Zeichen ihrer Zeit - Marion Gräfin Dönhoff - E-Book

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Marion Gräfin Dönhoff

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Beschreibung

Die wichtigsten Artikel und Reportagen, die Deutschlands prominenteste Journalistin im Lauf von 60 Jahren veröffentlichte. Anschaulich und klug vermittelt Marion Gräfin Dönhoff ihren Standpunkt zu Themen, die uns damals wie heute beschäftigen: Macht und Moral, die Auswüchse des Kapitalismus sowie die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft.

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Seitenzahl: 451

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Marion Gräfin Dönhoff

Zeichen ihrer Zeit

Ein Lesebuch Herausgegeben von Irene Brauer und

Die Erstausgabe erschien 2012

im Diogenes Verlag

Umschlagfoto (Ausschnitt):

Copyright © Marion Dönhoff Stiftung

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24258 4 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60138 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Im Allgemeinen will kein Mensch alte Artikel lesen, aber wenn sie von stets dem gleichen Autor geschrieben wurden – die wesentlichen Ereignisse also immer durch dieselbe Brille betrachtet worden sind –, dann ist es interessant. Interessanter als eine nachträgliche Betrachtung, weil dann die Spontaneität des Augenblicks – Freude und Bewunderung oder Schrecken und Entrüstung – unverfälscht durch den Zeitablauf zum Ausdruck kommen.

Marion Dönhoff, in:Im Wartesaal der Geschichte

[7] Inhaltsverzeichnis

Vorwort  [15]

ARTIKEL AUS DER WOCHENZEITUNG »DIE ZEIT«

Aus den vierziger Jahren

Ritt gen Westen  [23]

Die siebenwöchige Flucht zu Pferde

Erziehung zum Menschen  [27]

Der erste Schulbeginn nach dem Krieg – was Kinder jetzt lernen müssen

Das »heimliche Deutschland« der Männer des 20. Juli  [30]

Widerstand gegen Hitler

Das »Friedenspotential«  [35]

Ein großes Wort

Ein Novum in der staatsrechtlichen Weltgeschichte  [39]

Japan gibt ein Beispiel

Arbeiten und nicht verzweifeln  [42]

Zum Problem der Vertriebenen – was wird aus ihnen?

Heimkehr ohne Heim  [48]

Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft kehren

viele Männer in eine fremde Welt zurück

[8] Brief aus dem Nichts  [52]

Ein nachgesandter Feldpostbrief

Aus den fünfziger Jahren

Sie haben die Wahl: Visum oder Gefängnis  [57]

Eine Reise durch Europa

Füreine deutsche Nationalhymne  [65]

Ein Volk braucht identitätsbildende Symbole

Bücher auf dem Scheiterhaufen  [68]

Nachfahren des Dr. Goebbels in Amerika

Die Flammenzeichen rauchen  [74]

Der Aufstand vom 17. Juni gibt uns den Glauben

an die Einheit wieder

Sechs Herrenmenschen  [78]

Kriegsverbrecher vor Gericht

Finis Germaniae  [83]

Der überhitzte Wahlkampf

Aus den sechziger Jahren

Des deutschen Michels Schlaf  [87]

Die Innen- und Außenpolitik stagniert

Quittung für den langen Schlaf  [92]

Der Bau der Berliner Mauer

Teure Potentaten  [95]

Eine Glosse

Auflehnung – warum?  [97]

Überlegungen zu den Studentenunruhen

[9] Eine Lady gegen de Gaulle  [99]

Die erstaunliche Lady Asquith nimmt kein Blatt vor den Mund

Brandfackeln des Hasses  [104]

Nach dem Mord an Martin Luther King

Aus den siebziger Jahren

Ein Kreuz auf Preußens Grab  [111]

Zum deutsch-polnischen Vertrag über die Oder-Neiße-Grenze

Eine Weltmacht wird müde  [117]

Amerika kann nicht mehr

Griechische Reise  [127]

Günter Grass im Land der Junta

Polen – Ernüchterung nach Wende und Vertrag  [129]

Ein Lagebericht

Statt Karten  [141]

Verzicht auf Weihnachtskarten

Zurück zur Bescheidenheit  [143]

Die Energiekrise erzwingt einen neuen Lebensstil

Besser wäre, dass einer stürbe  [149]

Wie soll der Staat mit Terroristen umgehen?

Aus den achtziger Jahren

Was soll, was darf die Kirche?  [155]

Demonstration im Talar?

Die Deutschen – wer sind sie?  [158]

Zwanzig Jahre nach dem Bau der Mauer beschwört in Berlin eine Ausstellung Preußens Gloria

[10] Vom Irrsinn des Wettrüstens  [166]

Wenn die Abschreckung selbst zum Schrecken wird

Nicht für die Ewigkeit bestimmt  [170]

Die Geschichte wird über die Berliner Mauer hinweggehen

Erst kommt das Geld – dann die Moral  [173]

Demokratie in Gefahr

Am Ende aller Geschichte?  [180]

Die Niederlage des Marxismus bedeutet nicht den Triumph des Kapitalismus

Aus den neunziger Jahren

Wirklich ein gerechter Krieg?  [187]

Der Golfkonflikt – auch ein Konflikt zwischen Moral

und Interesse

Ein dubioser Sieg  [190]

Lieber Drückeberger als Mittäter

Macht wird zu Ohnmacht  [193]

Das dialektische Gesetz

Der Alte Fritz und die neuen Zeiten  [198]

Ein wenig mehr von seinem Geist würde uns nicht schaden

Auch die Freiheit hat ihre Grenzen  [205]

Wenn die Gesellschaft ihren inneren Halt verliert

Die Freiheit gewählt  [210]

Nelson Mandela wird Präsident von Südafrika

Wer einigte Deutschland?  [213]

Eine Gespräch mit Michail Gorbatschow

[11] Aus dem neuen Jahrtausend

Was heißt eigentlich Ehre?  [223]

Das Ehrenwort eines Ex-Kanzlers

Leitkultur gibt es nicht  [226]

Kontroverse um das Wort ›Leitkultur‹

Die neue Hanse  [229]

Zusammenschluss der Ostseeanreiner

Armselige Welt  [232]

Das gemeinsame Abendmahl von Katholiken und Protestanten

REISEREPORTAGEN

Menschen im Abteil  [237]

Deutschland

Wolken, Wasser, neuer Kontinent  [241]

Flug nach New York

Der Effendi wünscht zu beten  [246]

Von Jordanien in den Irak

Ich würde eine Dattelpalme pflanzen  [253]

Algerien

Träumer, Weltverbesserer und Rationalisten  [260]

Indien

Die Khamas sind eine große Familie  [267]

Betschuanaland

In Polen wurden aus Romantikern Pragmatiker  [285]

Prag und Budapest  [293]

[12] Reise ins verschlossene Land – oder: eine Fahrt für und mit Kant  [300]

Ostpreußen

PERSÖNLICHES

Aus den Tagebuchaufzeichnungen  [313]

Aus den Briefen  [323]

PORTRAITS

Satyanarayan Sinha  [339]

Der letzte große Abenteurer

Helmut Schmidt  [368]

Das Mögliche möglich machen

Fritz-Dietlof von der Schulenburg  [394]

Frondeur, Patriot, Verschwörer

George F. Kennan  [407]

Ein unbestechlicher Beobachter des Weltgeschehens

REDEN

Vom Ethos des Widerstands  [441]

Rede an der Universität Oxford

Aus der Werkstatt der Zeit[456]

Rede anlässlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises

[13] Die Mühe, achtzig Jahre alt zu werden, hat sich doch gelohnt  [468]

Dank für die Feier des Geburtstages in der Kampnagelfabrik, Hamburg

Zwölf Thesen gegen die Maßlosigkeit  [472]

Ein Umdenken muss jetzt passieren

Zivilisiert den Kapitalismus!  [478]

Rede zur Verleihung des Erich-Kästner-Preises

ANHANG

Zeittafel  [487]

Bibliographie  [489]

Quellenverzeichnis  [490]

Bildnachweise  [493]

[15] Vorwort

Es war ein Zufall, der sie zu ihrem Beruf brachte. Marion Gräfin Dönhoff war sechsunddreißig Jahre alt, als sie nach dem Krieg, im März 1946, Redaktionsmitglied einer neu gegründeten Zeitung in Hamburg wurde. In den folgenden Jahrzehnten avancierte sie zur einflussreichsten Journalistin ihrer Zeit und zu einer moralischen Instanz in Deutschland.

Marion Hedda Huberta Ilse Gräfin Dönhoff kam am 2. Dezember 1909 als jüngstes von acht Kindern auf Schloss Friedrichstein in Ostpreußen zur Welt. Sie wuchs in der Gemeinschaft eines großen ländlichen Besitzes auf, in der Eltern und Geschwister ebenso ihre Aufgaben und Pflichten erfüllten wie Förster, Rittmeister, Kutscher, Kinderfrau, Köchin oder Hauslehrer.

Früh nutzte die Comtesse jede Gelegenheit, um die Welt zu sehen. Nach bestandenem Abitur reiste sie 1929 mit Freunden mehrere Wochen durch die Vereinigten Staaten von Amerika, von der Ost- bis zur Westküste und wieder zurück. 1930 verbrachte sie einige Monate auf der Farm ihres Bruders in Ostafrika. Mit ihrer Schwester durchquerte sie auf zwei abenteuerlichen Fahrten in einem Cabriolet ganz Europa von Königsberg bis auf den Balkan und zum Schwarzen Meer.

[16] Gegen den Willen ihrer strengen Mutter, einer ehemaligen Palastdame der Kaiserin, nahm Marion Dönhoff als erste Frau in der Familiengeschichte ein Studium auf. Sie studierte Nationalökonomie, zunächst in Frankfurt am Main, dann in Basel, wo sie 1935 mit der Promotion abschloss. Anschließend übernahm sie in Ostpreußen zusammen mit ihrem ältesten Bruder Heinrich die Verwaltung des weitverzweigten landwirtschaftlichen Familienbesitzes. Die Geschwister gingen daran, den Betrieb zu modernisieren. Als ihr Bruder während des Kriegs bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam – für Marion Dönhoff einer der schwersten Schicksalsschläge ihres Lebens –, übernahm sie die volle Verantwortung für den Besitz. Am 27. Januar 1945, die Rote Armee rückte nach Ostpreußen vor, floh Marion Dönhoff auf ihrem Pferd Alarich Richtung Westen. Nach einem siebenwöchigen Ritt kam sie in Westfalen an, entwurzelt wie Millionen andere Flüchtlinge, die eine neue Existenz suchten.

Ihr »zweites Leben«, wie sie es später oft nannte, begann. Marion Dönhoff verfasste eine Denkschrift, ein »In Memoriam«, über die Hintergründe des fehlgeschlagenen Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944, welches zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal zwölf Monate zurücklag. Marion Dönhoff war mit einigen der Attentäter seit ihrer Kindheit befreundet gewesen. Der Text, den sie in einer Auflage von 300 Exemplaren im Privatdruck herausbrachte, ist das erste veröffentlichte schriftliche Zeugnis über das Attentat. Kurz darauf meldete sich die Autorin bei den englischen Alliierten zu Wort. In englischer Sprache schrieb sie zwei Memoranden, in denen sie erklärte, wie es aus ihrer [17] Sicht zum Nationalsozialismus in Deutschland gekommen war und was für den Aufbau eines neuen Deutschlands getan werden müsse. Von Seiten der Alliierten kam keine Antwort. Aber zufällig geriet eines der Memoranden in die Hände von vier Männern, die in Hamburg an der Gründung einer Zeitung arbeiteten, mit dem Ziel, ein freies, unabhängiges, überregionales und politisches Blatt zu schaffen. Sie luden die Verfasserin zu einem Gespräch nach Hamburg ein.

Kurz darauf wurde Marion Dönhoff Redaktionsmitglied der neu gegründeten Wochenzeitung Die Zeit. Schon in der fünften Ausgabe des Blattes, am 5. März 1946, erschienen ihre ersten Artikel: »Totengedenken 1946« auf Seite eins und »Ritt gen Westen« im Feuilleton.

Ihr Weg führte Marion Dönhoff in kurzer Zeit an die Spitze des Blattes. »Sie ist die beherrschende, die geliebte und gefürchtete Person, die eigentliche Gestalterin des Blattes«, bemerkte schon 1947 der englische Presseoffizier Michael Thomas. Drei Jahre später übernahm die Journalistin die Leitung des politischen Ressorts der Zeitung.

In den fünfziger und sechziger Jahren unternahm Marion Dönhoff lange Reisen in den Nahen und Mittleren Osten, nach Indien und immer wieder durch Afrika. Von diesen Reisen berichtete sie in Reportagen für die Zeit.

Inzwischen war Hamburg zu ihrer zweiten Heimat geworden. Sie lebte mit ihrer Boxerhündin Basra in einem kleinen Haus mit Garten in einer kopfsteingepflasterten Seitenstraße in Blankenese. Hier, wo Ruhe herrschte, schrieb sie die meisten ihrer Artikel – nie auf einer Schreibmaschine, oft mit einem kleinen Bleistift. Ihre Handschrift hatte sich zeit ihres Lebens nicht verändert: auffallend klein, leicht [18] nach rechts geneigt, sicher geführt. Gelegentlich schrieb sie noch am Abend nach einem langen Bürotag, in der Regel jedoch am Wochenende. Am nächsten Morgen fuhr sie im blauen Porsche entlang der Elbe in die Innenstadt und gab den Text einem Kollegen zu lesen.

1968 wurde Marion Dönhoff Chefredakteurin der Zeit. Sie war die erste Frau an der Spitze einer politischen Zeitung in Deutschland. Ihr großes Thema während der sechziger Jahre war die Versöhnung mit dem Osten. Weil sie die wichtigste publizistische Wegbereiterin der Ostpolitik Willy Brandts war, bat der Bundeskanzler sie, im Dezember 1970 bei der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags in Polen anwesend zu sein. In letzter Minute sagte sie ab; auf den Abschluss des Vertrages anzustoßen, der den endgültigen Verzicht auf ihre ostpreußische Heimat bedeutete, fiel ihr doch zu schwer. Aber die Versöhnung mit Polen blieb eines ihrer wichtigsten Anliegen. Für ihr Engagement in der Ostpolitik erhielt sie 1971 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Zwei Jahre später gab Marion Dönhoff die Chefredaktion der Zeit ab und wurde die alleinige Herausgeberin. Nach wie vor nahm sie Einfluss auf das redaktionelle Geschehen und die Gestaltung des Blattes. An ihrer journalistischen Tätigkeit änderte sich nichts. Sie schrieb weiterhin Leitartikel zu den großen Themen der Gegenwart.

Bereits nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems Ende der achtziger Jahre warnte Marion Dönhoff vor der Gefahr eines ungezügelten Kapitalismus. In den neunziger Jahren war dies ein Hauptthema ihrer journalistischen Arbeit, neben dem zunehmenden Verlust der ethischen Werte [19] und der Politikverdrossenheit. Um dem etwas entgegenzusetzen, rief die inzwischen Fünfundachtzigjährige die »Neue Mittwochsgesellschaft« ins Leben, eine Zusammenkunft von Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, an der u.a. Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Antje Vollmer, Edzard Reuter, Wolf Lepenies teilnahmen. Der Kreis trifft sich bis heute regelmäßig.

Die Sorge um ihr Land, das Bewusstsein der eigenen Verantwortung und nicht zuletzt das durch ihre Herkunft geprägte Pflichtgefühl waren Antrieb für Marion Dönhoffs Denken und Handeln. Aber als Willy Brandt sie 1979 bat, für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren, lehnte sie ab. Helmut Schmidt, seit 1984 Mitherausgeber der Zeit, sagt: »Marion Dönhoff wäre eine bedeutende Bundespräsidentin geworden, hätte ihr Lebensweg sie in dieses Amt geführt. Aber auch ohne Ämter und Titel gehört sie in die Reihe von Theodor Heuss und Gustav Heinemann und Richard von Weizsäcker. Sie alle haben für uns Deutsche mit persönlicher Autorität die Moral in der Politik vorgelebt. So auch Marion Dönhoff. Ihr Adel hat sich nicht aus ihrer Herkunft ergeben, sondern aus ihrem Willen und ihrer Haltung.«

Marion Dönhoff sagte gegen Ende ihres Lebens: »Ich wollte ursprünglich in die Wissenschaft – aber durch Zufall bin ich zu einer Zeitung gekommen. Und da ich auch immer schreiben wollte, bin ich sehr zufrieden.«

Geheiratet hat Marion Dönhoff nicht. »Wenn ich geheiratet hätte, hätte ich mein Leben so nicht führen können.«

Am 11. März 2002 starb Marion Dönhoff im Alter von 92 Jahren im Kreise der Familie.

[20] Das Gesamtwerk Marion Gräfin Dönhoffs besteht aus über 2000 Artikeln, Reportagen und Glossen. Der Inhalt dieses Lesebuches bietet einen Querschnitt durch ihr Werk und wird von ihren großen Themen – Demokratie und Verantwortung, politischer Widerstand, Ostpolitik, Kapitalismus und Ethik – bestimmt. Da bereits die frühen Tagebuchaufzeichnungen der jugendlichen Marion Dönhoff die Ansätze für ihr späteres Werk erkennen lassen, wurde auch hier eine Auswahl getroffen und der vorliegenden Anthologie beigefügt.

Irene Brauer und Friedrich Dönhoff

[21] ARTIKEL AUS DER WOCHENZEITUNG »DIE ZEIT«

[23] Im März 1946 wird Marion Gräfin Dönhoff Redaktionsmitglied der neugegründeten Wochenzeitung Die Zeit. In »Ritt gen Westen« stellt sich die Autorin dem Leser vor.

Ritt gen Westen

20. März 1945: »Ankunft in V.« steht in meinem Notizbuch. Ein Jahr ist das nun schon her, seit ich in Vinsebeck, einem kleinen Ort in Westfalen, ankam, um dort mein braves Pferd, das mich treu und nimmermüde von Ostpreußen in den Westen getragen hat, in einem Gestüt bei Freunden einzustellen. Am 21. Januar hatten wir uns zusammen auf den Weg gemacht, spät am Abend durch einen von den Ereignissen schon fast überholten Räumungsbefehl alarmiert und von dem immer näher rückenden Lärm des Krieges zur Eile getrieben. In nächtlicher Dunkelheit die Wagen packen, die Scheunentore öffnen, das Vieh losbinden – das alles geschah wie im Traum und war das Werk weniger Stunden.

Und dann begann der große Auszug aus dem gelobten Land der Heimat, nicht wie zu Abrahams Zeiten mit der Verheißung »in ein Land, das ich dir zeigen werde«, sondern ohne Ziel und ohne Führung hinaus in die Nacht.

Aus allen Dörfern, von allen Straßen kommen sie zusammen: Wagen, Pferde, Fußgänger mit Handwagen, Hunderte, Tausende; unablässig strömen sie von Nord und Süd zur [24] großen Ost-West-Straße und kriechen langsam dahin, Tag für Tag, so als sei der Schritt des Pferdes das Maß der Stunde und aller Zeiten. Fremd sind die Flieger am Himmel, fremd ist das Donnern der Geschütze und fremd das Lärmen der Panzerketten, die an uns vorüberrasseln. Schritt für Schritt geht es weiter durch die eisigen Schneestürme des Ostens. Die Nächte gehen dahin auf den Landstraßen, an Feuern oder in den Scheunen verlassener Höfe, und der dämmernde Morgen bringt immer das gleiche Bild. Kinder sterben, und Alte schließen die Augen, in denen angstvoll die Sorgen und das Leid von Generationen stehen.

Woche um Woche verrinnt. Hinter uns brandet das Meer der Kriegswellen, und vor uns reiht sich Wagen an Wagen in endloser Folge – es gibt nur noch den Rhythmus des Pferdeschrittes, so wie er unbeirrt durch die Jahrtausende gegangen ist. Ist es der Auszug der Kinder Israel, ist es ein Stück Völkerwanderung, oder ist es ein lebendiger Fluss, der gen Westen strömt, gewaltig anwachsend – »Bruder, nimm die Brüder mit«?

Aus allen Ländern und Provinzen, durch die der Fluss sich wälzt, streben sie ihm zu, neue Ströme von Wagen und Menschen. Die Dörfer bleiben verwaist zurück, in Pommern, in der Mark und in Mecklenburg, und der Zug wächst, und die Kette wird immer länger; längst fahren zwei und drei Fahrzeuge nebeneinander und sperren die ganze Breite der Straße. Aber was tut es, sie haben alle den gleichen Weg – gen Osten fährt keiner mehr. Nur die Gedanken gehen täglich dorthin zurück, all diese vielen herrenlosen Gedanken und Träume.

Niemand spricht, man sieht keine Tränen und hört nur das Knarren der allmählich trocken werdenden Räder.

Viele Marksteine der östlichen Geschichte standen an [25] dem endlosen Wege. Die Marienburg, das Schloss Varzin, die Festung Kolberg; Nogat, Weichsel, Oder und Elbe haben wir überquert, und allmählich, Eis und Schnee zurücklassend, ziehen wir mit dem aufblühenden Frühling durch das Schaumburger Land; und nun ist auch langsam der Strom der wandernden Flüchtlinge verebbt und irgendwo in neue Häfen und enge Stätten der Zuflucht eingemündet.

Ich bin schließlich ganz allein mit dem braven Fuchs bei Rinteln über die Weserbrücke geritten, vorbei an Barntrup, einem kleinen Städtchen, aus dessen Mitte ein schönes Renaissanceschloss emporsteigt. Vor mir liegt ein bewaldeter Höhenzug, und dahinter muss auch bald das Ziel unserer Reise zu finden sein. Wie die Slalomspur eines Skiläufers ist der Weg in großen Schleifen in den Buchenhang eingeschnitten, über dem schon ein leiser Schimmer von Grün liegt.

Wir steigen gemächlich bergan, es ist ein schöner Vorfrühlingstag, die Drosseln schlagen, und ein sanfter Wind treibt die Wolken über die warme Frühlingssonne.

Plötzlich, als wir in die letzte Kurve der Straße einbiegen, steht droben auf dem Kamm eine einsame Gestalt, wie ein Monument vor dem hellen Himmel.

Seltsam fremd in dieser Landschaft und doch auch wieder vertraut: das Bild eines alten Mannes, grau, verhungert, abgerissen in seiner Kleidung, auf dem Rücken einen Sack, der die letzte Habe birgt, in der Hand einen Stab – so steht er wie einer jener Hirten, die zu Homers Zeiten ihre Schafe weideten, und sieht mit weltverlorenem, zeitlosem Blick in die blaue Weite des Tals. Mir kommt das Bild des Rilkeschen Bettlers auf dem Pont Neuf in den Sinn:

[26] Der blinde Mann, der auf der Brücke steht, grau wie ein Markstein namenloser Reiche, er ist vielleicht das Ding, das immer gleiche, um das von fern die Sternenstunde geht.

Ich wage nicht, ihn zu stören, und grüße ihn nur, wie man ein Kreuz grüßt, das am Wege steht, voller Ehrfurcht und nicht Antwort heischend.

Und dann bietet sich mir ein unfassliches Bild:

Den Berg herauf, uns entgegen, kommen sie gewandert, viele solcher Gestalten, manchmal zwei oder drei, die gemeinsam ziehen und das Los der Landstraße miteinander teilen, aber meist sind es Einzelne, durch den Krieg nicht nur der Habe und Zuflucht beraubt, sondern auch der tröstlichen Gesellschaft vertrauter Menschen. Grau, elend, abgehärmt sind ihre Gesichter, voller Spuren angsterfüllter Bunkernächte, aber aus ihren Augen ist die Furcht längst verschwunden, stumpfe Hoffnungslosigkeit ist eingezogen.

Ist das noch Deutschland, dieses Fleckchen Erde, auf dem sich Ost und West begegnen, ratlos, ohne Heimat und Ziel, zusammengetrieben wie flüchtendes Wild in einem Kessel? Ist dies das »tausendjährige Reich«: ein Bergeskamm mit ein paar zerlumpten Bettlern darauf? Ist das alles, was übrig blieb von einem Volk, das auszog, die Fleischtöpfe Europas zu erobern? Wie klar und deutlich ist die Antwort zu lesen: »Denn wir haben hier keine bleibende Statt, aber die zukünftige suchen wir.«

21. März 1946

[27] Von einem normalen Alltag ist das zerstörte Deutschland noch weit entfernt. Millionen Menschen suchen eine neue Existenz, der Wiederaufbau des zerstörten Landes beginnt, es bilden sich erste Strukturen.

Erziehung zum Menschen

Gleich nach Ostern beginnt das neue Schuljahr. Seit Kriegsende ist dies der erste Ansatz zu einem geordneten Schulanfang. Die Schüler, die der Bombenkrieg aus den Städten getrieben und über das Land verstreut hatte, die Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die vielen Jungen, die als Luftwaffenhelfer oder in HJ-Einheiten während der letzten grausigen Phase dieses Krieges auf irgendeinen militärischen Posten gestellt worden waren, sie alle werden jetzt nach einigen Monaten der Sammlung und vorbereitenden Arbeit erstmalig wieder in ihre entsprechenden Klassen eingeordnet.

Ostern 1946 ist für die Jugenderziehung von ganz besonderer Bedeutung: Zum ersten Mal seit vielen Jahren tritt ein Jahrgang deutscher Kinder über die Schwelle einer Volksschule, die, befreit von politischen Dogmen und dem Zwang nationalsozialistischer Weltanschauung, wieder zu lehren und zu wirken vermag – ein Jahrgang, hineingeboren in die Schrecken des Krieges.

Das Licht der Welt, die sie betraten, war der Fackelschein [28] brennender Städte, und die ersten Laute, die sie vernahmen, das Heulen der Sirenen, die Trümmer zusammengestürzter Häuser ihr Spielplatz, und die Heimat oft nur ein Märchen, das wie alle Märchen mit den Worten beginnt: Es war einmal. Sie haben den Frieden nicht gekannt, für sie war der Krieg kein Ausnahmezustand – welche Aufgabe, sie nun den Frieden zu lehren.

Der Nationalsozialismus hatte die Schule in den Dienst seiner Machenschaften eingespannt, im Vordergrund stand nicht der Stundenplan und nicht der Lehrbetrieb, der doch in langen Jahrzehnten den Grundstein gelegt hat für die Erfolge der deutschen Wissenschaft und den Fortschritt in allen technischen Gebieten, sondern im Vordergrund stand die Gesinnung. Man wird sich hüten müssen, im Kampf gegen das Gestrige nicht in den Fehler zu verfallen, die falsche Normierung künftig durch eine »richtige« ersetzen zu wollen. Wir haben viel gelernt in der Spanne, die zwei Weltkriege umfasst, und tiefere Einsichten getan, als es den Generationen vor uns in der kurzen Frist eines Menschenlebens möglich war. Wir kennen die begrenzte Gültigkeit objektiv gelernten Wissens, und wir kennen auch die Gefahren einer zweckgebundenen Ausrichtung der Erziehungsmethoden, was immer ihre Ideale auch sein mögen.

Wir beginnen heute von neuem. Wir wissen, dass vieles von dem, was vor 1933 gelehrt wurde, auch keinen Bestand mehr hat. Es kann sich heute nicht mehr darum handeln, durch Erziehung einen bestimmten Typus zu schaffen: den guten Staatsbürger, einen echten Deutschen, den wahren Demokraten, einen brauchbaren Wissenschaftler, Beamten oder Handwerker, sondern es wird sich darum handeln, wieder [29] einen echten Menschen zu formen, und das ist freilich mit Hilfe der Schule allein nicht möglich, sondern nur im Verein mit dem Elternhaus und seiner Atmosphäre. Für die Schule aber bleibt darum die Aufgabe, neben einem fundierten positiven Wissen die Kinder zu bilden, wie der Künstler den Ton zum Bilde formt, dem jungen Menschen Bildung im weitesten Sinne zu geben, das heißt, ihn die Grundlagen der Werte zu lehren, die unsere abendländische Kultur ausmachen, um ihm wieder das Gefühl der Kontinuität des historischen Gewordenseins zu geben und ihm damit die Verantwortung und Verpflichtung zu zeigen, die daraus erwächst.

Diese Zeit konzessionierter Opposition gegen den Lehrer und die Schule als Institution hat einen unglaublichen Autoritätsverschleiß mit sich gebracht. Die Aufgabe, vor die die neuen Lehrer gestellt sind, ist darum nicht leicht und wahrscheinlich nur über das Beispiel der eigenen Persönlichkeit zu lösen. Noch nie ist die Jugend so nüchtern und illusionslos ins Leben gegangen, noch nie so früh vertraut gewesen mit Lügen und allen Listen bewusster Phraseologie. Die Lehrer, die in diesem Trümmerfeld geistiger Anarchie aufbauen sollen, sind selbst durch den Prozess der Einschmelzung aller Werte und Begriffe gegangen, dies wird es ihnen leichtmachen, ihre Schüler, die Gleiches erlebt haben, zu verstehen.

18. April 1946

[30] Erst vierundzwanzig Monate sind seit dem gescheiterten Anschlag auf Hitler vergangen. Marion Dönhoff war mit mehreren der Attentäter vom 20. Juli 1944 seit ihrer Kindheit befreundet. Unmittelbar nach Kriegsende verfasst sie ein »In Memoriam«, in dem sie die Hintergründe, die zu der Tat führten, beschreibt und in einem Privatdruck veröffentlicht. Es ist weltweit das erste schriftliche Zeugnis über das historische Ereignis. Das Dokument dient als Grundlage für den folgenden Artikel, den Marion Dönhoff anlässlich des zweiten Jahrestages des Attentats schreibt.

Das »heimliche Deutschland« der Männer des 20. Juli

Das deutsche Volk hat in den zwölf Jahren der Hitler-Regierung alle Werte eingebüßt, die in Generationen geschaffen worden waren; es ist nicht nur um seine Zukunft betrogen worden, sondern auch um das Bewusstsein seiner Vergangenheit, um seine Erinnerungen – jene Urkräfte, aus denen alles neue Leben Gestalt gewinnt. Wenn wir zurückblicken und die Geschichte dieser Jahre überschauen, die für die Jüngeren unter uns das Leben ausmachten, dann war es Enttäuschung, Schuld, Verzweiflung, Ströme von Blut, die uns wie ein unüberwindliches Meer von dem Gestern trennen. Und doch hat es daneben noch etwas anderes gegeben, das viele von uns nicht kennen, weil Hitler dafür gesorgt [31] hat, dass die Erkenntnis von diesem Besitz nicht in das Bewusstsein des Volkes einging. Das ist der Geist des »geheimen Deutschlands«.

In die Millionen geht die Zahl der Juden, Ausländer und diskreditierten Deutschen, die eingekerkert, gequält und liquidiert wurden. Hätte nicht einer von denen, die den vielen Widerstandsgruppen angehörten, den Mut finden können, Hitler zu beseitigen? Die Abwegigkeit dieser Vorstellung wird schon bei der Formulierung der Frage deutlich – es fehlte nicht an Mut, sondern einfach an der Möglichkeit, sie zur Tat werden zu lassen, denn fast unvorstellbar ist das undurchdringliche Netz von Sicherungsmaßnahmen, mit dem Hitler umgeben war. Hieraus folgt, dass man ebenso wenig, wie man an der ernsten Bereitschaft derjenigen Gruppen zweifeln kann, die trotz jahrelanger Opposition nie »zum Zuge« kamen, die Tat der Männer vom 20. Juli, die als Einzige wirklich handelten, nach dem Erfolg, also nach dem Nichtgelingen ihres Umsturzversuchs, beurteilen darf. Für die politische Geschichte mag entscheidend sein, dass das Attentat misslang. Für das deutsche Volk und seine geistige Geschichte ist wichtig, dass es diese Männer gegeben hat.

»Eine kleine Clique ehrgeiziger Offiziere« hatte Hitler sie genannt. Das Wort war so stark und das Bild so einprägsam, dass es gelang, mit dieser bewussten Fälschung die Vorstellung der Menschen, vielfach bis zum heutigen Tage, zu formen, sowohl in antifaschistischen wie auch – unter dem Begriff des »Verrats« – in reaktionären Kreisen. Die zehn Monate, die Hitler nach diesem Ereignis zur Vollendung seines Zerstörungswerkes noch blieben, genügten, alles zu [32] vernichten und auszulöschen, was mit jenem Tag im Zusammenhang stand.

So hat das deutsche Volk nie erfahren, dass sich in jener Bewegung noch einmal die besten Männer aller Bevölkerungsschichten, die letzten positiven Kräfte eines völlig ausgebluteten Landes zusammengefunden hatten. Die Not der Stunde, die Verzweiflung über das Ausmaß an Verbrechen, Schuld und Unheil, die der Nationalsozialismus über Deutschland gebracht und weit hinaus in die Welt getragen hatte, führten diese Männer zu einer letzten großen Kraftanstrengung zusammen. Die führenden Persönlichkeiten der Gewerkschaften und der Sozialisten, Vertreter der beiden christlichen Kirchen und jene Offiziere der Wehrmacht, die das eigene Urteil und die Stimme des eigenen Gewissens über den blinden Gehorsam stellten, zahlreiche Vertreter des Adels und des Bürgertums, verantwortungsbewusste Beamte bis hinauf zum Minister und Botschafter, sie alle waren bereit, ihr Leben einzusetzen, um Deutschland von der Verbrecherbande zu befreien, die das Reich regierte. Jahrelang hatte man systematisch an den Plänen der politischen und kulturellen Reorganisation eines befreiten Deutschlands gearbeitet und jahrelang die Vorbereitung für den Umsturz und das Attentat immer wieder hinausschieben und alle Pläne entsprechend der jeweils neuen Situation immer wieder verändern müssen.

Alle Gedanken und Pläne zum Neuaufbau Deutschlands hatten eine gemeinsame Grundlage und stellten in allen Lebensbezirken die gleiche Forderung in den Mittelpunkt: die geistige Wandlung des Menschen, die Absage an den Materialismus und die Überwindung des Nihilismus als [33] Lebensform. Der Mensch sollte wieder hineingestellt werden in eine Welt christlicher Ordnung, die im Metaphysischen ihre Wurzeln hat, er sollte wieder atmen können in der ganzen Weite des Raumes, die zwischen Himmel und Erde liegt, er sollte befreit werden von der Enge einer Welt, die sich selbst verabsolutiert, weil Blut und Rasse und Kausalitätsgesetz ihre letzten Weisheiten waren. Und eben damit waren diese Revolutionäre weit mehr als nur die Antipoden von Hitler und seinem unseligen System; ihr Kampf ist darum neben der aktuellen Bedeutung für das Zeitgeschehen unserer Tage auf einer höheren Ebene der Versuch gewesen, das 19. Jahrhundert geistig zu überwinden.

Die Vorstellung von diesem neuen Deutschland war geboren aus dem Gefühl höchster Verantwortung für das Schicksal des Volkes. Auch wer mit den skizzierten Ideen nicht übereinstimmt, wird die geistige Haltung spüren, die dahinter stand, und die ganze Verwirrung einer Zeit ermessen können, die solche Männer als ehrlose Verräter und Verbrecher hinrichtete. Eines der letzten Zeugnisse ihrer auch durch Kerker und Folterung unveränderten Gesinnung war ein Abschiedsgruß an die Freunde, geschrieben zwischen Verurteilung und Exekution – im Bunker des Volksgerichtshofes im Februar 1945. Sein Schluss lautet so:

»Ach Freunde, dass die Stunde nicht mehr schlug und der Tag nicht mehr aufging, da wir uns offen und frei gesellen durften, zu dem Wert, dem wir innerlich entgegen wuchsen. Bleibt dem stillen Befehl treu, der uns innerlich immer wieder rief. Behaltet dieses Volk lieb, das in seiner Seele so verlassen, so verraten und so hilflos geworden ist und im Grunde so einsam und ratlos, trotz all der marschierenden [34] und deklamierenden Sicherheit. Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte, ein wenig mehr Licht und Wahrheit in der Welt war, hat sein Leben seinen Sinn gehabt.«

18. Juli 1946

[35] Im August 1946 bereist der renommierte Sozialpolitiker Lord William Beveridge zwei Wochen lang die britische Besatzungszone, wo 22 Millionen Menschen leben. Er konstatiert: »Fünfzehn Monate nach der Niederlage ist kaum eine Besserung zu spüren oder auch nur die geringste Aussicht, der langsamen Aushungerung und den unerträglichen Wohnverhältnissen zu entgehen. Am schlimmsten aber ist die Wohnungsnot. Ein ganz beträchtlicher Teil der Städte lebt unter Verhältnissen, die einfach erschütternd sind.«

Das »Friedenspotential«

Lord Beveridge hat nach Beendigung seiner Reise durch die britische Zone die dort gewonnenen Eindrücke zusammengefasst in der Feststellung: »Die Zeit für eine grundsätzlich neue Politik ist gekommen.« In einer Artikelfolge, die in der Times veröffentlicht wurde, spricht er von dem Friedenspotential, das die Grundlage aller wirtschaftspolitischen Erwägungen und Maßnahmen in Deutschland bilden müsse, und stellt damit dem Begriff des zu zerstörenden Kriegspotentials, das den Angelpunkt der Potsdamer Beschlüsse bildet, einen positiven Begriff gegenüber. Dieser Idee liegt die Erwägung zugrunde, dass, wenn es einen totalen Krieg gab, es auch einen totalen Frieden geben müsse.

»Friedenspotential«, das ist das erlösende Wort, das stark genug sein sollte, um eine neue Welt zu gestalten. Eine Welt, [36] die nicht bestimmt wird durch eine nur allzu begreifliche Reaktion auf die entfesselten Leidenschaften und Grausamkeiten der hinter uns liegenden Zeit; und eine Wirtschaft, in der nicht der Argwohn die Frage diktiert: Kann diese oder jene Anlage unter irgendwelchen Umständen zu Rüstungszwecken missbraucht werden?, sondern wo die Problemstellung vielmehr lautet: Kann die Werft, auch wenn sie bisher Kriegsschiffe produzierte – und vermutlich hat das jede Werft im Laufe des totalen Krieges irgendwann einmal getan –, jetzt Fischkutter herstellen, oder kann die Fabrik, die bisher Panzer baute, in Zukunft landwirtschaftliche Traktoren erzeugen?

Mit wenigen charakteristischen Strichen entwirft der alte erfahrene Staatsmann seinem Volk ein Bild des heutigen Deutschlands, der vollkommenen Hoffnungslosigkeit, nicht der gegenwärtigen Situation gegenüber, sondern der Hoffnungslosigkeit in Permanenz: Die vielen heimatlosen Menschen, die zerschlagenen Städte und die daniederliegende Industrie, deren Restbestand wieder verkleinert wird durch Demontage und Zerstörung, der nahende Winter ohne Kohlen, mit unzureichender Ernährung, die Streichung aller Versorgungsrenten und die Beschlagnahme der letzten Wohnungen in einem Meer von Trümmern, die keine Ausweichmöglichkeiten mehr bieten. Er spricht von der Sprengung der Hamburger Werft, bei der unendlich viel wertvolles Material, das dem Frieden und einem neuen Aufbau hätte dienstbar gemacht werden können, vernichtet wurde, und von der Denazifizierung, die den Verbrecher ebenso trifft wie den hoch qualifizierten Arzt oder irgendeinen wissenschaftlichen [37] Spezialisten, der nun, anstatt ein Wohltäter seines Volkes zu sein, zur Untätigkeit verdammt ist und in hasserfüllte Opposition gerät.

Seine Forderungen zeugen von tiefem Verständnis: Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen in England, bessere Versorgung Deutschlands mit Kohlen, Intensivierung der Industrie anstatt Beschränkung in der Produktionsquote, und vor allem dies: die Revision der Potsdamer Beschlüsse.

Sie sind untragbar, so sagt Beveridge, weil sie bisher nur in ihrem negativen Teil, also einseitig durchgeführt worden sind, ohne dass die Voraussetzung sämtlicher Beschlüsse, nämlich die ökonomische Einheit aller vier Zonen, je zur Realität geworden wäre. Darüber hinaus aber ist nach seiner Meinung eine Revision aus grundsätzlichen Erwägungen deswegen notwendig, weil die Politik von Potsdam eine »totalitäre« Politik gewesen sei, die mit den demokratischen Idealen von Toleranz und Gerechtigkeit, für die der Krieg geführt worden ist, unvereinbar wäre und die im Übrigen die Vereinbarungen der Atlantik-Charta zu einer »reinen Heuchelei« mache.

Wir stehen an einem Wendepunkt und empfinden mit dankbarer Hoffnung die neue Atmosphäre von Einsicht und Menschlichkeit, die in uns die vorbehaltlose und aufrichtige Bereitschaft erweckt, über manche Klippe und Enttäuschung hinweg unsere ganze Kraft einzusetzen, um in diesem Geist des Friedens das neue Deutschland aufzubauen. Gerade das deutsche Volk, das nur allzu leicht geneigt ist, einen einmal eingeschlagenen Weg grundsätzlich bis zu Ende gehen, auch wenn er geradewegs ins Verderben führt, [38] bewundert die politische Freiheit und Unabhängigkeit des englischen Volkes, die es dazu befähigt, unter Umständen das Steuer um 180 Grad zu wenden, wenn sich der gesteuerte Kurs als falsch oder unzweckmäßig erwiesen hat.

Die neue Politik, die Lord Beveridge vorschwebt, ist mit der ganzen Weisheit einer tausendjährigen Geschichtserfahrung seines Volkes von Tschiang Kai-schek nach Beendigung des japanischen Krieges in klassischer Weise formuliert worden: »Der mit den Waffen errungene Frieden braucht nicht unbedingt der Anfang einer neuen Friedensära zu sein, die Entscheidung liegt darin, ob wir fähig sind, den Feind so geschickt und gütig zu führen, dass er von Herzen bereut und Friedensbefürworter wird wie wir. Dann können wir auf die Verwirklichung des Weltfriedens hoffen und das Endziel dieses Krieges erreichen.«

12. September 1946

[39] Kann Frieden verordnet werden? Japan gibt mit einer Verfassungsänderung ein Beispiel.

Ein Novum in der staatsrechtlichen Weltgeschichte

Die Verwirrung in der Welt ist groß. Das Streben nach Sicherheit, das die geängstigten Menschen erfüllt, beschwört zugleich Argwohn und Misstrauen, die als stille Teilhaber bei allen Gesprächen und Konferenzen zugegen sind. Die Staaten, die über die Kodifizierung eines Strafrechts gegen den Angriffskrieg beraten, führen gleichzeitig die allgemeine Wehrpflicht ein, und die Mächte, die den Zweiten Weltkrieg führten, um damit endgültig für alle Zeiten den Krieg als Mittel der zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen auszuschalten, sprechen bereits wieder von der Gefahr eines dritten Weltkrieges.

Während die Welt in dieser Weise weiter von dem Gespenst des Krieges beherrscht wird, hat das japanische Volk in einer selbstentworfenen, von Parlament und Kaiser bestätigten und durch den Militärgouverneur gebilligten Verfassung auf das Recht, Krieg zu führen, ausdrücklich verzichtet. Dieser Passus ist tatsächlich ein Novum in der staatsrechtlichen Geschichte aller Zeiten und Völker. Der Artikel 9 der Verfassung, die Kaiser Hirohito am Meijitag verkündete – [40] dem Geburtstag des Kaisers Mutsuito, der vor achtzig Jahren die Grundlagen des modernen japanischen Staates gelegt hat –, lautet: »Es wird grundsätzlich und für alle Zeiten darauf verzichtet, Krieg zu führen oder Drohungen und Gewalt anzuwenden, um Streitigkeiten mit anderen Nationen beizulegen. Die Unterhaltung von Land-, See- und Luftstreitkräften wie auch eines technischen Kriegspotentials wird niemals zugelassen werden.«

Es liegt nahe, mit Laetitia Buonaparte zu sagen »pourvu que ça dure« oder auch festzustellen, dass Japan gar nichts anderes übrigblieb, als aus der Not eine Tugend zu machen, und doch gehen solche Betrachtungen an der Hauptsache vorbei. Das Wesentliche ist eben, dass in einer Welt, in der es widerhallt von Drohungen und Gesprächen über Atombomben und Geheimwaffen, irgendwo an einer Stelle – und sei es auch an der schwächsten – der bewusste Verzicht auf Gewalt und der Mut zur militärischen Wehrlosigkeit aufgebracht wird. Selbst die Schweiz, deren Neutralität vertraglich festgelegt und anerkannt worden ist, verzichtet nicht darauf, eine Armee zur Sicherheit gegen Angriffskriege zu unterhalten.

Japan hat in einem Moment des vollkommenen Zusammenbruchs seiner politischen Existenz und der geistigen Grundlagen seiner Samurai-Tradition mit Bestürzung den Irrtum seines Ethos gewahrt, das – wie der alte Staatsmann Osaki formuliert hat – auf Blutvergießen und falschen Prämissen beruhte. Aus diesem Erwachen hat es den Elan gefunden, sein Schicksal auf einer höheren geistigen Ebene selbst zu gestalten. Es hat dies tun können dank der Großzügigkeit der Besatzungsmacht, die dem japanischen Staat seine [41] Kontinuität und ein weitgehendes Recht der Selbstbestimmung gewährte und damit die Kräfte zu einer geistigen Wandlung und Erneuerung freigegeben hat.

So scheint es, dass Japan die ausweglose Situation erspart bleibt, die aus dem Zusammenbruch von gestern und der mangelnden Aussicht auf ein besseres Morgen entsteht. »Wir sind von unbegrenztem Stolz und höchster Verantwortlichkeit erfüllt«, sagte der Ministerpräsident Yoshida, »weil wir durch unseren verfassungsmäßig verankerten Verzicht auf Kriegsführung beispielgebend für die Welt geworden sind.«

28. November 1946

[42] 1947 leben in Deutschland 55 Millionen Menschen. Unter ihnen sind zehn Millionen aus den Ostgebieten vertriebene Deutsche, knapp ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Das führt zu Unruhe und der Frage: Was wird aus den Vertriebenen?

Arbeiten und nicht verzweifeln

Nachdem soeben auf der Moskauer Konferenz das Thema Flüchtlingsverteilung in Deutschland angeschnitten worden ist und vor Jahresfrist im März 1946 ein internationales Flüchtlingsamt beim Wirtschafts- und Sozialrat der UNO gegründet wurde, wächst unsere Hoffnung, dass dieses Problem aus seiner zonalen Unlösbarkeit in einen weiteren Rahmen gespannt werden wird.

Eine Bevölkerungstransaktion des Ausmaßes, wie sie eben in Deutschland vor sich gegangen ist, ist im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten überhaupt nicht zu bewältigen, und doch sind wir durch diese Erkenntnis nicht von der Verpflichtung entbunden, alle nur denkbaren Anstrengungen zur Selbsthilfe zu unternehmen.

Es sind jetzt genau zwei Jahre vergangen, seit die ersten Wellen des noch immer nicht versiegten Stroms der Vertriebenen die heutigen westlichen Zonen erreichten. Was ist nun in dieser Zeitspanne geleistet worden? Erstaunlich wenig, sofern wir die britische Zone betrachten, die im Vergleich zur [43] amerikanischen in dieser Hinsicht außerordentlich rückständig ist. Viele Versprechungen sind den Vertriebenen vor den Wahlen von sämtlichen Parteien gemacht worden; zahlreiche Stellen und Referate innerhalb der Landesverwaltungen haben nominell den Auftrag, sich um die Vertriebenen zu kümmern, was sich nach Lage der Dinge in der Praxis zumeist dahingehend auswirkt, dass diese Stellen ihre Aufgabe darin sehen, die Einheimischen vor dem Ansturm der Vertriebenen zu schützen. Es gibt in der britischen Zone auch nicht einmal eine Erfassung nach Berufsgruppen. Es gibt darum noch immer wichtige Spezialisten, wie Feinmechaniker, Uhrmacher und Maschinenschlosser, die Kühe melken oder zur Waldarbeit eingesetzt sind.

Wenn diese beiden Jahre nicht vollkommen nutzlos verronnen sein sollen, dann muss jetzt an der Schwelle des dritten Jahres im Exil – und die Zeitrechnung der Vertriebenen richtet sich nicht nach dem Kalender, sondern nach dem Zeitpunkt der Vertreibung aus der Heimat – versucht werden, wenigstens aus den negativen Erfahrungen zu lernen, wie man es nicht machen soll.

Man muss einmal versuchen, das ganze Problem mit neuen Augen zu sehen und sich wunsch- und vorurteilslos über die derzeitige Situation und deren mutmaßliche Entwicklung klarzuwerden. Zunächst ist es falsch, die Vertriebenen grundsätzlich und von vornherein ausschließlich als Konsumenten und niemals als potentielle Produzenten anzusehen. Zweifellos ist durch die Zuwanderung aus dem Osten die Disproportion im Bevölkerungsaufbau, die der Krieg gezeitigt hat, noch verschärft worden; Überalterung, Erhöhung des Frauenüberschusses und Rückgang des [44] Anteils der arbeitsfähigen Bevölkerung, aber wie viele brauchbare Arbeitskräfte gibt es andererseits unter den Vertriebenen – welche Summe von Können, Erfahrung und Geschick liegt da brach!

Das einzige Kapital, über das Deutschland noch verfügt, ist seine Arbeitskraft – jeder Mensch, der überhaupt arbeiten kann, ist ein Produktionsfaktor innerhalb der Volkswirtschaft; darum darf es nicht geschehen, dass die Intelligenz und die Arbeitskraft zahlloser Millionen nicht oder gar falsch ausgenutzt wird.

Deutschland wird zweifellos auf lange Sicht nur als kapitalintensiver hochindustrialisierter Staat leben und seinen Beitrag zur Weltwirtschaft leisten können, aber der Weg dahin ist weit und setzt eine lange wirtschaftliche Entwicklung frei von politischem Misstrauen voraus. Die Großindustrie ist heute weitgehend zerschlagen und damit auch die Forschungsinstitute der großen Konzerne, in denen ein wesentlicher Teil aller Erfindungen und Verbesserungen durchgeführt wurde; der Patentschutz ist aufgehoben, Rohmaterial nur in geringen Mengen vorhanden, es fehlt an Wohnraum, besonders in den bisherigen Industriezentren, kurz, alle Vorbedingungen einer konzentrierten Industrialisierung sind einstweilen nicht gegeben, selbst wenn die Beschränkungen des Industrieplanes aufgehoben werden sollten. Der zunächst vorgezeichnete Weg ist vielmehr der einer Entwicklung einer intensiven Klein- und Heimindustrie auf technischem und handwerklichem Gebiet. Sei es Textil- oder Ton- und Keramikindustrie, Pharmazeutik, Farben, Feinmechanik oder auch nur die Verwandlung von Halbfabrikaten in Fertigwaren.

[45] In all diesen Bereichen kann auch ein Teil der Vertriebenen wieder zu Produzenten und nützlichen Mitgliedern der Volkswirtschaft werden.

Zwei grundsätzliche Veränderungen aber sind, wie uns die Vergangenheit zeigt, die Voraussetzung, dass das »Flüchtlingsproblem« erst einmal aus dem Zustand völliger Stagnation herauskommt: Erstens muss der Privatinitiative der Vertriebenen selber im Rahmen der alles erstickenden behördlichen Organisation mehr Raum gegeben werden. Die Unternehmerinitiative auch des tüchtigsten Handwerkers oder auch Kaufmanns zerbricht heute an Zuzugsgenehmigungen, den Konzessionsbeschränkungen der Kammern oder den Schutzbestimmungen des Groß- und Kleinhandels. Wenn es in einem Distrikt zehn Schuster gibt, dann wird, auch wenn drei davon untauglich sind, einem leistungsfähigen Vertriebenen die Konzession versagt, weil zahlenmäßig kein Bedürfnis vorliegt. Damit wird auf die Dauer nur erreicht, dass der einheimische Inhaber einer Konzession ein absolutes Monopol hat, das unter Umständen nur seine Unfähigkeit oder Faulheit schützt, ähnlich wie es beim Erbhof in der Landwirtschaft war.

Sicher sind die Rohstoffe und Werkstoffe knapp, und ihr Einsatz muss darum überwacht werden. Aber wie der »schwarze Markt« – auf den immer mehr Material aus den reglementierten Märkten abgewandert ist – zeigt, ist dieses Ziel mit derartigen Maßnahmen nur unvollkommen zu erreichen.

Und zweitens geht es nicht länger an, dass zwanzig Prozent der Bevölkerung ohne eigene Interessenvertretung auf das im allgemeinen Existenzkampf verlorengegangene [46] soziale Empfinden der verschiedenen Länderverwaltungen angewiesen sind. Es wird immer ein frommer Wunsch bleiben zu meinen, dass die Vertriebenen sich heimisch fühlen, wenn sie nicht, wie in der amerikanischen Zone, unabhängigen Flüchtlingskommissaren unterstellt werden. Zugehörig zu dem Gastlande fühlt sich nur der, der Arbeit und damit ein Fortkommen hat oder der, sofern er nicht arbeiten kann, betreut wird. Die einheimische Verwaltung kann aber für beides keine Gewähr bieten, weil sie die tüchtigen Vertriebenen als Konkurrenz empfindet und die arbeitsunfähigen begreiflicherweise als Last.

Es ist darum keine gehässige Kritik, sondern eine sachliche Feststellung, wenn ein Überblick über das in der britischen Zone während der beiden vergangenen Jahre Geleistete ergibt, dass zwei oder drei Selbsthilfeorganisationen, ursprünglich aus der eigenen Initiative einiger Flüchtlinge entstanden, wesentlich mehr für ihre Leidensgenossen getan haben als der gesamte Verwaltungsapparat aller Länder der britischen Zone zusammen. Es gibt in Hamburg neben der Evangelischen Hilfsgemeinschaft e.V., deren Organisation und Tatkraft es zu danken ist, dass eine große Zahl von vertriebenen Familien zum Teil in geschlossenen Gruppen mit handwerklichen Erzeugnissen wieder ihr Brot verdienen, die »Vertretung ostdeutscher Betriebe bei der Handelskammer Hamburg« und die »Betreuungsstelle für das ostdeutsche Handwerk bei der Handwerkskammer Hamburg«, die beide ihre segensreiche Tätigkeit in der ganzen britischen Zone ausüben. Ähnlich wie sich diese beiden Institutionen auf fachlichem Gebiet mit Erfolg um die Wiedereingliederung der Vertriebenen in die westlichen Wirtschaften [47] kümmern, müsste analog dem System der süddeutschen Länder der Verwaltung eine Vertriebenenvertretung koordiniert werden, die ihre Stütze in einer zentralen Zonenstelle hat.

20. März 1947

[48] Nach Jahren von Krieg und Kriegsgefangenschaft ohne Verbindung zu Heimat und Familie kehren viele Männer, gezeichnet von Entbehrungen, Krankheit und Erschöpfung, in eine ihnen fremd gewordene Welt zurück.

Heimkehr ohne Heim

Gewiss, wir haben Fürsorgeorganisationen aller Art, Sozialversicherungen, Altersheime und Kindergärten geschaffen; wir haben das »durchschnittliche Lebensalter« von 45 auf 60 Jahre gesteigert, haben Armut und Reichtum, Glanz und Elend stufenweise einander angeglichen – je nach den Umständen; zuvor auf der Basis von »Glanz«, jetzt auf dem Niveau allgemein geteilten Elends. Unser Jahrhundert trägt alle Anzeichen eines sozialen Zeitalters. Und dennoch konnte es geschehen, dass nun schon zum zweiten Mal ein aus Russland zurückkehrender Kriegsgefangener, einer jener Unglücklichen, auf die das ganze Volk schmerzlich und ungeduldig wartet, keinen Platz in dieser organisierten Gemeinschaft fand und sich aus Verzweiflung das Leben nahm.

Sicherlich ist nie so viel gesorgt, erfasst und geplant worden, nie auf dem Umweg über die Steuern ein so hoher Anteil der Vermögen und Einkommen des Einzelnen zugunsten der Gesamtheit verwendet worden, und doch fehlt offenbar irgendetwas, denn wer wäre bereit, dieses soziale Zeitalter [49] menschlich zu nennen? Es ist, als habe man die echte Menschlichkeit wegorganisiert, indem man sie in die Sphäre bürokratischer Organisation verlagert hat, wodurch der Mensch seiner natürlichen Aufgabe, seiner selbstverständlichen Qualität, menschlich zu sein, enthoben, ja fast könnte man sagen, beraubt worden ist.

Es war nur eine kurze Meldung, die durch die Presse ging: Ein Schlesier, der nach dreijähriger Gefangenschaft aus Russland zurückgekehrt ist, dessen Frau noch immer als Zwangsarbeiterin im Ural zurückgehalten wird und dessen Kinder erst jetzt aus den polnisch besetzten Gebieten ausgewiesen worden sind, hat Selbstmord begangen, weil seinen Angehörigen die Zuzugsgenehmigung nach Höxter, wo seine Eltern leben, verweigert wurde. Die Geschichte dieses Menschen, von dem wir nicht mehr wissen, als diese wenigen Zeilen besagen, könnte viele Seiten füllen. Ist es doch die Geschichte unserer Zeit. Alles wird in ihr deutlich, dieses Verlorensein des Einzelnen in einer erbarmungslosen Welt, die verzweiflungsvolle Einsamkeit des Heimatlosen und die ganze Hoffnungslosigkeit des Enttäuschten.

Wie unvorstellbar langsam mögen die Tage, Monate und Jahre der Gefangenschaft dahingegangen sein zwischen Hunger, Heimweh und Sorge um die Familie und ihr ungewisses Schicksal in der schlesischen Heimat. Und dann endlich der Tag der ersehnten Freiheit und die Rückkehr in ein Vaterland, das in ungezählten Träumen den Heimkehrenden mit warmer Liebe und Freude zu erwarten schien und das ihn schließlich doch nur als lästigen Fremdling empfing und ihn als Überzähligen von einer Behörde zur anderen abschob. Dort aber gibt es offenbar keine instinktive [50] Hilfsbereitschaft, kein Mitleid mehr, denn an deren Stelle sind ja Anweisungen und Verordnungen getreten, hinter denen man sich verschanzen kann, wenn es schwierig wird, und schwierig ist heute natürlich die Unterbringung jedes Einzelnen. Verordnungen aber gibt es genug, jede Zone hat ihre eigenen, und jedes Land hat wiederum seine eigenen, und alle miteinander wachen sie ängstlich über ihre Sonderrechte, die ein Heer von Behörden-Funktionären hütet. Die Hauptsache ist, dass der Behördenapparat intakt bleibt, ob dabei ein paar Bürger langsam zugrunde gehen und in die äußerste Verzweiflung getrieben werden, das spielt keine Rolle.

Sicherlich, es hat immer Grausamkeiten gegeben, Blutrache, Inquisition, Krieg und Blutvergießen aus Hass und Leidenschaft geboren, aber der Tod eines Menschen, der sechs Jahre Krieg und drei Jahre russische Gefangenschaft überstanden hat, verursacht durch bürokratische Maßnahmen – gewissermaßen durch Gleichgültigkeit und Stumpfsinn –, das blieb offenbar unseren Tagen vorbehalten. Der Tod dieses »unbekannten Heimkehrers« trifft nicht nur eine Mutter, sondern Tausende von Müttern und Frauen, die alle noch auf ihre Angehörigen warten. Jeder, der heute auf den endlosen Landstraßen wandert, kann es sein: »Wer jetzt geht, irgendwo geht in der Welt, geht zu mir – wer jetzt stirbt, irgendwo stirbt in der Welt, sieht mich an.« Wahrhaftig, das ist es, und darum haben wir im Grunde alle teil an jedem solchem Versäumnis, denn daran liegt es: Wir haben dieses Gefühl nicht mehr, dass sie alle unsere Brüder sind, die Flüchtlinge und die Heimkehrer.

Es wäre allzu einfach und pharisäerhaft, kurzerhand den Behörden und der Bürokratie allein die Schuld zu geben. [51] Gäbe es noch ein lebendiges Gefühl für Menschlichkeit und Nächstenliebe in unserer Gemeinschaft, dann würden auch die Behörden sich dieser Atmosphäre nicht entziehen. Soziale Einrichtungen allein tun es freilich nicht. Auch heute gilt noch die uralte Weisheit: Wenn ich all’ meine Habe den Armen gäbe – und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte der Liebe nicht, so wär mir’s nichts nütze.

3. September 1948

[52] Die Verhältnisse in Deutschland beginnen sich zu normalisieren. Im Jahr 1949 wird das Grundgesetz unterzeichnet, die Bundesrepublik beginnt sich zu etablieren.

Brief aus dem Nichts

Vor ein paar Tagen brachte mir der Postbote einen seltsamen Brief. Er lag auf meinem Schreibtisch, als ich abends nach Hause kam, und ehe ich ihn noch in die Hand genommen und den Poststempel mit dem überraschenden Datum 21.2.1945 näher betrachtet hatte, spürte ich diese eigenartige und schwer zu beschreibende Schrecksekunde, wie man sie wohl empfindet, wenn plötzlich im Dunkeln eine Gestalt auf einen zutritt. Es war ganz deutlich spürbar, irgendetwas Merkwürdiges, Gespensterhaftes war mit diesem Brief.

Er steckte in einem jener armseligen hellgrünen Briefumschläge, wie sie während der Kriegsjahre üblich waren, mit einem Feldpoststempel darauf und einem zweiten Stempel daneben, auf dem in rotem Druck zu lesen stand: »Weiterleitung durch Kriegsverhältnisse verhindert.« Ja, die deutsche Reichspost war immer eine gut funktionierende Behörde und hielt auf Ordnung. Und als sie schließlich in dem allgemeinen Chaos ihre Pflicht nicht mehr erfüllen konnte, weil die Heimat zum Schlachtfeld geworden und eine Beförderung nicht mehr möglich war, da drückte sie im Donner der [53] feindlichen Geschütze wenigstens noch einen Stempel auf die Briefe, die ihren Adressaten nie mehr erreichen sollten: »Weiterleitung durch Kriegsverhältnisse verhindert« – gewissermaßen zu ihrer eigenen Entlastung tat sie das und triumphierte damit über das allgemeine Chaos.

Merkwürdig, wie so ein verspäteter, verblichener Feldpostbrief wie ein Zauberstab alles um sich herum verändert – Zeit und Raum schienen verwandelt, alles war mit einem Mal wieder da, so präsent, als sei es lebendige Gegenwart: jenes allmorgendliche fieberhafte Durchblättern der Post auf der Suche nach einem hellgrünen Feldpostbrief, die vielfältige, oft sich durch Wochen täglich wiederholende Enttäuschung und die beglückende Entspannung, wenn er dann schließlich eines Tages da war. Und dann sofort der angstvolle Blick auf das Datum des Poststempels und die sorgenerfüllte Berechnung: fünf Tage – vierzehn Tage – drei Wochen unterwegs, was konnte inzwischen alles geschehen sein?

»Varzin, Pommern, Februar 1945«, so begann der Brief. Varzin… wie viele Erinnerungen der preußischen Geschichte sind mit diesem Platz verbunden, der nach 1866 Bismarcks Heimat wurde. Für mich wird es immer die Erinnerung an den endgültigen Abschied von der Weite des Ostens sein, als ich an einem Spätnachmittag, Anfang Februar jenes Jahres, durch den leicht ansteigenden Park herauf ritt zum Schloss Varzin, um meinem müde gewordenen Pferd Erholung in einem richtigen Stall zu gönnen. Vierzehn Tage war es damals schon unterwegs, und das Futter war oft knapp gewesen. Pommern im Februar 1945… wie viele Bilder gewinnen wieder Umriss und Farbe! Wochenlang war ich mit [54] dem unabsehbaren Millionenheer unbekannter und namenloser Flüchtlinge über die pommerschen Straßen gezogen, und viele der damaligen Gedanken wurden nun wieder lebendig bei der Lektüre dieses Briefes, der die letzte Phase der allgemeinen Auflösung im Osten schilderte.

Was ist Wirklichkeit, so fragt man sich wohl – jenes Chaos damals, in dem die Landstraße und der Wechsel von Tag und Nacht und das Gefühl des Preisgegebenseins die einzige Realität waren, oder das pseudobürgerliche Leben von heute, in dem vor jedem besseren Café wieder Palmentöpfe stehen? Nie würde es jenes verlogene bürgerliche Leben wieder geben – so hatte man damals gemeint, und fast lag eine gewisse Hoffnung in dem Gedanken, dass, wenn es nie mehr so sein würde, es doch die Möglichkeit gäbe, eine neue wesentlichere Welt aufzubauen, zusammen mit all jenen, die nicht nur am Rand des Abgrunds gewandelt waren, sondern die tief unten von seinem Grund heraufgeschaut hatten. Wie sollte es denn möglich sein, und wer könnte auch nur den Wunsch haben, noch einmal eine Welt zu restaurieren, die so vollkommen zu Bruch gegangen war? Es stimmte ja nichts mehr – die Kategorien nicht und die Wertung nicht und gar nichts. So dachte man damals, vor knapp fünf Jahren.

Und dann dachte man, dass es nun immer so sein würde, dass all diese Fremden, mit denen man des Wegs zog und bei denen man einkehrte, ehe sie wenige Tage später sich selbst aufmachen mussten, Brüder bleiben würden. Hatte nicht jeder, der noch etwas Wärmendes oder Essbares abzugeben hatte, mit dem, der fror oder Hunger hatte, geteilt? Niemand sagte damals »Sie« zum anderen – Seid ihr müde? [55] Wo kommt ihr her?, so lauteten die Fragen. Das war vor knapp fünf Jahren. Wer fragt heute noch: Seid ihr müde? Habt ihr Hunger? Und doch kommen sie noch immer gewandert, vom Osten her über die endlosen Straßen.

27. Oktober 1949

[57] Marion Dönhoff ist schon als junger Mensch viel und weit gereist. Nach dem Krieg wird das Reisen Teil ihrer journalistischen Tätigkeit und schlägt sich in zahlreichen Reportagen nieder. Wie hier: nach einer Fahrt durch Belgien im Frühsommer 1950.

»Sie haben die Wahl: Visum oder Gefängnis«

Der dicke amerikanische Major, dem die Loire-Schlösser, die er eben bereist hatte, weit weniger gefielen als die Kunstbauten des bayerischen Ludwig, hatte mir gerade auseinandergesetzt, wie bedenklich die Autoritätsgläubigkeit der Deutschen sei. Das war im Abteil des Zuges, der eben Nordfrankreich durchratterte: Der Major kam von der Loire, ich aus Spanien, und beide wollten wir nach Deutschland. In Amerika, so meinte er, herrsche die Auffassung, dass beispielsweise ein Bürgermeister ausschließlich zum Benefiz seiner Untertanen da sei, und wenn er sich nicht dementsprechend verhalte, dann schicke man ihn weg und nähme einfach einen anderen. In Deutschland hingegen sei jede Amtspersönlichkeit gewissermaßen ein Selbstzweck, dem bereitwillig Verehrung gezollt würde. Er war ein sanfter und höflicher Mann, der Major, und darum stellte er dies nicht apodiktisch fest, sondern fragte zuvorkommend, warum dies wohl sei… Just in diesem Augenblick wurde unser Gespräch im Nordexpress jäh durch die Passkontrolle an der [58] französisch-belgischen Grenze unterbrochen. Schade, dass der Major, dessen Papiere »in Ordnung« waren, von da ab meine nun beginnende Leidensgeschichte nicht mehr verfolgen konnte. Es war die Leidensgeschichte eines durch Westeuropa reisenden Deutschen. Hätte er sie miterlebt, so würde sich seine Frage gewissermaßen von selbst beantwortet haben.

Es begann also mit der Passkontrolle in Erquelinnes, wo der Beamte mit geübtem Auge sofort feststellte, dass zwar meine Einreise nach Spanien durch Österreich und Italien ordnungsgemäß erfolgt war, aber dass mir für die Heimreise aus Spanien durch Belgien das Transitvisum fehle. Wortlos steckte er den Pass ein und hastete davon, um, wie ich optimistisch meinte, einen Vorgesetzten um Rat anzugehen. Mit der Geduld und Gleichgültigkeit, die unsereinen die jahrelange Erfahrung im Umgang mit Bürokraten gelehrt hat, wartete ich und tröstete nebenbei auch eine lamentierende Amerikanerin deutscher Herkunft, die ihrem deutschen Pass treu geblieben war und die ebenfalls versäumt hatte, sich das belgische Visum zu besorgen. Sie reiste mit ihrer zwölfjährigen Tochter und wollte nach Hamburg.

Zuerst geschah gar nichts. Der Zug fuhr weiter, und ich fuhr mit. Wir reisten quer durch Belgien. Und erst an der belgisch-deutschen Grenze, in Herbesthal, erschien wieder ein Beamter, der erneut die Pässe zu sehen verlangte, und bei dieser Gelegenheit stellte sich dann heraus, dass sein Kollege, der in Erquelinnes ausgestiegen war, nach Beendigung der Revision mit unseren Pässen in Charleroi einfach ausgestiegen war und dass wir – die Amerikanerin und ich – in Lüttich und Namur bereits durch Lautsprecher mehrfach [59] aufgefordert worden waren, den Zug zu verlassen. Höchst verdächtig, dass wir dieser Aufforderung nicht nachgekommen waren! Die Bahnpolizei machte bedenkliche Gesichter und nötigte uns auszusteigen. Dies also geschah im mitternächtlichen Herbesthal unweit Aachen. Am nächsten Morgen würde man telefonieren, die Pässe kommen lassen und sich schon irgendwie mit der Sureté einigen; so tröstete uns der freundliche dicke Hüter der belgischen Ordnung.

Am nächsten Morgen waren wieder andere Polizisten da, recht unfreundliche, die uns mitteilten, wir müssten nach Erquelinnes an die französische Grenze zurück, um die Pässe dort in Empfang zu nehmen. Das war ebenso leicht wie barsch gesagt, aber nur in neunstündiger Reise und mit dreimaligem Umsteigen auszuführen, denn der einzige durchgehende Eilzug war bereits weg. So geschah es denn, und abends um sieben trafen wir mit Kind und sechs Stück Gepäck wieder in Erquelinnes ein, wo wir hofften, eine Stunde später den Express in Richtung Nordosten wieder besteigen zu können. Erste Panne: Die Bahnpolizei hatte nicht im Bahnhof ihr Quartier, sondern war irgendwo außerhalb stationiert und zu Fuß nur in 30 bis 40 Minuten zu erreichen. Ein Telefongespräch förderte sodann die zweite Katastrophe zutage: Die belgische Polizei hatte die Pässe nach Jeumont auf die französische Seite der Grenze geschickt. Nun sollten wir passlos eine europäische Grenze passieren, weil Passkontrolleure dies so eingerichtet hatten – welch eine Köpenickiade!

Sogar die telefonisch verständigte Polizei sah ein, dass dies nicht zu machen sei, und holte die Pässe über die Grenze. Nach etwa einer Stunde erschienen mit zorngeröteten [60] Gesichtern zwei Polizisten, die wie Feuerwehrkommandanten aus dem Simplicissimus des Jahrgangs 1912 aussahen, und stellten uns die Alternative, entweder zu Fuß über die französische Grenze zu gehen (ein Zug ging nicht mehr) oder – séjour im belgischen Gefängnis zu nehmen. So schulterten wir denn die Koffer, und während die beiden Kavaliere mürrisch und unbeschwert voranschritten, zogen die Amerikanerin, ihr Kind und ich ächzend der unbekannten, keineswegs rettenden Grenze entgegen. – Endlich der Schlagbaum! Sechs Franzosen saßen auf einer Bank und schauten interessiert zu, wie die Belgier, die finster dreinblickten, uns die Pässe aushändigten mit der liebenswürdigen Maßgabe, dass wir bei nochmaligem Betreten ihres Hoheitsgebietes sofort verhaftet würden… Wer könnte, wer müsste uns helfen? – Der belgische Konsul in Paris!

Es war neun Uhr abends. Der nächste Zug nach Paris führe am nächsten Morgen um 6 Uhr ab Jeumont – so erfuhren wir –, und bis zu diesem Bahnhof seien es fünf Kilometer! Die amerikanische Leidensgefährtin war mittlerweile trotz gelegentlicher Coca-Cola-Stimulans vollkommen zusammengebrochen und führte bewegte Klage über den schmählichen Empfang im heimatlichen Europa – was für ein Wiedersehen nach zwanzig Jahren!

Der einzige Trost war, dass die Franzosen herzlich Anteil an unserem Schicksal nahmen und dafür sorgten, dass Mutter und Tochter mit Gepäck von einem durchreisenden Auto zum Bahnhof Jeumont gefahren wurden. Ich versuchte mich derweil mit einigen Camels zu revanchieren, bekam aber einen Korb: »Ich kann die Amerikaner nicht leiden und darum rauche ich auch ihr Kraut nicht«, sagte einer der [61] Männer. Meine schüchterne Antwort: »Wenn ich Ihnen nun aber sage, dass ich Deutsche bin, würden Sie wahrscheinlich auch keine französische Zigarette nehmen«, löste eine heftige Diskussion im Kreise der Belegschaft über die Deutschen und die Amerikaner im Allgemeinen aus; eine Debatte, die dann einstimmig mit der Feststellung schloss, dass tout de même die Deutschen Europäer seien und fraglos vorzuziehen wären. Schließlich verbände uns doch vieles, und das nächste Mal würden wir bestimmt auf derselben Seite sein…

»Was verbindet uns eigentlich?« So habe ich mich oft in den folgenden Tagen nach endlosen Gesprächen auf französischen Bahnhöfen und Kleinbahnen besorgt gefragt, denn jedes Mal, wenn das Wort »Deutsch« fiel, folgte unweigerlich die gleiche Assoziation. Die Alten sagten: »Ja, damals, am Chemin des Dames!« Und die Jüngeren sprachen von Buchenwald und von Geiselerschießungen. Fast hätte man meinen können, dass es andere Erfahrungen zwischen diesen beiden Völkern nicht gegeben habe. Und wenn nicht jeder Einzelne dieser Franzosen, die ich sprach, trotz der Last der Erinnerungen immer wieder von einer wirklich beglückenden Menschlichkeit gewesen wäre, so müsste man alle Hoffnungen fahren lassen!

Doch verweilen wir bei jenem Schlagbaum, an dem diese Gespräche begannen. Hier war plötzlich ein Zivilist aufgetaucht, der am Zoll arbeitete und von den anderen kurzerhand als Aviateur bezeichnet wurde, weil er, wie sie später erzählten, im Krieg ein tapferer und mehrfach dekorierter Flieger gewesen war. Der hörte sich meine Geschichte an und beschloss, etwas Entscheidendes zu tun, nämlich meine [62] vierzig DM zu wechseln; ich hatte seit sechsunddreißig Stunden nichts gegessen, weil die letzten Franken auf das Billett draufgegangen waren. Drei Mal ging er in die Stadt und versuchte sein Glück. Leider vergeblich. Ich kam ohne einen Franc nach Jeumont, traf die anderen wieder, doch als sich nun als nächste Enttäuschung herausstellte, dass der winzige Wartesaal mit zwölf finster dreinschauenden Marokkanern belegt war, tauchte plötzlich wieder der Aviateur als hilfreicher Engel auf. Diesmal hatte er seine Frau mitgebracht und lud uns ein, die Nacht in seiner Wohnung zu verbringen und erst einmal richtig zu essen. – Herrgott, dass es so etwas noch gibt! Eine solche Hilfsbereitschaft! – »Wissen Sie«, sagte er zu mir, »ich habe in zwei Kriegen je vier Jahre gegen die Deutschen gekämpft; ich habe es jetzt satt, es muss anders werden, aber wir können nicht auf die Politiker warten. Jeder muss von sich aus etwas für die Verständigung tun.« Derweil zogen wir durch das nächtliche Jeumont zu seinem kleinen Häuschen, wo die drei schlafenden Kinder so lange hin und her rangiert wurden, bis sie alle drei in einem Bett lagen und für uns zwei Schlafstellen frei wurden. Dort saßen wir zu dritt am Tisch und sprachen von Frankreich und Deutschland und Europa, und zum ersten Mal gewann dieser so vage Begriff einen menschlichen Inhalt.

Anderentags, als ich endlich gegen Mittag in Paris eingetroffen war und beim dortigen belgischen Konsul wegen der beiden vergessenen Durchreisegenehmigungen vorstellig wurde, war von dieser Atmosphäre nichts zu spüren. Wie eine wütende Bulldogge zeterte der Konsul über diese Nachlässigkeit. Immerhin erfüllte er an meinem Pass seine Pflicht, doch weigerte er sich, das Visum für die [63]