Zeichen und Geist - Stefan Eckhard - E-Book

Zeichen und Geist E-Book

Stefan Eckhard

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Beschreibung

Die Habilitationsschrift profiliert am Beispiel des Markusevangeliums das neutestamentliche Offenbarungsverständnis, das untrennbar mit dem Begriff des Geistes Gottes verbunden ist, anhand der Zeichentheorie des US-amerikanischen Naturwissenschaftlers und Philosophen Charles Sanders Peirce (1839-1914). Nach Peirce lässt sich der Zeichenprozess, der ein Erkenntnisprozess ist, als triadische Struktur der Kategorien von "Objekt" ("Ding"), "Zeichen" und "Interpretant" ("Bedeutung") beschreiben. Dieses semiotisch-triadische Kommunikations- und Erkenntnisgeschehen korreliert nun mit und konvergiert im christlichen Offenbarungsgeschehen, das sich in den Taten und Worten des mit dem Geist Gottes begabten und daher in Vollmacht handelnden Gottessohnes Jesus realisiert. Der Geist zeigt sich aus dieser semiotisch-triadischen Perspektive als dynamisch-relationaler und daher offenbarend-schöpferisch zu bestimmender Aspekt. Zudem strukturiert, fundiert und dominiert die Geistthematik das Markusevangelium als Offenbarungsschrift in viel stärkerem Maße, als dies gemeinhin angenommen wird.

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Seitenzahl: 596

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Stefan Eckhard

Zeichen und Geist

Eine semiotisch-exegetische Untersuchung zum Geistbegriff im Markusevangelium

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-7720-0083-6

Inhalt

Vorwort1. Zeichen und Erkenntnis2. Erscheinung und Zeichen2.1. Phänomenologie und Semiotik2.2. Kategorien und Konkretisierungen2.3. Kategorienlehre und Zeichenlehre2.4. Wahrheit und Finalität3. Darstellung und Offenbarung3.1. Semiotik und Theologie3.1.1. Zeichen und Offenbarung3.1.2. Dynamik und Offenbarung3.1.3. Offenbarung und Geist3.2. Theologie und Semiotik3.2.1. Geist und Vollmacht4. Erscheinung und Offenbarung4.1. Zeichen und Wirklichkeit4.2. Zeichen und Geist4.3. Geist und Zeichen5. Taufe und Versuchung5.1. Text und Kontext5.2. Taufe und Geist (vgl. Mk 1,9–11)5.3. Versuchung und Geist (vgl. Mk 1,12–13)5.4. Resümee6. Macht und Vollmacht6.1. Jesus und die Schriftgelehrten (vgl. Mk 3,22–30)6.1.1. Text und Kontext6.1.2. Geist und Ungeist6.1.3. Resümee6.2. Jesus und die Dämonen (vgl. Mk 5,1–20)6.2.1. Text und Kontext6.2.2. Vollmacht und Bekenntnis6.2.3. Resümee7. Glaube und Bekenntnis7.1. Text und Kontext7.2. Jesus und die Tochter des Jaïrus (vgl. Mk 5,21–24. 35–43)7.3. Jesus und die kranke Frau (vgl. Mk 5,25–34)7.4. Resümee8. Offenbarung und Verkündigung8.1. Jesu Tod und Auferweckung8.1.1. Jesu Tod (vgl. Mk 15,33–39)8.1.2. Jesu Auferweckung (vgl. Mk 16,1–8)8.2. Resümee9. Geist und Erkenntnis9.1. Botschaft und Erkenntnis9.2. Erkenntnis und Offenbarung9.3. Offenbarung und Schöpfung9.4. Erkenntnis und BekenntnisLiteraturverzeichnis1. Quellen und Allgemeine Hilfsmittel2. Kommentare3. Monographien, Aufsätze und Artikel

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2017 vom Fachbereichsrat der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurde sie an nur wenigen Stellen geringfügig verändert.

Herzlich bedanken möchte ich mich bei meinen drei Gutachtern, die die Entstehung der Arbeit über die Jahre hinweg fachkundig begleitet haben – bei dem Erstgutachter, Herrn Prof. Dr. Wilfried Eisele (Tübingen), dem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Dr. habil. Klaus Müller (Münster), und bei Herrn Prof. Dr. Rainer Schwindt (Koblenz), der sich bereit erklärt hat, das Drittgutachten zu übernehmen.

Dem Herausgeberkreis der Reihe „Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie“ – namentlich Frau Prof. Dr. Eve-Marie Becker – danke ich für die Aufnahme meiner Habilitationsschrift in diese wissenschaftliche Reihe. Für die Publikation danke ich der Narr-Francke-Attempto-Verlagsgruppe und insbesondere Frau Dr. Valeska Lembke und Frau Vanessa Weihgold.

 

Tübingen, im April 2018     Stefan Eckhard

1. Zeichen und Erkenntnis

Der Name der Rose – Das ist der deutsche Titel eines der wohl berühmtesten Historienromane der jüngeren europäischen Gegenwartsliteratur. Verfasst von einem damals noch unbekannten Autor – dem Professor für Semiotik an der Universität Bologna, Umberto Eco (05.01.1932–19.02.2016), – und 1980 erstmalig im italienischen Original veröffentlicht (Il nome della rosa), zeichnet der Roman eine vielgestaltige und bildgewaltige Kulturgeschichte des Mittelalters. Sie ist gekleidet – oder besser gesagt: verkleidet – in die Rahmenhandlung einer Detektiv- und Kriminalgeschichte – einer Geschichte um die Aufklärung einer rätselhaften Mordserie in einem Benediktinerkloster im Apennin. Der Roman spielt während einer Woche des Jahres 1327; ein Pro- und ein Epilog des Erzählers ergänzen die Handlung.

Dass es aber in diesem Roman nur vordergründig um die besagte Kriminalgeschichte geht, sondern es sich hinter- und untergründig um ein kulturhistorisches Panorama der mittelalterlichen Welt handelt, erschließt sich erst bei aufmerksamer Lektüre. Die geschlossen wirkende Erzählstruktur, die bewusst entsprechend der biblischen Schöpfungserzählung (vgl. Gen 1,1–2,4a) den Zeitraum von sieben Tagen umfasst und zusätzlich durch den Tagesablauf der monastischen Tagzeitenliturgie bestimmt wird, löst sich unter der Hand nämlich in eine Vielzahl an Erzählfragmenten auf. Die Beschreibungen über die weltliche und geistliche Machtpolitik des Mittelalters, die Erläuterungen zu den Entwicklungen der Profan- und der Kirchengeschichte, die Betrachtungen der philosophischen und der theologischen Strömungen, die Schilderungen des Alltags der mittelalterlichen Welt und nicht zuletzt die Darstellungen des vielfach gebrochen wirkenden Denkens, Sprechens und Handelns der Romanfiguren fügen sich wie die Glassteinchen in einem Kaleidoskop zu einem bunt schillernden, aber zugleich durchaus verwirrenden Ganzen zusammen. Eco zitiert und paraphrasiert historische, philosophische, theologische und literarische Quellen, er erfindet und erweitert dabei Figuren, Motive, Themen und Stoffe, und er mischt fremde Gedanken unter eigene und eigene unter fremde. Der gesamte Roman ist also ein einziges großes Rätsel, das dem Leser vom Autor aufgegeben wird, so wie sich den beiden Protagonisten des Romans – den Benediktinermönchen Adson aus dem Stift Melk und William von Baskerville – die Suche nach dem Mörder ihrer Mitbrüder als Rätselspiel erweist. Der Roman war ein weltweiter Erfolg, er wurde in viele Sprachen übersetzt und ist in zahlreichen Auflagen erschienen. Er löste die bis heute anhaltende Welle der Historienromane aus und machte Eco mit einem Schlag berühmt. Zugleich markiert dieses Werk den Anfang von Ecos zweiter Karriere als Schriftsteller einer großen Reihe an ähnlichen historischen Romanen, die er in der Folgezeit publizierte.

Der Name der Rose ist ein buchstäblich „spektakulärer“ Roman. Man kann sich als Leser in ihm mit dem sprichwörtlichen „geistigen Auge“ „umblicken“ und vieles „sehen“. Wenn man sich – um in der Sprache der Kriminalistik zu bleiben – „auf die Spur“ nach den verschiedenen, im Buch verarbeiteten Quellen begibt, wird man so manches entdecken und erfahren können.1 Wer das tatsächlich tut, wird einiges finden, anderes zu seiner Überraschung aber auch nicht. Das sind dann die vom Autor selbst erdachten Quellen – also schlicht Fälschungen. Dazu zählt ausgerechnet das für die Handlung entscheidendste Dokument – nämlich die angebliche zweite poetologische Schrift des Aristoteles über die Komödie und damit über das Lachen.2 Doch auch diese Fälschungen machen nichts, denn schließlich handelt es sich trotz des vorgespiegelten Scheins an Authentizität immer noch um eine fiktive Welt, und der Leser, der sich auf Ecos spielerisch-rätselhafte Erzählweise bewusst einlässt, wird sich daran auch nicht groß stören. Der Reiz des Romans liegt ja gerade in diesem Spiel wechselseitiger sprachlicher Verweisungen und rätselhafter inhaltlicher Verwicklungen. Aber nicht nur ein mit der mittelalterlichen Kultur vertrauter Leser fühlt sich durch diesen Roman angesprochen, auch ein weniger kenntnisreicher, aber dafür umso neugierigerer Leser findet Gefallen an dem Stoff. Selbst wenn man die textexternen Verweise nicht nachvollziehen kann, bereitet es doch schon große Freude, die textinternen Bezüge zu verfolgen. Ecos Montage- oder Collagetechnik verwebt nämlich die Erzählelemente in ein Netz von Bedeutungsbeziehungen, die sich wechselseitig konstituieren und gegenseitig interpretieren. Diese komplexe Intertextualität3 – die textexternen Bezüge – und die dazugehörige Intratextualität – die textinternen Bezüge – bilden das wesentliche Strukturprinzip des Romans. Es findet sein erzählerisches Abbild in der als Labyrinth aufgebauten Klosterbibliothek mit ihren zahlreichen Kammern, Räumen, Gängen und Treppen.

Ist die Form des Romans schon ein Rätsel, so ist es der Inhalt noch viel mehr. Das zeigt sich erstmalig beim Romantitel Der Name der Rose und schließlich beim letzten Satz des Romans, der aus zwei Sätzen besteht und lateinisch verfasst ist: „Stat rosa pristina nomine, nomine nuda tenemus.“4 Der Titel bildet sozusagen den ersten Satz des Romans und stellt die Rätselfrage, während der Abschlusssatz die Lösung gibt – auch wenn er in der damaligen Wissenschaftssprache Latein steht, die für viele Leser wiederum geheimnisvoll wirkt. In beiden Sätzen ist von einer „Rose“ die Rede. Diese „Rose“ sucht der Leser im gesamten Roman aber vergebens. Was soll das Ganze also? Welche „Rose“ ist gemeint, und was hat es mit dem Begriff „Name“ auf sich? Genau wie die Hintergründe der Mordfälle erst gegen Ende des Romans – im vorletzten und im letzten Kapitel – aufgedeckt werden, so muss sich auch der Leser in großer Geduld üben, wenn er das Rätsel um den „Namen“ der „Rose“ gelüftet haben will. Er muss bis zur letzten Zeile des mehrere hundert Seiten langen Werkes warten, bis es Eco doch noch gefällt, seinen Erzähler und Romanhelden Adson von Melk Licht ins Dunkel bringen zu lassen – vergleichbar dem Schein der Lampen, mit denen sich William und Adson am Schluss des Romans bei Nacht den Weg durch das Labyrinth der Bibliothek bahnen und das Rätsel der Mordserie lösen. Wie er im Prolog und im Epilog schreibt, blickt Adson als alter Mann auf sein Leben zurück und erinnert sich der geheimnisvollen Morde in besagter Benediktinerabtei. Er selbst hat seinen Mentor William von Baskerville bei der Aufklärung dieser Verbrechen unterstützt. Die beiden finden während ihrer Ermittlungen zahlreiche und widersprüchliche Hinweise zu Motiven und Tätern, die schließlich – mehr zufällig als beabsichtigt – zur Klärung der Mordfälle beitragen. Dass die Bedeutung der Indizien beiden Mönchen leider nicht immer – zumindest sofort – einsichtig wird, muss selbst der mit hohem detektivischen Spürsinn begabte William von Baskerville – der Sherlock Holmes in Ecos Roman5 – eingestehen.6 So gibt es aber für den Leser immer wieder überraschende und spannende Wendungen in der Geschichte.7

Was bedeutet die Bezeichnung „Name der Rose“ nun? Die Kriminal- oder Detektivgeschichte ist buchstäblich das „Tatindiz“, das die „Spur“ zum „Beweis“ legt. Der lateinische Schlusssatz liefert dann das entscheidende „Beweismittel“, das zur „Aufklärung“ des „Falles“ führt. Der „Name“ ist des Rätsels Lösung! Ist der Leser an das Ende des Romans gelangt, dann muss er keine Mühe mehr aufwenden, „kriminalistisch zu kombinieren“, denn die „Indizien“ sprechen für sich. Der erste Teilsatz – „Stat rosa pristina nomine“ – spielt auf den in der Philosophie und Theologie der Hochscholastik bedeutsamen sogenannten „Universalienstreit“ an und dabei besonders auf den „Nominalismus“ in seiner gemäßigten Ausprägung des „Konzeptualismus“, den William von Ockham vertrat.8 Seine Spiegelfigur im Roman – „nomen est omen“ – ist William von Baskerville. Die reale wie die fiktive Person tragen denselben Vornamen, sie haben dieselbe Nationalität und vor allem teilen sie die gleiche philosophische Erkenntnistheorie. Der in dem Satz „Stat rosa pristina nomine“ angesprochene „Name“ – das „nomen“ – bedeutet nichts anderes als „Zeichen“. Was „zeichnet“ ein solches „Zeichen“ aber nun „aus“? Ein Zeichen ist ein stellvertretend für einen Gegenstand stehender Bedeutungsträger. Hier ist es das intellektuell-logisch gebildete Sprach- und Wortzeichen „Rose“ – ein Abstraktum – für die empirisch-sensuell erfasste Pflanze – ein Konkretum. So vermittelt der „Name“ „Rose“ eine buchstäblich „sinnvolle“ gedankliche Vorstellung und kann sie selbst dann noch bewahren, wenn das von ihm benannte Objekt gar nicht mehr vorhanden ist, wenn also – wie es im Zitat weiter heißt – die zarte und empfindliche, wirkliche Rose „von einst“ (vgl. „pristina“) längst verblüht und verwelkt ist. Es entsteht beim Sprecher wie beim Hörer des Sprach- und Wortzeichens „Rose“ somit ein bleibender gedanklicher Eindruck. Der „Name“ „Rose“ hat eben eine Bedeutung, und er hat damit zugleich Bedeutung. Zeichen bilden also Bedeutungen aus, und sie bilden folglich Erkenntnis. William von Baskerville als Alter Ego Williams von Ockham beschreibt diesen Begriffsbildungsprozess mit der Metapher der „Leiter“,9 die der Mensch zum Erkenntnisaufstieg unbedingt benötige.

Sein Schüler Adson hingegen radikalisiert diese epistemologische Position, wie der zweite Teilsatz des Schlusssatzes belegt: „Nomine nuda tenemus.“ Dieser Satz verweist auf einen tiefen Erkenntnisskeptizismus, ja eher schon einen grundsätzlichen Erkenntnispessimismus. Bezeichnungen sind für Adson im doppelten Wortsinn „bloße“ Zeichen. Sie sind nichts anderes als „bloße“ – also „nackte“ („nuda“) – „Namen“ und daher auch nur „bloß“ „Namen“. Sie sind dann „gleich bedeutend“ und somit auch „gleichbedeutend“. Dadurch verlieren sich die Zeichen im „sprachlichen Irgendwo“ des „logischen Nirgendwo“ wie ein Suchender in einem Labyrinth. So verirren sich auch Adson und William – im übertragenen Sinne – erst beinahe im „Labyrinth“ der Mordgeschichte und danach – im wörtlichen Sinne – fast noch im Labyrinth der Abteibibliothek. Die mit den Zeichen bezeichneten Bedeutungen haben dann eben keine eindeutige Bedeutung mehr. Die Bedeutung wird arbiträr. Daher spielt die „Rose“ außer im Titel wie am Schluss des Romans überhaupt keine Rolle, so dass der Leser während der Lektüre zu Spekulationen verleitet wird – und diese Wirkung ist vom Autor genau so beabsichtigt.10 Eco lässt seinen Adson damit aus der Zeit herausfallen. Er ist kein Mensch des Mittelalters mehr, sondern ein Vertreter des philosophischen Postmodernismus unserer Tage. Für ihn gilt das postmoderne Postulat des Wahrheitspluralismus und – in seiner Konsequenz – des Wahrheitsrelativismus. Die Dominanz einer einzigen Wahrheit oder gar eines einzigen Wahrheitssystems hat danach endgültig ausgedient. Was die Wahrheit anbelangt, so kann es jetzt nur noch um Heterogenität anstelle von Homogenität, um Multiperspektivität anstatt Monoperspektivität und um Alterität statt Uniformität gehen.11 Dieses postmodernistische Axiom von der notwendigen Auflösung der Hegemonie einer einzigen Wahrheit schlägt sich deutlich auch in der Handlung des Romans nieder. Galt in der mittelalterlichen Welt die Kirche als alleinige Hüterin von Glaube und Wissen, so lässt Eco sie im Roman an diesem Selbstanspruch scheitern, indem er diesen in der Figur des Inquisitors Bernard Gui ad absurdum führt. Wer Zwang und Gewalt zum „Schutz“ der Wahrheit anwendet, der begeht ersichtlich Unrecht, und der befindet sich daher im Unrecht. Wahrheit braucht schließlich keine Gewalt, denn sie setzt sich aus eigener Kraft durch.12

Wer so redet wie Adson, nimmt gravierende Konsequenzen in Kauf. Der Wahrheitszweifel muss, wenn man ihn denn in aller Strenge bedenkt und anwendet, in den Gotteszweifel führen. Wenn sich schon über die Welt nichts mehr Endgültiges aussagen lässt, dann erst recht nicht über Gott. Gott ist nur noch eine denkerische Möglichkeit, eine mögliche Realität, vergleichbar der möglichen Realität eines fiktionalen Textes wie dem Roman – eben „bloß“ ein „Name“.13 Auch die Gottesvorstellung wird so untergraben. Der Gotteszweifel führt zum Glaubenszweifel und dann auch zum Lebenszweifel. Zweifel wird zur Verzweiflung, denn „Sinn“ wird buchstäblich zum „Irr-Sinn“, weil jede „Wahrheit“ wegen des ständigen Verdikts des Irrtums nur eine vermeintliche Wahrheit sein kann. So wird die Sinnsuche zwangsläufig zu einer Sinnsuche ad infinitum – also zur ständig irrenden und darüber irrewerdenden Sinnsuche. Das bedeutet für den Menschen nicht nur „ein Ende mit Schrecken“, sondern sogar wirklich „ein Schrecken ohne Ende“ – sozusagen die wahre „Hölle auf Erden“! Dass der Figur des Adson von Melk diese fatalen Zusammenhänge völlig klar sind, beweist ein Zitat aus dem Epilog des Romans. Darin ist Adson die Verzweiflung darüber deutlich anzumerken:14 „Und ausgelöscht sein werden die Unterschiede, ich werde eingehen in den einfältigen Grund, in die stille Wüste, in jenes Innerste, da niemand heimisch ist. Ich werde eintauchen in die wüste und öde Gottheit, darinnen ist weder Werk noch Bild […].“15 Ein Verlöschen im Nichts – das ist das düstere Schicksal, das Adson nach seinem Tod für sich erwartet. Postmodernismus bedeutet eben zwangsläufig Agnostizismus, wenn nicht sogar Atheismus. Dass ausgerechnet ein Mönch, der zudem noch am Ende seines Lebens steht, zu dieser resignativ-pessimistischen Erkenntnis kommt, ist bittere Ironie! Und Ironie – das Lachen – ist dann auch nach den von Eco seiner Figur William von Baskerville in den Mund gelegten Worten die scharfe Waffe, gegen die Wahrheit der fanatischen „Wahrheitspropheten“16 wirksam anzukämpfen. Das freimütige Lachen soll den heiligen Ernst der Wahrheit besiegen. Das Lachen wird zum Verlachen des Wahrheitsoptimismus der philosophischen Tradition.17 Ironie bilde – so Eco in seiner Nachschrift zur „Name der Rose“– die Ästhetik des Postmodernismus.18 Postmoderner Stil ist also Gegenrede zur Rede.

Der Name der Rose ist damit ein postmoderner Roman.19 So verbindet Eco die äußere Heterogenität – die Kompilation von Texten – mit der inneren Heterogenität – der Ironie. Die erzählte Welt des Romans entwickelt sich durch die minutiöse Stoffrecherche, durch die Auswahl geeigneter Quellen20 und die gelungene Komposition der Zitate und Allusionen, durch die Sprachgestaltung21 und den allwissenden Ich-Erzähler22, durch die Kernhandlung der Detektiv- und Kriminalgeschichte23 sowie nicht zuletzt durch die Anfügung der Deutungen des Autors, die sich in den Reden seiner Romanhelden verbergen. Gleichzeitig verwickelt diese kompositorische wie konzeptionelle Struktur den Leser in das Geheimnis um den Sinn des Romans. Es entsteht dadurch zudem ohne Zweifel etwas Neues. Auch wenn der Autor die Originalität leugnet,24 so gehört auch diese Äußerung zum bewusst-provokanten, postmodernen Rätselspiel um die Relativität und daher Arbitrarität von Bedeutungen und Sinn. Man sagt einfach das genaue Gegenteil von dem, was man sagen will, das heißt man ist im wahrsten Sinne des Wortes „ironisch“. Ecos Bemerkung in der Nachschrift, das Schreiben gleiche einem Schöpfungsakt, mit dem man einen zweiten Kosmos erschaffe,25 bestätigt den Eindruck des Originellen und widerspricht in eklatanter Weise der vorher geäußerten These des Autors. Diese entlarvt sich somit als postmoderne „Verpuppung“26 und damit als ironische Brechung. An den Roman und an die erwähnten Deutungen – oder besser: an die Andeutungen – seines Autors können und sollen sich die Interpretationen der Leser anschließen. Die Welt des Romans verknüpft sich mit der Welt des Schriftstellers und der seiner Leser, und die Fiktionalität verbindet sich mit der Faktizität. Damit vermehrt sich die Diversität und die Komplexität, und zwar ad infinitum, denn jede Interpretation gibt immer wieder neu den Anstoß für eine weitere Interpretation. So will der Roman strenggenommen auch zu keinem literarischen Genre ganz genau passen; die gewählte Bezeichnung „Historienroman“ ist nur eine Verlegenheitslösung, da sie dem Inhalt noch am nächsten zu kommen scheint. Der Name der Rose ist weder ein reiner Historienroman noch ein wirklicher Detektiv- oder Kriminalroman, keine reine Kulturgeschichte und auch keine echte Philosophiegeschichte, sondern von allem etwas.

Dieser multiperspektivische Roman ist zugleich ein semiotischer Roman des (ehemaligen) Semiotik-Professors Eco, denn die Semiotik ist Epistemologie und damit auch Fundament des philosophischen Postmodernismus. Eco verknüpft in seinem lateinischen Schlusssatz, der die Essenz seines Romans27 darstellt, die philosophischen Strömungen des Nominalismus und des Postmodernismus und somit – wie an den Figuren Adson und William deutlich zu sehen ist – die Zeitebenen von Vergangenheit und Gegenwart. Der Postmodernismus erscheint daher als Erbe der mittelalterlichen Denkrichtung. Nun ist es aber ein weiter Weg vom Mittelalter bis zur Neuzeit, und die philosophisch-theologischen Deutungsmuster wandeln sich nicht von heute auf morgen. Sie sind nicht mit einem einfachen „geistigen Sprung“ vom semiotisch-erkenntnistheoretischen Nominalismus zum semiotisch-erkenntnistheoretischen Nihilismus zu überwinden, wie das dem Mönch Adson von Melk in der fiktiven Welt des Romans möglich ist. Um zur radikalen epistemologischen Position Adson von Melks – Ecos Alter Ego – zu gelangen, benötigt es daher einer geistesgeschichtlich-philosophiegeschichtlichen Vermittlung. Im Gegensatz zu den mehr oder weniger explizit vor- und dargestellten Theorien der mittelalterlichen Semiotik des Konzeptualismus („William von Baskerville“ – William von Ockham) und der postmodernen Semiotik des Relativismus („Adson von Melk“ – Umberto Eco), tritt diese vermittelnde Instanz nur implizit auf. Gemeint ist die Semiotik des US-amerikanischen Chemikers, Mathematikers und Philosophen Charles Sanders („Santiago“) Peirce (1839–1914), der als Gründervater der modernen Semiotik gilt. Auf ihn beruft sich daher auch Eco. Die Grundvorstellung, dass der gesamte menschliche Erkenntnisprozess ein über den Gebrauch von Zeichen aller Art erfolgender Bedeutungsbildungsprozess ist, verbindet die doch so unterschiedlichen Konzepte Ockhams, Peirces und Ecos miteinander. Mit anderen Worten gesagt: Menschliche Erkenntnis besteht aus Zeichen, und sie geschieht in Zeichen. Menschliches Denken ist notwendig an Zeichen gebunden. Dazu heißt es bei Peirce apodiktisch: „All thought being performed by means of signs, […]“.28 An anderer Stelle wird er noch etwas präziser, dort heißt es: „[…] and the life of thought and science is the life inherent in symbols.“29Zeichen bilden die Welt ab, und sie bilden auf diese Weise Erkenntnis der Welt. Erkenntnis geschieht in einer ausschließlich durch Zeichen vermittelten Beziehung – also in Relationalität. Als Darstellungsmittel für einen Gegenstand kann ein Zeichen alles sein – etwa ein Gegenstand, eine Handlung, eine Geste, ein Bild, ein Wort, eine Regel. Letztlich ist ein Zeichen aber bereits jeder Gedanke, wie das obige Zitat darlegt. Peirce definiert diese Sinnerschließung im Einzelnen als triadischen Zeichenprozess – er nennt es „Semiose“ oder „Zeichenprozess“ bzw. „Zeichenwirkung“ („semeiosis“)30 –, und zwar genauer als untrennbares Beziehungsgefüge von „Objekt“, „Zeichen“ und „Interpretant“. Das „Zeichen“ – in Ecos Roman der „Name“ oder das „nomen“ – wird zum Grundbegriff der semiotischen Zeichenlehre, die nach Peirce zugleich Erkenntnislehre ist. Die genannte Universalität des Zeichens bedingt die damit verknüpfte Universalität der Bedeutung. Aufgrund der Universalität der Zeichenstruktur ist der Zeichenprozess nur als infiniter Regress vorstellbar. Wenn alles zum Zeichen werden kann, dann wird auch alles zum Zeichen. Daher kann man sich den Anfang der Semiose nicht denken, denn jedes Zeichen, das etwas bezeichnet, löst eine Bedeutung aus, die wiederum zum Zeichen für etwas anderes werden kann und wird, und so fort. So entsteht ein stetig wachsendes Netz an Bedeutungen. Den Aspekt der Netzstruktur von Zeichenprozessen teilt auch Eco. Der beschriebene Bedeutungsbildungsprozess zeigt sich auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene. Das heißt, dass jeder Mensch einerseits eigenständig Bedeutungen generiert, er aber andererseits als gesellschaftliches Wesen zugleich in Verbindung mit anderen Menschen steht, die ebenfalls Bedeutungen produzieren. Sowohl die Einzelperson wie die Personengruppe übernehmen somit wechselseitig Zeichen und Bedeutungen.

Der philosophisch-semiotische Postmodernismus, wie ihn Eco literarisch verarbeitet und darbietet, radikalisiert jedoch das Zeichensystem Peirce’scher Prägung. Uneindeutigkeit statt Eindeutigkeit wird zum bestimmenden Grundzug der postmodernen Auffassung über die Welt. Dabei löst der literarische Postmodernismus aus dem triadischen Zeichensystem das Zeichen heraus. Es wird zur „bloßen“ „Maske“, die ohne bestimmbare und somit bestimmte Bedeutung31eben nur noch der „Maskerade“ – der „Verpuppung“32 – dient. Das Aufbrechen der klassisch-semiotischen Zeichenstruktur der Moderne in der Postmoderne geschieht in der Stilfigur der ironischen Brechung. Zugleich wird das Zeichen im Postmodernismus zum einzig verbleibenden, allgemeingültigen Begriff, es wird zum Selbstzweck. Daher entfaltet Eco in seinem Roman ein Verwirrspiel von Zeichen und Bedeutungen. Es gibt viele Zeichen und viele Bedeutungen, die jedoch kein festes Bedeutungssystem mehr ausbilden. In der Rahmenhandlung der Kriminalgeschichte wird dieser Zusammenhang manifest. Die „Indizien“ oder „Spuren“ lassen sich nicht mehr einem einzigen Täter zuordnen – im Gegensatz etwa zu den berühmten Fällen des Sherlock Holmes. Wie sich am Ende des Romans nämlich herausstellt, sind dem Haupttäter – dem Bibliothekar Jorge von Burgos – die Fäden seines perfiden Mordplans aus den Händen geglitten, so dass auch die Ermittler lange im Dunkeln tappen müssen. Die Wege zur Wahrheit zeigen sich daher oft als Irrwege. Alles ist ein Zeichen, aber alles wirkt äquivok. Nichts ist so, wie es scheint; nichts ist mehr klar erkennbar. Für die postmoderne Position wird der Sinn fraglich. Namen sind in der Tat „Schall und Rauch“; es sind eben „bloß(e)“ „Namen“, wie es im Roman lapidar heißt.

Diese ins Extrem gewendete postmoderne Deutung des Zeichenprozesses würde Peirce aufs Schärfste ablehnen.33 Seine Zeichenlehre ist dezidiert eine Erkenntnislehre. Den Zeichen entsprechen Gegenstände in der Wirklichkeit, auf die mit den Zeichen hingewiesen und die mit den zugehörigen Bedeutungen eindeutig bestimmt werden. Sie sind das, was die Zeichen von ihnen darstellen (Korrespondenztheorie). Es gibt also eine univoke Relation zwischen Zeichen und Objekten, keine äquivoke wie in der postmodernistischen Variante der Semiotik. Mit Zeichen kann man deswegen wahre Aussagen treffen. Folglich gibt es auch einen Erkenntnisfortschritt, so dass sich der Erkenntnisprozess linear-teleologisch gestaltet. Semiotik ist Logik, ist Erkenntnis. Dass mit Zeichen Erkenntnis entsteht – Sinn erzeugt wird –, steht für Peirce also außer Frage. Dieser Zusammenhang ist für ihn grundlegend, nicht grundstürzend wie im Postmodernismus. Eco in seinem Roman und Peirce vertreten in diesem entscheidenden Punkt grundverschiedene Positionen.34 Zeichen als formale Kategorie und Zeichen als Bedeutungsstruktur bilden jedoch die beiden Aspekte, in denen die Positionen von Peirce und Eco konvergieren. Das Zeichen ist als hermeneutischer Grundbegriff anzusehen.

2. Erscheinung und Zeichen

2.1. Phänomenologie und Semiotik

Die sogenannte „Kategorienlehre“ ist ein Kernstück in Peirces Philosophie,1 denn sie bildet die normative Grundlage seines semiotischen Entwurfs. Peirce hat seine kategoriale Semiotik in jungen Jahren entwickelt und in dem Vortrag On a New List of Categories von 1867 (zu Deutsch: Über eine neue Kategorientafel, kurz: New List)2 erstmalig vorgestellt. Auch wenn der späte Peirce einige Modifikationen an seinem Zeichenmodell vorgenommen hat, so tastet er doch dessen Grundstruktur nicht an3 (vgl. markant der Syllabus of Certain Topics of Logic – deutsch: Zusammenstellung einiger Themen der Logik, abgekürzt: Syllabus [1903]). Peirces semiotisches Konzept lässt sich – resümierend gesehen – einerseits sowohl als einfach und damit einsichtig wie andererseits als umfassend und daher allgemeingültig charakterisieren. Seiner Zeichentheorie gelingt es, Konkretes und Abstraktes, Wahrnehmen und Erkennen, Empirie und Logik4 auf überraschende wie zugleich überzeugende Weise miteinander zu verbinden und somit eine auf formalen Gesetzmäßigkeiten gegründete Erkenntnislehre, die das Zeichen zum Fundamentalbegriff menschlicher Denk- und Erkenntnisfähigkeit macht, zu entwickeln.5Die Vielheit der Wahrnehmungen wird darin zur Einheit des Denkens geführt. Deswegen gilt Peirce zu Recht als Begründer der modernen Semiotik. Seit der Rezeption seiner Schriften konnte sich die Semiotik auch als normative Grundlagenwissenschaft im wissenschaftlichen Fächerkanon etablieren. Die „Zeichenlehre“ oder„Semiotik“6 (von altgr. σῆμαund σημεῖον – „Zeichen“; daher: σημειωτική – „Lehre vom Zeichen“ bzw. „Zeichenlehre“) beschreibt den Zusammenhang zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem – also zwischen dem Zeichen und dem Ding. Das nichtsprachliche wie das sprachliche Zeichen und seine jeweilige Funktion bzw. seine jeweiligen Funktionen bilden somit den Untersuchungsgegenstand dieser Geisteswissenschaft. Die Entwicklung der Semiotik als Wissenschaftszweig lässt sich bis in den antiken Stoizismus zurückverfolgen; dort wird die Semiotik bereits als Erkenntnislehre definiert. Ein Neueinsatz ist dann in der Moderne mit John Locke zu verzeichnen, der für diese philosophische Disziplin den Terminus „Semiotik“ (vgl. σημειωτική) wiederbelebt und Zeichen in ihrer Stellvertreterfunktion analysiert, so dass die Semiotik zur Grundlagenwissenschaft für kommunikative Zusammenhänge wird.

Diese Erkenntnis macht sich Peirce zunutze und entwirft in seiner späten Lebensphase eine Wissenschaftsklassifikation,7 in der er zum einen die Semiotik8 in ihr wissenschaftstheoretisches Verhältnis zur Mathematik, zur Philosophie und zur Phänomenologie setzt und zum zweiten gegenüber den anderen Einzelwissenschaften – den Natur- und Geisteswissenschaften – abgrenzt.9 Für die Strukturierung der genannten Wissenschaftsmatrix gilt folgender Grundsatz: Allgemeine und deswegen übergeordnete Disziplinen bestimmen weniger allgemeine und daher untergeordnete Fächer, so dass zwischen den Wissenschaften Abhängigkeitsverhältnisse entstehen.10 Die somit entstehende Hierarchisierung verweist auf die beiden Leitprinzipien, die Peirce von seinem Lehrmeister Immanuel Kant übernimmt. Peirces philosophische Konzeption ist zum einen architektonisch angelegt – allgemeine Wissenschaften bestimmen besondere Wissenschaften – und zum zweiten epistemologisch gegliedert – allgemeine Begriffe beschreiben besondere Begriffe.11 Dadurch erhält das weitgespannte Peirce‘ sche Denken – formal gesehen – ein zentrierendes Moment, das seinem Gesamtwerk Systemqualität verleiht.12 Diese Sichtweise erneuert – ganz im Gegensatz zur modernen und erst recht postmodernen Auffassung – den alten holistischen Wissenschaftsanspruch der Philosophie.

Nach der Wissenschaftsklassifikation13 gehört die „Phänomenologie“, die Peirce auch „Phaneroskopie“ oder „Ideoskopie“ (abgeleitet von ἰδέα – „Beschaffenheit“, „Vorstellung“; σκοπέω – „prüfen“, „untersuchen“) nennt, neben der „Normativen Wissenschaft“ und der „Metaphysik“ zur „Philosophie“. Ihr vorgeordnet ist die „Mathematik“; ihr nachgeordnet sind die verschiedenen besonderen Wissenschaften („Idioskopie“ – von ἴδιος – „einzeln“). Die „Normativen Wissenschaften“ wiederum setzen sich aus „Ästhetik“, „Ethik“ und „Logik“ zusammen, wobei sich die Logik14 in die Wissensbereiche „Spekulative Grammatik“, „Kritik“ sowie „Methodeutik“ aufspaltet. Die Semiotik erscheint hier mit dem aus der philosophischen Tradition entlehnten Begriff „Spekulative Grammatik“ („grammatica speculativa“, „speculative grammar“15) als Logik im engeren Sinn.16 Daneben kennt Peirce auch einen weiter gefassten Sinn von „Semiotik“, wenn er Semiotik mit Logik insgesamt identifiziert.17 Ob man nun das engere oder das weitere Verständnis des Semiotikbegriffs heranzieht – der entscheidende Zusammenhang wird in beiden Fällen deutlich: Die Semiotik ist für Peirce eine formal-logische Wissenschaft. Sie ist Erkenntnistheorie. Dass sie zudem unter der Rubrik „Normative Wissenschaft“ geführt wird, zeigt ihre grundlegende Ausrichtung für die Begründung der übrigen Einzelwissenschaften auf. In der wissenschaftstheoretischen Systematik von Peirce verbindet sich also die Phänomenologie mit dem semiotisch-logischen Ansatz. Dass die „Reine Mathematik“ der Phänomenologie dabei noch vorausgeht, weist darauf hin, dass mathematische Formen die phänomenologische und damit die semiotische Wissenschaft bestimmen.18 Die Mathematik sieht Peirce im Sinne der Allgemeingültigkeit als oberste Wissenschaft an, die die logischen Voraussetzungen bereitstellt und die logischen Zusammenhänge prüft.19

Die Phänomenologie oder Phaneroskopie bzw. Ideoskopie20 erschließt also in mathematischer Weise die vor dem menschlichen Geist unwillkürlich erscheinenden, aber von ihm noch nicht analysierten Objekte der Erfahrung – die unteilbaren Bestandteile des „Phaneron“21 (die „Phanera“) (φανερός – „vor aller Augen Sichtbares“, „Offenbares“, „Offenkundiges“) –, um sie in Objekte des Denkens zu übertragen.22 Empirie und Logik verknüpfen sich miteinander.23 Diese logische Abstraktion erfolgt nach einem doppelten Schlussverfahren: auf der einen Seite durch die „phänomenologische Abstraktion“ – die empirische Eingrenzung („vorstellen“ – „dissoziieren“ –, „abgrenzen“ – „präzisieren“ – und „darstellen“ – „diskriminieren“)24 – sowie auf der anderen Seite mittels der „hypostatischen Abstraktion“ – der logischen Abgrenzung über die Kategorien der „Erstheit“ („firstness“), „Zweitheit“ („secondness“) und „Drittheit“ („thirdness“).25 Mit dem letztgenannten relationenlogischen Schritt erreicht man in vergleichender Verallgemeinerung abstrakte Begriffe – Universalien –, mit denen man die Erfahrung intellektuell erschließen kann.26 Peirce ist studierter Chemiker. Er kommt daher auf den Gedanken, die vorgenannten drei Kategorien, die die universalen intellektuellen Begriffe repräsentieren, mit dem Modell der „Valenz“ – also der „Wertigkeit“ – von chemischen Elementen zu vergleichen,27 die sich in der molekularen Struktur abbildet.28 Chemische Elemente haben die Eigenschaft, mit bestimmten anderen Elementen Verbindungen einzugehen, um einen Zustand der chemischen „Sättigung“ herzustellen, die strukturelle Festigkeit verleiht. Wann diese Sättigung erreicht wird, kann in Form von maximaler Valenz notiert werden. Überträgt man diese Anleihe aus der Chemie auf die Phänomenologie oder Phaneroskopie, die logisch funktioniert, so kann man nun die maximale Wertigkeit eines unzerlegbaren Bestandteils des Phaneron – eines abgrenzbaren Sinneseindrucks oder Phänomens – festlegen und sie in Zahlenwerten darstellen: Phänomenologie nach Peirce heißt, einen abgrenzbaren Gegenstand der wahrnehmbaren Umwelt begrifflich-rational zu erfassen.29 Dieser Erkenntnisvorgang bedingt, dass dem empirischen Objekt eine Bedeutung zuzuweisen ist, die der menschliche Geist schon bereithält oder noch entwickeln muss. Deshalb liegt eine solche Bedeutung ursprünglich „außerhalb“ des Erfahrungsgegenstandes; es handelt sich um eine „externe Bedeutung“.30 Folglich geschieht das Erzeugen von Begriffen durch das In-Verbindung-Bringen eines Objektes der Erfahrung mit einer solchen externen Bedeutung. Der menschliche Denkprozess ist demnach nichts anderes als die bewusste Begriffsbildung im Sinne der Bedeutungszuschreibung – ein aktiver Vorgang. Denken bedeutet also, das Mannigfaltige der Sinneseindrücke zu einer sinnvollen Einheit zu bringen.31 Es ist dann in der Tat eine formal-mathematische Beschreibung der Kategorien möglich, die sich in einer ausschließlich dreistelligen Beziehungsstruktur manifestiert. Diese „Valenzen“ oder „Dimensionen“ eines Erfahrungsobjektes sind als „Erstheit“, „Zweitheit“ und „Drittheit“ anzugeben.32 Da diese Dimensionen die höchstmögliche logische Verbindungsstruktur ausweisen, bilden sie zugleich die allgemeingültigen Begriffe – die „Kategorien“. Zusammenfassend gesagt: „Die Kategorien sind also als Begriffe immer schon Begriffe von abstrakten Gegenständen, und zwar der einzigen abstrakten Gegenstände, die wir benötigen, um alle Gegenstände möglicher Erfahrung zu konstituieren.“33

Durch die beiden logischen Schlussverfahren der phänomenologischen sowie der hypostatischen Abstraktion kommt man also von subjektiv-partikularen Wahrnehmungen zu objektiv-universalen Anschauungen.34 Weiterhin verdeutlicht das chemische Modell der Valenz, auf das sich Peirce in seiner logischen Argumentation bezieht und das auf mathematischen Zusammenhängen basiert,35 zwei wesentliche, miteinander verwobene Momente in seiner „Kategorienlehre“, die für sie prägend sind – zum einen die Triade, zum zweiten die Relationalität.

2.2. Kategorien und Konkretisierungen

Die drei erwähnten, relationenlogisch definierten Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit finden sich nach Peirce sowohl in der Natur als auch im menschlichen Geist. Es sind logische Strukturen – Universalbegriffe. Folglich müssen sie zugleich als Kategorien des Seins aufgefasst werden.1 In seiner prägnanten und vielzitierten Definition der Kategorien lässt Peirce daran auch keinen Zweifel aufkommen:

Firstness is the mode of being of that which is such as it is, positively and without reference to anything else. Secondness is the mode of being of that which is such as it is, with respect to a second but regardless of any third. Thirdness is the mode of being of that which is such as it is, in bringing a second and third into relation to each other.2

Erstheit lässt sich demnach monadisch, Zweitheit dyadisch und Drittheit triadisch bestimmen. Durch die beiden Formulierungen „mode of being“ („Seinsweise“) und „of that which is such as it is“ („dessen, was ist, so wie es ist“) betont Peirce dezidiert den ontologischen Status der Kategorien.3 Darüber hinaus unterstreichen die im Singular stehenden Bezeichnungen „firstness“, „secondness“ und „thirdness“ diesen Gedanken. Die nummerischen Beschreibungen der Verstandesbegriffe bringen ihre notwendige Unbestimmtheit und somit ihre Universalität zum Ausdruck. Sie eignen sich für die Darstellung aller phänomenologischen Erkenntnisprozesse, da sie eine angemessene Balance zwischen Offenheit und Begrenzung herstellen. Diesen Aspekt der Allgemeingültigkeit verdeutlicht Peirce im besagten Brief. Hier erwähnt er zunächst seine bahnbrechende Entdeckung der Triade als Grundstruktur der Phänomenologie, zu der sich der damals noch junge Mann nach jahrelanger, reiflicher Überlegung durchringen konnte, und bezieht sich anschließend auf seine frühe Darstellung – die erwähnte New List von 1867 –, in der er sich erstmals vor Fachpublikum4 eingehend zu seinem Kategorienkonzept äußerte.5 Dann stellt er kurz und bündig fest: „The ideas of Firstness, Secondness, and Thirdness are simple enough. Giving to being the broadest possible sense to include ideas as well as things, and ideas that we fancy we have just as much as ideas as we do have, […].“6 Peirce rechtfertigt zudem die Wahl dieser Zahlbegriffe für die Bestimmung der Universalien, die der Phänomenologie zwar auf den ersten Blick einen abstrakt-operationalen Charakter verleiht, die aber gerade dadurch am besten dafür geeignet ist, den Erkenntnisvorgang in logischer Form darzustellen. Die Terminologie ist sachlich angemessen und überprüfbar, geht sie doch auf Peirces jahrelange Beschäftigung nach logischer Systematisierung zurück, wie er verdeutlicht.7 Zudem macht er klar, dass er eine psychologische Deutung als subjektiv und damit aus seiner Sicht als fehlerbehaftet strikt ablehnt. Ihm liegt an logisch-objektiv, exakt hergeleiteten und somit nachprüfbaren Ergebnissen („However, I abstain from psychology which has nothing to do with ideoscopy“).8

In seiner frühen Auseinandersetzung mit der elementaren Bestimmung des Seins in der New List von 1867 ist der ontologische Aspekt akzentuiert. Die Universalbegriffe erhalten hier den Namen „Kategorien“ („categories“)9 und werden als vermittelnde „Akzidentien“ („accidents“)10 zwischen „Substanz („substance“)11 und „Sein“ („Being“)12 (oder „Es“ – „it“)13 angeordnet. Zwar weichen die gewählten Bezeichnungen von den späteren phänomenologisch orientierten Begriffen der „Erstheit“, „Zweitheit“, „Drittheit“ ab – sie heißen hier noch „Qualität“ („Quality“)14, „Relation“ („Relation“)15 und „Darstellung“ („Representation“)16 –, sie beschreiben aber denselben erkenntnistheoretischen Zusammenhang. Außerdem fällt bereits der Begriff „Interpretant“ („interpretant“)17 bzw. „ein Drittes“ („a third“)18. Peirces frühes Kategoriensystem führt von der „Mannigfaltigkeit der Substanz“ („manifold of the substance“)19 zur Einheit des Seins.20 Gleichzeitig ist die phänomenologische Perspektive in den Ausführungen der New List bereits deutlich vorgeprägt.21 Mit dem klassischen philosophischen Begriff der „Substanz“ verweist Peirce auf das „Phaneron“ bzw. den Objektcharakter des Seins. Wenn er als Kennzeichen der Substanz22 die Gegenwärtigkeit („the present“)23 herausstellt und diese näher als bloßes „Erfassen überhaupt von dem in der Aufmerksamkeit Enthaltenen“24 („the general recognition of what is contained in attention“)25 ohne analytisch-intellektuelle Bestimmung definiert, dann ist darin deutlich auf den späteren Begriff „Phaneron“ angespielt. Dessen Bestandteile müssen konkretisiert und abstrahiert werden (im Sinne der New List als Proposition). Eine vollständige, wahre Aussage ist mit der Kopula „ist“ („Sein“!) gegeben, die die Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat vornimmt.26 Hier wird der Interpretantencharakter greifbar: Subjekt und Prädikat werden durch eine deutende Bezeichnung in ein Verhältnis gebracht, „verbunden“ („Kopula“). Die Termini „Substanz“ und „Sein“ können später wegfallen, weil die Triade beide Entitäten vollständig enthält. Die Kategorien sind somit ontologische Begriffe; die Ontologie ist damit im frühen Peirce’schen Denken angelegt. Die vorgenannten Definitionen der drei Kategorien zeigen, dass es sich um Verstandesbegriffe handelt, die universal wie exklusiv menschliches Wahrnehmen und Deuten erfassen sollen. Der phänomenologische Erkenntnisvorgang, wie ihn Peirce versteht, ist also durch eine triadische Struktur gekennzeichnet. Den Anstoß für seine Lehre von den Kategorien empfängt Peirce aus der Kategorientafel Kants. Schon als Jugendlicher beginnt er mit der Lektüre der Kritik der reinen Vernunft und kann daraus bald Teile aus dem Kopf zitieren. Peirce setzt sich intensiv mit den Thesen Kants auseinander; Kant wird zu seinem philosophischen Leitstern.27

Peirce ist zwar Kantianer, er ist aber ein kritischer Kantschüler. So erkennt er, dass sich Kants zwölfteilige Kategorientafel stark vereinfachen lässt, da die einzelnen Grundformen in einer Beziehung der Über- und Unterordnung zueinander stehen. Es ist deshalb möglich, ein nur dreigliedriges Kategoriensystem zu entwerfen, das nach Peirces Auffassung ausreichend ist, die gesamte menschliche Verstandestätigkeit im Sinne der Begriffs- und Bedeutungskonstitution abzubilden.28 Peirce entdeckt diesen Zusammenhang nach eigener Auskunft im Kern bereits als knapp Zwanzigjähriger,29 und er verteidigt die Ausschließlichkeit der Triade30 noch in seinem späteren Leben. Die resümierende Begründung dafür erscheint einfach wie einleuchtend: „The point is that triads evidently cannot be so reduced since the very relation of a whole to two parts is a triadic relation.“31 Was genau er unter der Terminologie von „firstness“, „secondness“ sowie „thirdness“ versteht, erklärt Peirce ausführlich und anschaulich in dem schon angesprochenen längeren Schreiben an Victoria Lady Welby vom 12.10.1904.32 Peirce kommt, nachdem er die Definitionen der Universalbegriffe vorausgeschickt hat, auf die drei Arten von Kategorien der Reihe nach näher zu sprechen.33 „Firstness“ deutet er als „qualities of feeling“ bzw. „appearances“34 oder noch präziser als „simple positive possibility of appearance“.35 Es geht also um die reine Möglichkeit der Verwirklichung einer Eigenschaft. Sie ist noch nicht begrifflich erfasst („The unanalyzed total impression […]“).36 Erstheit stellt die abstrakteste Größe im Kategoriensystem dar und lässt sich daher nur schwer vorstellen.37 Peirce selbst untersucht sie im erwähnten Schreiben in Verbindung mit der Zweitheit, um ihre Bedeutung zu erläutern. Gegenüber der bloßen Möglichkeit, aus der der Aspekt der Erstheit besteht, umschreibt der Begriff „secondness“ die tatsächliche Ausprägung der Erstheit oder der Qualität. Sie wird bestimmt als die Erfahrung der „Anstrengung“ („the experience of effort“)38 oder als die Erfahrung des Widerstandes („the experience of resistence“)39 sowie als „gewaltsame Handlung“ („brute action“),40 die nicht zweckgerichtet ist („prescinded from the idea of a purpose“).41 Zweitheit ist Erfahrbarkeit, Wahrnehmbarkeit. Sie ist Wirklichkeit: „Note that I speak of the experience, not of the feeling, of effort.“42 Um das Verhältnis zwischen den Abstrakta der Erst- und Zweitheit zu klären, gibt Peirce das aufschlussreiche Beispiel einer Fesselballonfahrt über einer stillen Landschaft bei Nacht,43 bei der die Ruhe durch die schrille Signalpfeife einer Dampflokomotive jäh unterbrochen wird. Sowohl die vorherige Stille wie der scharfe Ton der Dampfpfeife seien dabei Ausprägungen der Erstheit, während der Moment, in dem der Laut die Ruhe zerstört, für die beobachtende Person im Korb des Ballons ihr Erleben in zwei Teile trennt – in Ruhe und in Lärm. Der Beobachter („an ego“ – „ein Ich“)44 empfände die Widerständigkeit der anderen, neuen Situation („a non-ego“ – „ein Nicht-Ich“),45 und diese Erfahrung sei nichts anderes als Zweitheit. Wie bei der Erstheit als reiner Einfachheit handele es sich hier um das Wahrnehmen einer reinen Widerständigkeit ohne Bezug zu einer mentalen Beurteilung, wie es die Definition der Zweitheit ausdrückt („regardless of any third“).46 Nach Peirce ist es die schlichte „Erfahrung“ des „Erleidens“ („experience“, „suffer“)47 dieser Widerständigkeit, die sich aus dem Aufeinandertreffen des „ego“ mit dem „non-ego“ ergebe.48 Mit der Drittheit schließlich wird eine Verbindung zwischen Erst- und Zweitheit erzeugt, die eine Deutung vornimmt. Synonyme für die Drittheit oder das Dritte sind „Gesetz“ („law“)49 und „Vernunft“ („reason“).50 Auch hierzu fügt Peirce ein gutes Beispiel51 an – diesmal aus dem Rechtswesen: Das Ablegen des Gegenstandes „B“ durch die Person „A“ und das Aufnehmen von „B“ durch die Person „C“ könne nur dann als Eigentumsübergang durch Schenkung verstanden werden, wenn der Vorgang so gedeutet werde, wie es im Gesetzestext zur Schenkung festgesetzt sei. „Thirdness“ bedeutet als „mediation“ – „Vermittlung“52 – die geistige Tätigkeit der Begriffs- und Bedeutungszuschreibung (Begrifflichkeit). Sinnenhaft Erfahrbares wird somit zu sinnhaft Gedeutetem. Um mit den Worten der New List zu sprechen: „Sinn-loses“ – „Vielfältiges“ oder „Mannigfaltiges“ – wird „Sinn-volles“ – „Vereinheitlichtes“. Aus Konkretem wird also Abstraktes, Konkretes wird sprichwörtlich „auf den Begriff gebracht“. Einer Wahrnehmung, die sich auf die Qualität – die Erstheit – bezieht, wird Bedeutung zugewiesen (vgl. die Hypothese der Externalität der Bedeutung): „Brute action is secondness, any mentality involves thirdness.“53

Die geschilderte Triade oder triadische Struktur54 bildet – wie gesehen – eine stabile Form. Das Beziehungsgeflecht ist formal-logisch begründet und gestaltet. Die Komplementarität der drei Kategorien manifestiert sich in der Terminologie, denn sie legt eine Reihenfolge fest: Mit der Erstheit beginnt der Erkenntnisprozess. Erstheit wird durch Zweitheit repräsentiert, denn Zweitheit macht das Objekt als solches kenntlich. Zugleich bildet Zweitheit die Voraussetzung für das deutende, dritte Element. Erstheit und Zweitheit bedürfen der Drittheit für die Bedeutungskonstitution.55 So ist also der phänomenologisch interpretierte Erkenntnisvorgang relationenlogisch strukturiert. Diese Relationalität ist die Folge der Bestimmung der drei Kategorien als wissensvermittelnde Entitäten: Erkenntnis heißt, etwas in Beziehung zu setzen. Damit erfassen die drei erwähnten Definitionen in komprimierter Form die wesentlichen Momente des Peirce’ schen Denkens im Hinblick auf sein Kategorienmodell – ontologische Bestimmung, phänomenologisch-logische – also triadische – Gestalt und relationale Ausprägung.56

2.3. Kategorienlehre und Zeichenlehre

Die triadische, phänomenologische Erkenntnisstruktur von Erst-, Zweit- und Drittheit lässt sich ebenso als triadische, semiotische Erkenntnisstruktur interpretieren. Wenn man so will, ist es eine „Übersetzung“ in eine andere „Sprache“.1 Es ist eine andere Darstellungsform. Der Zeichenbegriff wird zum Fundamentalbegriff in Peirces Philosophie. Menschliches Denken kann auch zeichenförmig beschrieben werden. Daher ist der zeichengebundene Erkenntnisprozess analog dem phänomenologischen Erkenntnisprozess zu behandeln. Deshalb geht die Peirce’sche Argumentation im besagten Brief an Welby vom 12.10.1904 auch nahtlos in die Analyse des Zeichenbegriffs über: „In its genuine form, Thirdness is the triadic relation existing between a sign, its object, and the interpreting thought, itself a sign, considered as constituting the mode of being a sign. A sign mediates between the interpretant sign and its object.“2 Das Dritte besitzt eine zweifache Funktion: Es ist einerseits „Interpretant“ – also „Deutung“ oder „Bedeutung“ – und andererseits zugleich selbst wieder ein Zeichen („A sign is a sort of Third“).3 Das oben erwähnte Zitat nennt die drei Größen, die einander zugeordnet sind („mediates“) – das Zeichen sowie das dargestellte Objekt und der Interpretant, der die geistige Größe manifestiert, die Sinn stiftet. Dabei muss beachtet werden, dass sich zwar die deutende Zuschreibung im menschlichen Geist vollzieht, Peirce aber primär nicht das Erkenntnissubjekt im Blick hat, sondern die Erkenntnis an sich. Eco spitzt diesen Zusammenhang treffend zu, wenn er schreibt: „Der Interpretant ist nicht der Interpret.“4

Das Zeichen verkörpert das reine Erste. Zeichen sind Stellvertreter für reale oder mentale Objekte. Ihrer Natur nach sind sie Darstellungen, die zwischen Objekt und Bedeutung vermitteln. Zeichen stehen für etwas – nämlich für das jeweilige Objekt. Es geht darum, eine bedeutungsgenerierende Verbindung zwischen Objekt und Zeichen zu erhalten.5 Dass die Relationalität für die Begriffsbildung essentiell ist, kann man an folgendem Zitat ablesen: „It appears to me that the essential function of a sign is to render inefficient relations efficient, – not to set them into action, but to establish a habit or general rule whereby they will act on occasion.“6 Funktional gesehen kann man ein Zeichen als logische Gesetzmäßigkeit folglich so definieren, dass es eine Bedeutungsgenerierung leisten kann, was nach Peirce ausschließlich in der triadischen Struktur gelingt. Diesen Vorgang der Bedeutungsbildung bezeichnet er als „semeiosis“ – „Semiose“.7 Die zweite markante und berühmteste Zeichendefinition aus Peirces Theorie findet sich im Syllabus: „A Sign, or Representamen, is a First which stands in such a genuine triadic relation to a Second, called its Object, as to be capable of determining a Third, called its Interpretant, to assume the same triadic relation to its Object in which it stands itself to the same Object.“8 Diese Definition ist prägnant wie evident zugleich: Peirce greift an der Stelle die Synonyma von „Erstheit“, „Zweitheit“ und „Drittheit“ auf, die die Komponenten des Zeichenereignisses – der Semiose – bilden, – nämlich „das Erste“, „das Zweite“ und „das Dritte“. Das beweist noch einmal, dass die phänomenologische Betrachtung mit der zeichentheoretischen Untersuchung identifiziert werden kann. Es handelt sich um eine Übertragung von einem logischen zu einem anderen logischen Bereich. Da Peirce allerdings mit dem Zeichen beginnt, vertauscht er in dieser Definition die erste mit der zweiten Position. Er wechselt die Perspektive und entfaltet das triadische Zeichenkonzept vom darstellenden Aspekt her.9 Die ursprüngliche erkenntnistheoretisch-logische Reihenfolge bleibt dennoch erhalten: Begriffsbildung nimmt vom Objekt ihren Ausgang und führt über das Zeichen zu seiner ihm zugeordneten Bedeutung. Dem „Zeichen“ weist Peirce nun den parallelen Begriff „Representamen“ („Repräsentamen“) zu, der die stellvertretende oder darstellende Funktion des Zeichens ins Wort bringt und betont. Gemeint ist damit der Zeichenkörper, das Zeichen an sich.10 Um die Darstellungsfunktion des Zeichens zu komplettieren, ist der Interpretant – also die „Deutung“ oder die „Bedeutung“ – zwingend erforderlich.11 Der Interpretant ist eine geistige Größe: „A Sign is a Representamen with a mental Interpretant.“12

Wesentlich ist der in der Definition zum Ausdruck kommende Aspekt der Selbstreferentialität des Zeichens, den Peirce mehrfach anspricht („A Sign, […], to assume the same triadic relation to its Object in which it stands itself to the same Object“).13 „Selbstreferentialität“ heißt, dass ein Zeichen nur dann als Zeichen verwendet werden kann, wenn es eine weitere dreistellige Struktur impliziert, die ein Zeichen in seiner Zeichenfunktion – die Stellvertretung für ein unabhängiges Objekt – markiert. Ein Zeichen benötigt also immer ein anderes, interpretierendes Zeichen, das seine formale Qualität beschreibt. Zeichen müssen „darstellend darstellen“.14 Ferner ist der Zeichenprozess niemals abschließbar.15 Das gilt grundsätzlich. Der Sachverhalt ist folgender: Ein Interpretant benötigt ein weiteres interpretierendes Zeichen, das die substantielle Qualität – die Bedeutung – des Objektes noch weiter bestimmt und so fort, um sich dem theoretischen Ziel der vollständigen Erkenntnis des externen Objektes immer mehr zu nähern. Auf diese Weise entsteht ein unendliches Netz von Zeichen – ein prinzipiell unabschließbares Zeichenkontinuum (Kontinuitätsaspekt). Grundlegend für die Semiose ist also der infinite Regress von Zeichen. Alles ist mit allem verknüpft. Alles ist ein Zeichen (Totalität bzw. Universalität des Zeichens).16Auf das Zeichen lassen sich alle Objekte zurückführen, und mit dem Zeichen lassen sich solche Objekte deuten. Das Zeichen wird bei Peirce zum Fundamentalbegriff.17 In der Realität wird dieser prinzipiell unabschließbare Prozess selbstverständlich abgekürzt, um den Begriffsbildungsprozess für die Kommunikationssituation praktikabel zu halten. Sobald von einem Sprecher nämlich eine hinreichende Bedeutung gefunden ist, beendet er die Suche nach einer weiteren Bedeutung. „Hinreichende Bedeutung“ heißt dabei, dass das zu beschreibende Objekt in seinen wesentlichen Eigenschaften bestimmt ist. Darüber hinaus betont Peirce erneut, dass die Triade sich nicht in eine Dyade auflösen lässt: „The triadic relation is genuine, that is its three members are bound together by it in a way that does not consist in any complexus of dyadic relations.“18

Die drei Universalbegriffe des Zeichens bestimmt Peirce einige Jahre später genauer. Wie diese Differenzierungen aussehen, darüber geben die Briefe von Peirce an Welby vom 12.10.1904, vom 23.12.1908 und vom 14.03.1909 sowie Peirces Briefentwurf vom 09.03.1906 Auskunft. Das Objekt gliedert sich danach zweifach in das „dynamische Objekt“ („Dynamoid Object“19 oder „Mediate Object“20 oder auch „dynamical object“21) und das „unmittelbare Objekt“ („Immediate Object“).22 Mit dem „dynamischen“ bzw. „mittelbaren Objekt“ ist das „object itself“23 gemeint, während das „unmittelbare Objekt“ der Zeichengestalt entspricht („Its object as it is represented“).24 Die erste Ausprägung des Objektes – das „dynamische Objekt“ oder das „mittelbare Objekt“ – ist zeichenextern, das zweite – das „unmittelbare Objekt“ – zeichenintern.25 Das Verhältnis zwischen beiden Momenten bestimmt sich dadurch, dass das Zeichen durch eine „Andeutung“ („hint“),26 die das unmittelbare Objekt darstellt, das mittelbare Objekt zum Ausdruck bringt („The Sign must indicate it [the dynamical object – S.E.] by a hint; and this hint, or its substance, is the Immediate Object“).27 Das heißt, das unmittelbare Objekt wird funktional (zeichenintern), nicht ontologisch aufgefasst. Hingegen kommt dem dynamischen oder mittelbaren Objekt ontologische Qualität zu („object itself“). Diese ist auch der Grund dafür, dass Wahrnehmungen des externen Gegenstandes entstehen und sich der Zeichen- und Bedeutungsbildungsvorgang („perception“)28 anschließt.29 Das Attribut „dynamisch“ weist gerade auf die Eigenschaft des mittelbaren Objektes hin, einen zeichengebundenen Erkenntnisprozess zu initiieren: „It [the dynamical object – S.E.] means something forced upon the mind in perception, but including more than perception reveals.“30 Das dynamische Objekt zeigt eine erkenntnisbildende Kraft, die zwingenden Charakter hat („forced upon the mind“, „reveals“!). Es will sich sozusagen „selbst mitteilen“.31 Nach Peirces Ansicht gibt es kein dynamisches Objekt, das sich nicht intellektuell erfassen ließe, sonst wäre es nicht real.32 Dieser Ansicht liegt folgender Zusammenhang zugrunde: Dem intellektuellen Gegenstand im menschlichen Geist als Form der Erkenntnis entspricht immer ein Gegenstand in der Außenwelt (Korrespondenztheorie). Wahre Erkenntnis ist damit möglich. Die phänomenologische Bestimmung des Übergangs von der Erfahrung zur Erkenntnis – von der Empirie zur Logik – bei Peirce ist dafür der eindeutige Beweis. Im Deutschen lässt sich dieser Zusammenhang mit dem Begriffspaar „Wirklichkeit“ und „Wahrnehmung“ eindrucksvoll veranschaulichen: Ein Objekt ist wirklich, weil es wirkt; weil es wahrgenommen wird, ist es damit auch wahr. Das Objekt beeinflusst den Zeichen- wie den Interpretantenaspekt. Das belegt auch das nachstehende Zitat aus einem Entwurf für ein Schreiben von Peirce an Welby33 deutlich. Das Wortfeld „to determine“ ist für diese Darstellung charakteristisch: „I define a Sign as anything which on the one hand so determines an idea in a person’s mind, that this latter determination, which I term the Interpretant of the sign, is thereby mediately determined by that Object.“34 Hier zeigt sich noch einmal die Relevanz des Aspektes der Relationalität – vor allen Dingen die enge Verbindung zwischen Objekt und Zeichen, die auch in der Begrifflichkeit „mittelbares Objekt“ – „unmittelbares Objekt“ aufscheint35,– sowie die herausgehobene Position des Objektes im Zeichenprozess. Es stellt das die Bedeutungsgenerierung auslösende Moment dar. Peirce bekräftigt in der angeführten Textstelle die Erkenntnisfunktion der Semiose. Dabei lässt sich das mittelbare Objekt nicht vollständig in einem einzelnen Zeichenprozess erschließen, sondern nur in der im jeweiligen Zeichen repräsentierten Hinsicht.36 Demgegenüber schreibt Peirce dem „Zeichen an sich“ („sign itself“)37 eine seinshafte Gegebenheit zu.38 Es handelt sich um den vielfältig mental erfassbaren Zeichenkörper. Die Beschreibung von „mittelbar“ – also „außen“ – und „unmittelbar“ – „innen“ – stellt die Verknüpfung zwischen Erfahren – Empirie – und Erkennen – Logik – her, die für die phänomenologische Analyse in Peirces Spätphilosophie kennzeichnend ist, wie sich gezeigt hat. Die Grenzen zwischen dynamischem bzw. realem oder mittelbarem Objekt einerseits und Zeichen in seiner Funktion als unmittelbares Objekt andererseits verwischen somit. Objekt- und Zeichenaspekt konvergieren im unmittelbaren Objekt. So ist das unmittelbare Objekt im Grunde nichts anderes als das Zeichen an sich, das das mittelbare Objekt in bestimmter Art verkörpert. Die relationale Struktur des Peirce’schen Zeichenbegriffs wird durch die Konkretisierungen des Objektbezugs vertieft reflektiert und akzentuiert. Reine Logik als Relationenlogik wird in dieser neuen, differenzierten Terminologie transparent. Der „Interpretant“ vervollständigt die Triade und überführt mittelbares und unmittelbares Objekt – Ding und Zeichen – in eine Sinneinheit. Dem Bedeutungsaspekt ordnet Peirce drei Ausprägungen zu: „[…] its interpretant as represented or meant to be understood, its interpretant as it is produced, and its interpretant in itself.“39 Soweit die Definition von 1904. Fünf Jahre später greift Peirce in der Korrespondenz mit Welby die Typen des Interpretanten noch einmal auf und benennt sie jetzt als „Immediate Interpretant“40, „Dynamical Interpretant“41 sowie „Final Interpretant“.42 Wie man erkennen kann, sind alle drei Interpretanten dem Objekt-, dem Zeichen- und dem Interpretantenaspekt zugeordnet, da jede Kategorie von einem deutenden Begriff abhängt. Dies lässt sich aus der folgenden Aussage herauslesen: „The Immediate Interpretant is an abstraction, consisting in a Possibility. The Dynamical Interpretant is a single actual event. The Final Interpretant is that toward which the actual tends.“43 Möglichkeit – „possibility“ – betrifft das Erste – den Objektbezug –, die Formulierung „a single actual event“ verweist auf die spezifische Realisierung – auf das Zweite, den Zeichencharakter –, und die Tatsache der Ausrichtung des Interpretanten („toward which the actual tends“) zeigt das Dritte an. So beschreibt der „unmittelbare Interpretant“ die Deutungsbedürftigkeit – „Interpretability“44, also die jeweilige Bedeutung – eines Zeichens, während der „dynamische Interpretant“ die zugeordnete Reaktion des Interpreten auf den unmittelbaren Interpretanten („actual event“) umfasst: „My Dynamical Interpretant is that which is experienced in each act of Interpretation and is different in each from that of any other; […].“45 Angesprochen ist der Erfahrungskontext („experienced“) – das Moment des Zweiten (vgl. die entsprechende Definition bei Peirce!). Der Begriff „finaler Interpretant“ schließlich bezieht sich einerseits auf das Finden einer angemessenen Bedeutung („toward which the actual tends“), andererseits auf die hypothetisch-futurische vollständige Erschließung eines Objekts, wie das Zitat zeigt: „[…] is the one Interpretative result to which every Interpreter is destined to come if the Sign is sufficiently considered“.46 Für die aufgezählten Formen des Interpretanten führt Peirce ebenfalls noch Nebenbegriffe ein: So wird der „unmittelbare Interpretant“ auch „emotionaler Interpretant“ („emotional Interpretant“) genannt, und der „dynamische Interpretant“ kann als „energetischer Interpretant“ („energetic Interpretant“) bezeichnet werden.47 Anstelle des Syntagmas „finaler Interpretant“ gebraucht Peirce den Begriff „logischer Interpretant“ („logical Interpretant“) oder „normaler Interpretant“ („normal Interpretant“).48 Damit wird das Kategoriensystem im Zeichenmodell dreifach geordnet: monadisch (Zeichen – unmittelbares Objekt), dyadisch (Objekt – mittelbares und unmittelbares Objekt) sowie triadisch (Interpretant – unmittelbarer, dynamischer und finaler Interpretant).

In seiner späten Konzeption der Semiotik integriert Peirce als Ergänzung noch den dialogischen Charakter der Kommunikationstheorie in sein semiotisches Modell49, das heißt, er betrachtet das Verhältnis zwischen „Sender“ („utterer“50 – „Sprecher“, von „to utter“ – „sagen“, „sprechen“, „äußern“) und „Empfänger“ („interpreter“ – „Hörer“ [als sinngemäße Übersetzung] – vgl. wörtlich „listener“).51 Hatte Peirce sich vorher eher auf den abstrakten, kognitiven Prozess der Bedeutungsgenerierung bezogen, der von der Person weitgehend absieht, so widmet er sich nun stärker dem konkreten, sozialen Prozess der Bedeutungskonstitution. Peirce führt hier eine zweite Ebene der konkreten Bedeutung im Unterschied zur abstrakten Bedeutung der Semiose ein.52 Es soll daher hier vorgeschlagen werden, zwischen zwei systematischen Ebenen zu differenzieren: Zum einen ist die semiotische Ebene zu betrachten, wie das in den vorangegangenen Abschnitten geschehen ist, zum anderen gibt es eine kommunikationstheoretische Ebene, die die Kommunikationsteilnehmer berücksichtigt. Beiden Ebenen gemeinsam ist ihr triadischer Aufbau, die den Konnex zwischen beiden herausstellt. Es finden sich die Kategorien „Objekt“, „Zeichen“, „Interpretant“ wieder. Peirce interpretiert auch die zweite Ebene semiotisch: Die Dialogizität wirkt sich auf die Bedeutungskonstitution in der Semiose aus, so dass auf der Seite des Interpretanten aus kommunikationstheoretischer Perspektive neue funktionale Bestimmungen notwendig werden. Die Interpretantenebene lässt sich dann mit den Termini „Intentional Interpretant“53, „Effectual Interpretant“54 und „Communicational Interpretant“ oder abgekürzt „Cominterpretant“55 beschreiben. Die beiden ersten Interpretantenformen verweisen jeweils auf den Sprecher („Intentional Interpretant“: „[…] a determination of the mind of the utterer“)56 und den Hörer („Effectual Interpretant“: „[…] a determination of the mind of the interpreter“), die letzte Form des Interpretanten drückt das dem Sprecher und Hörer gemeinsame Zeichen- und Bedeutungsrepertoire aus: „[…] which is a determination of that mind into which the minds of utterer and interpreter have to be fused in order that any communication should take place. This mind may be called the commens.“57 Wesentlich ist also die Erkenntnis des wechselseitigen oder reziproken Wissens über die Verwendungsweise einer spezifischen Bedeutung.58 Hier spielt der Aspekt „Kontext“ hinein, der auf der gemeinsamen Erfahrung von Sprecher und Hörer als Teilnehmer derselben Sprachgemeinschaft gründet. Diesen mit den drei neuen Interpretanten erschlossenen Zusammenhang erfasst Peirce mit dem in seinen späten Schriften nachweisbaren Begriff „common consciousness“59 – „gemeinsames Bedeutungswissen“. Hinzu tritt jedoch noch die „collateral experience“60 (oder „collateral observation“) – „ergänzende“ oder „begleitende Erfahrung“. Während sich „common consciousness“ auf Sender und Empfänger gleichermaßen bezieht, hat „collateral experience“ die Position des Adressaten im Blick.61 Der Begriff erfasst die Analyse der Äußerungssituation, nicht des Wissensbestandes hinsichtlich von Zeichenbedeutungen.62 Man kann die „begleitende Erfahrung“ daher zutreffend als „Gebrauchskontext“63 bezeichnen, in dem also Objekt, Zeichen und Verhalten des Sprechers im Äußerungsakt untersucht werden, um eine Bedeutung zu generieren. Wissenskontext und Gebrauchskontext sind zu unterscheiden; beide zusammen bilden den Kontext. Resümierend lässt sich mit Helmut Pape zutreffend sagen:

Der für das Zeichen relevante Teil des Gebrauchskontextes eines Objekts ist der durch gemeinsame Erfahrung und begleitende Beobachtungen erfaßte [sic!] Kontext, den die Interpretation eines Zeichens voraussetzt und in Beziehung auf den die Bestimmung eines Interpretanten, z.B. die Darstellung einer Eigenschaft des Objekts, überhaupt erst möglich wird.64

2.4. Wahrheit und Finalität

Das dynamische oder reale bzw. wirkliche oder mittelbare Objekt existiert unabhängig vom Denkvorgang. Es besitzt ontologischen Status und wirkt in logischer Form auf die zeichengebundene Erkenntnisbildung ein. Folglich ist das Zeichen dem Objekt logisch untergeordnet. Der Interpretantenaspekt – das Bedeutungsmoment – bezieht sich auch auf die Frage nach dem Wahrheitskonzept der Peirce’schen Zeichentheorie. Peirce geht grundsätzlich davon aus, dass man mit den zeichenförmig ermittelten Begriffen wahre Aussagen erzielen kann. Seine relationenlogisch strukturierte Zeichenlehre ist Epistemologie. Sie ist – wie schon erwähnt – teleologisch aufzufassen. Im triadischen Zeichenmodell von Peirce werden Objekt, Zeichen und Bedeutung vereinigt. Sie bringen in ihrer Gesamtheit eine „Darstellungsperspektive“1 als Ergebnis der Semiose zur Geltung. Es muss aber auch gesagt werden: Innovative Bedeutungsbildungen, die sich vom Kontext lösen, aber notwendigerweise in gewisser semantischer Abhängigkeit dazu stehen müssen, um dechiffrierbar zu bleiben, bilden das überschießende Potential des unmittelbaren Interpretanten.2 Sie führen zum Begriffs- und Bedeutungsfortschritt, das heißt zum Zuwachs an Erkenntnis und Wissen.

Der Peirce‘ sche Zeichenbegriff ist linear-teleologisch orientiert.3Hypothetisch anzunehmen ist dann zusätzlich ein finaler Interpretant, der ein Objekt im Ganzen erschließt. Diesem Gedanken zugrunde liegt der „Grenzwert“ als mathematische Deutung der theoretisch beschreibbaren Unendlichkeit. Negativ formuliert heißt das, dass Nichterkennbares auch nicht existent ist.4 Die Leistung des vollständigen Erfassens eines unabhängigen Gegenstandes schreibt Peirce der unbegrenzten Forschergemeinschaft zu.5 Zwar ist jedes menschliche Erkenntnisurteil der Fehlbarkeit (Fallibilität) unterworfen, wovon Peirce selbstverständlich auch ausgeht, es findet jedoch in der Ausrichtung auf das Telos endgültiger Wahrheitserkenntnis, die in der Eigenschaft des Objektes liegt, sich selbst mitzuteilen, eine korrigierende und leitende Größe. Die These der Finalität – sozusagen die Annahme der „unendlichen Endlichkeit der Erkenntnis“ – scheint dem Punkt der Rekursivität oder Kontinuität – also der „endlichen Unendlichkeit6 der Erkenntnis“ – zu widersprechen. Dies ist jedoch nur auf den ersten Blick so. Die Peirce’ sche Philosophie steht unter folgender Prämisse: Wissenschaftliches Denken und damit menschliches Denken müssen zweckgebunden interpretiert werden, wenn die Erkenntnis eines unabhängigen, realen Objektes prinzipiell möglich sein soll. Für Peirce ist es – wie gesehen – eine unannehmbare Vorstellung, dass es einen Gegenstand geben könnte, der nicht erkennbar sein soll. Hingegen erfasst der Vorgang der Bedeutungserschließung im Zeichen die „Bedeutung“ des Objektes – und das heißt nichts anderes als seine Wesenseigenschaft –, die im Zeichenprozess buchstäblich intellektuell „nach-vollzogen“ (die nachträgliche Bedeutungszuschreibung) wird. Mit der Vorgabe prinzipieller Erkennbarkeit des Objektes – der Korrespondenztheorie – steht und fällt die Erkenntnislehre, wie sie Peirce versteht, nämlich als nicht-metaphysische, semiotisch-logische Konzeption. Der Gedanke des infiniten Regresses bildet daher die Voraussetzung für das Ergebnis – den Zielpunkt – der Finalursachen oder der Finalität. Die Rekursivität leistet die sukzessive Annäherung an den unabhängigen Gegenstand in der Wirklichkeit. Sie setzt die Evolution des Denkens frei. Das Konzept des unendlichen Zeichenereignisses benötigt daher zusätzlich eine Richtung, damit diese kognitive Näherung an das Objekt gelingen kann. Wissen und Sinn werden dadurch erzeugt. Die Aspekte „Rekursivität“ bzw. „Kontinuität“ einerseits und „Finalität“ andererseits stehen somit in Komplementarität zueinander. Das eine ohne das andere wäre im Gegenteil gerade ein Widerspruch bei Peirce. Auf diese Finalität richte sich – so Peirce – das wissenschaftliche Streben des Menschen. Vorausgesetzt wird dabei, dass Wissenschaft zum einen zweckgebunden interpretiert wird, und zum anderen das zweckgerichtete menschliche Denken mit diesem letzten Zweck übereinstimmt. Diese Prämissen wiederum gründen sich in der Annahme prinzipieller Erkennbarkeit von Gegenständen. Konkret gesagt heißt das, dass zwischen Forschungsgegenstand und Forschungserkenntnis ein Verhältnis der Komplementarität im Sinne der Korrespondenz besteht. Der Zweck von wissenschaftlicher Betätigung besteht im zukünftigen Erwerb von (Wahrheits-) Erkenntnis. Auf diese Weise könne – so Peirce – auch eine „letzte Meinung“ („final opinion“)7 erzielt werden8, die ein Objekt im Ganzen beschreibt. Die Rationalität des erkennenden Subjektes und die Realität des zu erkennenden Objektes konvergieren in diesem utopisch gedachten Punkt. Wissenschaft als teleologisch bestimmte – das heißt methodisch geleitete – Form des Erkenntnisgewinns läuft auf dieses futurisch-utopische Ereignis zu.9 Dieser Erkenntnisfortschritt geschieht in der steten Bewegung der Näherung an diesen durch den letzten Zweck der vollkommenen Objektbestimmung geregelten Punkt (Approximationstheorie). In der „letzten Meinung“ wird dieses „End-Ziel“ (vgl. τέλος) der Herstellung eines verbindlichen Konsenses erreicht (Konsensustheorie). Man kann also sagen, dass Korrespondenz- und Konsensustheorie im Finalitätsaspekt als mathematisch-theoretischem Grenzwert in eins fallen. Die Korrespondenztheorie bildet die Voraussetzung der Approximationsvorstellung, die in der Konsensustheorie – der Vorstellung von der „final opinion“ – gipfelt.10

Ausgangs- und Endpunkt der Semiose ist das dem menschlichen Denken im Allgemeinen und dem wissenschaftlichen Forschen im Besonderen vorausgehende reale Objekt.