Zehn gute Jahre Teil2 - Friedrich Haugg - E-Book

Zehn gute Jahre Teil2 E-Book

Friedrich Haugg

0,0

Beschreibung

Vor kurzer Zeit, als Ihre Eltern jung waren (oder Ihre Großeltern), galt Fliegen noch als Menschheitstraum für Wagemutige. Niemand wusste, dass der größte Technologiesprung der Geschichte bevorstand. Er wurde von einer Wissenschafts- und Ingenieurelite geschaffen, vielfach verstärkt für die Zwecke eines verbrecherischen Krieges. Alles, was wir heute so selbstverständlich nutzen hat da seinen Ursprung. Fritz Kleins Alltag ist wie der seit Generationen. Aber Auto, Telefon, Radio, Kühlschrank, Kino, bald sogar vom Sofa aus, und vor allem Flugzeuge lassen eine völlig neue Lebensweise ahnen. Gemeinsam mit Eva, seiner ersten und wahren Liebe genießt er ein Deutschland, in dem es nach der Not und der unfähigen Demokratie steil aufwärts geht. Jeder hat Arbeit, alle sind gleich und ziehen an einem Strang. Nie war die Zukunft besser. Teil 2 Der Rausch des Fliegens: Das Fliegen beginnt für Fritz Klein auf dem hölzernen Gestell im luftigen Sitz des Schulgleiters 38, einem Meisterstück aktueller Technik. Das sollte sich sehr schnell ändern.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 465

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Kap.8 Hornberg
Kap.9 Hornberg 2
Kap.10 Hornberg 3
Kap.11 Hornberg 4
Kap.12 Sonthofen

Friedrich Haugg

Zehn gute Jahre – Teil 2

Der Rausch des Fliegens

Über Friedrich Haugg

Friedrich Haugg, geboren 1945, ist Diplom-Mathematiker und Ex - Manager. Er hat 25 Jahre in der Luft- und Raumfahrtindustrie gearbeitet und den Umgang mit Computern von der Pike auf gelernt. Nach der Veröffentlichung von fünf Sach- und Fachbüchern bei Hanser und Franzis und von Softwareprogrammen für das Gehirntraining bei United Soft Media hat er beschlossen, sich zum Schreiben von Romanen zu begeben, um zu unterhalten, aber auch um die Ambivalenz der Menschen im Umgang mit der rasanten Technologieentwicklung zum Thema zu machen.

Von Friedrich Haugg sind folgende Romane erschienen:

Das schmale Fenster - Ein Thriller über die Pharmaindustrie,ISBN 9783844253658

Fortschritt - Ein Thriller über die Überwachungsindustrie,ISBN 9783844290356

Mehr unter www.haugg.peds.de

Über Zehn gute Jahre

Vor kurzer Zeit, als Ihre Eltern jung waren (oder Ihre Großeltern), galt Fliegen noch als Menschheitstraum für Wagemutige. Niemand wusste, dass der größte Technologiesprung der Geschichte bevorstand. Er wurde von einer Wissenschafts- und Ingenieurelite geschaffen, vielfach verstärkt für die Zwecke eines verbrecherischen Krieges. Alles, was wir heute so selbstverständlich nutzen hat da seinen Ursprung.

Erleben Sie diese aufregende Zeit und verstehen Sie ganz nebenbei die Technik, die die Welt veränderte.

Fritz Klein gab es wirklich unter anderem Namen. Er stammt aus einer bürgerlichen Bildungsfamilie, sieht gut aus, ist tolerant und bei den zunehmend emanzipierten Frauen sehr beliebt. Vor allem aber ist er Jagdflieger, den Superstars von damals.

Als junger Lehrer sitzt er neben seiner ersten großen Liebe Eva auf einer warmen, duftenden Bergwiese und bewundert einen majestätisch kreisenden Adler. 'Apila non captat muscas', bezieht er auf sich. Er entkommt den Intrigen kleingeistiger Parteifunktionäre und erfüllt sich seinen Traum vom Fliegen, indem er in die neue, schillernde Luftwaffe eintritt. Dass er dazu erst einmal Soldat werden muss, nimmt er in Kauf.

Der Krieg überrascht ihn, weil der Führer doch keinen Krieg wollte. Die Abenteuer werden lebensgefährlich. Die Verbohrtheit seiner näheren Umgebung nimmt er mit Humor, Berichte von fernen Gräueltaten hält er für wenig glaubhaft. Gegen aufkommende Erschöpfung und Depression hilft die Göring – Schokolade. Die Amphetamine haben fatale Wirkungen. Aber sie helfen ihm, sich übermütig immer wieder aufs Neue in scheinbar ausweglose Situationen zu stürzen.

Für Teile dieses Buchs, das auf Erzählungen, alten Dokumenten und Bildern meines Vaters basiert, wäre ich noch vor kurzer Zeit in Deutschland und heute noch an anderen Orten von der Obrigkeit erschossen, von der Kirche exkommuniziert und verbrannt oder vom aufgebrachten Mob gelyncht worden.

Heute sorgt es für keinerlei Erregung, was übrigens für die Verkaufszahlen ungünstig ist.

Vorsorglich distanziere ich mich aber von den Ansichten des Helden aufs Entschiedenste. Man kann nie wissen.

Aufgrund der großen Seitenzahl habe ich den Roman in sieben Teile zerlegen müssen. Sie sind aber nicht als unabhängige Bücher zu verstehen.

Teil 1: Friedliche Zeiten

Teil 2: Der Rausch des Fliegens

Teil 3: Privilegiert

Teil 4: Nordlicht

Teil 5: Afrika

Teil 6: Verwirrung

Teil 7: Auflösung

Über Teil2 Der Rausch des Fliegens

„Los“, hörte er.

Und dann ging alles ganz schnell. Er wurde heftig in den Sitz gedrückt. Es gab ein schabendes, hässlich knirschendes Geräusch und dann war plötzlich Ruhe, nur noch ein angenehmes Rauschen umgab ihn.

Was ist jetzt los? Fritz schaute nach unten. Der Boden fuhr an ihm vorbei nach hinten, lautlos. Und er entfernte sich nach unten. Ein heftiger Blitz durchfuhr seinen ganzen Körper.

Er flog.

Das Fliegen beginnt für Fritz Klein auf dem hölzernen Gestell im luftigen Sitz des Schulgleiters 38, einem Meisterstück aktueller Technik. Das sollte sich sehr schnell ändern.

Impressum

Ungekürzte Ausgabe

August 2020

Texte:© copyright by Friedrich Haugg

Umschlaggestaltung:© copyright by Friedrich Haugg

Verlag:

Friedrich Haugg

Jägerstraße 3

82347 Bernried

[email protected]

Druck und Vertrieb:

epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Friedrich Haugg

Zehn gute Jahre

Teil 2

Der Rausch des Fliegens

Biografischer Roman

für Katharina,

und

für Yvonne,

die ihren Großvater

nicht kennengelernt hat.

Schämen sollen sich die Menschen, die sich gedankenlos der Wunder der Wissenschaft und Technik bedienen und nicht mehr davon geistig erfasst haben als die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie frisst. (Albert Einstein)

Kap.8 Hornberg

Es war Weihnachten und der erste Urlaub als Soldat. Seine Eltern bestaunten den erwachsenen Sohn und die blaugraue Uniform, an deren Ärmel ein V-förmiger Winkel angenäht war. Sein Vater sagte, er wäre jetzt genau so viel wie er, obwohl er dafür zwei Jahre und die Teilnahme an einem Weltkrieg benötigt hatte. Und dass seine Uniform grau gewesen war, die Farbe richtiger Soldaten. Fritz war trotzdem stolz, jetzt schon Gefreiter zu sein. Mandi war auch da, er hatte noch kein V, er war Gebirgspionier und da ging es nach alter Tradition. Mandi störte das nicht. Fritz war in seinen Augen ohnehin kein echter Soldat, aber er war sein Zwillingsbruder. Seinen Schwestern sagte das alles nichts, sie lebten in einer anderen Welt. Walter war bei seiner Zukünftigen in Essen geblieben und Hans würde etwas später zu ihnen stoßen. Seine Einheit benötigte ihn noch wegen irgendwelcher Verwaltungsangelegenheiten.

Was Fritz bekümmerte, war die Art, wie seine Grundausbildung und vor allem ihre Kameradschaft geendet hatte. Die Abschlussfeier mit der Verleihung der Dienstgrade war steif und stinklangweilig gewesen. Alle Vorgesetzten bis einschließlich der Kompaniechefs und noch einige andere Dienstgrade, die niemand kannte, wollten sich das großartige Fest nicht entgehen lassen. Der Weihnachtspunsch war das einzige Getränk und damit für alle Dienstgrade gleich. Fritz vermutete, dass sich der Alkoholgehalt erst später im Gedärm mit Hilfe der Gärung des übermäßig beigefügten Zuckers entwickeln würde. Es leistete jedenfalls keinen Stimmungsbeitrag. Die unvermeidlichen Plätzchen, Kekse hießen die in Norddeutschland, waren militärisch einförmig und stammten wohl aus Beständen des Heeres, weil sie neutralgrau waren. Dafür waren sie nicht besonders süß, was aber durch kein anderes Aroma substituiert wurde. Pappe schmeckt vermutlich ähnlich, fanden sie, probierten aber so lange herum, bis nichts mehr da war. Unterfeldwebel Schön sagte jedem, ob er es hören wollte oder nicht, dass er noch nie eine so schlappe Truppe von Weicheiern entlassen habe und es war klar, dass dies zu seinem jämmerlichen Standardrepertoire gehörte. Die Verabschiedung von den Kameraden war kurz, jeder dachte schon an den Heimaturlaub und sie zerstreuten sich in alle Winde, denn jeder hatte nichts Eiligeres zu tun, als diesen Ort der Qualen zu verlassen. Das war's. Alle gemeinsamen Höhen und Tiefen, die sie zu einer echten Männergemeinschaft zusammengeschweißt hatten, in einem Augenblick vergessen, weggewischt, nur noch ein Teil persönlicher Erzählungen. Übrig blieben ein paar komische Fotos, eher peinlich als heroisch und höchstens geeignet, die eigene Erinnerung aufzufrischen. Die Kinder und Enkel würde man später einmal nicht damit begeistern können. Das Schlimmste für Fritz war, dass alle fröhlich und ohne Bedauern auseinandergingen. Nicht einmal die Adressen wurden ausgetauscht, was wenigstens einen Schein von Dauerhaftigkeit erzeugt hätte.

Hier lernte Fritz etwas fürs Leben, fürs Soldatenleben. Kameradschaft war etwas Universelles. Die Personen waren austauschbar. In einer neuen Einheit würden sie ebenso zufällig zusammenkommen wie hier bei der Grundausbildung. Und sofort wären sie wieder alle Kameraden. Jeder von ihnen war es so gewohnt und, nicht zu vernachlässigen, alle waren irgendwie gleich und somit austauschbar. So stellte sich die Führung echte Soldaten vor. Nun denn.

Die plötzliche Freiheit war für Fritz wie ein Fall in den luftleeren Raum. Niemand hatte ihm gesagt, wie es weiterging. Er hatte lediglich einen Urlaubsschein erhalten, der ihm erlaubte, zwei Wochen zu machen, was er wollte.

„Keine Sorge“, hatte Wolfrum am Schluss auf seine diesbezügliche Frage gesagt. „Die vergessen sie schon nicht. Machen sie sich keine falschen Hoffnungen. Ich weiß aber auch nicht, was mit ihnen weiter passiert. Auf jeden Fall, alles Gute und halten sie die Ohren steif.“.

„Was werden sie machen?“.

„Na, was wohl. Die nächsten Wickelkinder warten schon.“.

„Ach so. Machen sie das bis zum Ende ihre Dienstzeit?“

„Machen sie sich darüber keinen Kopf. Es wird sich schon ergeben.“ Wolfrum hatte die richtige Einstellung.

„Mandi, unternehmen wir was? Zu Hause ist es unerträglich.“ Das Fest war in der Tat nur noch ein schaler Abgesang früherer Zeiten. Natürlich gab es einen Weihnachtsbaum, natürlich wurde 'Stille Nacht' gesungen und 'O Tannenbaum' und 'Kommet ihr Hirten' und 'Ihr Kinderlein kommet' und Gretl, Trudl und Hans hatten diese Lieder auch kunstvoll mehrstimmig aufgeführt, und sehr zum Wohlgefallen ihrer Eltern auch noch unbekannte Lieder von nach Fritz' Ansicht zu recht unbekannten Komponisten. Fritz und Mandi sahen sich besonders dann, wenn Gretl ihre Tremolosopranstimme in nie erreichte Höhen schraubte, vielsagend an und waren froh, dass diese Art der Kunstausübung von endlicher Dauer war. Es gab auch Geschenke. Keine überraschenden Spielsachen, die den Abend für die Kinder immer so besonders gemacht hatten, sondern Selbstgestricktes, das sich hauptsächlich dadurch auszeichnete, dass es nicht gut passte und auf der Haut kratzte. Dazu kam, dass ihr Vater sehr wortkarg war und die meiste Zeit nur auf die Kerzen stierte und sehr weit weg schien. Fritz wollte sich nicht mit Nachfragen und schwierigen, verschlüsselten Gesprächen belasten. Er hatte das Gefühl, dass er seinem Vater nicht wirklich helfen konnte, weil er nicht einmal wusste, was die Ursache seiner Abwesenheit war. Auch seine Mutter hielt sich offensichtlich bedeckt und konnte nichts oder wollte nichts sagen. Die Schwestern waren ihm auch fremd geworden. Zu ihrer Welt aus Häuslichkeit und Musizieren hatte er keinen Zugang.

„Tut mir leid, Bruder“, sagte Hermann. Wir haben schon etwas vor. Meine Gruppe und die achte Gruppe der Gebirgsjägerkompanie in Garmisch machen einen Wettkampf. Wir starten am Eibsee und machen ein Rennen über den Jubiläumsgrat bis wieder hinunter zum Skistadion. Wir wollen den Bergsteigern einmal zeigen, was deutsche Pioniere in der Lage sind zu leisten.“

„Es ist Winter, Mandi.“

„Ja eben. Das macht doch den Reiz.“

„Es wird früh dunkel und es liegt viel Schnee dieses Jahr.“

„Du redest wie ein Schreibstubenheini. Komm doch mit.“

„Nein, Mandi. Ich würde euch nur aufhalten.“

„Versteh' schon. Hätte mich auch gewundert. Du warst schon immer ein Hedoniker, vulgo stinkfaul. Gut, dass du Flieger werden willst. Ist nicht so anstrengend. Mir wäre das eindeutig zu langweilig, immer alleine in so einer kleinen Kiste hocken und nichts tun als ein paar Hebel bewegen. Keine echten Kameraden, auf die man sich verlassen muss und mit denen man durch dick und dünn gehen kann.“

„So kann man das auch sehen“, sagte Fritz ein wenig abwesend und fand schon, dass da etwas dran war. Vor allem dann, wenn man das berauschende Gefühl nicht teilte, sich im dreidimensionalen Raum völlig frei zu bewegen. Wir Menschen sind in Wirklichkeit nur Oberflächenwesen, Grenzflächenwesen um genau zu sein. Wir gehen auf dem Land, wir schwimmen auf dem Wasser und am besten finden wir es, wenn drei Flächen aufeinander treffen: Land – Luft, Land – Wasser und Wasser – Luft. Das heißt nämlich am Strand in der Sonne liegen mit Susi. Er sehnte sich nach ihrer Nähe, in diesem Falle vor allem nach der körperlichen Nähe.

Echtes dreidimensionales Bewegen erfahren nur die Taucher und die Flieger. Die Taucher müssen aber mit lästigen Geräten für die Atemluft sorgen. Da war eine Kiste, wie Mandi es nannte, schon wesentlich erfreulicher. Vor allem, wenn sie auch noch offen war und die Luft einem ins Gesicht geblasen wurde. Ach ja, dachte er, hoffentlich erlebe ich das bald. 'Es gibt eben Flieger und Fußgänger', hatte er einmal gehört, aber er sagte es nicht, weil er selbst zur zweiten Gruppe gehörte. Noch.

Der Weihnachtsgedächtnismarsch hatte Fritz gereicht. Jetzt auch noch freiwillig etwas Ähnliches zu unternehmen und dabei 2000 Höhenmeter bei Frost und Schnee zu überwinden, gehörte nicht zu seiner Favoritenliste für ein erfülltes Leben. Er beschloss, nach Riegsee zu fahren. Dort hatte er ja noch seine Wohnung und dorthin würden die neuen Anweisungen zu seinem weiteren Tun gesandt werden.

Er zog bewusst seine luftwaffenblaue Ausgehuniform an mit dem aufgenähten Gefreitenwinkel. Ansonsten gab es leider noch keinen Schmuck an Brust und Kragen. Doch, das Sportabzeichen in Bronze. Er hatte einen Wortfetzen aufgeschnappt, der besagte, dass man das auf der Uniform tragen durfte. Ob das stimmte und ob er damit Vorschriften verletzte, war ihm eigentlich egal. Es schmückte die kahle Uniform wenigstens ein bisschen. Vielleicht würden Außenstehende gar nicht wissen, was es bedeutete. Das machte die Sache noch besser.

Der erste Bekannte, den er traf, war der Bauer Pulver, sein Vermieter. „Und, wie is'n des mit'm Fliagn? Is ganz sche gfährlich, stimmt's? Warst besser Lehrer bliem, oder?“

Fritz wollte ihm nicht erklären, warum er bisher noch kein Flugzeug aus der Nähe gesehen hatte und wich aus. „Ja, Lehrer ist schon schön. Aber ich hätte ja doch nicht hier bleiben können. Habt ihr schon einen neuen Lehrer?“

„Ja, die kimmt nachn Ferien. Is a Lehrerin. So was gibt’s heid. Is aber so a Vatrocknete, a übrig bliems Freilein, wennd vastehst. Hoaßt a no Maria. Maria Dolorosa, woaßt scho und so schaugd die a aus.“

„Ach so. Die braucht ja eine Wohnung, oder?“

„Ja scho. Deine hoid. Du muasst dei Zeug dann wegschaffn. Hast aber no a bisserl Zeit.“

Fritz bekam einen gehörigen Schreck. Aber eigentlich hätte es ihm ja klar sein müssen. Er hatte sich bloß mit dem Gedanken noch nicht auseinandergesetzt. Er war in letzter Zeit so behütet und mit allem versorgt gewesen. Das war schon ein unbestreitbarer Vorteil des Soldatenlebens. Sich nicht um die vielen kleinen zeit- und energieraubenden Dinge kümmern zu müssen, die der normale Alltag mit sich brachte. Planen, die ständige Sorge, etwas Wichtiges zu vergessen, Saubermachen, Einkaufen, Essen bereiten, die vielen bürokratischen Akte, all das wurde von anderen im Hintergrund professionell und vollständig erledigt.

Dass das übrig gebliebene Fräulein mit seinen Kindern ordentlich Sport machen und Flugzeugmodelle bauen oder sie mit dem Orff'schen Schulwerk weiterbilden würde, konnte er sich nicht vorstellen und er bedauerte seine Zöglinge, die ihm auch ans Herz gewachsen waren. Überall nur und immer wieder Abschied vom schönen Leben, das man sich aufgebaut hatte. Die Welt war nicht lieb zu ihren Menschen. Fritz war weit davon entfernt, an eine göttliche Fügung zu glauben, schon gar nicht an eine Belohnung und Bestrafung. Er fand aber, dass die Erkenntnis, ein Spielball der Zufälle und des undurchsichtigen, komplexen Netzes menschlicher Interessen zu sein, sehr ernüchternd war. Die Aussichten, erfolgreich sein Schicksal selbst zu gestalten, waren im Grunde sehr gering. Andererseits: Er wollte Flieger werden und er war eindeutig auf dem Weg dazu. Dieser Gedanke hielt ihn davon ab, augenblicklich in eine tiefe Depression zu fallen. Wenn wenigstens Susi Mader da wäre.

Als er gut sichtbar durchs Dorf flanierte, kamen ihm Gerti und Trudi händchenhaltend entgegen.

„Herr Lehrer, Herr Lehrer“, riefen sie auf ihn zurennend. „Du siehst aber toll aus. Bist du jetzt ein General?“

„Nein“, sagte Fritz lachend. „Noch nicht ganz. Aber das wird schon noch. Was macht ihr so und wie geht es euch und den anderen?“.

„Wir gehen auf eine Feier von, ach was, wissen wir nicht. Aber es ist lustig da und es gibt jede Menge Plätzchen und Kinderpunsch. Wiedersehen, Herr Lehrer.“ Die Feier war im Augenblick das Wichtigste in ihrem Leben.

Mehr Bekannte traf er nicht. Auch zum Stammtisch am nächsten Abend wollte er nicht gehen. Er versuchte, Werner Hildebrand aufzusuchen. Auf dem Türschild stand ein anderer Name. Er fand niemand, den er fragen wollte. Und eigentlich sollte es ihm doch gleichgültig sein, welche Neuigkeiten in Riegsee zu berichten waren. Riegsee war abgeschlossen. Für immer. Er musste nur noch seine wenigen Habseligkeiten packen. Aber wohin sollte er? Er beschloss, erst einmal wieder die Adresse seiner Eltern anzugeben. Das Weitere würde sich finden.

.

Die Tage waren lang und dunkel. Außer ein paar kurzen Spaziergängen am winterlichen See, der dieses Jahr noch nicht einmal zugefroren war, ging er nicht mehr nach draußen, sondern las und hörte Radio, was ihn beides zunehmend langweilte. Draußen war er ein Niemand, ohne Uniform wurde er nicht einmal bemerkt. Er fragte sich manchmal, ob er vielleicht tatsächlich unsichtbar war. Nein, denn dann wären ihm Entgegenkommende nicht ausgewichen, wenn er sinnierend zu Boden schaute und sich entgegen seiner gewohnten Höflichkeit nicht vom Weg abbringen ließ. .

.

Der Brief war eine wahre Erlösung. Der Gefreite Fritz Klein habe sich am 11. Januar auf dem Flugplatz des NSFK am Hornberg einzufinden und beim Obersturmführer Hoffmann zu melden. Flugplatz war gut. Wo Hornberg war, wusste er nicht. Ein Freifahrtschein der Reichsbahn war beigelegt. Er gab aber keine Auskunft darüber, welche Züge er in welcher Reihenfolge zu nehmen hatte. Befremdlich waren die beiden Worte NSFK und Obersturmführer. Diesen Dienstgrad hatte er nicht gelernt und er konnte ihn auch nicht einordnen. Und NSFK hieß seines Wissens nach Nationalsozialistisches Fliegerkorps. Gehörte das überhaupt zur Luftwaffe? Nun, die werden es schon wissen. .

.

Die nächsten Tage waren ausgefüllt von lästigen und ermüdenden Tätigkeiten. Er kaufte sich in Murnau zwei große Reisesäcke, in die er sein Hab und Gut verstauen konnte. Er musste sich abmelden, dem Bauern Pulver die Schlüssel übergeben, der wenigstens keine Renovierung einklagte, sondern nur 'Pfiad di' sagte. Dann schleppte er seine Sachen zum Bahnhof und gab das Gepäck auf. Dafür konnte er die Freifahrt nicht nutzen. Eine Umwandlung von Personenverkehr in Güterverkehr war nicht vorgesehen. Es gab kein Formular dafür. Aber er fand seine freie Entfaltung wichtiger als eine freie Fahrt. Mit einem kleinen Rucksack knatterte er dann auf seinem Pony, das freudig angesprungen war, in gemütlicher Fahrt nach Hause, zumindest dahin, wo ursprünglich sein Zuhause war. Es war saukalt, trotz der dicken Kleidung und er träumte von der spätsommerlichen Fahrt zum Chiemsee und von Susis Knien. 'Mach dir ein paar warme Gedanken', hatte Mandi ungewohnt ordinär immer gesagt, wenn Fritz zu sagen wagte, es wäre ihm kalt und die Kleidung nicht ausreichend. Mandi plapperte den Spruch wohl nur nach, ohne zu wissen, was er bedeutete. Frieren vertrug Fritz nicht gut. Er hatte immer das Gefühl, seine Stoffwechselvorgänge wären verlangsamt und sein Blut würde eindicken bis es gar nicht mehr fließen konnte. Nach dem unangenehmen Gefühl auf der Fahrt nach München entschloss er sich schweren Herzens, nicht mit seinem geliebten Pony zum Hornberg zu fahren. Er würde es im Frühjahr nachholen. Wenn er überhaupt so lange da bleiben musste.

Schwäbisch-Gmünd war ein belangloser Ort mit Menschen, die ernst und geschäftig umhergingen, wie sie es sicher auch schon vor der Aufbruchstimmung taten, die alle erfasst haben sollte. Außerdem war ihr Dialekt deprimierend kleinbürgerlich. Ein Dialekt spiegelt den Charakter einer Volksgemeinschaft wider, befand er und sehnte sich jetzt schon nach der Härte des bayrischen Klangs und seiner Direktheit. Hier war alles nur nett und lieblich, ein Haus hieß Häusle, eine Semmel Brötle und sogar ein Baum wurde zu einem Bäumle. Das konnte doch nicht alles ehrlich gemeint sein. Die Menschen waren hier sicher genauso gut gelaunt oder grantig wie anderswo. Aber der Stimmungsunterschied war nicht erkennbar. Für grantig oder fad hatten die sicher kein eigenes Wort.

Ein Bus, der täglich einmal fuhr, lange nicht so schön wie der von Hansis Vater, aber innen und außen blitzsauber, natürlich, brachte ihn zum Hornberg. 'Berg' schien ihm deutlich übertrieben, das war eher ein Bergle, ein Hornbergle, dachte er amüsiert. Eine Art Plateau war bestückt mit einer Reihe von grauen einstöckigen Gebäuden, der Blick fiel auf eine längere Spur im Gras und eine zweite Bahn im Winkel von etwa 60 Grad dazu. Links ging es auf ein paar waldige Höhen, rechts fiel das ebenfalls bewaldete Gelände ab zu einer Ebene, die im grauen Wolkendunst im Nirgendwo verschwand.

Das also war eine der berühmten Flugschulen des NSFK, der sich die privaten Schulen und Clubs einverleibt hatte. Na prima, dachte er und ob dies das wirkliche Ziel seiner Träume sei. Er betrat das erstbeste Gebäude, weil er kein Unterscheidungskriterium fand. Es roch, das musste er zugeben, ausgesprochen verlockend hier. Der Duft von Braten schwebte im Raum und half seine Stimmung ein wenig zu verbessern. Ein Mensch in einer ihm unbekannten, grauen Uniform kam ihm in den Weg und Fritz fragte ihn im besten hochdeutsch, weil er die Landessprache nicht beherrschte.

„Der Obersturmführer Hoffman? Ja der, der isch ned do, der kommt nur zum Fressa her. Da muaschd im neggschde Heisle aglopfn. Weisch, des graue do.“

Alle Häuser waren grau. Aber das nächste Gebäude war vielleicht mit gutem Willen ein wenig mehr grau.

An einer Tür stand schon mal der Name seiner Zielperson und nach höflichem Klopfen hörte Fritz ein deutliches 'Herein'.

Der Obersturmführer hatte die gleiche Uniform unbestimmter Farbe und Fritz dämmerte es, dass das die Kleidung der NSFK - Leute sein könnte. Hoffmann war ein Mann in den späten Fünfzigern. Er hatte zumindest in letzter Zeit nicht hungern müssen und sein Gesicht bewies, dass auch alkoholische Getränke auf dem Hornberg zu finden waren.

„Willkommen bei uns, Gefreiter. Ich bin schon informiert. Hatten Sie eine gute Fahrt?“ Das klang schon einmal ganz nett.

„Danke, Herr äh.“

„Obersturmführer. Bei ihnen ist das so etwas wie Oberfeldwebel, sie verstehen?“

„Aha. Aber warum..“

„Wir sind hier kein Militär. Wir sind eine eigene Organisation. Versuchen sie nicht, das zu verstehen. Wir verstehen es selber nicht.“ Obersturmführer Hoffmann wurde ihm sympathisch.

„Was soll ich als Nächstes machen?“

„Ach so, ja. Setzen sie sich erst einmal. Wollen sie einen Kaffee?“

„Gerne. Danke, Herr Obersturmführer.“

„Immer die korrekte Ausdrucksweise, Herr Gefreiter, oder? Ja, gelernt ist gelernt. Eine gute Grundausbildung ist eben von Vorteil. Das trifft man nicht bei allen an, die hier anfangen. Aber die meisten sind ja noch so jung. Das wird schon werden, oder?“ Fritz nickte, wusste aber nicht genau, was gemeint war.

„Sie wohnen erst einmal mit fünf anderen in einer Stube. Wenn sie ein bisschen länger hier sind, könnte ich mir vorstellen, dass sie auch ein eigenes Zimmer bekommen. Hängt von ihren Leistungen ab. Sie verstehen?“ Fritz nickte wieder. „Ich selbst bin kein Flieger und war Gott bewahre, Gott sei Dank auch noch nie in so einem Ding gesessen. Ich kümmere mich um alles andere.“

„Wie ein Kompaniefeldwebel.“

„So könnte man das nennen. Also, ich zeige ihnen dann die Stube, die anderen sind noch unterwegs. Sie werden sie schnell kennen lernen. Essen gibt’s um sechs. Die Kantine ist..“

„Ah, ich weiß. Da war ich schon, hat gut gerochen.“

„Ja, ja. Unser Koch ist gut. War früher bei der Marine. Handelsmarine, zivil, sie verstehen.“

„Und wann beginnt ein neuer Kurs?“

„Hat schon lange begonnen. Sie kommen da aber schon mit. Die Schüler haben bisher etwas über Aerodynamik gelernt, aber ich denke, das wissen sie schon. Sie haben doch selbst ein Modellflugzeug konstruiert.“

„Was sie alles wissen. Aber es stimmt schon.“

„Auch wenn wir nur der NSFK sind, wissen wir alles.“ Hoffmann grinste. „Die Bürokratie in unserem Staat funktioniert prächtig. Wenn nur alles andere auch so gut funktionieren würde.“ Fritz ersparte sich eine Nachfrage, um Hoffmann nicht in Verlegenheit zu bringen.

„Wie geht es morgen weiter?“

„Sie werden von unserem Fluglehrer erst einmal herumgeführt, damit sie wissen, wo alles ist. Das ist um acht Uhr nach dem Frühstück und Morgenappell. Und dann geht es ab in die Werkstatt. Alles Weitere wird ihnen dann gesagt werden.“

„Was ist mit dem Waldlauf?“

„Was für ein Waldlauf? Sie können laufen, so oft sie wollen, auch im Wald, aber in ihrer Freizeit.“ Das war gut, sehr gut sogar. Fritz fühlte sich bei dem Gedanken, in ein festes Zeitschema eingeordnet zu werden, nicht unwohl. Und was das Beste war, der Waldlauf gehörte nicht dazu.

Die Stube glich der in Braunschweig. Nur gab es keine Stockbetten, sondern sechs einzelne Schlafstätten. Das war eindeutig ein Fortschritt.

Und dann stürmten wild und laut seine Mitbewohner herein.

„Hallo, Heil Hitler. Sind sie unser neuer Fluglehrer, Herr Gefreiter?“ Es war der Größte unter ihnen, zehn Zentimeter höher als Fritz, atemlos wie die anderen auch und offensichtlich ihr informeller Anführer.

„Grüß Gott, alle miteinander. Nein, ich bin ganz und gar nicht euer Fluglehrer. Ich bin Lehrer, das schon, aber in einer normalen Schule.“

„Ja, sollen sie uns dann Unterricht geben in Deutsch und Rechnen und so? Das hatten wir aber schon vor Jahren“, sagte ein blonder Junge, der so arisch aussah, wie man nur arisch aussehen konnte. Der war nicht echt, dachte Fritz, den haben sie in irgendeiner Firma zusammengebaut als Modell für die zukünftige Rasse.

„Nein, nein.“ Fritz lachte. „Ich bin genauso Anfänger wie ihr. Vielleicht noch etwas mehr als ihr, weil ich jetzt erst dazustoße.“

„Versteh' ich nicht. Sie sind doch viel zu alt.“

„Danke. Vielen Dank. Aber so ist das nun mal. Ich verstehe auch nicht alles, was so läuft.“

„Haben sie schon Freundinnen gehabt?“ Der das fragte, erinnerte Fritz an Franz Schurer und dessen Karriere im Bordell. Aber dieser Knabe hier war noch viel zu jung dafür. Lediglich das Interesse machte sich schon bemerkbar. Gleich würde er ihn fragen, ob er schon mit vielen Mädchen geschlafen habe und wie das geht und wie es war.

„Also, jetzt stellen wir uns erst einmal vor. Mein Name ist Fritz Klein und duzen sollten wir uns auch. Alles andere wäre komisch.“

Sie hießen Hans, Franz, Karl, Otto und Heinz. Alles gute deutsche Namen, zu denen seiner auch passte. Nur, sie waren zwischen 15 und 18 Jahre alt, eine Altersgruppe, mit der Fritz noch nichts zu tun hatte. Die Erinnerung an seine eigene Pubertät verblasste schon ein wenig. Über was konnte man mit denen reden? Für Sex war es zu früh, für Politik vermutlich auch, fürs Essen interessierten sie sich nicht und es war noch nicht das Zeitalter angebrochen, in dem Klamottenmarken, Autos und elektronische Spielereien ein Thema gewesen wären. Vielleicht über Sport?.

„Du hast schon die Grundausbildung gemacht. Erzähl mal. Habt ihr da auch geschossen?“ Aha. Militär war ein Thema.

Sie hingen an seinen Lippen, bis Fritz bemerkte, dass es Zeit zum Essen war. Sie gingen in die Kantine und Fritz musste weiter erzählen. Schießen, Nachtübungen und Märsche fanden sie am interessantesten und Fritz versuchte, schlicht und realistisch zu bleiben und die unangenehmen und peinlichen Dinge wegzulassen.

'Das will ich auch bald machen', war die einhellige Meinung und damit wusste Fritz, dass er es falsch erzählt hätte. Ein guter Nebeneffekt war aber, dass sie gehörig Respekt vor ihm bekommen hatten. Nicht dass ich studiert und Kinder zu guten Menschen erzogen habe, hatte das bewirkt, sondern dass ich nachts im Dreck gerobbt bin und auf Pappkameraden geschossen habe, dachte er ein wenig bitter.

Sie gingen gemeinsam in den Waschraum, die großen Kinder putzten sich nur die Zähne und spritzten sich Wasser ins Gesicht. Fritz hatte das Bedürfnis zu duschen und genoss ausgiebig das warme Wasser. Dann zog er sich noch einmal an und ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Als er wieder hereinkam, blieb er neugierig vor der Tür stehen, weil er Stimmen hörte.

„Also, der hat ja viele Haare am Sack. Vielleicht wächst das bei mir ja gar nicht so.“

„Aber meiner ist viel größer.“

„Dafür kann der bestimmt länger als du. Der sieht ganz schön trainiert aus.“ Fritz wusste jetzt nicht, ob seine Gesamtfigur gemeint war oder nur sein bestes Stück. Das also waren die heimlichen Themen der völkischen und rassischen Jugendelite. Die Libido hatte sich bereits gemeldet. Mädchen, mit denen man sie ausleben konnte, waren hier nicht. Sie waren auch noch viel zu jung dafür. Ebenso wie für Bordelle, die es außerdem in diesem Ländle bestimmt nicht gab. Also Selbstbefriedigung, wenn das Verlangen zu heftig wurde. Richtig alleine damit war man hier aber auch nicht. Erst würde man heimlich beobachtet, dann erhöhte sich der Reiz, indem man die Beobachtung erkennbar macht. Dann… Der Weg zum Schwulsein dürfte hier sehr kurz und gerade sein. Als Schwuler konnte man, sexuell gesehen, den ganzen Tag aus dem Vollen schöpfen. Vor allem das Duschen mit ausführlichem Einseifen aller Teile in unmittelbarer Körper- und Sichtnähe zum anderen, wäre doch eine ständige Quelle lustvoller Gedanken. Aber eine Kampftruppe, deren Lieblingsbeschäftigung Duschen und Schlafen ist, wäre doch relativ ungeeignet. Von den Beziehungsproblemen, die unweigerlich auftreten würden, weil alte Vorstellungen von Treue und Liebe ja auch bei Schwulen vorhanden wären, einmal abgesehen. .

Nein, die Vordenker tun gut daran, es streng zu verbieten. Noch ein Aspekt: Schon die Katholiken haben die Qualen verbotenen Tuns als eine ergiebige Quelle der Lust erkannt. Das war schon alles in Ordnung so. Durch Vorschriften eindämmen war richtig, denn den sexuellen Trieb zum Beispiel chemisch abzuschalten wäre nämlich auch keine Lösung. Dann wäre der Kampfgeist auch abgeschaltet. Eine gewisse Bewunderung musste man den Vordenkern schon zugestehen. Sie konnten den größten Feind ihrer Macht nicht besiegen, also nutzten sie ihn, indem sie eine kleine Kurskorrektur vornahmen. Er dachte an Susi und fand, dass sie mit ihrer reinen Lust am Spielen nicht ins System passte. Sie war der Prototyp des freien, zufriedenen und friedfertigen Menschen und sie war damit völkisch unbrauchbar. Er hoffte nur, dass es niemand bemerkte und in ihr Leben gewaltsam eingriff.

Beim morgendlichen Duschen fiel ihm einer der Jungen auf, er meinte, dass er Otto hieß. Sein Körper glich dem von Susi in einem Maße, dass es ihm den Atem verschlug. Die braune, makellose Haut, die feinen, aber muskulösen Oberschenkel, der feste Knabenpo, die breiten, aber nicht zu maskulinen Schultern, einfach unglaublich. Natürlich fehlte jeder Ansatz eines weiblichen Busens, obwohl, auch Susis Brüste waren ungewöhnlich klein, und natürlich hatte er einen gut sichtbaren und ausgesprochen wohlgeformten Penis. Sein Gesicht war männlich hübsch, aber völlig anders und es deutete nichts auf eine enge Verwandtschaft hin. Ob er ein ähnliches, experimentierfreudiges Wesen hatte, wollte Fritz lieber nicht wissen. Susi fehlte ihm wieder einmal sehr.

Der Morgenappell war ein schwacher Abglanz militärischer Präzision, aber es wäre nicht Fritz gewesen, wenn ihn der Mangel gestört hätte. Der Fluglehrer, er stellte sich doch tatsächlich als Hans Albers vor, war vermutlich um die Vierzig und erzählte ihnen, dass er im Weltkrieg Jagdflieger war, seine letzte Maschine ein Fokker – Dreidecker, wie ihn Richthofen geflogen habe. Außerdem führte er noch irgend etwas aus, was wie Ritterlichkeit und nach edlem Kampf von Mann zu Mann klang und was mit den heutigen Maschinen zunehmend verloren ging, weil die Flieger dem Gegner nicht mehr Auge in Auge gegenüber traten. Die zunehmende Entfernung mache den Kampf abstrakt und mehr zu einem Spiel gegen Maschinen. Sie bewunderten ihn sehr, obwohl sie nicht genau verstanden, was er ihnen sagen wollte.

Er führte sie vorbei am Verwaltungsgebäude, an der Kantine, an den Schulungsräumen und an einer Halle, in der die Werkstatt untergebracht wäre, in den nächsten Wochen ihr Hauptaufenthaltsort. Fritz hatte begründete Sorge, dass noch viele Tage ins Ländle gehen würden, bis sein Traum vom Fliegen erfüllt würde.

Abschließend führte Albers sie zum Hangar. Sein Gang wurde langsamer und majestätischer und man spürte, dass ein großer Augenblick nahte. Sie gingen um die Halle herum und Hans Albers, der etwas voraus war, deutete mit großer Geste in eine Richtung.

„Und hier ist es, euer erstes Flugzeug.“ Fritz fühlte ein Kribbeln und bog ehrfürchtig um die Ecke.

Was er sah, erinnerte ihn an die Hörnerschlitten vom Schnablerrennen in Gaißach bei Bad Tölz. Eine Kufe war davon übrig geblieben und daran war eine Art Leiter befestigt, aber mit völlig ungeeigneten schiefen Sprossen.

Hans Albers bat sie näher und erklärte: „Das ist unser Schulgleiter SG 38 'Zögling', das Fortschrittlichste, was es derzeit gibt. SG steht nicht etwa für Schulgleiter, sondern für den Entwickler Schneider in Grunau. In ein paar Wochen werden wir einen Zweiten haben, den werdet ihr selbst fertig bauen. Andere haben schon viel daran gearbeitet.“

Fritz brachte die Bilder in seinem Kopf nicht zusammen. Unter Flugzeug hatte er ganz andere optische Erscheinungsformen abgespeichert. Das hier war doch kein Flugzeug. Er bezweifelte, dass es überhaupt dafür gedacht war. Aber er irrte. Die nächsten Ausführungen deuteten stark darauf hin, dass es Hans Albers damit bitterernst war.

„Hier seht ihr den Flügel. Das Wichtigste. Was ihr schon daran erkennen könnt, dass Hirth Hochleistungsflugzeuge entwickelt hat, die nur aus Flügeln bestehen.“ Keiner konnte sich einen Reim darauf machen, was das genau bedeutete oder was das sollte.

Albers fuhr nach einer Wirkungspause fort. „Dort hinten, der kurze Flügel ist das Höhenleitwerk, dazu senkrecht das Seitenleitwerk. Was das tut, werdet ihr noch lernen.“ Fritz wusste es schon. „Das Fachwerk heißt Rumpf. Der hält alles zusammen und dient auch noch als Träger für den Pilotensitz.“ Der nun, fand Fritz, war mehr als abenteuerlich. Es war ein gebogenes Holzbrettchen ohne Armstützen und gerade mal so breit wie der Hintern eines schlanken Menschen. Es war einfach auf dem schmalen Holm vor dem Gerüst für die Flügel festgeschraubt. Sollte man mit diesem Ding wirklich fliegen können, wäre die freie Rundumsicht auch nach unten geradezu optimal. Wenn man schwindelfrei war. Außerdem musste man dauernd befürchten, dass das Gebilde nicht zusammenhält. Das alles waren Gedanken, die ihm den zu erwartenden Spaß ein wenig einschränkten. Andererseits hatte Albers gesagt, dass das Ding das Beste und Modernste wäre. Nun denn, dachte Fritz.

„Die Drähte, die ihr seht, halten das Flugzeug mechanisch stabil. Bei diesem kommt eine ganz neue Erfindung zum Einsatz: die Spannturmspindel. Damit kann man mit einem Griff alle Drähte gleichzeitig richtig spannen, was vorher eine ziemlich diffizile und zeitraubende Arbeit war. Die Fußstützen, die ihr da seht, dienen zwar zum Abstützen der Füße, aber sie sind auch als Ganzes drehbar. Wozu dient das wohl?“

Otto meldete sich: „Für Menschen mit unterschiedlich langen Beinen? Oder nein, es ist einfach bequemer zum Ein- und Aussteigen.“

„Wer hat eine bessere Erklärung?“ Fritz hätte sie gehabt, weil er die Drähte mit den Umlenkrollen schon entdeckt hatte und er sah, wo sie hinführten. Aber er meldete sich nicht, er wollte als Ältester und Ranghöchster nicht als Besserwisser dastehen.

„Auch nicht der Herr Gefreite? Nun ja, ihr werdet schon noch vertraut werden mit eurem Gerät. Das hier funktioniert genauso wie bei jedem Flugzeug. Und mit jedem meine ich wirklich alle, auch die ganz Großen mit vielen Motoren. Mit den Pedalen betätigt man das Seitenruder. Wozu dient das? Wer hat eine Idee?“

„Vielleicht um eine Kurve zu machen?“ Es war Heinz, der Große.

„Ihr werdet lernen, dass Kurven fliegen gar keine so einfache Sache ist. Aber ja, das Seitenruder dient auch dazu. Bei größeren Maschinen mit Motor benötigt man das Seitenruder hauptsächlich, um am Boden Kurven zu fahren und um das Flugzeug in Längsrichtung stabil zu halten. Da hinten am Höhenleitwerk seht ihr Flächen, die beweglich sind. Sie heißen Höhenruder und dienen dazu, die Nase nach oben und unten zu steuern. Wie das geht, lernt ihr auch noch.“

„Welche Nase?“, fragte Karl und hatte damit ziemlich recht, was dieses Gebilde betraf.

„Ja ja. Unser Vogel hier hat keine. Es geht um die Richtung des gesamten Flugzeugs, die sogenannte Längsachse, ob sie nach oben oder nach unten zeigt. Und jetzt kommt noch etwas ganz Wichtiges. Am äußeren Ende des Flügels seht ihr auch Klappen. Sie heißen Querruder und sie drehen das Gerät um die Längsachse, es macht, dass das Flugzeug in Schieflage gerät. Im Moment braucht ihr nur zu wissen, dass ihr damit dafür sorgen könnt, dass es wieder gerade liegt. Bei Windstößen kommt das vor. Und damit ihr nicht abschmiert, müsst ihr damit dauernd arbeiten. Ach ja, arbeiten: Ihr seht den runden Holzstock vor dem Sitz. Das Ding heißt Steuerknüppel, weil es ein Knüppel ist zum Steuern. Er ist so festgemacht, dass ihr ihn in alle Richtungen bewegen könnt. Zieht ihr nach hinten, geht das Höhenruder nach oben und die Nase zeigt mehr in den Himmel. Schiebt ihr ihn nach vorne, ist es genau umgekehrt.“

„Ah, so ist das. Damit kann man also steigen und sinken.“ Otto strahlte.

„Grundsätzlich ja. Aber ganz so einfach ist auch das nicht. Ich will jetzt dem Unterricht in Aerodynamik nichts vorwegnehmen. An dieser Stelle nur so viel: Wenn ihr die Nase hochzieht, wird das Flugzeug erst einmal genauso weiter fliegen wie bisher nur mit einer anderen Lage. Aber dann überwiegt der geringere Widerstand in Richtung der Längsachse und der stärkere Auftrieb, weil die Flügel steiler stehen. Das Flugzeug bewegt sich dann mehr und mehr in deren Richtung. Das Resultat ist natürlich, dass die Höhe über Grund zunimmt. Es steigt, sagt ihr dazu einfach. Aber das geht nur bis zu einem bestimmten Winkel, der abhängig ist von der Bauart des Flugzeugs. Zieht man noch weiter hinaus, geschieht etwas sehr Unangenehmes: Man nennt das Abriss der Strömung. Dann habt ihr überhaupt keinen Auftrieb mehr und fallt wie ein Stein zum Boden. Nein, nicht wie ein Stein, sondern wie ein welkes Blatt, nur viel zügiger. Das passiert beim Segelflugzeug auch, wenn es zu lange steigt. Wegen der Schwerkraft wird es immer langsamer. Leider gibt es beim SG38 keinen Geschwindigkeitsmesser, also müsst ihr das fühlen. Man merkt es daran, dass das Flugzeug auf das Steuer immer weniger reagiert und spürt es auch am Hintern, wenn man erfahren genug ist. Der Ausdruck, den Flieger verwenden, heißt, es wird weich im Steuer. Wenn ihr nach unten steuert, wird demgemäß das Flugzeug immer schneller und auch das kann unangenehm werden, weil beim Abfangen dann gehörige Kräfte auftreten, die das Holz und die Verbindungen oder euch möglicherweise überlasten.“ Er lachte dabei teuflisch. „Dann kracht ihr auch auf den Boden, nur noch viel schneller. Wenn ihr den Knüppel seitwärts bewegt, bedient ihr das Querruder. Nach links kippt das Flugzeug auch nach links, weil das so gemacht ist, dass dann das linke Ruder nach oben geht und das rechte nach unten. Weil der Knüppel in alle Richtungen bewegt werden kann, könnt ihr auch beide Ausschläge kombinieren. Und jetzt höre ich auf, denn ihr seht dermaßen verwirrt aus, dass ihr euch erst einmal erholen müsst. Dazu gehen wir jetzt in die Werkstatt.“

Fritz ging sinnend um das Wunderwerk herum und entdeckte, dass daran viel mehr war, als das komische Gerippe vermuten ließ. Eine Menge Erfahrung versammelte sich hier und er bewunderte das elegante Profil des Flügels und freute sich darauf zu sehen, wie er gebaut wurde, leicht und haltbar zugleich. Haltbar, das war das Wort. Wenn bei einem Modell etwas auseinander bricht, ist das ärgerlich. Hier wäre die Wirkung essentiell anders, nämlich einmalig.

Das, was beim Betreten der Werkstatt sofort auffiel, war der Duft. Er setzte sich aus vielen Komponenten zusammen. Vorherrschend war das wunderbare Aroma frisch gesägten Kiefernholzes. Fritz fühlte sich sofort in seine Kindheit versetzt, als er häufig einem Schreiner zuschauen durfte und auch schon mit einer kleinen Säge Holzverschnitte noch kleiner machen durfte. Hinzu kam der scharfe Geruch eines holzbeheizten Bollerofens an der Rückwand der Halle, ein unbekannter weicher und aromatischer Geruch, der wie er sah, vom verwendeten Kaltleim herrührte. Ein wenig mischte sich auch noch der Schweiß der anwesenden Werktätigen unter, aber der störte kaum.

Im Grunde war es wie seine Modellbauwerkstätte, nur größer. Er sah sich an, mit welchem Aufwand die über 40 Rippen des Tragflügels hergestellt wurden. Jeweils nur zwei waren gleich. Große und für ihn unübersichtliche Zeichnungen schrieben die genauen Abmessungen vor, damit sie sich zu einem gleichmäßig verlaufenden Flügel formten. Jede Rippe bestand aus einem kleinen Fachwerkbau, um Gewicht zu sparen. Die Stoßstellen wurden mit dreieckigen, kleinen Brettchen verstärkt, so dass sie haltbar und formkonstant waren und so den zukünftigen Belastungen im Flug standhalten würden. Die Rippen wurden an lange Holme montiert, eine Nasenleiste und eine Endleiste verliehen dem Flügel zusammen mit einigen Diagonalstreben Festigkeit und Steifheit gegen Verwindungen. Überzogen wurde das ganz mit einer dünnen, wertvoll aussehenden Leinwand, die am Schluss noch mit einem speziellen Lack präpariert wurde, damit sie wasserfest und stramm über das Flügelgerippe gezogen blieb. Ähnlich, aber einfacher wurde das Höhenleitwerk und das Seitenleitwerk erbaut. Der Rumpf wies eine Besonderheit auf. Am unteren Ende wurde eine Kufe angebracht, die auf Gummifedern ruhte. Das machte die Landung für die Piloten erträglicher und schonte beim Aufsetzen die Konstruktion. Der von Fritz so bewunderte Pilotensitz wurde hier auch selbst gemacht. Die Rundung wurde über Wasserdampf gebogen und einige Schichten dieser Form zum Sitz verleimt. .

Albers zeigte ihnen dann den Bereich, in dem mit Metall gearbeitet wurde. Es ging um die Gelenke der Ruder, die nötigen Verschraubungen und vor allem um die vielen Drähte mit ihren Spannschlössern. Lediglich die zentrale Spannspindel und die Rollen würden von einem professionellen Hersteller gekauft. Für so eine komplizierte Konstruktion wären sie hier nicht eingerichtet. Gerade die Umlenkrollen der Züge für die Ruder seien ein ausgesprochen kritisches Bauteil und wären schon für viele, auch tödliche Unfälle verantwortlich gewesen. Fritz konnte sich gut vorstellen, welche Auswirkung es haben würde, wenn so eine Rolle das Seil verklemmen würde. .

Sie wurden in Gruppen eingeteilt, denen jeweils einer mit mehr Erfahrung als Meister vorstand. Um alle Arbeiten kennen zu lernen, würden sie regelmäßig den Arbeitsplatz wechseln. Die Nähe zum Material und die genaue Kenntnis der Konstruktion in allen Details wäre ein großer Vorteil für den zukünftigen Flieger, meinte Albers. Bei den großen Maschinen wäre das nicht mehr möglich. Aber sie würden einmal durch die Fertigung, zum Beispiel bei BMW in München, einem der Hersteller des neuen Jagdflugzeugs Me 109, geführt werden, um wenigstens eine Ahnung von allen Besonderheiten eines Flugzeugtyps zu bekommen.

„Woher weiß man denn, dass das verwendete Holz gut ist und wie die Stärken bemessen sein müssen, damit es hält, aber auch nicht zu schwer wird?“

„Eine gute Frage, Gefreiter Klein“, sagte Albers und nickte ihm anerkennend zu. Diese lebenswichtige Frage wurde hier wohl nicht oft gestellt. „Das Flugzeug muss leicht sein, damit es gut fliegen kann. So gut wie die Vögel können wir es noch nicht. Aber unsere Entwickler haben schon bemerkt und dann auch theoretisch hergeleitet, dass ein Kasten viel mehr Spannung und Scherkräfte aushält, als ein volles Stück Holz. Wie die Hohlknochen der Vögel ist er viel leichter und haltbarer. Man nennt das Torsionskasten und dieses Prinzip wird immer mehr angewendet. Beim SG 38 gibt es das noch nicht. Aber auch hier ist die viel leichtere Fachwerkbauweise stabiler als ganze Bretter. Die Größen für das verwendete Holz und die Stärken sind hauptsächlich Erfahrungswerte, die die Pioniere übrigens oft mit dem Leben bezahlt haben. Mehr und mehr wird aber auch an richtigen Berechnungen geforscht, so wie das im Bau schon üblich ist. Die Statikberechnung für Fachwerke hat hier schon Einzug gehalten. Und das Holz wird Stück für Stück geprüft, auf Astlöcher oder Abspaltungen und so weiter. Sie können also ziemlich beruhigt sein. Es ist alles so ausgelegt, dass die Haltbarkeit weit über den Beanspruchungen durch den Flug liegt. Nur Runterschmeißen sollten sie unser Vögelchen nicht.“ Hans Albers grinste wieder hinterhältig. Er war wirklich nett und auch noch kompetent.

„Jetzt hab' ich noch eine Frage. Der Schwerpunkt des Flugzeugs muss doch, so viel ich weiß, nach dem ersten Drittel des Flügels liegen. Wir sind aber doch verschieden schwer und unser Körpergewicht spielt doch beim Gesamtgewicht des kleinen Flugzeugs eine erhebliche Rolle.“

„Auch daran ist gedacht. Das werden sie noch im Unterricht genauer hören. Wir haben Ausgleichgewichte, das sind so Stahlscheiben. Die werden für jeden einzelnen von ihnen bestimmt und vor dem Flug am Schwanzende oder vor dem Sitz angebracht.“

„Wir haben das bei den Modellen mit Bleikügelchen gemacht.“

„Ja ja. Der Modellbau ist schon eine gute Sache. Nur müssen sie demnächst selbst draufsitzen“, sagte Albers, sichtbar amüsiert.

„Das ist das Problem“, sagte Fritz lachend.

.

Wenn man schon einige Menschen kannte und die geografische Umgebung erforscht hatte und sich die Tagesabläufe eingespielt hatten, entwickelt der Mensch ein Gefühl der Geborgenheit. Die vielen dunklen Gefahren des Unbekannten lauerten nicht mehr an jeder Ecke und man fühlte sich nicht mehr verloren in einer fremden Welt.

So erging es Fritz nach einigen Wochen. Die kindlichen Mitbewohner waren zwar keine Gesprächspartner, aber neben Hans Albers, der natürlich eine autoritätsbedingte Distanz wahrte, gab es weitere erfreuliche Menschen. Da war der redselige Schiffskoch, der tatsächlich die Kantine zu einem schwäbischen Gourmet - Tempel gemacht hatte oder der Kompaniefeldwebel Hoffmann, der sich als gemütlicher und freundlicher Hausmeister erwies, mit dem man jeden Kummer bereden konnte und der Probleme des Alltags aller Art auch gerne löste. Aufgehoben und versorgt war er mittlerweile wie bei der Grundausbildung in Braunschweig. Jede ablenkende Tätigkeit, die nicht dem Ziel der Flugausbildung diente, wurde ihm auf professionelle Weise abgenommen. Hinzu kam, und das war besonders erfreulich, dass sich auch noch Schüler seines Alters eingefunden hatten, allesamt Soldaten mit ordentlicher Grundausbildung und mit der Gemeinsamkeit nicht recht zu wissen, ob das NSFK nun ein Teil der Wehrmacht war oder ob man einfach noch keine entsprechende Organisation und Infrastruktur zur Verfügung hatte. Aber es war ihnen egal. Der morgendliche Appell erinnerte sie an einen ordnungsgemäßen Dienst und der Tagesablauf war frei von körperlicher Überanstrengung und außerdem auch noch höchst interessant für Menschen, deren Wunsch es war zu fliegen.

„Alle mal herhören“, rief Albers in die Werkstatt. Sofort wurde es still. „Heute haben wir ordentlich Wind von Süd. Das werden wir nutzen.“

Ordentlich Wind und von Süden. Fritz verstand nicht recht. Die werden doch nicht so verrückt sein, die heftige Luftbewegung zum Anlass zu nehmen, sie in die Luft gehen zu lassen. Das wäre ihm bei aller Lust zu fliegen, doch etwas forsch.

„Was ist Wind?“, sagte einer der Neuen, der Werner hieß. „Wind ist Luft, die es eilig hat.“

„Und was willst du uns damit sagen?“, fragte Fritz.

„Weiß ich eigentlich auch nicht.“

„Du musst dir doch etwas dabei gedacht haben?“

„Ja, dass eben eilige Luft Wind ist.“

„Und wo ist der Zusammenhang?“

„Da ist keiner.“

„Ach so.“

Albers unterbrach den geistreichen Dialog. „Alle rauskommen. Wir legen die Gewichte fest und dann könnt ihr schon einmal das Steuern probieren. Wir machen einen Pendelflug.“

„Was meint er?“, fragte Albert, genannt Albatros, weil er überlange Arme hatte und auch Flieger werden wollte.

„Keine Ahnung.“

„Wissen ist Macht, nichts wissen macht nichts“, sagte Werner, ohne das Gesicht zu verziehen.

„Du bist ein Schalk, Gefreiter Werner“, sagte Fritz.

„Ich brauche drei Leute, die mir helfen, die Aufhängung raus zu tragen“, sagte Albers.

Drei der Jungen meldeten sich sofort.

„Jetzt habe ich zu lange gewartet“, sagte Werner.

Der Gleiter wurde an einem Dreibein am Schwerpunkt aufgehängt und ein wenig hochgezogen.

„Wer ist der Erste?“

Jetzt war Werner Sieger.

„Reinsetzen.“ Werner krabbelte vorsichtig auf den Sitz. Gerade als er versuchte, eine stabile Sitzhaltung einzunehmen, neigte sich der Gleiter nach vorne und warf in hinaus.

„Holt mal die Scheiben.“

Mit ein paar Kilo am Schwanz gelangte Werner in eine stabile Gleichgewichtsposition.

„Merken Sie sich die Gewichte, Gefreiter. Und jetzt anschnallen. Das sind Hosenträgergurte mit einem zentralen Schloss am Bauch. Macht das nie auf, vor allem nicht, wenn ihr noch in der Luft seid. Aber auch nicht, wenn ihr denkt, abspringen zu wollen. Ich sag's euch lieber gleich. Es funktioniert nicht, das Abspringen. Ihr müsst immer zusammen mit dem Flugzeug landen. Immer, verstanden? Hier gibt es keine Fallschirme. So, der Herr Gefreite Baumann kann jetzt losfliegen.“

„Wie losfliegen?“

„Benutzen sie die Steuerelemente, wie sie es theoretisch gelernt haben. Der Wind macht dann mit dem Flugzeug etwas. Und keine Angst, sie können hier nicht weg.“

Fritz schaute aufmerksam zu. Und tatsächlich. Der Gleiter reagierte auf die Steuerausschläge um alle Achsen. Das war ja eine Supersache.

Er war der Nächste. Ehrfürchtig stieg er auf den Sitz und schnallte sich an. Die Gewichte Werners passten auch für ihn. Dann nahm er den Knüppel in die Hand und ein Hochgefühl überkam ihn. So würde sich das anfühlen, das wirkliche Fliegen. Zum ersten Mal rückte es in unmittelbare Nähe. Er vergaß alles um sich, schaute in die Ferne und fühlte sich frei und großartig. Er hatte über die ganzen Jahre das richtige Ziel angestrebt. Hier war seine Welt. Auch, wenn es gerade mal dreißig Zentimeter bis zum Boden war.

„Wenn sie mit den Träumen fertig sind, Gefreiter, dann lassen wir los.“

Der Wind hob den linken Flügel an, kurz darauf kippte er wieder nach unten und Fritz wurde ein bisschen herumgeschüttelt.

„Erinnern Sie sich noch an die Funktionen des Knüppels“, blaffte Albers. „Der ist nicht zum Festhalten da.“

Fritz gab sich einen Ruck und kehrte in die Realität zurück. Er probierte den Ausgleich der Rollbewegung um die Längsachse und machte alles falsch. Er kam mit seiner Steuerung immer ein wenig zu spät, was dazu führte, dass der Gleiter in eine Pendelbewegung geriet, die immer stärker wurde.

„Laß los“, rief Albers. „Sonst geht noch was zu Bruch.“

Erschrocken nahm er die Hände vom Knüppel und gleich wurde das Gerät wieder stabil und schaukelte nur ein wenig nach links und rechts.

„Schaut alle hin. Daran seht ihr, dass es eine gute Konstruktion ist. Im Allgemeinen stabilisiert sich die Lage von selbst.“ .

Fritz erinnerte sich an sein Modell. Da hatte er diese Aufgabe auch zu lösen. Ein Pilot störte diese gutmütige Eigenschaft.

„Jetzt probieren sie noch die anderen Steuerelemente.“

Das mit den Pedalen und dem Seitenruder war einfach. Das Flugzeug drehte sich um die Hochachse und pendelte zurück, weil es festgezurrt war. Diesmal fand Fritz es unterhaltsam, es in eine Drehschwingung zu versetzen. Das Kippen um die Querachse mit dem Höhenruder funktionierte auch ganz gut. Der Wind drückte den Schwanz entweder nach unten oder nach oben. Der SG38 schien sogar leichter und schwerer zu werden, was aber ein falsches Gefühl sein musste.

Als er ausstieg, war er sehr verunsichert. „So einfach ist das gar nicht“, seufzte er.

„Gut, dass man sie nicht losgelassen hat“, sagte Albers. „Aber keine Sorge, die Meister fallen nicht vom Himmel.“ Er lachte über seine Zweideutigkeit und würde sie in sein Repertoire aufnehmen. „Merkt euch alle etwas: Es gibt alte Flieger und tollkühne Flieger. Aber es gibt keine alten tollkühnen Flieger. Und ihr werdet, wenn es nach mir geht, nicht tollkühn. Dass das ein für alle Mal klar ist. Auch wenn Udet unter einer Brücke durchgeflogen ist, er wusste genau, was er machte. Das war präzise Vorbereitung, er kannte die Windverhältnisse, er wusste in jeder Lage, wie sein Flugzeug reagieren würde. Der war nicht tollkühn. Der war einfach nur professionell. Und deswegen werden wir noch einige Male pendeln.“ Fritz war ein wenig desillusioniert. Er würde noch vieles lernen müssen.

Schon bald erfuhr er, dass das Steuern des Flugzeugs ein sehr kleiner Bestandteil des fliegerischen Könnens war. Man musste es lediglich so üben, dass die Handgriffe automatisch abliefen. Bewusstes Nachdenken führte schnell zu Fehlern, wie seine Resonanzkatastrophe am Pendel gezeigt hatte. Erst wenn alle Bewegungen im Unterbewusstsein abliefen, wie das Gehen oder Laufen oder das Klavierspielen, konnte man sich den eigentlichen Dingen zuwenden. Wie zum Beispiel der Navigation. Das Thema interessierte ihn besonders und in Werner hatte er einen Gleichgesinnten.

Sie waren weit überlegen, wenn es darum ging, Navigationsaufgaben zu lösen. Sie fanden es im Gegensatz zu den anderen interessant mit Papier, Tabellen und mit Rechnen einen Flugplan zu erarbeiten. Auf der Karte wurden vom Lehrer verschiedene Zielpunkte vorgegeben, die zu überfliegen waren. Wenn sie einmal in richtigen Flugzeugen säßen, würden sie das Erreichen dieser Punkte mit einem Foto beweisen müssen. Zu dieser Mission sollten sie die Richtung der einzelnen Strecken, die Dauer, wie lange der Pilot sie fliegen musste, die Geschwindigkeiten und die Gesamtdauer des Fluges berechnen. Sie lernten schnell, wie viele Aspekte für die Lösung zu berücksichtigen waren. Eine Zusatzaufgabe bestand darin anzugeben, um wie weit ein Pilot das Endziel verfehlen würde, wenn man die einzelnen Ungenauigkeiten zu einem schlimmsten Fall addieren würde.

Der Magnetkompass war die erste Hürde. Klar konnte man den Kurs einer Strecke aus der Karte mit dem Winkelmesser leicht entnehmen, da die Karte immer nach Norden ausgerichtet war. Als Erstes lernten sie aber, dass das mit dem Norden sehr unpräzise war und lange nicht für eine richtige Navigation ausreichen würde. Da war zuerst die Nadelabweichung zu begreifen. Das ist der Unterschied zwischen der Gitternordrichtung einer Karte und der Nordanzeige des Kompasses. Hier spielen zwei Aspekte eine Rolle. Zum einen sind die Gitterlinien auf der Karte parallel gezeichnet, was die Wirklichkeit der Erdkugel nicht korrekt wiedergibt. In der wirklichen Geometrie verjüngen sich die Abstände zu den Polen hin, abhängig von der genutzten Projektionsmethode. Man nennt das Mediankonvergenz. Zu berücksichtigen ist auch, dass der geografische Nordpol und der magnetische Nordpol nicht identisch sind. Dazu kommt die sogenannte Deklination. Das ist die Abweichung des Erdmagnetfelds aufgrund lokaler und geologischer Gegebenheiten. Ist zum Beispiel der Boden stark eisenhaltig, bekommt das Magnetfeld Dellen und die Kompassnadel folgt diesen Dellen. Die Deklination ist ortsgebunden und wird auf den Profikarten angegeben. Sie kann bis zu mehreren Winkelgraden betragen. Schließlich gibt es noch die Deviation. Das ist die Ablenkung der Magnetnadel durch Metalle im Flugzeug je nach Einbauort des Kompasses. Die Hersteller liefern dafür eine Deviationstabelle. Nun ja, beim SG38 gab es keine Deviation, weil alles aus Holz war. Oder machten die Schrauben etwas aus? Albers wusste es auch nicht. Aber da der SG38 gar keine Instrumente hatte, war es gleichgültig.

Das Nächste war, dass man die Versetzung des Flugzeuges durch den Wind berücksichtigen musste. Den augenblicklichen Wind bekam man vom Wetterbericht und zwar die Stärke und die Richtung in verschiedenen Höhenlagen. Dass beides sich natürlich in recht kurzen Zeitabständen ändern konnte, war klar, sollte aber für ihre Aufgaben nicht berücksichtigt werden.

Wenn man richtig fliegen würde, gäbe es noch eine Vielzahl anderer Effekte, die sie erst einmal völlig überforderten, wie die Störung der Kompassnadel bei Beschleunigung oder beim Kurven, die falsche Geschwindigkeitsanzeige in Abhängigkeit von der Flughöhe und der Luftanströmung beim Steigen oder Sinken, die Änderung der Höhenanzeige in Abhängigkeit vom Luftdruck und vieles mehr. Wiederum gut für den Erstflug, dass der SG38 gar keine Anzeigen hatte. .

Werner und Fritz berechneten die Kurse äußerst raffiniert. Im Gegensatz zu den anderen betrachteten sie die Höhenprofile auf den Karten ganz genau und versuchten, die Windänderungen durch die Hügel oder bei Tälern mit zu berücksichtigen. Das führte dazu, dass ihre Lösungen von den vorgegebenen Standardlösungen abwichen und sie mit Hans Albers heftig diskutierten.

„Meine Güte“, seufzte er. „Ihr habt ja recht. Aber wenn ihr wirklich navigieren müsst, ist alles noch einmal anders. Rechnet jetzt doch einmal aus, wie sich mögliche Fehler im schlimmsten Falle auswirken würden.“

Sie rechneten mit den vorgegebenen Ungenauigkeiten der Geschwindigkeitsmessung, der Tatsache, dass sich ein Kompass nur auf etwas weniger als 5 Grad genau ablesen ließ und den in einer Tabelle angegebenen Wahrscheinlichkeiten, wie sich die Strömung der Luft innerhalb der voraussichtlichen Gesamtflugzeit verändern würden. Und das Ergebnis war erschreckend. Auf einer Distanz von weniger als 50 Kilometern würden sie ihr Ziel um über zehn Kilometer verfehlen. Ihren Flugplatz würden sie bei schlechter Sicht niemals finden. Fritz fand das ziemlich enttäuschend. Wie schnell konnte man da oben verloren gehen. Einsam würde man umherkurven ohne eine Ahnung, wo man sich befindet und ohne eine Aussicht unversehrt wieder zum sicheren Oberflächenwesen zu werden.

„Macht euch mal keinen Kopf.“ Albers hatte die bedenklichen Gesichter gesehen. „Ich spreche aus Erfahrung. Wenn man oben ist, sieht plötzlich alles gleich aus, auch bei blendender Sicht. Die Orte sind nicht beschriftet, die Hügel und Berge sind beliebig und ihr wisst schnell nicht mehr, wo ihr seid. Bei euren ersten Flügen mit richtigen Flugzeugen müsst ihr navigieren lernen mit euren Augen. Man nennt das großspurig terrestrische Navigation. Dafür sind auf euren Karten viele Details eingezeichnet. Am besten sind die Seen, die erkennt man sofort an ihrer Form. Dann kommen die großen Flussläufe, auch da könnt ihr anhand der Karte schnell feststellen, wo ihr seid. Es gibt aber auch feinere Möglichkeiten. Zum Beispiel die Autobahnen, die unser Führer so großzügig bauen ließ. Die sind schnell erkennbar wegen ihrer beiden Spuren. Bei Straßen wird es schon schwerer. Da müsst ihr auf den Karten oft mühsam suchen. Ganz gut sind auch Überlandleitungen oder markante Gebäude. Ist alles eingezeichnet auf den Karten. Denkt einfach daran: Das Fliegen ist Handwerk, die Navigation ist Kunst. Später werdet ihr auch noch andere Methoden kennenlernen, zum Beispiel das Mitkoppeln. Das heißt aus Kurs und Geschwindigkeit und Wind zeichnet ihr den Weg laufend auf. Da gibt es wahre Künstler, die auch bei dichten Wolken noch nach Hause gefunden haben. Aber am besten ist die neu entwickelte Funknavigation. Man nennt das X-Verfahren, glaub ich, und ihr werdet das später lernen. Die Engländer übrigens, versuchen es immer noch mit astronomischer Navigation. Das können die gut, schließlich ist England die Seefahrernation und musste das über die Jahrhunderte perfektionieren. Ich kann mir aber nicht gut vorstellen, wie die das im Flugzeug machen wollen. Von da mit dem Sextanten 'das Besteck nehmen' ist irgendwie eine komische Vorstellung. Außerdem sind sie viel zu schnell dafür. Auf den Schiffen haben sie das nur einmal am Tag in aller Ruhe gemacht. Komische Methode, finde ich.“

Ihnen schwirrte nach all diesen Ausführungen der Kopf. Fritz beschloss sich zu beruhigen und sich auf etwas ganz Einfaches zu konzentrieren, für das es keine Navigation benötigte, den Erstflug.

Der Tagesablauf hatte sich eingespielt. Werkstatt und Unterricht wechselten sich ab und keiner sagte ihnen, wann denn das Fliegen auf dem Programm stand. Fritz trennte sich abends immer häufiger vom Kinderspielzimmer, wie sie es nannten, dem Aufenthaltsraum für die Schüler, wo großzügig Limonade getrunken wurde und wo je nach Mentalität Schach oder Kartenspiel der Unterhaltung dienten. Es gab auch einen Tischtennisraum, der bis in die späte Nacht benutzt wurde. So mancher kam am Morgen unausgeschlafen in den Unterricht. Aber man behandelte das ganz im Gegensatz zum richtigen Militär recht großzügig. Nur lautes Schnarchen im Schulungsraum war eher unbeliebt.

Meistens fuhr er führerscheinlos mit Werner und Albatros mit einem vom Koch geliehenen Adler nach Schwäbisch-Gmünd in den Dorfschmied, einer gemütlichen Kneipe mit großartigem Bier und kleinem Imbiss. So entwickelte sich eine Art Stammtisch, an dem sogar Mädchen teilnahmen. Das war anders als in Riegsee. Leider waren auch die Gesprächsthemen anders. Da sie aber selten in Streit ausarteten, fand es Fritz ganz angenehm.

Heute wurde es richtig politisch. „Was haltet ihr vom Anschluss Österreichs?“, fragte Werner. Die beiden Mädchen neben ihm schauten erwartungsvoll in die Runde.

„Hauptsache, die richten sich nach uns“, sagte Karl-Heinz, der sicher nicht von hier war. Aber er wohnte in Schwäbisch-Gmünd und war bei einer Bank beschäftigt, so weit Fritz sich an die gegenseitige Vorstellung erinnerte. Karl-Heinz war immer ein bisschen missmutig, weil die Neuen am Stammtisch, die Flieger, ihm die Schau stahlen. Vielleicht wollte er ja mit einem der anwesenden Mädchen anbandeln und sah seine Chancen jetzt deutlich schlechter. Seine einzige Hoffnung war, dass die Flieger auch wieder davonfliegen würden. Bei genauerer Betrachtung der anwesenden Mädchen fand Fritz, dass sich Karl-Heinz keine allzu großen Sorgen machen müsse. Da war Ursula, eine schmale, blasse Blonde mit einem recht süßen Gesichtchen, und, was Fritz durchaus gefiel, einer sehr schlanken Figur, von der man allerdings nicht allzu viel sehen konnte. Neben ihr saß eine kleinere, feste Brünette, Roswitha, mit ansehnlichem Busen. Nicht, dass ihn das besonders gereizt hätte. Es war nur so, dass sie verstand, dieses Zeichen der Fruchtbarkeit und der mütterlichen Qualitäten zur Geltung zu bringen. Der etwas eng anliegende, taubenblaue Pulli passte nicht ganz zu ihrer Haarfarbe, aber wer achtet schon peinlich auf so etwas. Ihre Figur war in sich stimmig, fand Fritz. Sie war weich und rund, aber keinesfalls übergewichtig. Um die Absicht einer späteren Heirat besser zu bewerten, müsste man unbedingt ihre Mutter sehen, dachte Fritz belustigt. Bei Roswitha lag der Verdacht nahe, dass sich ihre Figur im häuslich-mütterlichen Alltag zu ihren Ungunsten, vor allem nicht zur Freude ihres Mannes entwickeln könnte. Aber vielleicht war es den Männern hier auch gleichgültig, Hauptsache sie sorgten ordentlich für seine Nachkommen. Sie hatte gepflegte Hände mit für ihre sonstigen Proportionen schmalen Fingern, die gewohnt waren, benutzt zu werden. Nähen oder Stricken, dachte Fritz. Sie kam also aus einem ordentlichen, bürgerlichen Haushalt. Werner saß immer neben ihr, entweder aus einer einmal zufällig entstandenen Sitzordnungsgewohnheit, oder weil er mit dem Gedanken spielte, der Dame über kurz oder lang eventuell noch etwas näher zu kommen.

„Ich finde es gut“, sagte Fritz. „Schließlich sprechen wir die gleiche Sprache und haben die gleichen Wurzeln. Ich fühle mich in Österreich immer zu Hause.“

„Warst du da schon?“, fragte Roswitha. Es war ihr erster Sprachbeitrag an diesem Abend.

„Ja, oft schon. Da ist es wirklich schön und die Menschen sind sehr gastfreundlich und nett.“

„Aber da sind die Berge doch so hoch“, warf Ursula mit zarter Stimme ein.

„Ja, das ist schon etwas anderes als der Hornberg“, sagte Karl-Heinz weltmännisch.

„Ja schon. Aber das ist ja gerade das Schöne“, antwortete Fritz.

„Ich weiß nicht, was daran schön sein soll. Da muss man doch dauernd Angst haben abzustürzen.“

„Du warst da noch nicht, Ursula. Glaub mir, die normalen Wege sind nicht gefährlich. Man darf nur nicht vom Pfad der Tugend abweichen.“

„Ich bin aber nicht schwindelfrei. Du müsstest mich halt einfach beschützen und festhalten, dann könnt' ich das.“ Ursula errötete dabei. Das war schon beinah keck, dachte Fritz amüsiert.

„Nun lass doch den Fritz“, sagte Roswitha. „Du mit deinen kleinlichen Bedenken.“

„Ich mein' ja nur. Ich hab halt keine Ahnung.“

„Wir sollten denen vor allem beibringen, wie eine ordentliche Verwaltung funktioniert. Da sollen sie mal ein paar Leute hinschicken“, sagte Karl, ein rotblonder, muskulöser Mann, der so aussah, wie ein bayrischer, jähzorniger Bauernbursch, der auch einer guten Rauferei nicht aus dem Weg ging. Wahrscheinlich war er aber ganz friedlich, wie alle hier.

„Die können das schön, Österreich-Ungarn war ja schließlich ein gut funktionierender Staat und jahrhundertelang dominierend in Mitteleuropa“, sagte Fritz.

„Ja, ich weiß schon, die Donaumonarchie. Aber das ist doch lange her.“

„So lange auch wieder nicht“, meinte Werner. „Es gibt solche und solche, aber es gibt mehr solche als solche.“ Fritz schaute erstaunt Werner an, weil er den Sinn nicht verstand. Ursula und Roswitha sahen ihn mit Hochachtung an, weil sie es auch nicht verstanden.

„Was soll das jetzt heißen?“, fragte Fritz.

„Ja nichts“, entgegnete Werner. „Aber es stimmt doch, oder?“

„Ihr Männer müsst immer über Politik reden. Mich würde interessieren, was die so essen“, sagte Roswitha.

„Tiroler Speckknödel oder Salzburger Nockerl oder Kaiserschmarrn, mmmm“, sagte Werner.

„Haben die auch Spätzle?“

„Eher nicht.“

„Ich finde toll, dass unser Führer das so gemacht hat. Einfach einmarschieren, fertig“, Karl-Heinz ließ sich nicht abbringen.

„Nur gut, dass sie sich nicht hätten wehren können. Wir haben die Luftüberlegenheit“, sagte Werner grinsend.

„Ihr hättet das aus der Luft gemacht, oder?“, fragte Roswitha.

„Jaaaa“, sagte Fritz gedehnt und dachte an den Schulgleiter. „Später vielleicht.“

„Habt ihr keine Angst, so alleine in der Luft?“ Es war wieder Ursula. Angst war eindeutig ihr Lieblingsthema.

„Bis jetzt noch nie“, sagte Werner und Fritz grinste ihm verständnisvoll zu.

„Tolle Leute, diese Flieger.“ Es schwang Bewunderung in Karls Worten mit, aber man sah, dass er es gleich bereute. „Aber so schwer wird das schon nicht sein“, ergänzte er. „Es kommen ja immer mehr auf den Berg. Und von da oben kenn' ich ein paar Leute, die sind ganz normal.“

„Ist es da nicht kalt. Friert ihr da nicht, vor allem jetzt in dieser Jahreszeit.“