühle Nacht, die Luft kristallklar und still – und während sie in die Stille des Gartens hinuntersieht, ist sie plötzlich sechs Jahre alt und sieht in denselben Garten, in dem der Neuschnee unter dem brillanten Wintermond funkelt.

Der Flötenspieler im Wald

Vom Wald im nördlichen Teil der Stadt erhebt sich der Klang von Flötenmusik, düster und lieblich. Sie steigt in langsamen Wellen an, fällt ab, steigt in langsamen Wellen wieder an, fällt wieder ab, ein unermüdliches Ansteigen und Fallen, beharrlich, ein dunkles, lockendes Hallen, ein schläfriges Fallen. Womöglich ist es nur der Gesang eines Vogels, dort, in den dunklen Bäumen.

Auf dem Hügel

Auf dem bewaldeten Abhang hinter dem weißen Ziegelgebäude hält die Anführerin der Bande einen Moment lang inne, den Kopf zur Seite geneigt, die linke Hand erhoben. Sie ist ein hochgewachsenes Mädchen, lange Glieder, sehnig, schmale Hüften, gekleidet in enge Jeans und einen schwarzen Kapuzenpullover, das blonde Haar kurz, dicht und seitlich hinter die Ohren gekämmt. An einem Gummiband um ihren Hals hängt eine schwarze Augenmaske, die sie überstreifen wird, sobald sie ein Grundstück betritt. In ihrer Tasche ist ein Taschenmesser und sie ist bereit, es gegen jeden Angreifer einzusetzen. Sie wird niemals zulassen, dass jemand sie enttarnt. Ihr Name ist Linda Harris, doch sie nennt sich Summer Storm. Die anderen Mädchen, allesamt in Jeans und schwarzen Kapuzenpullovern, machen unter ihr Halt, wachsam, die Arme angespannt, die Köpfe erhoben. Summer Storm hört etwas in der Ferne, leise Musik, die ansteigt und abfällt. Es ähnelt etwas, an das sie sich erinnert oder an das zu erinnern sie knapp davor steht. Ganz in der Nähe, im Kies am Straßenrand unter ihnen, hört sie Schritte. Sie tritt zurück. Durch die Blätter hindurch sieht sie den hellen weißen Mond am tiefblauen Himmel. Vor dem Mond, ganz nah, schwarz und sehr präzise, zeichnet sich ein einzelnes Blatt des Zuckerahorns ab. Sie werden vorsichtig sein müssen, in dieser hellen Nacht. Summer Storm gibt ein Handzeichen und die Mädchenbande geht weiter.

Laura im Mondlicht

In der warmen Nachtluft, unter dem tiefblauen Himmel, ist Laura ruhiger: Jetzt kann sie atmen, draußen im Freien, als wäre die Vorstadtnacht unter dem weiten Himmel eine Prärie im Westen. Sie denkt an die Cowboys aus alten Filmen, Satteltaschen, schnaubende Pferde, Decken unter den Sternen. Yee-haw. Keine Bürgersteige hier – sie geht entlang des Straßenrandes, unter Straßenlaternen, die sich von Telefonmasten hinabbiegen. In dem orangefarbenen Licht kann sie beobachten, wie ihr Schatten länger und länger wird, ein Kaugummimädchen, ein Teleskopmädchen. Wohin soll sie gehen? Unter den Ästen von Zuckerahorn und Linden, nach Blättern duftend und von Mond- und Straßenlicht durchlöchert, entdeckt sie einige Blätter von leuchtendem, durchscheinendem Grün. Durch die leuchtenden Blätter hindurch kann sie die Schatten anderer Blätter erkennen. Dahinter, ganz unvermittelt, den sich ausdehnenden Nachthimmel der Prärie. Oh, begrabet mich nicht, in der einsamen Prä-rieee. Vorbei an den Farmhäusern ihrer Nachbarschaft, vorbei an den Rasensprengern, die im Mondlicht schimmern, vorbei an den Parken verboten-Schildern auf grünen Metallpfosten mit vertikalen Reihen aus Schraublöchern. Oh, wohin bloß? Sie fühlt sich rastlos und entblößt. Sie braucht einen Ort, an dem sie bleiben kann, einen Ort, an dem sie allein sein kann, weit weg von Basketballkörben und kleinen schwarzen Garagenfenstern, Ölfüllrohren, die aus den Rasen der Vorgärten ragen, und weiß getünchten Steinen am Rasenrand – einen ganz privaten Ort, im Freien, aber geheim wie ein Dachboden, wo niemand sie finden kann. Sie sieht hoch zum Mond, dort oben am Himmel. Er ist beinahe makellos rund, bis auf eine Seite, die etwas abgeflacht und verwischt wirkt, als hätte jemand mit dem Daumen darüber gerieben; und plötzlich überkommt sie das Verlangen, dort zu sein, in dieser weißen Glut, und unbemerkt auf die kleine Stadt hinabzusehen, auf die Spielzeughäuser mit ihren beweglichen Schornsteinen, auf die kleinen Ahornbäume und Straßenlaternen, auf die winzigen Menschen mit ihren winzigen Sorgen.

Eine Frau, die wartet

Mrs. Kasco, in ihrem mit roten und grünen Drachen verzierten Goldkimono, den sie zehn Jahre zuvor, als sie ihre Schwester in San Francisco besucht hatte, im Abverkauf in Japantown erstanden hatte, sitzt mit einer Zigarette und einem Glas Rotwein in einem alten Lehnstuhl und liest Jennie Gerhardt, während sie auf Haverstraw wartet. Es ist beinahe ein Uhr nachts, und freitags und samstags besucht er sie immer um ein Uhr. Sie kennt Haverstraw seit der Highschool, ein höflicher Junge mit rastlosen Augen, der mit ihrem Sohn Schach gespielt hatte, und immer noch sieht sie in ihm den siebzehnjährigen Jungen, obwohl er mittlerweile neununddreißig ist, und sie, du lieber Himmel, einundsechzig. Es gab eine Zeit, vor vielen Jahren, er war gerade frisch vom College gekommen, und ihr Ehemann und ihr Sohn waren nach Mexiko gezogen, da hätten sie ein Liebespaar werden können. Sie erinnert sich an gewisse eindringliche Blicke, die er ihr nervös zugeworfen hatte, doch diese Blicke waren immer von einem derart unnahbaren Auftreten begleitet gewesen, das alle möglichen Annäherungsversuche vereitelte, die sie sich gegenüber einem Jungen, der ebenso gut ihr eigener Sohn hätte sein können, ohnehin nicht erlaubt hätte. Und doch fragte sie sich, ob sie damals nicht einen Fehler gemacht hatte, in diesen Zeiten der anfänglichen Freundschaft, als er so offensichtlich vor etwas gerettet werden musste, armer Junge, mit seinen nervösen, eindringlichen Blicken und seinem Rededrang, doch natürlich hatte sie ihm nicht im Weg stehen wollen, sie hatte nicht diese Art Frau sein wollen. Aber dann hatte er sich mit seiner Mutter im Haus eingeschlossen, war in die Dachbodenkammer gezogen und hatte begonnen, einen seltsamen Tagesrhythmus zu pflegen. Und sie selbst war in eine günstigere Gegend gezogen, draußen bei der General Electrics-Fabrik am Stadtrand, hatte sich dort in einem zweigeschossigen Apartment in einem Ziegelreihenhaus eingemietet. Zweimal in der Woche pflegte er sie zu Besuchen, mit seinen Blicken und seinem Gerede, und immer schien eine Frage zwischen ihnen im Raum zu schweben. Das war lange her, und noch immer war sein Buch nicht fertig, es würde nie fertig werden, wobei, vielleicht eines Tages, wer weiß. Und hätte sie, damals vor fünfzehn Jahren, eine Hand auf seinen Arm legen und sagen sollen: Bitte bleib über Nacht? – Sie, die ältere Frau, die Frau mit Erfahrung. Sie hatte mit ihm nie über ihre Liebhaber gesprochen, nur über ihre Arbeit. Er versteht nicht besonders viel von der Welt, ihr Haverstraw. Sie fragt sich, ob sie, damals, mit ihren Fingern auf seinem Unterarm, hätte sagen sollen: Wieso kommst du nicht mit rauf? Im Schein der Glühbirne ist es heiß. Durch die Fliegengitter kann sie das Surren von Insekten – es sind Grillen – hören: Der Klang des Sommers.

Das Lied der Grillen

Dumdideldei,

Der Sommer ist vorbei,

Zzrp-zrrp hmmm.

Und im Nu,

Zzrp-zrrp hmmm,

stirbst auch du.

Zzrp-zrrp hmmm,

Zzrp-zrrp hmmm.

Drei junge Männer

In der Ecke des Büchereiparkplatzes stehen drei junge Männer im mondgesprenkelten Schatten einer Blutbuche. Das Licht einer Straßenlaterne scheint auf den frisch geteerten Belag, der seidig schwarz schimmert. Die jungen Männer stehen abseits des Lichts, im Schatten der Blätter, die nicht dicht genug sind, um das Mondlicht ganz auszuschließen. Der Größte von ihnen spricht, leise und drängend.

»Das ist der Plan: Ich geh über den Parkplatz zur Tür. Mach bloß ’nen kleinen Spaziergang und kümmer mich um mein eigenes süßes Leben. Ich öffne sie und geh rein. Das war’s schon, also hört mir zu. Ihr bewegt euch nicht vom Fleck und ihr redet nicht und ihr bleibt hier außer Sichtweite. Wenn ich drinnen bin, lass ich es euch wissen.«

»Wo is der Schlüssel? Hast du den Schlüssel?«

»Der Schlüssel is hier. Keine Panik wegen dem Schlüssel.«

»Wir müssen über den Parkplatz?«

»Du gehst schnurstracks über den Parkplatz. Du machst nichts Verbotenes, oder? Also schau nicht so drein, als würdest du was Verbotenes tun. Ach, nur ein bisschen frische Luft schnappen, Officer. Hey, lächeln: Du bist bei Versteckte Kamera.«

»Wenn uns wer sieht, sind wir erledigt.«

»Wenn dich wer sieht, bist du erledigt. Wenn mich wer sieht, bin ich ganz entspannt. Aber wer is denn schon wach, Mann? Es ist ein Uhr nachts, verdammt noch mal. Halt einfach Ausschau nach Polizeiautos und halt die Füße still. Wenn ich drinnen bin, lass ich es euch wissen. Etwa so. Dann könnt ihr gehen. Ihr rennt nicht. Ihr geht. Ein Kinderspiel.«

Smitty geht zügig über den hellen Parkplatz, den Blick nach vorne gerichtet, bis zu dem dunkelgrünen Seiteneingang der Bücherei. Er öffnet seine Faust und enthüllt einen Messingschlüssel, der im gelben Licht der nackten Glühbirne über der Tür funkelt. Er steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn und stößt die Tür auf. Aus dem Schatten gibt er Blake und Danny ein Zeichen. Sie zögern, machen einige Schritte in den Schein der Straßenlaterne, bleiben verwirrt stehen. Danny beginnt zu laufen. Blake geht schnell und blickt um sich.

»Sehr toll, sehr professionell«, sagt Smitty und schließt die Tür hinter ihnen. Es ist so dunkel, dass sie einander nicht sehen können.

»Was jetzt?«, fragt Danny.

Die Frau, die allein lebt

Ich bin die Frau, die allein lebt. Ich habe keinen Ehemann, keine Kinder, keinen Liebhaber, nicht einmal eine Katze. Bitte denkt nicht, dass es mir etwas ausmacht, allein zu leben, in meinem alten Haus, mit all meinen Sachen. Doch in einer Nacht wie dieser, wenn der Mond zu einer weißen Blüte in einem blauen Garten wird, tut es gut, hinters Haus ins Freie zu gehen und inmitten der Zinnien tief durchzuatmen. Ihr, die ihr nicht den Mut habt, allein zu leben, wagt es nicht, mich zu bemitleiden. Nur ab und zu, in einer Nacht wie dieser, würde ich gerne den Klang von Stimmen hören. Wir, die wir allein leben, können seltsame Angewohnheiten entwickeln, weil es niemanden gibt, der uns darauf aufmerksam macht. Manchmal ziehen wir nur einen Strumpf an. Manchmal führen wir Selbstgespräche in der warmen Nachtluft. Wie gut es tut, in einer Nacht wie dieser im Garten umherzuspazieren, das frische Gras zu riechen. Ganz gewiss ist das nicht verboten.

Der Mond und die Schaufensterpuppe

Der Mond, der so langsam emporklettert, dass niemand es bemerkt, scheint auf die Main Street hinab. Auf eine Seite der Straße wirft er einen dunklen Schatten, auf die andere ein unheimliches Leuchten; der Bürgersteig ist knochenbleich und die kleinen Glasfenster auf den Parkuhren glänzen, als wären sie feucht. Durch die Schaufenster kann man weit nach hinten in die Läden sehen. Mondlicht scheint auf die Gläser mit Oliven und die knusprigen Brotlaibe in der Auslage des italienischen Lebensmittelladens. Es scheint auf nebeneinander aufgereihte Brillenfassungen, die lange Schlagschatten an die Wand des Optikergeschäfts werfen, es scheint auf das strahlend weiße Handtuch über der Stuhllehne des Barbiers und auf die Glasflaschen, die im schimmernden Spiegel reflektiert werden. Es scheint auf den Frühstückstisch und die vier leeren Müslischalen mit Apfelmuster, auf die gefalteten Hemden und die gestreiften Halstücher, auf die weißen Sandalen der Schaufensterpuppe im Kaufhausfenster. Mondlicht bedeckt ihre Wangen, ihre langen Finger und die halb geöffneten Lippen. Sie fühlt, wie das Mondlicht durch ihre Fiberglashaut dringt, sie einlullt, ihre Willenskraft betäubt. Sie fühlt einen matten Schwindel, verbunden mit einer insgeheimen Erregung, ein Nachgeben der starren Fesseln ihres Wesens. In den Strahlen des Mondlichts erwacht ihr verborgenes Leben. Da ist ein Zucken in ihrem Finger, eine Hand knickt leicht im Handgelenk. Hinter ihren Sonnenbrillen schließen und öffnen sich ihre Augen langsam.

Die Kinder erwachen

In Zimmern, deren Fenster mondhelle Gärten zeigen, in Betten, deren Decken Bären und Ballerinas zieren, wachen die Kinder langsam auf. Durch die Fliegengitter vernehmen sie schummrige Musik, die langsam ansteigt und langsam abfällt, eine schummrige, ferne Musik, die nach ihnen ruft. Woher kommt diese schummrige Musik? Die Kinder schlagen die Decken zurück, schwingen die Beine flink über die Bettkante. Ihre Augen sind wachsam, ihre Köpfe leicht zur Seite geneigt, in die glatte Haut zwischen ihren Brauen zeichnet ihre Konzentration zarte Furchen.

Stille

Janets Garten ist vollkommen still. Er erscheint ihr wie das Gemälde eines nächtlichen Gartens. Garten: Sommernacht. Oder vielleicht heißt es: Mädchenam Fenster, wartend. Nur ein Idiot würde in einer Sommernacht am Fenster knien, warten, und worauf? – Nicht dass es für sie Besseres zu tun gäbe. Sie fragt sich, ob sie von dort unten zu sehen ist. Auf der rechten Seite ist der Garten von einer hohen Hecke eingesäumt, die sich nur schneiden lässt, wenn man auf einer Trittleiter steht. Unten sind die Zweige dick wie die Äste eines Baumes, mit Lücken, durch die man hindurchkriechen kann. Auf der linken Seite befindet sich eine Garage, die Längsseite im Schatten, die Vorderseite strahlend weiß im Mondlicht. Der hintere Teil des Gartens wird von einer Gruppe Immergrün, Fichten und einigen Waldkiefern eingesäumt, der Drahtzaun dahinter grenzt diesen Garten vom nächsten ab. Und dahinter: Ein weiterer Garten. Garten an Garten, kleine Rechtecke, die sich bis zum Ende der Stadt erstrecken, die sich über ganz Amerika erstrecken. Vielleicht könnte man unter Hecken hindurchschlüpfen, über Zäune klettern, an Sandkisten und Baseballschlägern vorübergehen, und eines Tages, wenn man sich durch die letzte Hecke gekämpft hat, plötzlich – Streichmusik bitte – der Pazifik. Und all das entzückende sommerliche Treiben in den Gärten: Kinder, die Fangen spielen, Federballnetze, Grillfeste, Menschen, die auf Aluminiumklappstühlen sitzen, Strandtücher, die auf dem Verandageländer trocknen, nächtliche Stimmen, die zu deinem Fenster hinaufgetragen werden. Doch jetzt ist der Garten still – schläft – in einen Zauber gebannt. Vor den übrigen Bäumen, nicht wirklich einer von ihnen, steht der große, alte Silberahorn, groß und mit dickem Stamm. An einem Ast weit oben hängt eine Schaukel. Der hölzerne Sitz liegt zum Großteil im Schatten, doch eine Kante fängt das Mondlicht ein. Aber die Schaukel kann niemals schaukeln, und das Mädchen am Fenster kann ihren Kopf niemals drehen, denn sie beide sind in dem Gemälde gefangen. Alles ist regungslos, so regungslos, dass es Janet scheint, als würde jede Regung unterdrückt, als hätte der Garten tief eingeatmet und versuche, nie wieder auszuatmen – jeden Augenblick wird ein Missgeschick geschehen, eine verräterische Bewegung wird zu sehen sein. Oder möglicherweise füllt sich der Garten mit Stille, eine Stille, die größer und größer wird, bis sie schließlich überfließt. Janet wartet am Fenster, voller Angst, sich zu bewegen.

Der Mann mit den grünen Augen

William Cooper, achtundzwanzig Jahre alt, den Männern in Big Mama’s als Coop bekannt, stellt vorsichtig sein Bierglas exakt auf den Mittelpunkt der Papierserviette mit dem gewellten Rand, erhebt sich wankend von dem roten Kunstlederpolster der Sitznische und hebt seine Fingerspitzen an die Schläfen, zu einem Gruß, der den Barmann, die Typen in der Sitznische, die vollbesetzten Tische, die braunen und roten und grünen Flaschen, die sich im Spiegel hinter der Bar spiegeln, und die von Haken hängenden Zinnkrüge einschließt. Dann dreht er sich um und tritt auf die Straße hinaus. Die Luft ist warm, beinahe heiß, doch in dieser Wärme liegt etwas Kühles, und das Seltsame daran verblüfft ihn: die Nachtluft warm und kühl, der Himmel dunkel und hell – da ist irgendwo ein Gedanke, wenn die Dinge bloß aufhören würden, sich zu drehen. Coop kommt am beleuchteten Schaufenster von Curtis’ Elektrohandel vorbei und streift mit seinem Blick die Porzellanlampen mit den rosafarbenen Schirmen, die glasgetäfelten Laternen mit den schwarz emaillierten Rahmen, die feinsäuberlich gestapelten Lichtschalter und Einbausteckdosen. In der Apotheke betrachtet er die Glühbirne weit hinten im Laden, die auf die Theke hinabscheint, ziemlich hübsch dort hinten, dann hält er vor der Pappfigur einer blauäugigen Blondine in einem weißen Bikini an. Sie ist immer dort, Nacht für Nacht, und hält eine Limonadenflasche mit großen Kondenswassertropfen hoch. Ihre Zähne sind weißer als ihr Bikini, ihre gebräunten Schultern glänzen wie neue Baseballschläger. Ihre Brüste, groß wie Fußbälle, scheinen ebenfalls zu lächeln. Sie ist freundlich, verfügbar, jedermanns Liebling, die Highschool-Cheerleaderin im süßen weißen Röckchen, Mittelpunkt jeder Party, eine Spaßmacherin, Fräulein Heißbegehrt, eine echte Wucht, Mann, wie die gebaut ist, ein echter Hingucker, die musst du dir ansehen, doch Coop ist voller Verachtung. Sie ist nichts im Vergleich zu der Lady, die er liebt, die erstklassige Lady, die sich nicht jedem Passanten anbietet, sondern sich kühl und distanziert verhält, außer Reichweite, vielleicht ein wenig herablassend, doch das ist in Ordnung, eine Frau muss auf sich achtgeben. Aus dem Fenster starrt ihm sein eigenes mattes Spiegelbild entgegen: Kupferfarbenes Haar, grüne Augen, gerötete Augen. Schnell sieht er weg und sieht sich selbst schnell wegsehen. Schuldig, Euer Ehren. Coop überquert eine Seitenstraße, wirft einen Blick die Straße hinunter auf die Stromleitungen über den Eisenbahnschienen und setzt seinen Weg auf dem Bürgersteig der Main Street fort. Er geht an dem Schaufenster mit Volleybällen und Basketbällen vorbei, an dem Schaufenster mit Füllfedern und in Leder gebundenen Notizbüchern, an dem in kühles blaues Licht getauchten Schaufenster, das ein Plakat mit einer tropischen Insel zeigt, darauf eine Palme, ein Flamingo und eine Frau in orangefarbenem Badeanzug, die im weißen Sand auf dem Bauch liegt, ein Bein angewinkelt. Schon besser, denkt Coop: Eine Frau ganz allein, eine Frau mit Geheimnissen. Doch er kommt immer näher, schon überquert er eine weitere Straße. Der blaue Briefkasten, der im Licht der Straßenlaterne an der Ecke schimmert, lässt ihn an eine gigantische Sparbüchse denken. Als Kind hatte er eine Sparbüchse aus Blech in Form eines Briefkastens – er sparte nie mehr als einen Dollar. Willkommen in seinem Leben. Er geht am Barbier und am italienischen Lebensmittelladen mit den Körben voll gewundenem Stangenbrot vorüber. Als er zu dem ersten Schaufenster des Kaufhauses kommt, mit dem Frühstückstisch für vier Personen, atmet er tief ein und versucht sich selbst zu beruhigen.

Haverstraw spricht

Haverstraw sitzt auf dem abgewetzten kastanienbraunen Sofa, dessen abgerundete Armlehne auf der rechten Seite speckig glänzt. Auf dem Lampentisch neben ihm steht ein Glas Eiswasser auf einem weißen Korkuntersetzer, den ein blauer Yankee Clipper ziert. Neben dem Glas steht eine Müslischale mit Salzstangen. Ihm gegenüber, auf dem braunen Lehnstuhl, sitzt Mrs. Kasco, die Beine angezogen, die flauschigen roten Pantoffel liegen auf dem Teppich. Sie hält eine Zigarette in der rechten Hand und ein Glas Rotwein in der linken. Auf dem Tisch neben ihr sind eine Lampe, ein grüner Glasaschenbecher in Form eines Blattes samt Stiel und zwei Bücher: Eine gebundene, alte Ausgabe von Jeannie Gerhardt mit verblasstem Titel und ein dickes Buch aus der Bücherei mit dem Titel Krupp. Chronik einer Familie. Ein rasselnder Bodenventilator bläst sie direkt an, bewegt ihren Kimono und verweht den blauen Rauch, der zur Decke emporsteigt. Durch den zitternden Rauch hindurch kann Haverstraw das Treppengeländer und das alte Bücherregal sehen, in dem er eine Modern Library Giant-Ausgabe von Studs Lonigan mit gebrochenem Rücken sowie zwei Bände von Der Untergang des Abendlandes ausmachen kann. Ganz oben auf dem Bücherregal, vor den Pfosten des Geländers, liegt eine geöffnete, ungekürzte Ausgabe von Webster’s Wörterbuch (zweite Auflage); die eine Hälfte höher als die andere. Ein rotes Brillenetui ruht in dem Tal aus zusammenlaufenden Seiten. Mrs. Kascos intelligente, leicht vorstehende braune Augen sehen ihn durch blau eingefasste Brillengläser hindurch aufmerksam an, während er spricht.

»Ich glaube, was mich stört, ist die Lüge an dem Ganzen, ich meine die unvermeidbare Lüge der Form selbst, in der Sekunde, in der man ›ich‹ sagt, spaltet man sich sofort von der Person ab, die man zu sein behauptet, drücke ich mich klar aus, sodass das ›Ich‹, das Ausdruck der Authentizität sein sollte, in Wahrheit das abwegigste Pronomen überhaupt ist, nichts als ein maskiertes ›Er‹, ein ›Er‹ mit einer falschen Nase und falschem Schnurrbart. Denn sagt man ›ich‹, so ist man nicht länger das ›Ich‹, das man zu sein behauptet, sondern jemand anderer, ein Fremder, der von dem eigenen gegenwärtigen Selbst bespitzelt wird, abgesondert, abgetrennt, entfremdet. Drücke ich mich klar aus? Ich setzte mich hin. Was kann ich meinen, außer Der Fremde setzte sich hin, derjenige, der ich früher war, aber nicht länger bin. Darum also protestiere ich gegen die falsche Vertrautheit, die Vorspiegelung, das fremdartige ›Ich‹, dieser Fremde, verorte uns genau hier, im Augenblick des Aktes. Doch selbst davon abgesehen, davon abgesehen, da ist das viel größere Problem, etwas überhaupt auch nur mit einem Hauch von Exaktheit wiedergeben zu können, einem Hauch. Hoffnungslos. Denn der geringfügigste Akt, das Heben meines linken Fingers, ist von Tausenden Gedanken und Eindrücken begleitet, was ihn umgibt wie ein, wie ein, Teufel, ich weiß nicht, ein Lichtschein, oder nein, sagen wir eine Beschichtung, ein Strahlen, und ohne diese Eindrücke beschreibt man Abstraktionen, Generalisierungen, wissen Sie, was ich … Nehmen Sie Substantive. Jedes Substantiv benennt eine Klasse. Es ist eine Zusammenfassung, eine Unschärfe. Aber mein Bett, mein Stuhl, mein Fenster, die sind so konkret wie mein ganzes Leben, können Sie mir folgen. Und darum ist es schwer, ich verliere immer wieder den Faden, mit der Lüge des ›Ich‹ und der Lüge des Substantives, die schrecklichen Vereinfachungen, die sich als Erinnerung ausgeben. Erinnerung! Und überhaupt, was verstehen die unter Erinnerung? Der Absatz, den ich Ihnen von – wie war noch mal sein Name – vorgelesen habe, erinnern Sie sich? Über Araukarien. Man betrachtet die Araukarien, sämtliche Details ihrer Blätter und Äste prägen sich in deine Retina ein, man sieht sie mit absoluter Sicherheit, doch am nächsten Tag ist ein leichtes Verschwimmen bemerkbar, in einer Woche erinnert man sich an die Bäume, aber ohne diese exakte Genauigkeit, und in einem Jahr? In zehn Jahren? Das gilt für alle Erinnerungen. Also was ist Erinnerung letztendlich als ein Akt des Vergessens, eine Auslassung. Somit gibt es nichts als Verlust, Entgleiten, Unachtsamkeit, Vergessen. Lügen, alles Lügen.«

»Gut, aber jetzt mach mal halblang. Vergisst du da nicht etwas?«

»Na klar, klar. Sie spielen auf meine Pflicht gegenüber der Gesellschaft an, und diesen ganzen öden marxistischen Schrott.«

»Es gäbe tausendmal Schlimmeres, als ein bisschen Marx zu lesen, mein Freund. Es würde dir kein bisschen schaden, über Klassen und ihre Werte nachzudenken.«

»Alles, was ich von der Gesellschaft verlange, ist, das Ruder selbst in die Hand nehmen zu können.«

»Genau. Großartig. Und was glaubst du, wer dir das Schiff vermietet? Wer gibt dir die Erlaubnis, den Fluss zu nutzen? Wo kommt das Geld her, das dir erlaubt, das Ruder in die Hand zu nehmen? Aber hör zu. Ich meinte etwas anderes. Du hast von Erinnerung gesprochen.«

»Daran erinnere ich mich nicht mehr. Das ist übrigens ein Witz.«

»Du sagtest, es gibt nichts außer dem Vergessen. Aber was ist mit diesen kleinen präzisen Erinnerungen – wir alle haben sie. Ich vergesse, sagen wir, einen ganzen Sommer, aber ich erinnere mich an eine Teetasse, an den Sprung nahe dem Henkel, die Teeflecken entlang des Randes. Also ist es nicht wahr, was du sagst, wenn man es genau nimmt.«

»Aber erkennen Sie nicht, wie das genau das bekräftigt, was ich schon die ganze Zeit zu sagen versucht habe? Sie geben das Verschwimmen zu, den Verlust, ein ganzer Sommer verschwunden, ich meine, man könnte genauso gut überhaupt nie gelebt haben, leb wohl, grausame Welt! –, und da taucht eine lausige Teetasse auf, eine armselige, kleine, erbärmliche Teetasse, die nur durch diese Gegenüberstellung wie ein Wunder an Präzision erscheint. Doch für sich genommen ist sie – sie ist nichts, eine grobe Skizze, verschwommen, man sieht sie überhaupt nicht, in keiner Weise, mit all ihren großartigen Details, es sind nur einige zerbrochene Teile, die nach einem Schiffbruch an Land gespült wurden. Oder es ist so wie bei den Figuren von Dickens. Sie wissen schon: rote Nase, steifer Kragen, kreideweiße Manschetten. Das war’s. Der ganze Rest ist unsichtbar.«

»Aber man sieht diese Figur. Man malt sie sich aus.«

»Aber genau das ist der Punkt! Man malt sie sich aus. Man malt sie sich mit der eigenen Vorstellungskraft aus. Exakt das ist der verdammte Punkt. Man malt sie sich aus. Erinnerung verwandelt sich immer in Vorstellung. Die Welt – die Fakten – das Tatsächliche – entschwindet immer. Das ganze Unterfangen ist verdammt.«

»Und das glaubst du wirklich? Dass es hoffnungslos ist?«

»Ja. Nein. Ich weiß nicht.«

Chor der Nachtstimmen

Kommt raus, kommt raus, wo immer ihr seid, ihr Träumer und Tagediebe, ihr Faulpelze und Verlierer, ihr Schattensuchenden und Sonnenwaisen. Kommt raus, kommt raus, ihr Nieten und Nullen, ihr Taugenichtse und Habenichtse, ihr vom Tage Ausgestoßenen, Liebkinder der Nacht. Kommet, ihr alle, die ihr scheußlich seid und kummervoll, ihr alle, die ihr schwarze Gedanken hegt und rote Fieberträume, kommt schon, ihr Kleinstadt-Ismaels mit euren traurigen blauen Augen, ihr Mauerblümchen und Pechvögel, kommt, ihr Nörgler und Ächzer, ihr Außenseiter und Sonderlinge, ihr Eigenbrötler und Wunderlinge, kommt nur, kommt nur, ihr bleichen Romantiker und nutzlosen Trunkenbolde, ihr Wart-noch-nie und Werdet-nie-sein, ihr von der Sonne Verspotteten, vom Tag Verdammten, ihr Wesen der Dunkelheit: Kommt heraus in die Nacht.

Die Puppen erwachen

Auf den Dachböden der Stadt erwachen die Puppen. Nicht jene Puppen, die in der Blüte ihrer Jugend stehen, nicht jene Puppen, die in den Kinderzimmern hausen, sondern die alten, verlassenen Puppen, an die niemand mehr denkt. Sie lehnen an Kisten voll altem Geschirr, sitzen zusammengesunken auf Stühlen mit kaputten Lehnen, liegen mit dem Gesicht nach unten auf den Dachbodenbrettern. Unerinnert, unerwünscht, unbelebt durch die Aufmerksamkeit ihrer Besitzer, liegen sie verbraucht und leer da, starr wie tote Blumen. Doch in dieser Sommernacht, in der der beinahe volle Mond Schlafende in ihren Betten weckt, beginnen sich die Puppen in ihrem langen Schlummer zu regen. Die Stoffpuppe mit dem gelben Wollhaar und den aufgemalten blauen Augen setzt sich auf und streicht ihre zerknitterte Schürze glatt. Der einäugige Teddybär blickt um sich. Der staubige Elefant hebt seinen Rüssel, die Holzgliederpuppe mit den harten Lidern wirft einen Blick auf Little Boy Blue, Columbine klimpert mit ihren Wimpern und wendet sich von Pierrot ab, der betrübt sein kalkweißes Haupt beugt, im Puppentheater starrt der Mann mit der Hakennase, den pechschwarzen Augenbrauen und dem markanten Kinn das Mädchen mit den blonden Zöpfen und der Stupsnase an, die dem blauäugigen Trommler verstohlene Blicke zuwirft, der sich gerade im Schlafe regt und von einem hohen Turm, einem Dornenwald und einer Prinzessin träumt, die langsam die Augen aufschlägt.

Die Schaukel

Die Welt, bis zum Rand mit Stille gefüllt, fließt plötzlich über: Der Ast einer Hecke bewegt sich, aus der Hecke taucht eine Hand auf, und dann ist er hier, im Garten, sieht hoch zu den Fenstern, wobei ihm sein Haar in die Stirn fällt. Janet durchzuckt ein Freudenschmerz, ein ohnmächtiger, heftiger Schmerz, der sich anfühlt wie Trauer. Noch nie hatte sie etwas Vergleichbares gefühlt, diese schneidende Klinge der Freude, dieses dunkle Entzücken, das sie wie ein Leiden überkommt. In dem dunklen Fenster kann er sie nicht sehen, und sie ist froh darüber: In ihrer Vorstellung ist ihr Gesicht von der Liebe entstellt. Er geht durch das helle Mondlicht, in den Schatten des Silberahorns, und sein anmutiger Gang durch den Garten ist wie ein Windhauch auf ihrer Haut. Er setzt sich auf die Schaukel. Er greift die Seile mit den Händen. Sieht mit zusammengekniffenen Augen zu ihrem Fenster hoch, scharrt mit einer Sandale in der Erde. Die straffen Seile, sein gestreckter Hals, sein Knöchel über der Sandale, all das erscheint ihr ebenso mysteriös und wunderschön wie das Mondlicht, das den Garten durchflutet. Dann stößt er sich ab und beginnt zu schaukeln. Er zieht sich an den Seilen zurück, er streckt die Beine vor, streckt sich, schwingt in das Licht des Mondes. Dann zurück, mit angewinkelten Beinen schwingt er in den Schatten. Hell, dunkel, hell, dunkel, seine weite Hose flattert beim Schaukeln. Und das Schaukeln befreit sie: Sie winkt, sie lacht, doch seine Aufmerksamkeit gilt einzig dem Schaukeln, es gibt nichts anderes für ihn. Ach, wieso schaukelt er auf diese Weise auf ihrer Schaukel, vergisst sie, löscht sie aus? Janet wendet sich vom Fenster ab, zieht ihre Lederjacke über ihr Nachthemd, läuft barfuß die mit dickem Teppich ausgelegte Treppe hinab.

In der Bücherei

Gelbe Lichtstrahlen aus den Straßenlaternen der Main Street zerschneiden das Dunkel der zweiten Etage. Der tiefblaue Nachthimmel in den hohen Bogenfenstern ist von Mondschimmer durchtränkt. In der Leseecke sitzen Blake und Danny in ledernen Lehnstühlen, die einem Ledersofa zugewandt sind. Auf dem Sofa, den Kopf auf eine Armlehne gestützt, liegt Smitty. Auf seinem Bauch steht ein Aschenbecher mit einer glühenden Zigarette. Mit der Hand stützt er eine Bierflasche auf seiner Brust.

»Erzähl weiter«, sagt Blake.

»Also, ich sitze auf dem Sofa wie ein anständiger kleiner Pfadfinder, meine Hand hängt von ihrer Schulter, meine Finger berühren zufällig mit Absicht ihre Titten durch ihre Bluse, die aus einem total seidigen Stoff ist, und ich überlege, wie ich die Sache am besten vorantreibe, ohne uncool zu wirken.«

»Erzähl weiter«, sagt Blake.

»Also fang ich an sie zu küssen, und sie küsst mich zurück, als wäre sie interessiert an weißen Männern, aber bitte, keine voreiligen Schlüsse, und meine andere Hand liegt ganz zufällig auf ihrem Knie, das was – als ich runtersehe, sehe ich, dass ihr Rock hochgeschoben ist, und ich habe freie Sicht auf alles, Mann. Ich meine, dieses Mädchen zeigt mir ihre ganze Nacktbarschaft. Also fang ich an, meine Hand ganz langsam und geschmeidig das Bein hochzubewegen, wie ein unsichtbarer Ninja, der über das Dach kriecht, und entweder kriegt sie’s nicht mit oder ihr isses egal.«

»Ihre Gedanken sind Höherem zugewandt«, sagt Blake.

»Also, so viel zu der Party, die im Süden abgeht, und im Norden, in den Bergen, finden meine Finger den Knopf ihrer Bluse und ich fummle so dran rum, und hey, was sagt man dazu, er schlüpft plötzlich durch das Knopfloch, na so was.«

»Ein kleiner Unfall«, sagt Blake.

»Ich bin so unschuldig wie ein Baby, das in der Wiege vor sich hin sabbert.«

»Du bist unschuldig und ich bin die Jungfrau Maria«, sagt Blake.

»Also unten, unten im finsteren Tal, arbeite ich mich Zentimeter für Zentimeter vor, und in der Zwischenzeit, am Gipfel des schneebedeckten Berges, ist meine Hand unter ihrer Bluse und ich streichle sie durch ihren BH – einer mit diesen schicken Spitzenrändern, Mann. Sie hält mich nicht ab und langsam frag ich mich, wie weit ich es wohl bringen werde.«

»Du wirst es noch weit bringen, junger Mann«, sagt Blake.

»Also, ich sitze hier und rackere mich in der Nachtschicht ab, eine Hand vorne an ihr Höschen gepresst und die andere Hand steckt in ihrem BH, und sie sitzt nur da und lässt mich alles berühren, was mich echt neugierig macht, was noch so alles mit dieser Kleinen passieren wird, die ich hier gerade kennenlerne.«

»Er war stets ein neugieriger Student, der seine Arbeit mit großem Eifer vorantrieb«, sagt Blake.

»Also, die eine Hand hab ich im Kirschgarten, die andere läutet oben die Glocken, und ehrlich gesagt werde ich es langsam leid, Cha-Cha-Cha zu tanzen, wenn es höchste Zeit für Rock ’n’ Roll ist. Sie sitzt also so da, die Bluse hängt über den Gürtel, ihre Möpse schnappen Frischluft und ihr Rock ist bis zu den Ellenbogen hochgeschoben, und so wie ich das sehe, wird es Zeit, dass ein ehrbarer Mann tut, was ein ehrbarer Mann für sein Land tun muss.«

»Die Army will dich«, sagt Blake.

»Ich überdenke die Lage und beschließe, der beste Weg an die Situation ranzugehen, ist, die Sache langsam anzugehen und sich treiben zu lassen. Geschmeidig wie ein Aal und dann blitzschnell abtauchen. Also bevor sie weiß, wie ihr geschieht, beuge ich mich runter und küsse sie sehr sanft und höflich, nicht so, als würde ich gerade mit einer Fotze auf dem Sofa rummachen, sondern als wäre ich ihr lange verloren geglaubter Bruder, der endlich aus dem Waisenhaus nach Hause kommt. Das ist auf jeden Fall die richtige Taktik, denn sie wird scharf wie ein Rasiermesser und hey, wieso auch nicht. Also sitze ich so da und küsse sie brüderlich-schwesterlich, und plötzlich führt eins zum anderen, und das andere ist, dass ich zufälligerweise meine Zunge in ihren Mund stecke. Scheiße, ihr werdet nie glauben, was als Nächstes passiert.«

»Was passiert als Nächstes?«, fragt Blake.

»Was als Nächstes passiert, ist, dass sie sich aufsetzt, mich wegstößt und ihren Rock runterzieht, als hätte sie gerade erst bemerkt, dass sie in ihrem Wigwam unten im Reservat nicht allein ist. Und dann sagt sie: ›Perversling!‹ Verdammte Scheiße, ich schwör bei Gott, das hat sie gesagt. Sie ist so wütend, sie sieht aus, als würde sie jeden Moment Gift und Galle spucken. Ist das zu glauben? Eine Hand bis zur Hälfte in ihrem Eileiter und eine Hand zwischen ihren Dingern vergraben, und es ist anständiger, vorbildlicher amerikanischer Spaß, aber eine falsche Bewegung mit der guten alten Zunge und sie will mich auf einen Bananendampfer stecken und zurück nach Brasilien schicken. Ich konnte es gar nicht fassen, was für eine Scheiße. Ist das zu fassen?«

»Ich kann’s nicht fassen«, sagt Blake enttäuscht.

»Blöde Schlampe«, sagt Smitty.

Danny steht auf und geht zum Fenster, er sieht hinunter auf die Bank, auf die Schaufenster der Main Street, auf die Ampel, die gerade von Rot auf Grün umschaltet. Hoch oben erstrahlt der Himmel in einem tiefen Blau. Ein plötzlicher Drang überkommt ihn: das Glas zu zerschmettern und in diesen blauen Glanz emporzuschweben.

Der Mann mit dem glänzend schwarzen Haar

Auf seinem Spaziergang durch diese wundervolle Sommernacht geht der Mann mit dem glänzend schwarzen Haar an der Bücherei vorüber. Die Bogenfenster, schwarzblau im Mondlicht: Ein hübscher Effekt. In den Scheiben spiegeln sich die Äste der Bäume und die Straßenlaterne an der Ecke. Der Mann mit dem glänzend schwarzen Haar stellt sich den mondbeleuchteten Gang zwischen den Regalen vor, wo er heute schon Bilder für seine Galerie gesammelt hatte. Bis ihn der blonde Mann mit dem Trenchcoat nervös machte. Die Lichter der Main Street machen ihn nervös, selbst um 1:34 Uhr nachts. Die kleinen gelben Lichter auf der Kinoreklame wirken, als liefen sie unaufhörlich rundherum, rundherum, eine unglaublich irritierende Illusion. Rasch überquert er die Main Street und die Eisenbrücke, die über die Bahngleise führt. Das Funkeln der Gleise, schwarze Türme im Himmel, ein Bündel aus Oberleitungen, das sich in die Ferne erstreckt. Er wird eine Weile durch die Gegend laufen, an der Highschool vorbei, raus aus der Gefahrenzone, wer weiß, was er finden wird, vielleicht ein neues Stück für seine Sammlung, man weiß schließlich nie.

Die Freuden des Schaufensterbummels

Coop bleibt wankend vor dem Schaufenster stehen, in dem die hochgewachsene, liebreizende Lady über dem Straßenniveau steht. Durch Sonnenbrillen, dunkler als die Nacht, sieht sie auf die Welt hinab. Ihre Nase ist so schmal, dass jedes Nasenloch für sich nicht breiter ist als ein Bleistiftstrich. Ihre Beine sind so lang, dass jedes für sich wie eine hochgewachsene Frau wirkt. Unter dem weichen Stoff ihres pfirsichfarbenen Kleids sehen ihre kleinen Brüste, hoch und rund, hart wie Billardkugeln aus. Ihre langen, geschmeidigen Finger sind leicht gebeugt, als hielten sie ein unsichtbares, zerbrechliches Objekt. Aus irgendeinem Grund muss Coop bei all dem an Marmorbrunnen und kühles Wasser denken. Während er zu ihr hochsieht, breitet sich ein plötzliches Verlangen in ihm aus, so als hätte jemand mit dem Fingernagel über die Haut seines Bauches gekratzt. Und sein Herz macht einen Sprung, obwohl sich seine Hände an seiner Seite dick und unbeholfen anfühlen. Seine Nägel sind schwarz von Maschinenöl. Er ist es nicht wert, den Riemen ihrer Sandalen zu berühren. Seine Wertlosigkeit lähmt ihn, ein Betrunkener auf dem Heimweg, aber andererseits ist es ein freies Land, schauen darf jeder, also wieso nicht auch er? Die Straße zittert, die Luft zittert. Auch die Lady scheint nicht besonders stabil auf ihren Beinen zu stehen. Als er versucht, seine Aufmerksamkeit zu fokussieren, nimmt er ein sanftes Zittern ihres Fingers wahr. In ihren dunklen Brillengläsern schaltet die rote Ampel auf Grün, auf ihrer nackten Schulter liegt ein grüner Schein, die Lady zittert und schimmert. Coop spürt ein Ziehen in seinem Bauch, dann tritt er vor, dicht ans Fenster heran, schließt die Augen, reckt sich ein wenig auf die Zehenspitzen und gibt dem kühlen Glas mit geschürzten Lippen einen innigen Kuss.

Der Strand in einer Sommernacht

In dieser warmen Augustsommernacht, zu dieser späten Stunde – es ist 1:42 Uhr nachts –, ist der Strand still, aber nicht verlassen. Denn es ist die Stunde der Liebenden und Leidenden, die es erst dann ans Meer zieht, wenn alle anderen schon gegangen sind. Die Liebenden liegen einander in den Armen, auf alten Armeedecken oder auf nebeneinander ausgebreiteten Handtüchern. Mal legen sie sich direkt ins Mondlicht. Mal ziehen sie sich in den Schatten der drei Rettungsschwimmerstühle oder des umgedrehten Ruderbootes oder des Getränkestandes zurück. Die Leidenden sitzen da und blicken auf das Wasser, oder sie spazieren am Strand entlang. Einer von ihnen sitzt hoch oben in einem Rettungsschwimmerstuhl und starrt hinaus auf das funkelnde dunkle Wasser der Bucht; ein anderer sitzt auf einem Felsen am Ende der Mole und raucht eine Zigarette; ein Dritter spaziert über den harten, nassen Sand, der im Mondlicht glänzt, geht zwischen der Wellenlinie aus angespülten Algen und dem Wasser entlang. In dieser Nacht sind die Wellen sehr niedrig. Sie brechen langsam und leise, rollen in geordneten Bahnen über den nassen Sand, bis sie ganz plötzlich, einem schwer erkennbaren Muster folgend, von neuen Bahnen gebrochen werden. Die Leidenden sind darauf bedacht, einander aus dem Weg zu gehen, während sie dem Spiel der Wellen zusehen. Noch bedachter sind sie, den Liebenden aus dem Weg zu gehen, die den ganzen Strand für sich allein zu beanspruchen scheinen. Die Liebenden wiederum tun alles, um anderen Liebenden aus dem Weg zu gehen, und ärgern sich über die anwesenden Leidenden, die bisweilen so nahe an einer Decke vorübergehen, dass die Liebenden den Atem anhalten. Die Liebenden und die Leidenden sind sich der Gegenwart der anderen also sehr wohl bewusst, doch es ist schwer zu sagen, was sie denken. Sind die Liebenden den Leidenden dankbar, weil sie durch diese ihr großes Glück erkennen? Beneiden sie die Leidenden möglicherweise um ihre nächtliche Freiheit, unberührt von den Ansprüchen und Wünschen eines anderen Wesens? Was die Leidenden betrifft, so liegt es nahe, zu denken, dass sie sich von den Liebenden gestört fühlen, weil sie von diesen an ihre Einsamkeit erinnert werden und weil sie den Strand in Beschlag nehmen, als wollten sie die letzte Zufluchtsstätte des einsamen Wanderers einnehmen. Natürlich ist es möglich, dass es die Leidenden, aus ihnen unbekannten Gründen, genau deshalb an den Strand gezogen hatte: weil sie wussten, dass die Liebenden hier sein würden. In dieser warmen Sommernacht. Das Meer zieht sich zurück, kleine dunkle Sandbänke funkeln wie nasses Glas. Auf dem lakritzschwarzen Wasser erstreckt sich ein Streifen aus Mondlicht von einem Punkt unmittelbar unter den brechenden Wellen zu einem Punkt knapp unter dem Horizont. An manchen Stellen ist der Streifen vollkommen gerade wie ein Pinselstrich, doch an anderen Stellen ist er gewellt, und hie und da reißt er ab und wird zu zitternden Lichtpunkten. Weit draußen auf dem Meer blinkt ein weißes Licht an der Spitze eines Leuchtturmes auf und erlischt wieder. Erst in fünf Sekunden wird es wieder auftauchen. Am Ende des Strandes, auf einem weit entfernten Fleckchen Land, auf dem früher eine Achterbahn gestanden hatte, leuchtet das kleine rote Licht eines Funkturmes im Sekundentakt auf. In der Ferne blinken die grünen und roten Lichter der Bojen. Am Horizont, wo sich der strahlende tiefblaue Himmel deutlich vom schwarzen Wasser abhebt, ist ein schmaler Streifen Land erkennbar: Die dunklen Hügel von Long Island. Der Mond ist groß und weiß wie Papier und trägt blaue Schatten.

Geheimnisse