Zehn Tage / Bericht über einen inneren Aufenthalt - Ludwig Hohl - E-Book

Zehn Tage / Bericht über einen inneren Aufenthalt E-Book

Ludwig Hohl

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Beschreibung

Zehn Tage und Bericht über einen inneren Aufenthalt sind Texte aus der Internierung. Zehn Tage wurde aufgezeichnet nach einer unfreiwilligen stationären Behandlung in einer Pariser Psychiatrieanstalt. Ein Jahrzehnt später dokumentiert der Bericht über einen inneren Aufenthalt eine Untersuchungshaft im Genfer Gefängnis Saint-Antoine. Die Texte schildern Zellen, in denen Schreiben verboten ist, in denen Gedanken und innere Welten jedoch unendlich viel Raum erhalten. Die Spannung zwischen geistiger Weite und körperlicher Gebundenheit ist kaum auszuhalten. Nach der Haft rekonstruiert Hohl Orte, Szenen und Typen; gleichzeitig reflektiert er Gedanken, Ängste und Bilder aus der Gefangenschaft, die als existenzielle Erfahrungen in seine Texte einfließen werden.

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Seitenzahl: 293

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Cover

Titel

Ludwig Hohl

Zehn Tage

Ein Bericht

Bericht über einen inneren Aufenthalt

(18.-22. April 1941)

Mit einem Nachwort von Andreas Langenbacher

Herausgegeben im Auftrag der Ludwig Hohl Stiftung von Bettina Mosca-Rau

Suhrkamp Verlag

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Erste Auflage 2023Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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eISBN 978-3-518-77703-9

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Zehn Tage. Ein Bericht

Dokumentarischer Anhang

Brief von Gertrud, s. S. 24 (blaugrün, 1 S.,

Pneumatique

)

Brief von Gertrud, s. S. 25 (3 S., ohne Umschlag)

Brief des Irrenarztes Gilbert Maire an Madame Linder (1 S.,

Pneumatique

)

Ein Zettel, der mir überreicht wurde bei meinem Austritt am 10. April 1930, nur einige Worte enthaltend, die den Austritt bestätigen.

Ein Stück Papier, die Unterschrift D. Chatriots enthaltend.

Bildteil

Stellenkommentar

Editorische Notiz

Bericht über einen inneren Aufenthalt

Der Samstagmorgen

Einzug in ein berühmtes Haus

Juge d'instruction

Zelle 25

Epilog

Dokumentarischer Anhang

Karte von Blanche Lévy, s. S. 195

Brief von Lotte Hohl-Mayenburg (geb. Charlotte Heinsius von Mayenburg, Ludwig Hohls erste Ehefrau), s. S. 211

Bildteil

Stellenkommentar

Editorische Notiz

Ein Nachwort in Notaten

Zu Ludwig Hohls ›Berichten‹

Fußnoten

Informationen zum Buch

Zehn Tage. Ein Bericht

(eine Beigabe zum Heft betitelt »das zweite Kapitel Jona«, begonnen am 23. Febr. 30. Am 31. März sind in dieses Heft die letzten Aufzeichnungen geschehen; am 10. April, in ganz geänderter Schrift, beginnen sie wieder von neuem; was dazwischen liegt, soll nun in kurzen Notizen rekonstruiert werden, gestützt auf eine Chronologie durch G. geliefert, auf eigene Erinnerung und auf Überlieferungen anderer; aber nur strengstens Tatsachen sollen verzeichnet werden unverfälschteste Wahrheit; keine Kommentare dabei. Jede psychologische Motivierung für das Zustandekommen dieser Zustände wird hier unterlassen.

– – –)

Mittwoch 2. April 1930 mit R. eine Aussprache, nachdem er mich gesucht hatte; ich war kalt wie Stein ihm gegenüber und warf ihm in nackter Unerbittlichkeit sein Verhalten an einem der vergangenen Tage vor: »Wenn die Dinge so oder so sind, wer kann ändern; bin ich denn etwa ein Kerkermeister, nehme ich mir Rechte? Aber Eines ist unverzeihlich an dir: (auch das kann ich nicht anders verlangen, aber ich sage dir, dass ich es niemals von einem Freund verstehe) dass du nicht mit mir geredet hast! Und doch benahmest du dich, als ob du noch mein Freund wärest! Nicht nur geschwiegen, nein, sogar auf raffinierteste Art mich sicher gemacht! Ich erinnere mich genau an deine Worte an jenem Samstag Abend – als G. mit F. weggefahren war und du meinen Zustand sahst – Wirklich (wie plötzlicher Einfall) wirklich, ja es gibt Leute, die so sind! . ‌. und . ‌. und das Sexuelle ist eine ganz kleine, ganz belanglose Sache . ‌. und . ‌. Das ist sicher! Gewisse Dinge muss man nicht nur sagen, sondern auf den Dächern schreien! … Und ich wurde beruhigt davon. Denn wenn ein Mensch so sprechen kann – –«

Er klagend: »Ich liebe Deine Frau!« – »Damals hättest du es sagen sollen!!!! Heute ist es nichts mehr wert.« »Aber ich dachte doch, dass du wüsstest – –« Das schien mir Schläge zu verdienen.

»Überhaupt, du liebst sie gar nicht … du begehrst sie ‌…« – »Das! – – – – Ja, da . ‌. bleibt mir nur noch eines – – – – – Gewalt gegen mich selber zu tun.« »Mach kein Theater!« Der Schlag hatte richtig getroffen, er wusste nichts mehr zu sagen.

Späterer Abend. G. Er stand drüben beim Dôme. »Siehst du, da drüben steht er.« Sie wollte, dass er herkäme und mich nicht stehen lassen. »Wart nur, ich will ihn holen! Und du wirst hören, was ich ihm sagen werde! Zerschmettern werde ich ihn mit der richtigen Bezeichnung seines Verhaltens!« Ich hatte schon zu trinken begonnen. Sie wartete zögernd. Zusammen alle drei in Rotonde, hinten nahe Toilette, wo man sonst nie sitzt. Ich trank gewaltig, den gewaltigen Donner immer größer werden lassend in mir, mit dem ich ihn heimsuchen würde. Er wurde so groß, dass er mich selber übermannte. Ich sprach zu ihm, zu beiden; das Leid hatte mich ergriffen, ich saß Kopf auf Tisch; ich redete und hatte nicht Zorn mehr, sondern in gesteigertem Rausch hatte ein größeres Gefühl mich überflutet; ich sah mich in der Ferne und redete aus der Ekstase der größten Tat. Der Rausch wurde stärker. Ich nahm 3 Gramm Veronal. R. dachte nicht ans Trinken. Aber er geleitete mich mit G. im Taxi nach Montrouge. Denn sie hielten es nicht mehr anders für möglich mich nach Hause zu schaffen; schon wusste ich die Dinge nicht mehr alle recht! Ich erinnere mich keineswegs, wie wir in den Taxi stiegen. Nur in ihm, in aus der Finsternis hervorbrechender letzten Steigerung, die verschiedene Elemente in sich hatte, fasste, umarmte ich ihn, küsste ihn (und nicht nur offiziell, denn der Rausch war fürchterlich!) Ich soll auch, wie G. berichtete, woran ich mich nicht mehr erinnerte, seinen Arm um sie gelegt haben. In bedenklichem Zustande in Montrouge angekommen, wo R. uns verließ, Grande Rue.

Am nächsten Tag, 3. April, in der Bar der Rotonde gesoffen, Kora dabei, G., Schweizerin (Ida Ernst) und R. Diesmal fuhr ich ganz anders auf ihn los, war stärker betrunken und in anderer Art. Es kam so weit, auf all meine maßlosen Vorwürfe und Beschimpfungen hin, dass er, auf mein halb im Spaß halb im Ernst gemachtes Zitat »Je veux vous montrer ma volonté« und wohl auch auf meinerseits vorgekommene Handgreiflichkeiten hin, dass er sich auf mich stürzen wollte! Woraufhin ich ihn aus der Bar hinauswarf. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Er ging weg mit irgendeiner Motivierung und kam nicht wieder. Ich erinnere mich nur noch dunkel, es war eine ganz dunkle Nacht.

Aber ich erinnere mich genau, dass ich nun maßloser zu saufen begann als je; ich besaß ein wenig Geld. Man verweigerte mir Getränke in der Rotonde; ich ging mit Drohungen weg und in den Kosmos; Kora kam mit; trank mit, ohne Diplomatie, wirklich mit; das war einer der klaren Punkte, an die ich mich nachher erinnerte, und etwas wunderbar Mildes in aller Verlassenheit.

Ich kam zurück in die Rotonde, vielleicht etwa 2 Uhr, 3 Uhr und sah deutlich G. mit der Schweizerin vorn im langen Saal sitzen und trat hinzu. Aber sogleich legten sich Hände mir auf die Achsel; ich wandte mich und sah zwei Polizisten, die mich nun hinauswarfen, mit Stößen und Griffen und draußen aber nach einigen Stößen stehen ließen. Die zwei Mädchen und Kora kamen nach. Und nun folgte das Wesentlichste an dramatischer Entwicklung, der entscheidendste Punkt. Es war am 4. April früh morgens und auf den 4. April sagte meine am 25. März gemachte Prognose (Sonne 14 V, u. ‌s. ‌w., siehe dort) »Sehr günstig für die in Prognose angezeigten Erfüllungen X, 11; schadend Saturn.«

Ich sagte zu G.: »DU BIST AN ALLEM SCHULD!« –

Darauf schlug sie mich ins Gesicht (nicht stark, aber mehrere Male, behauptete Kora. Ich wusste nicht mehr Détails).

Darauf schlug ich auch, nur einmal (ich hätte mehr gestoßen, nach Kora). Ganz scharf erinnerte ich mich stets an das Folgende: Ich sah G. zwei Stufen weit unten liegen auf der Metrotreppe und erschrak. Ich war als erster bei ihr trotz meiner Besoffenheit. Aber ehe ich sie aufheben konnte, wurde ich von hinten erfasst, bekam Hiebe, Schuhtritte, war machtlos preisgegeben: die Polizei. Ohne irgend Zögern wurde ich weggeführt, vielmehr – gerissen, in starkem Tempo die Straße hinunter, was bei meinem Zustand schon eine Marter war, dazu unter steten Misshandlungen. Die drei Mädchen gingen nebenher. Noch jetzt am 1. Juni, sind Spuren eines Fußtritts da am linken Schenkel, die andern blieben auch lange, sind aber vergangen außer einer kleinen Spur am linken Handgelenk: Das war das Ärgste; ein mittelalterliches Marterinstrument um das Handgelenk, das ich nicht sah unter dem Mantelärmel und zudem sah ich überhaupt nicht viel, wusste zwar, dass es erst in die rue Vavin hinunterging, aber nicht wohin dann, ich meinte nachher St. Sulpice, aber G. sagte rue Fleurus. Die andern Misshandlungen, auch stärkste Schläge, spürte ich kaum, am Handgelenk hatte ich das Gefühl einen Draht umgelegt zu haben, in dem ein Knebel steckte, den man drehte und sagte das der neben mir schreitenden G. deutsch, wofür ich natürlich wieder etwas auszustehn hatte; wenn ich dabei noch widerspenstig gewesen wäre! Aber ich fügte mich wie ein Lamm, bat den Polizisten, doch diesen Draht wegzutun, aber er zog ihn als Antwort fester an. Sehen konnten ihn übrigens auch die andern nicht. G. hatte keinen ernstlichen Unfall genommen und sich leicht wieder erheben können, mit einer kleinen Wunde am Schenkel, die auch ein paar Wochen blieb.

Auf dem Kommissariat – meine Erinnerung beginnt hier schon so dunkel zu werden, dass ich nur ausnahmsweise noch etwas weiß – drang G. auch mit ein, wie sie und Kora erzählten; sie sagte, dass sie den Anfang gemacht hätte, aber man wies sie hinaus; sie könne morgens 6 Uhr wiederkommen, dann werde ich freigelassen; Kora hätte nur gelacht, erzählte G. nachher entrüstet; aber sie war doch mitgekommen, und wozu nicht lachen? Mir aber, sobald ich in dem kahlen Loch hinter dem Gitter steckte, wie immer aller Dinge außer den Kleidern, von Schreibbuch und Gürtel und Schuhriemen bis zu Taschentuch und winzigstem Bleistift beraubt, wurde die Existenz so qualvoll, dass ich gegen die Mauer rannte mit dem Kopf. Der Stoß war nicht stark genug für Betäubung und ich wiederholte ihn nicht. Ich saß oder lag auf der Bank in Trostlosigkeit, schrie, sang, schlummerte vielleicht ein wenig, sah alle halben Stunden das Gesicht eines Polizisten auf einmal hinter den Gitterstäben; bisweilen merkte ich's auch nur, weil er etwas sagte; dann, meiner Gegenrede nicht achtend, höhnisch lachend, verschwand das Gesicht wieder für eine halbe Stunde oder Stunde; Stille, Kälte, weniges Wasserrauschen, im Pissoir, das als einzige Ausstattung außer der Bank die Zelle schmückte, und ferner draußen in den kalten Gängen; hie und da ging eine Türe oder hörte man die Polizisten lauter lachen oder reden als sonst, die vorn im Wachtlokal Karten spielen, fressen, die Zeit vertreiben mochten. Für sie war es ein Tag wie alle Tage.

Aber auf einmal widerfuhr mir etwas so Außerordentliches, dass es niemand glauben möchte: Alles hatte man in meinen Taschen gefunden bis zum winzigsten Ding, einem unscheinbaren Bleistiftende, einem kleinen Papier, dem letzten Sous, der in einer Tasche verborgen war; und eine Veronalschachtel von mindestens zehn cm Länge (es war nicht die übliche Schachtel, die 10 mal ¼ Gramm enthielt, sondern eine Schachtel von der Porte d'Orléans von 20 mal ½ Gramm), weiß und eckig, mit dem Glasfläschchen drin, noch gut gefüllt, war in meiner Tasche geblieben! Mein Glück war unbeschreiblich. Ich aß davon reichlich. Dann kam wieder ein Polizist. Ich lachte laut sein Gesicht an, das man undeutlich hinter dem Gitter sah und rief einen Gruß und es gehe mir ganz gut, ich werde ein bisschen einen dicken Schlaf jetzt tun und sie werden vielleicht ein bisschen eine Leiche hinaustragen und ich hätte mich jetzt total beruhigt und derartiges. Er wollte mit gelangweilt verachtender Miene weggehn, da kam mir ein anderer Gedanke, um ihn zurückzuhalten: Ich hielt die Schachtel hoch; er sah sie im letzten Moment und auf einmal wechselte der Ausdruck seines Gesichtes; die vorigen Worte gewannen ihm Sinn. – »Was ist das? Was hast du da?«

Ich wurde aus der Zelle geführt, ins Wachtlokal; alle eben erwähnten Dinge sind mir dunkel, z. ‌B. die vorige Rede möchte ungefähr so gelautet haben; aber eines ist mir ganz klar unter allen Dingen in Erinnerung geblieben: die Bestürzung auf den Gesichtern, als die Veronalschachtel von Hand zu Hand ging; sie dachten gar nicht daran mich zu prügeln; sie stellten nur Fragen, die ich, der Fröhliche unter ihnen, reichlich beantwortete; auf einmal wurde ich ernst und bat heftig um Wasser, denn ich spürte grauenhaften Durst; und ein Polizist brachte mir Wasser, einen großen Holztopf voll!!

Dann wurde ich wieder in die Zelle gesteckt und von nun an weiß ich nichts mehr.

G. erzählte, dass man mich 6 Uhr morgens, als sie ankam, bewusstlos in einen Taxi getragen und einen Polizisten mitgegeben hätte; sie hätte an meiner Stelle für die Rückerstattung der Gegenstände unterschreiben müssen: in Montrouge hätte der Polizist mich ins Hôtel getragen (er sei ganz anständig gewesen, dieser). Während ich angekleidet auf dem Bette lag (auskleiden war unmöglich), ging sie einen Moment aus dem Zimmer und als sie wiederkam, lag ich schon neben dem Bett am Boden; sie holte einen starken Mann, der nebenan wohnte und dieser hob mich wieder aufs Bett. Auch davon wusste ich nachher nichts, hatte ich auch nicht die leiseste Ahnung. G. sagt, die Veronaldosis sei 4 ‌½ Gramm gewesen; ganz sicher kann sie es nicht wissen.

Auch davon wusste ich nichts, dass sie den Arzt hatte kommen lassen und der mich untersuchte; das Herz sei normal geblieben; es sei nichts zu tun als abwarten; doch verstehe er nicht, dass bei 4 Gramm Veronal das Herz keinen Schaden genommen hätte.

Ich hätte auch uriniert; in den Kleidern so auf dem Bette liegend. Später konnte man mich auskleiden; das Bewusstsein kam ganz allmählich wieder, zum ersten Mal war es wohl nennenswert da am Abend, als Frau van Nooten gekommen war (auf G.s Anordnung hin; denn sie musste selber einmal weggehn, ich glaube, weil schon an diesem Tag die Tanten kamen). Frau Not war angenehm; ich war ganz fröhlich; es entstehen in keinem Stadium von der Veronalvergiftung Übelkeiten, abgesehen von den indirekten Nachwirkungen; nur bleiben verschiedene Sinne auf ungleich lange Zeit gelähmt. Ich zeigte Frau Not stets die Wunden an meinen Beinen, eine nahe am Knie, die andere unter dem Hinterteil; dabei hätte ich mich stets rasch und ganz sorglos gedreht, erzählte G. Und Frau Not sei errötet, hätte schließlich gesagt: »Hohl, denk doch auch an mein Schamgefühl« – Und, ja, es war schon an diesem Tage, dass die Tanten ankamen! G. hatte sie am Bahnhof verfehlt und sie kamen allein in diesem Zimmer an! Indessen war ich unbeschreiblich fröhlich, sei sehr höflich gewesen, hätte durch Frau N. Kaffee für sie machen lassen. Die müssen gestarrt haben! G. kam dann rasch auch wieder. Das war etwa 23 Uhr; in den Kino war sie nicht gegangen, schon der Tanten wegen nicht.

Davon, dass ich etwa hätte gehen oder nur stehen können, war nicht die Rede; ich stürzte hin, sobald ich aus dem Bett trat; zur Bedürfniserfüllung mich zu geleiten und zu halten soll sehr schwer gewesen sein. Und immer wieder schlief ich ein wenig. So muss die Nacht und der nächste Tag, der 5. April, Samstag, umgegangen sein. Abends kam Kora, von G. herbestellt, und ich aß mit ihr, sie musste sich auf den Rand des Bettes setzen und ich war sehr ausgelassen, warf sie herum wie einen Ball (ohne sie indessen zu küssen). Die alten Weiber waren im Zimmer und sollen sich nicht wenig entsetzt haben, zumal ich an diesem zweiten Tag gegen sie nicht mehr höflich war. Dann ging Kora weg und ich war unzufrieden darüber; auch merkte ich bald, dass ihr an diesem Tag der rechte Ton gefehlt hatte, ihr Besuch war diplomatisch gewesen, nicht mehr wahrhaftig wie das Mittrinken am Abend vor dieser Vergiftung.

Am 6. April, Sonntag, war ich soweit hergestellt, dass ich wieder aufstehn konnte, wenn ich auch schrecklich aussah und schwankte. G. ging in den Kino (ganz sicher bin ich indessen nicht). Ich ging am spätern Nachmittag zu Kora, wo ich ihren kleinen Fetisch-Mann aufwarf und auf sie warf, denn sie hatten Unfrieden und ich wollte Frieden machen. Dann ging ich mit dem kleinen Fetisch noch ein Glas trinken, er kehrte zurück und ich zog gegen Montparnasse, wo ich vielleicht 7 Uhr, 8 Uhr (19 / 20 Uhr) angekommen sein dürfte; jedenfalls fand ich nur sehr schlechte Gesellschaft, sammelte aber alles, die sonst unmöglichsten Leute, nur um zu reden, zu reden! G. war schon im Kino. Um 21 Uhr wurde ich durch Gaston aus der Rotonde gewiesen, aber diesmal durch höfliches Zureden, als ich hinten im kleinen Saal stand und den Ungarn mit dem höhnischen Kopf nach Frau N. fragte. Ich soff mit Rossi (!) im Kosmos und erklärte ihm, wie unsympathisch R. sei, weil er immer den Besoffnen spiele und nie, dass ich's gesehn, jemals es gewesen sei, ja sogar den Stockbesoffnen (ivre-mort), nicht nur den Besoffnen, spiele er, und sei vollkommen nüchtern. Ich kam in die Bar der Rotonde (übrigens vor dem Kosmos) wo Petroff mit andern scheußlich dummen Gesellen hockte. Einer darunter, Sgobeleff, ein Russe von Riesenbrustumfang, sehr einfältig und furchtbar nachtragend und voll Minderwertigkeitsgefühl, riss mir den Ärmel meines Mantels aus und fortan ging ich mit dem nur noch halb befestigten Ärmel herum. Petroff war auch gegen mich. Viral (der Lederkopf, der im Keller des Dôme am Onanieren war, als Petroff ihn suchen ging), erklärte auf mein Herausfordern hin: »Ich bin mit meinem Freund«, womit er den Elektriker Sgobeleff meinte. Darauf zog ich mich zurück.

Nachher, wohl im Kosmos, ging mir das Geld aus; es war noch früh am Abend, etwa 20 Uhr. Ich irrte umher, muss furchtbar ausgesehen haben, empfand schrecklichen Durst und konnte ihn nicht stillen und fand auch keinen Menschen. Auf einmal beschloss ich, bei G. im Kino Geld zu entlehnen (ich hatte ja einen Scheck von 500 Schweizerfranken ihr in Verwahrung gegeben). Dantonkino, etwa 9 Uhr; zu einer Eintrittskarte kein Geld; ich beschloss den Entre-acte abzuwarten und wurde aus einem Café gewiesen. Ich erinnerte mich, von einem vorigen Mal eine Sortie-Karte zu besitzen, suchte sie, fand sie nicht in meinen Papieren, ging doch in den Kino; der Mann am Vorhang verlangte die Karte; ich erwiderte, ja, ja, ich erinnere mich genau, ich müsse etwas in der Tasche haben, und suchte immer; er sah mich aufmerksam an und vertrat mir den Weg. Ich aber wurde eindringlich: Ich werde nur bis zum Orchester gehn und wieder herauskommen, er solle mich passieren lassen. Als er energischer wurde, als ein Polizist in die Nähe kam, rief ich nach dem Direktor des Kinos. Ein alter Mann mit nichtssagendem Gesicht war irgend in die Nähe gekommen; den redete ich auch an und verlangte den Direktor. Er antwortete, ich solle machen, dass ich aus dem Haus komme, sonst lasse er mich hinauswerfen; der Polizist war schon bereit. Sonderbarerweise entging ich dem Abgeführtwerden und sogar der Brutalisierung (weil ich doch noch zu viel Besinnung hatte) und geriet ins Freie. Ich soll, nach G., an jenem Abend »entsetzlich geschwankt« haben. Der alte Mann war der Direktor selber gewesen; der Kontrolleur hatte mich gefragt, was ich beim Orchester wolle, ich ihm geantwortet, jemand sprechen, es sei äußerst dringend; »wen?« – »die Orgelspielerin«, die käme jetzt dann gleich heraus im Entre-acte, ich solle nur warten; ich aber drang auf ihn ein, bat, er möge hingehn und sie herausbitten, was er nicht tun wollte, ging doch nicht weg und musste, als der Direktor kam, zufrieden sein, nicht abgeführt zu werden.

Die Zeit verging mir sehr langsam, aber auf einmal sah ich doch G. draußen auf der Straße. (Sie ging immer im Entre-acte Kaffee trinken.) Sie sagte, sie käme mit mir, ich solle nur warten bis sie es im Orchester gesagt hätte. Wieder wartete ich! Wie mir schien, sehr lange, dann kam sie plötzlich rasch und wollte mich ins Metro führen; vorher kam noch ein Mann von freundlichem Angesicht, lachte mir zu (endlich mal!) und redete mich an; ich dachte, natürlich einer, der es wagt, weil er sieht, dass du angeheitert bist; aber er fragte, ob ich ihn nicht kenne, Casimir, von der Bar der Rotonde! Da ging's mir plötzlich auf; und ich wollte und wollte mit ihm eins trinken gehn, G. aber zog eben so entschlossen nach der andern Seite, schließlich ging der selber weg (wahrscheinlich) und da konnte sie mich leicht ins Metro hinabziehn. Das war übrigens nicht gegen meinen Willen, denn zu Fuß wollte ich nicht gehn; aber im Montparnasse wollte ich aussteigen (nicht nur hatte ich unüberwindlichen Durst, sondern auch mental war es falsch, jetzt nach Hause zu gehn, was sollte ich denn da oben in Montrouge um diese Stunde, in solcher maßlos überreizter Verfassung, so gereizt, so unerfüllt, so voller auch seelischen Durstes?) Das begriff G. nicht und hinderte mich mit allen Kräften, in Vavin auszusteigen.

Da ich entgegen strebte und doch nicht Klarheit genug hatte, um entschieden ein Ultimatum zu stellen, auch körperlich schon so elend war, dass ich allein nicht viel unternehmen konnte, wurde die Wirklichkeit eine Mitte: Wir stiegen in Alésia aus. Vor allem musste ich doch trinken, trinken! Das Veronal, von dem ich schon das Hauptsächliche geschluckt haben muss zu diesem Moment, begann zu wirken (nach G.s Bericht soll ich ungefähr wieder 5 Gramm gegessen haben, aber sie ist nicht sicher und niemand wird es je ermitteln können, da die anfängliche Quantität nicht bekannt ist und ich welches überall an meinem Körper zerstreut hatte, ich allen Taschen und sogar in den Socken, es zu verbergen vor der Polizei).

In Alésia war ich einfach ein durstiger Mensch und dazu betrunken, (vorwiegend von Veronal) weiter nichts. So strebte ich der Bar zu. Auf einmal war Fontenaille da und auch seine Frau. Das gab mir neues Aktionsfeld. Ich weiß, ich sprach heftig auf ihn ein. Nachher sagte man mir, dies sei der Refrain gewesen: »Je te déteste, mais tu es peut-être un ami, mais tu sais, je te déteste, mais quand-même, oui, tu es peut-être un ami.« Das mag wahr sein, denn ich glaube oft eine blasse Erinnerung daran zu haben.

Bar Alésia. Zu trinken, gewisse Bewegung und vielleicht leichter Skandal. Dann die Avenue d'Orléans entlang; ein lästig und lästiger werdender Weg; denn ich war wieder vereinsamt inmitten dieser Gesellschaft, die nach Montrouge drängte. In der Isolation macht man heftige Bewegungen; ich erinnere mich nicht an alle, aber dass ich ein Gitter emporstieg (vor Fenstern, ich habe es nie am Tag gesehn), das weiß ich noch. Es war wohl dasselbe Gitter, das ich schon einmal erklettert hatte, als Eskimo dabei war – wie anders war die Welt dann noch! – Die Leute unten waren gewaltig skandalisiert, daran erinnere ich mich auch noch. Fontenaille hatte mir das Veronal genommen, benahm sich überhaupt wie ein Schulmeister, was ja bei einem in der Rauschtechnik so Unbekannten nicht anders zu erwarten ist. Ich aber, oben am Gitter, stellte ihm die Bedingung, mir Veronal zu geben, andernfalls ich oben bleiben würde. Endlich gab er mir eine Tablette und ich stieg auch herunter. Dann bewog er mich, in einen Taxi zu steigen, der schon da hielt. Ich tat es, gut gesinnt wie ich ihm heute war. Der Taxi fuhr durch weite Gegenden und mir wurde endlich unangenehm da drin, trotz unermüdlicher Zureden, Überzeugungsversuchen, dass es gutem Ort entgegengehe; auch Anne-Marie half, sonst wäre mir wohl die Geduld ausgegangen, so aber waren zu viele überzeugende, vertrauenswürdige Stimmen, und ich ahnte nicht, dass ich in die Irrenanstalt fuhr!

Ich meinte, ungefähr, zum Trinken zu fahren, zurück zum so erstrebten Montparnasse, wo auch andere Hoffnung war, Hoffnung und Menschen! Endlich aber schien mir die Gegend entschieden feindlich, finster und unbekannt; und doch, G. war noch da, Anne-Marie war da und Fontenaille war doch auch kein Bandit? Ach, ich wusste nicht, dass diese Leute sich jetzt von Bürgern nicht unterschieden, dass G. infolge der Aufregungen ohnehin allen Verstand verloren hatte, dass alle, im besten Glauben, vor einem Bewusstlosen zu stehen meinten, vor einem Rasenden, den man mit List an sichern Ort schaffen müsse, dass sie die Betrunkenheit nicht kannten als aus Schundromanen und nicht mehr einen Menschen, nicht mehr ein Kritisches, der Verbindung Fähiges in mir zu sehen vermochten! Alle kannten das einfachste Ding, den Rausch, nicht und ob bei Fontenaille nicht noch bewusste Übeltäterei mitspielte, weiß ich nicht.

Der Taxi hielt in dunkler Gegend, Anne-Marie stieg aus; man hielt mich mit heftigerem Zureden, milderem, überzeugenderem, und eine große Müdigkeit, Schwierigkeit zu aller Aktion, half dazu, dass ich stoisch abwartete, was da käme. Sie kam, man fuhr weiter und hielt schließlich nachdem man, wie ich deutlich merkte, irgendwo hineingefahren war.

Ich ließ alles geschehen ohne Widerstand, sanft wie ein Lamm; der frühere Geist des Todes mochte dazu mitwirken, Sensationslust, Vertrauen, dass mit diesen Leuten doch nicht das Ärgste geschehen könne, und vor allem die durch die Veronalvergiftung eingetretene schon akute Erschlaffung.

Weiße Gestalten sah ich im Dunklen, drei. Ich wurde geführt, man war so zuvorkommend stoß- und rucklos, angenehm, geleitend, dass ich einfach willenlos trieb. Auf einmal waren die bekannten Gesichter zurückgeblieben, man ordnete an, ich solle mich ausziehn und ich saß auf einem Stuhl; in der Ferne, in einem Vorraum, sah ich vielleicht noch die bekannten Gesichter. Da sträußte sich doch meine Klugheit, meine Geduld, mein Vertrauen; ich weigerte mich, mich auszuziehn: daran erinnere ich mich noch genau. Ich dachte, das geht nicht weiter, wo bist du denn? Wer ermisst sich, dir zu befehlen, du müssest dich ausziehn. Ach, es war zu spät! Man hatte mich mit schlauer List soweit gebracht, bis ich – in die Hände der Gewalt geriet, die sich in der Folge alle körperlichen Vergewaltigungen über mich anmaßte und das natürlich,

vergesse ich denen, die es getan hatten, niemals.

Ich weigerte mich entschieden, mich auszuziehn. Abwehr machte ich zwar nicht, da ich Erfahrung genug hatte von der Polizei her, aber meine Weigerung war kategorisch und absolut. »Mit Gewalt werdet ihr's können, aber ich werde es nicht tun!«

Dieses Détail, an das ich mich genau erinnere, zeigt genau meinen vollkommen normalen Zustand, abgesehn von der schweren Berauschung. Die starken Männer in den weißen Blusen zogen mich aus, ganz und gar, ich gewahrte genaue Détails, lachte, als sie mit Staunen in den Socken noch Veronaltabletten fanden. Aber bald wusste ich nichts mehr.

Von einem leeren weißen Zimmer und Bett hatte ich wahrscheinlich noch Notionen; dann auch davon, dass sie in den linken Schenkel eine Einspritzung machten; ich war nie im mindesten geistig getrübt, allein ermüdet, so dass ich die meisten Dinge nicht wahrnahm.

Ich weiß nicht genau mehr, wann ich erwacht bin. Es dürfte irgendwann am Montag stattgefunden haben (die Einlieferung Sonntag Abend gegen Mitternacht). Auch geht ja das Erwachen nach Veronalvergiftung nie plötzlich, sondern äußerst langsam, von Stufe zu Stufe, stundenlang, vor sich, und der Zuschauende, wie man selber, weiß dann nie, ob man wach oder schlafend ist. Leute waren dann um mich, wie ich allmählich erkannte; dann waren die Leute wieder weg. Dann kamen wieder welche und sagten, sie müssten Blut herauslassen; ich weigerte mich nicht, sagte ihnen aber, das sei sicher ein Irrtum, ich hätte nicht zu viel Blut, das könne doch nichts verbessern. Und ich dachte an van Gogh der »Blutfieber« gehabt hatte und die Leute, wie begreiflich in einer Irrenanstalt, ließen mich beim falschen Glauben, es handle sich um eine starke Blutentnahme statt nur einer Probe für Untersuchungen. Sie stachen mich am linken Arm und am rechten Arm, an jedem zweimal. Das Ärgste kam aber später: Sie zogen mich aus dem Bett und ich musste mich rittlings auf einen Stuhl setzen, Gesicht gegen den Rückhalt, Rücken entblößt. Und der Arzt in weißer Bluse stach mit einer Spitze, Art Stilett, in das Rückenmark in der Kreuzgegend; das schmerzte zweifellos sehr, ich nahm es nur halb wahr; ich bat nur, sie möchten es jedesmal sagen, wenn es wieder schmerze, damit ich mich fasse, dann ertrage ich's nämlich, nicht aber, wenn es mit Überraschung geschehe. Inzwischen war es bald fertig, man ging weg und schloss wieder zu, mit Schlüssel, von außen, die Tür der weißgestrichnen Zelle, in der ich allein war, wie ich allmählich bemerkte. Überhaupt traten nun nacheinander und allmählich die Notionen von meiner Umgebung ein. Es vergingen derweilen Montag, Dienstag und Mittwoch.

Erst dachte ich: »Ich bin im Krankenhaus und ruhe. Ich muss mich wohl zu stark vergiftet haben.« Auch nannten mir Leute, welche in weißen Kleidern, die wieder einmal da waren, den Namen irgend eines Krankenhauses, den ich dann wieder vergaß. Für alle Dinge überhaupt war das äußere Gedächtnis sehr geschwächt.

Am Dienstag, und das war der erste klare Punkt, kam ein Pneumatique von G. Eine Wärterin, weiß, mit Schlüssel, von anderer begleitet, wie ich deutlich erkannte, brachte ihn mir. Sie fragte, ob ich lesen könne oder ob sie ihn vorlesen solle. Das verwunderte mich gewaltig: Was sagten denn diese Leute Lächerliches? – Sicher könne ich lesen! erwiderte ich und blieb gedankenvoll. Tatsächlich hatte ich Schwierigkeiten äußerlicher Art, den Brief zu lesen, weil die Zeilen tanzten und sich vermischten; das Veronal wirkt so auf die Augen. Ich las den Brief nicht ein, sondern mehrere Male. Er soll beiliegen:

Erste Beilage: Brief, blaugrün, beginnend: »Montag. Wie geht es Dir, liebes Pelzlein? Ich wollte Dich heute morgen besuchen, aber man ließ mich nicht zu Dir – –«

Ich könne schreiben, stand also im Brief. Und doch hatte man mir alles, was ich auf mir trug, weggenommen! Als wieder einmal jemand erschien, fragte ich dennoch auf sanfte Art (ich war immer sanft in dieser Zeit). Natürlich, erwiderte man mir und tatsächlich wurde mir in einer Weile ein Umschlag gebracht, ein Bleistift und ein Stück Papier etwas größer als eine Handfläche. Den von G. erhaltenen Brief nahm man mir aber wieder weg, »um ihn zum Dossier zu legen!« Ich schrieb das Papier voll mit aufgeregtesten Aufklärungen über meine Lage: dass mir alles genommen worden, dass ich eingesperrt sei u. ‌s. ‌w. Den Brief schloss ich und wartete, dass man ihn abhole: Er hat das Irrenhaus nie verlassen. Der Wärter, den ich zuerst nach der Expedition fragte, erwiderte, darüber müsse ich die Aufseherin fragen; die kam aber nicht; als endlich irgend eine weiße Weibsperson erschien, um (lächerliche Prozedur, die täglich zweimal ausgeführt wurde, trotzdem nie von Fiebern die Rede war) das Fieberthermometer in den After zu stoßen (immer in den After), sagte die auf meine Bitte hin, ach so, da müsste man im Büro nach Marken sehn, und ging wieder; eine andere, etwa am nächsten Tag, sagte, ach so, da müsste man die andere fragen; wieder eine sagte, ein paar Stunden später, hätte der Arzt es erlaubt? – Den Bleistift aber hatte man mir sehr rasch wieder weggenommen!

Es wurde mir ein zweiter längerer Brief von G. gebracht.

Zweite Beilage: Brief, drei Seiten Bleistift, beginnend »Montag« mit Erzählung, von G. aus gesehen, der Ereignisse des Sonntag Abend, endend »Alles, was Du willst, was ich kann, werde ich Dir bringen, wenn Du es mir sagst«.

Ich begann mehr und mehr über meine Lage und was geschehen war, zu sinnen. Wer denn hatte mich dahin gebracht? Und wer hatte das Recht dazu? Polizei war doch, daran glaubte ich mich sicher zu erinnern, nicht dabei gewesen. Konnte denn G. – –? Oder war Fontenaille allmächtig gewesen? Oder was hatte ich denn angestellt, war vielleicht mein Zustand ungleich ärger gewesen, als ich jetzt noch wusste?

Wo war ich denn? War vielleicht der Aufenthalt gut, nur um mich von der Vergiftung zu erholen, hatte ich vielleicht selber beigestimmt? Und

Mit »Und« abgebrochen.

Ich muss nun in höchster Eile weiterschreiben, damit ich überhaupt einmal aus diesen Aufzeichnungen herauskomme. Wie es mir immer geht in solchen Fällen, da ich nur Notizen machen will, und so gerüstet beginne, komme ich im Laufe des Schreibens unmerklich in eine synthetische Haltung hinein, und da ich dafür nicht gerüstet bin, stockt dann alles. So jetzt zwei Wochen oder so. Und das ist doch lächerlich. Und heute habe ich mich erinnert, dass ich doch keinen Roman schreibe, sondern nur für mich Notizen, damit ich's nicht vergesse, und Fehler und Durcheinander sind ganz gleichgültig.

Denn daran lag es vorwiegend, äußerlich, dass ich ins Stocken kam: Die Reihenfolge im Irrenhaus war mir schwer, darum, weil ich so vieles vergessen habe (es sind jetzt zweieinhalb Monate her). Nun aber: Schreibe ich doch, was ich noch weiß! Kümmere mich überhaupt um keine Folge!

Dauer: von Sonntag Nacht bis Donnerstag Nachmittag, 6. bis 10. April.

Die Hoffnungslosigkeit: Erst langsam begann ich zu erkennen, wo ich war, und wurde mir immer finsterer zu Mute; am vorletzten Tag, Mittwoch, von Abend an aß ich nicht mehr und in der Nacht beschloss ich, dass das die letzte sein solle, die ich da drin verbringe; ich wusste nicht, wann man mich, ob überhaupt je wieder, man mich herauslasse; denn mit niemand war zu reden, alle logen wie gedruckt, beschwichtigten mich mit Dingen wie man – eben einen Irrsinnigen beschwichtigt, wenn man Irrenhausangestellter ist. Ich hätte ebensogut verlangen können: »Gebt mir ein Pfund Himalaya zu essen«, sie hätten sich auch nicht verwundert, mir ebenso gütig und gleichgültig zugesprochen und wären vorübergegangen. Dazu war ich eingesperrt in einer Zelle. Von all dem spürte ich, dass ich wirklich nach und nach verrückt werden könne, dass ich erst einmal einen Tobsuchtsanfall bekommen werde: Und dann? Trat Verwunderung, endlich ernstliche Reaktion ein? Keineswegs! Das war hier das Alltägliche. »Wärter, es bricht aus, Zwangsjacke, Zelle No. X, u. ‌s.w« würde man anordnen und eben den Fall der Verrücktheit etwas anders betrachten. Das war alles. Wer unter die Hände dieser Leute, denen der minimalste Menschenverstand durch ein lächerliches Studium, das ihren Dünkel ausgebaut hat, abhanden gekommen ist, geraten ist, hat nichts mehr zu erwarten, was man von irgend einem Menschen erwarten kann!

Ich sah, dass die Türe unten eine Panzerplatte trug, angestrichen wie Holz, so dass ich's zuerst nicht gemerkt hatte. Oben Gitterstäbe waren auch angestrichen wie Holz, aber furchtbar dick aus Eisen. Das Fenster, das sich in der Höhe befand, gleicherweise verschlossen.

Der Abort: Es meldet sich ein Bedürfnis. Wie gesagt, befindet sich nichts in der Zelle außer der Lagerstatt. Man steht auf, an die Türe. Ein Verrückter singt draußen. Endlich kommt ein Wärter vorbei, lachend mit Fuhrmannsgesicht, wie immer. Man klopft, macht ihm Zeichen. »Was ist denn?« ruft er grob, bereit, weiterzugehn. Gelingt es, ihm verständlich zu machen, öffnet er, gibt wenn möglich einen Stoß, ruft irgend was Grobes; man geht, barfuß und im kurzen Leinenhemd, das die einzige Bekleidung ist, durch den Gang, durch eine Türe, mit Glas, die von innen in keiner Art geschlossen werden kann. Hinter ihr folgt ein kleiner Gang, dann ein rechter Winkel, der abschließt; da befindet sich das Klosett. Einmal stellte sich bei mir das seltenere der Bedürfnisse ein: Papier fehlte überall. Mit großer Mühe