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Jenny Odell

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Beschreibung

Von morgens bis abends ist unser Leben durchgetaktet: Jeder einzelne Moment wird erfasst, optimiert oder als ökonomische Ressource vereinnahmt – und das macht uns kaputt. Jenny Odell, die Autorin des New-York-Times-Bestsellers «Nichts tun», erkundet in Ihrem scharfsinnigen neuen Buch, welche falschen Vorstellungen unser modernes, kapitalistisches Zeitverständnis prägen und wie fernab davon ein menschlicheres, freieres Leben aussehen könnte. Was tun, wenn die Zeit immer zu knapp scheint? Um diese scheinbar einfache Frage zu beantworten, taucht Odell tief in die Geschichte der Menschheit ein. Sie rekonstruiert, wie es zur Einteilung des Tages in 24 gleichförmige, austauschbare Zeiteinheiten kommen konnte. Sie führt uns zur Entstehung der "Zeit ist Geld"-Mentalität an den Fließbändern der tayloristischen Fabrik. Und sie problematisiert die Vermarktung von Entschleunigung als leicht konsumierbare Freizeiterfahrung in Yoga- und Achtsamkeitsretreats. Dabei entlarvt Odell die kapitalistischen und kolonialistischen Wurzeln unserer Zeiterfahrung und zeigt, wie diese untrennbar mit der Zerstörung unserer natürlichen Umwelt verbunden sind. Jenny Odells schillerndes, unkonventionelles Buch ist kein weiterer Ratgeber für effizientere Zeit- und Selbstoptimierung. Es ist das kluge und zutiefst hoffnungsvolle Plädoyer für ein Leben jenseits der tickenden Uhr, das mehr Raum für zwischenmenschliche Nähe, gesellschaftliche Teilhabe und Klimagerechtigkeit bietet. er:innen von Rebecca Solnit und Naomi Klein

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JENNY ODELL

Zeit finden

Jenseits des durchgetakteten Lebens

Aus dem Englischen übersetzt von Annabel Zettel

C.H.BECK

Über das Buch

Von morgens bis abends ist unser Leben durchgetaktet: Jeder einzelne Moment wird erfasst, optimiert oder als ökonomische Ressource vereinnahmt – und das macht uns kaputt. Jenny Odell, die Autorin des New-York-Times-Bestsellers «Nichts tun», erkundet in Ihrem scharfsinnigen neuen Buch, welche falschen Vorstellungen unser modernes, kapitalistisches Zeitverständnis prägen und wie fernab davon ein menschlicheres, freieres Leben aussehen könnte.

Was tun, wenn die Zeit immer zu knapp scheint? Um diese scheinbar einfache Frage zu beantworten, taucht Jenny Odell tief in die Geschichte der Menschheit ein. Sie rekonstruiert, wie es zur Einteilung des Tages in 24 gleichförmige, austauschbare Zeiteinheiten kommen konnte. Sie führt uns zur Entstehung der «Zeit ist Geld»-Mentalität an den Fließbändern der tayloristischen Fabrik. Und sie problematisiert die Vermarktung von Entschleunigung als leicht konsumierbare Freizeiterfahrung in Yoga- und Achtsamkeitsretreats. Dabei entlarvt Odell die kapitalistischen und kolonialistischen Wurzeln unserer Zeiterfahrung und zeigt, wie diese untrennbar mit der Zerstörung unserer natürlichen Umwelt verbunden sind. Jenny Odells schillerndes, unkonventionelles Buch ist kein weiterer Ratgeber für effizientere Zeit- und Selbstoptimierung. Es ist das kluge und zutiefst hoffnungsvolle Plädoyer für ein Leben jenseits der tickenden Uhr, das mehr Raum für zwischenmenschliche Nähe, gesellschaftliche Teilhabe und Klimagerechtigkeit bietet.

Über die Autorin

Jenny Odell ist Künstlerin und Schriftstellerin. Sie lehrt an der Stanford University und war als Artist-in-Residence bei Facebook, dem Internet-Archiv und der Planungsabteilung der Stadt San Francisco tätig. Ihre Arbeiten erschienen u.a. in der New York Times, dem New York Magazine, The Atlantic, The Believer, The Paris Review und McSweeney’s. Sie lebt in Oakland, Kalifornien. Zuletzt ist bei C.H.Beck von ihr erschienen «Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen» (Paperback 2022).

Inhalt

VORWORT: Eine Botschaft für die Zwischenzeit

Zeit finden

KAPITEL 1: Wessen Zeit, wessen Geld? – DER HAFEN VON OAKLAND

KAPITEL 2: Selbst-Timer – INTERSTATE 880 UND STATE ROUTE 84

KAPITEL 3: Kann es Freizeit überhaupt geben? – DIE SHOPPING MALL UND DER PARK

KAPITEL 4: Die Zeit wieder an ihren Platz rücken – EIN STRAND IN DER NÄHE VON PESCADERO

KAPITEL 5: Subjektwechsel – DER UFERDAMM VON PACIFICA

KAPITEL 6: Ungewöhnliche Zeiten – DIE GEMEINDEBIBLIOTHEK

KAPITEL 7: Lebenserweiterung – DAS KOLUMBARIUM UND DER FRIEDHOF

CONCLUSIO: Zeit zweiteilen

Dank

ANHANG

Anmerkungen

Vorwort: Eine Botschaft für die Zwischenzeit

1. Wessen Zeit, wessen Geld?

2. Selbst-Timer

3. Kann es Freizeit überhaupt geben?

4. Die Zeit wieder an ihren Platz rücken

5. Subjektwechsel

6. Ungewöhnliche Zeiten

7. Lebenserweiterung

Conclusio: Zeit zweiteilen

Bibliografie

Bildnachweis

Personenregister

Für meine Familie, im weiteren Sinne

I wish the idea of time would drain out of my cells and leave me quiet even on this shore.

Ich wünschte, die Vorstellung der Zeit würde aus meinen Zellen herausfließen und mich still und ruhig an dieser Küste zurücklassen.

– Agnes Martin, Writings

VORWORT

Eine Botschaft für die Zwischenzeit

Irgendwann im Frühling 2019 bemerkte ich, dass in meinem Apartment unerwartete Besucher eingezogen waren. Sie waren wahrscheinlich nicht durch die Tür, sondern durchs Fenster gekommen, und lange Zeit wusste ich gar nicht, dass sie da waren. Erst als ich zufällig die Mooswedel sah, die in einem schweinförmigen Keramiktopf neben dem Fenster wuchsen, kam ich auf die Idee, dass eine Invasion stattgefunden hatte.

Die Moossporen siedelten sich um einen kleinen Hasenohrkaktus an, den ein Freund mir einmal vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich fand es immer scheußlich, wie kalt und feucht es um mein Küchenfenster herum war – es bekommt niemals Sonne –, und dem Kaktus ging es vielleicht genauso, aber das Moos fühlte sich dort wohl. Es begann, sich zu teilen, zu differenzieren, sich mit haarähnlichen Rhizoiden der Blumenerde zu bemächtigen und winzige grüne Blättchen zu bilden. Dann trieb es lange schmale Sporophyten aus, die sich daranmachten, den gleichen Prozess wie ihre Vorfahren außerhalb des Apartments fortzuführen. Bald quoll aus dem oberen Teil des Schweins ein regelrechter Miniaturwald hervor.

Verglichen mit Gefäßpflanzen, haben Moose eine relativ unmittelbare Beziehung zu Wasser und Luft.[1] In ihrem Buch Gathering Moss (Das Sammeln von Moos) schreibt Robin Wall Kimmerer, dass die einzellschichtigen «Blätter» von Moosen sich wie die Alveolen der menschlichen Lunge verhalten, insofern als sie Feuchtigkeit brauchen und in direkten Kontakt mit der Luft treten. In der Antarktis, wo es keine Bäume gibt, haben sich Wissenschaftler Moose auf ähnliche Weise zunutze gemacht wie Baumringe.[2] Moose sind in der Lage, jeden Sommer «einen Bericht abzugeben», aufgrund der Art und Weise, wie die Blätter, deren Wachstum an ihren Rändern stattfindet, dort Chemikalien aus der Umwelt aufnehmen und einlagern. Wenn ich in der Küche saß, konnte ich den Bericht, den dieses fehlgeleitete Moos schrieb, offenbar nicht lesen, aber es sagte mir zumindest: Ich bin lebendig. Und am nächsten Tag: Immer noch lebendig.

Ich las Gathering Moss während der ersten Lockdowns der COVID-19Pandemie. Die Zeit fühlte sich damals wie eingefroren an, aber das Moos wuchs weiter, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Apartments – und die Pandemie hatte mein Aufmerksamkeitsspektrum schrumpfen lassen. Ich lief in der Umgegend von Oakland umher wie eine vagabundierende Verschwörungstheoretikerin, die die Dinge aus merkwürdigen Blickwinkeln betrachtete. Das Moos liebte Zwischenräume, was bedeutete, dass es oft genau da war, wo ich sonst nicht hingeschaut hätte: zwischen Rissen im Gehweg vor meiner Wohnung, zwischen dem Asphalt auf der Straße und dem Gullydeckel, zwischen der Wand des Lebensmittelladens und dem Bürgersteig, zwischen Ziegelsteinen. Ich begann, Moos, sowohl was seine Wuchsorte als auch seine Erscheinungsform anging, als die Signatur von Wasser zu begreifen, da es sich zeigte, wo immer sich in der Vergangenheit Wasser gesammelt hatte, aber auch in Echtzeit auf Regen reagierte, sich während eines leichten Schauers innerhalb von Minuten ausbreitete und grüner wurde.

Das Moos brachte mich dazu, mir sowohl sehr kurze Zeiträume – wie Feuchtigkeitsveränderungen von einer Minute auf die andere oder der Moment, in dem eine Spore in meinem Blumentopf wuchs – und sehr lange Entwicklungszeiträume vor Augen zu führen, da Moose zu den allerersten Pflanzen gehörten, die an Land wuchsen. Dennoch machten mir beide Enden dieser Zeitskala auch noch einmal klar, wie unmöglich es ist, einen Moment ganz präzise festzulegen (ein sehr menschliches Bestreben). Am einen Ende etwa stieß ich auf Uneinigkeit darüber, wann eine Moosspore offiziell gekeimt hat.[3] Ist das, wenn sie zu einem gewissen Grad von Wasser aufgequollen ist oder wenn sich der Keimfaden bildet und die Zellwand reißt? Am anderen Ende entwickelten sich die frühesten Moose irgendwann vor Hunderten Millionen von Jahren aus Wasseralgen[4], aber es wäre absurd, den exakten «Moment» dieser Neuerung oder auch nur die Artentstehung der Gäste auf meinem Fenstersims genau definieren zu wollen.

Diese Unbestimmtheit weitete sich schnell auf andere Fragen aus. Konnte ein Moos sinnvollerweise von seiner Umgebung getrennt betrachtet werden? War eine Moosspore als lebendig einzuordnen? Wie verhielt es sich mit gefrorenem Moos,[5] wie dem aus der Antarktis, das nach 1500 Jahren wieder ins Leben gerufen wurde? Selbst ohne Extrembedingungen machen Moose eine einheitliche Zeitvorstellung schwierig, da einige Arten die Fähigkeit besitzen, über zehn Jahre lang ohne Wasser zu ruhen, unter den richtigen Bedingungen jedoch wieder zum Leben erwachen.[6] Wie Kimmerer 2020 in einem Interview im Believer erwähnte, waren es Moose genau aufgrund dieser Eigenschaft wert, ihnen während der COVID-19-Pandemie unsere Aufmerksamkeit zu widmen.[7] Da sie bemerkt hatte, dass ihre Studenten sich von der Hartnäckigkeit und den Ruhephasen der Moose inspirieren ließen, lag es für sie auf der Hand, dass diese Pflanzen die Menschen lehren konnten, wie sie mit dem gegenwärtigen historischen Moment umgehen sollten.

Das Moos tauchte in meinem Apartment etwa zu der Zeit auf, in der ich begann, über dieses Buch nachzudenken. Als ich damit fertig war, wuchs es noch immer. Wahrscheinlich wird es an diesem Ort nicht 5000 Jahre lang überleben, wie eine Moosschicht auf Elephant Island in der Antarktis.[8] Aber in der Zwischenzeit hat es drei Jahre lang Sonnenlicht in sich aufgenommen, drei Jahre lang Luft geatmet und mich drei Jahre lang am Küchentisch sitzen sehen. Wie ein Gesandter von irgendwoher außerhalb des geltenden Zeitbegriffs hat es meinen Geist mit Fragen von Porosität und Reaktion, von Innen und Außen, von Potenzial und Bedrohung okkupiert. Aber vor allem hat es mir die Zeit wieder zu Bewusstsein gebracht: nicht die monolithische, leere Substanz, von der wir glauben, dass sie jeden Einzelnen von uns überspült, sondern die Art von Zeit, die beginnt und stillsteht, heraufsprudelt, sich in Rissen sammelt und sich zu Gebirgen faltet. Es ist die Art, die auf die richtigen Bedingungen wartet, die immer die Fähigkeit in sich trägt, etwas Neues zu beginnen.

Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer Buchhandlung. In einer Abteilung stehen Bücher über Zeitmanagement, die einem erklären, wie man sich in einer Welt, die immer schneller wird, an ein allgemeines Empfinden von Zeitknappheit anpasst: Entweder zählt und bemisst man seine Zeitanteile effektiver, oder man kauft Zeit von anderen Leuten. In einer anderen Ecke finden Sie kulturgeschichtliche Bücher darüber, wie es dazu kam, dass wir die Zeit so wahrnehmen, wie wir das tun, und philosophische Untersuchungen darüber, was Zeit letztlich ist. Wenn Sie um Zeit ringen und sich ausgebrannt fühlen, in welche Ecke würden Sie dann gehen? Es würde vermutlich sinnvoll erscheinen, sich im ersten Bereich umzuschauen, der sich direkter mit dem täglichen Leben und der praktischen Realität befasst. Ironischerweise scheint nie genügend Zeit für etwas so Müßiges wie die Betrachtung des eigentlichen Wesens der Zeit vorhanden zu sein. Aber worauf ich hinauswill, ist, dass einige der Antworten, die wir vielleicht im ersten Bereich suchen, im zweiten zu finden sind. Wenn wir also die sozialen und materiellen Wurzeln der Vorstellung, dass «Zeit Geld ist» nicht ergründen, dann laufen wir Gefahr, im Hinblick auf die Zeit eine Sprache zu etablieren, die selbst Teil des Problems ist.

Halten Sie sich den Unterschied zwischen dem Ausdruck «Work-Life-Balance» und der Vorstellung von Freizeit vor Augen, die der deutsche katholische Philosoph Josef Pieper in seinem 1948 erschienenen Buch Muße und Kult erläuterte. Im Bereich der Arbeit, so schreibt er, ist die Zeit horizontal, eine Kette vorwärtsstrebender Abläufe, durchbrochen von kleinen Erholungspausen, die uns aber lediglich um der Arbeit willen erfrischen – um «neue Kraft zu neuer Arbeit» zu geben.[9] Für Pieper sind diese kleinen Unterbrechungen keine Muße. Wahre Muße existiert dagegen auf einer «vertikalen» Zeitachse, eine, deren Totalität die gesamte Zeitdimension eines Arbeitstages durchschneidet oder negiert und «senkrecht zum Ablauf des Arbeitstages steht». Wenn solche Momente uns zufällig auch für die Arbeit erfrischen, dann ist das eher zweitrangig. «Nicht um der Arbeit willen ist die Muße da», schreibt Pieper, «soviel Kraft der tätig Werkende aus ihr auch gewinnt; Muße hat ihren Sinn nicht darin, als körperliches Ausruhen oder als seelische Erholung neue Kraft zu spenden zu neuer Arbeit – wiewohl sie dies tut!» Piepers Unterscheidung bringt bei mir eine intuitive Saite zum Klingen, wie sie das vermutlich auch bei jedem anderen tut, der bezweifelt, dass Produktivität das ultimative Maß von Bedeutung und Wert der Zeit ist. Sich einen anderen ausschlaggebenden Punkt vorzustellen, bedeutet auch, sich ein Leben, eine Identität und eine Sinnquelle außerhalb der Welt von Arbeit und Profit vorzustellen.

Ich denke, der Grund, warum die meisten Menschen Zeit als Geld betrachten, ist nicht, dass sie das wollen, sondern, dass sie es müssen. Diese moderne Sicht der Zeit ist nicht von der Lohnbeziehung zu lösen, der Notwendigkeit, seine Zeit zu verkaufen, die – so gebräuchlich und unumstritten sie heute erscheint – so historisch spezifisch ist wie jede andere Methode zur Bewertung von Arbeit und Existenz. Die Lohnbeziehung dagegen spiegelt dieselben Muster von Empowerment und Disempowerment, die auch alles andere in unserem Leben betreffen: Wer kauft wessen Zeit? Wessen Zeit ist wie viel wert? Wessen Zeitplan soll sich an andere anpassen, und wessen Zeit wird als verfügbar erachtet? Das sind keine individuellen Fragen, sondern kulturelle, historische, und es gibt wenige Möglichkeiten, seine eigene Zeit oder die der anderen zu befreien, ohne über sie nachzudenken.

Eine der Lektionen in einem populären Buch von 2004 mit dem Titel In Praise of Slowness (Titel der deutschen Ausgabe: Slow Life) ist, dass sowohl der Arbeitgeber als auch der Angestellte von der Work-Life-Balance profitieren können, da «Studien zeigen, dass Menschen, die das Gefühl haben, ihre Zeit kontrollieren zu können, entspannter, kreativer und produktiver sind».[10] Mir ist natürlich klar, dass jeder sich über ein paar zusätzliche Stunden am Tag freuen würde, aber hier ist die Argumentation das Entscheidende. Solange die Langsamkeit nur ins Feld geführt wird, um die Maschine des Kapitalismus anzutreiben, besteht die Gefahr, dass sie zu einer rein kosmetischen Korrektur wird, nur zu einer weiteren kleinen Unterbrechung auf der horizontalen Ebene der Arbeitszeit. Das erinnert mich an eine Folge der Simpsons, in der Marge einen Job im Atomkraftwerk bekommt und die niedrige Arbeitsmoral dort bemerkt.[11] In einer Unterhaltung mit Mr. Burns verweist sie auf einen Angestellten, der schluchzt, auf einen anderen, der mit glasigen Augen einen Drink schlürft, und einen dritten, der ein Gewehr poliert und sagt: «Ich bin der Engel des Todes. Die Zeit der Läuterung steht bevor.» Marge will helfen, schlägt mutig einen «Tag der lustigen Hüte» vor und lässt Musik von Tom Jones spielen. Danach sehen wir dieselben drei Angestellten wieder: schluchzend (mit einem Sombrero auf dem Kopf), trinkend (mit einem Elchgeweih) und die Waffe entsichernd, mit einem Propeller auf dem Kopf, aus dem Bild laufend, während «What’s New Pussycat?» im Hintergrund läuft. «Es funktioniert!», sagt Mr. Burns (in einem Wikingerhelm mit Hörnern).

Ich glaube, wir wollen alle mehr als lustige Hüte, und ich bezweifle, dass es bei Burnout immer nur darum geht, nicht genügend Stunden am Tag zu haben. Was zunächst als der Wunsch nach mehr Stunden am Tag erscheint, erweist sich vielleicht nur als ein Teil eines einfachen und doch ungeheuer großen Verlangens nach Autonomie, Sinn und Zweck. Selbst wenn äußere Umstände oder ein innerer Drang einen zwingen, ganz und gar auf Piepers horizontaler Achse zu leben – Arbeit und Erholung, um noch mehr zu arbeiten –, ist es immer noch möglich, ein Verlangen nach dem vertikalen Reich zu spüren, dem Ort für die Anteile von uns selbst und unserem Leben, die nicht zum Verkauf stehen.

Auch wenn sie unsere Tage und Lebenszeit regiert, hat die Uhr unsere Psyche noch nicht ganz erobert. Unter dem Raster des Zeitplans kennen wir alle viele andere Varianten von Zeit: wie sich Warten und Verlangen hinziehen können, die Art und Weise, in der die Gegenwart plötzlich mit Kindheitserinnerungen durchzogen erscheint, das langsame, aber sichere Voranschreiten einer Schwangerschaft oder die Zeit, die es braucht, damit eine Verletzung physisch oder emotional heilt. Als Tiere, die an den Planeten gebunden sind, erleben wir kürzer und länger werdende Tage, das Wetter, durch das bestimmte Blumen und Gerüche (zumindest derzeit noch) wiederkehren und unser um ein Jahr gealtertes Selbst besuchen. Manchmal ist Zeit nicht Geld, sondern besteht aus diesen Dingen.

Tatsächlich ist es dieses Bewusstsein sich überlagernder Zeitlichkeiten, das den tiefen Verdacht nährt, dass wir nach der falschen Uhr leben. Nichts in der horizontalen Sphäre kann jener spirituelleren Form des Burnout etwas entgegensetzen: der gleichzeitigen Erfahrung von Zeitdruck und einem wachsenden Bewusstsein, wie sehr das Klima aus den Fugen ist. Selbst für eine sehr privilegierte Person, die von den Auswirkungen des Klimawandels abgeschirmt ist, erzeugt das Hin- und Herschalten zwischen einem Fenster des Instant-Messaging-Dienstes Slack und Schlagzeilen über eine bald schon unbewohnbare Erde zumindest ein Gefühl von Dissonanz und, im allerschlimmsten Fall, eine Art spirituellen Brechreiz und Nihilismus. In der Vorstellung, am Ende der Zeiten gegen die Uhr anzurennen, steckt eine einsame Absurdität, wie eine Schlagzeile auf der parodistischen Website Reductress zeigt: «Frau wartet auf einen Beweis dafür, dass die Welt 2050 immer noch existiert, bevor sie anfängt auf Ziele hinzuarbeiten.»[12]

Zumindest teilweise rührt diese Absurdität daher, wie hoffnungslos unzusammenhängend diese beiden Zeitskalen offenbar sind. Von unserem Standpunkt aus scheinen die Prozesse des Planeten irgendwo an der Peripherie von Uhr und Kalender stattzufinden, außerhalb der menschlich sozialen, kulturellen, ökonomischen Zeit. Als Wissenschaftlerin formuliert es Dr. Michelle Bastian so: «Die Uhr kann mir sagen, ob ich zu spät zur Arbeit komme, [aber] sie kann mir nicht sagen, ob es zu spät ist, den galoppierenden Klimawandel aufzuhalten.»[13] Dennoch teilen diese anscheinend unüberbrückbaren Erfahrungswelten – individueller Zeitdruck und Klimabedrohung – einige tiefe Wurzeln, und sie haben mehr gemeinsam als nur die Angst. Die Handelstätigkeit und der Kolonialismus der Europäer brachten unser derzeitiges System zur Bemessung und Einhaltung der Zeit hervor und damit die Bewertung von Zeit als austauschbarem «Stoff», der angehäuft, gehandelt und umhergeschoben werden kann. Wie ich in Kapitel 1 weiter ausführen werde, sind die Anfänge von Uhr, Kalender und Tabellenkalkulation nicht von der Geschichte der Gewinnung von Rohstoffen aus Ressourcen der Erde wie auch menschlicher Arbeitszeit zu trennen.

Mit anderen Worten: Jemand, der heutzutage damit kämpft, Zeitdruck und Klimaangst miteinander zu vereinbaren, hat es auf beiden Seiten mit den Ergebnissen einer bestimmten Weltsicht zu tun, eine, die sowohl die Bemessung von Arbeitszeit als auch ökologische Zerstörung hervorbrachte, um Profit zu erzielen. Im Körper kann chronischer Schmerz durch ein Ungleichgewicht an einer ganz anderen Stelle, als man ihn letztlich fühlt, entstehen.[14] Während man eine schmerzende Stelle massieren kann und sich danach vielleicht ein paar Tage lang besser fühlt, hilft es bei chronischem Stress letztendlich nur, seine Gewohnheiten zu ändern. Ganz ähnlich resultieren Zeitdruck und Klimaangst, die als andere Formen von Schmerz wahrgenommen werden, aus dem gleichen Beziehungsgeflecht in einem größeren «Körper», der nach Jahrhunderten einer extraktiven Denkweise in einer unerträglichen Verzerrung erstarrt ist. Deshalb ist die Fähigkeit, die eigenen persönlichen Zeiterfahrungen und die Erfahrung einer kollabierenden klimatischen Uhr miteinander zu verknüpfen, nicht einfach eine mentale Übung, sondern eine absolute Dringlichkeit für alle Beteiligten. Die einzige Möglichkeit, etwas gegen den Schmerz zu tun, ist es, unsere Handlungsweise grundlegend zu verändern. Auch die Erde braucht mehr als lustige Hüte.

Diese grundlegende Veränderung kann zum Teil aus der Art und Weise entstehen, wie wir über Zeit denken und sprechen. Zwar bestimmt die Uhr nicht die Gesamtheit unserer psychologischen Erfahrung, die quantitative Sicht der Zeit, die mit dem Industrialismus und Kolonialismus aufkam, bleibt jedoch in großen Teilen der Welt die Lingua Franca. Will man versuchen, eine andere Sprache zu sprechen, stellt einen das vor Herausforderungen, aber das zeigt auch, wie bedeutsam dieser Versuch sein kann. Ein Online-Event mit dem Titel Haben wir in einem Klimanotfall Zeit für Selbstfürsorge? – ein Titel, der auf einige Verwirrung und Schamgefühl hinweist – demonstrierte mir ein Beispiel dieser Herausforderung. Minna Salami, der Autorin von Sensuous Knowledge: A Black Feminist Approach for Everyone (Sinnliches Wissen: Eine schwarze feministische Perspektive für alle), gelang es schließlich, die titelgebende Frage zu beantworten, indem sie ganz einfach deren Prämisse zurückwies. Selbstfürsorge war offensichtlich notwendig, aber die Art und Weise der Fragestellung war Teil des Problems, da sie die Vorstellung aufrechterhielt, dass die alltägliche kulturelle Zeit und die ökologische Zeit nicht miteinander verbunden sind.[15] Betrachten wir Selbstfürsorge nur als «gestohlene kleine Momente, in denen wir das Selbst priorisieren», basierend auf der Vorstellung, dass Selbstfürsorge und Klimagerechtigkeit in einem Nullsummenspiel um unsere Stunden und Tage konkurrieren, dann verschärfen wir das Problem, indem wir die alte Lingua Franca sprechen. Für Salami war es keine Frage von Entweder-Oder. Wenn wir im Hinblick auf die Zeit aber eine andere Sprache erlernen könnten, dann würden Klimagerechtigkeit und Selbstfürsorge in ein und dieselbe Anstrengung münden.

Im Altgriechischen gibt es zwei verschiedene Begriffe für Zeit, Chronos und Kairos. Chronos, was zum Teil in Wörtern wie Chronologie steckt, ist das Reich der linearen Zeit, ein stetig in die Zukunft marschierender Zug von Ereignissen. Kairos bedeutet eher so etwas wie «Krise», aber für viele von uns bedeutet es auch so etwas wie den günstigen Zeitpunkt oder «die Zeit nutzen». Auf dem Klima-Event beschrieb Salami Kairos eher als qualitative und weniger als quantitative Zeit, und zwar deshalb, weil in Kairos alle Momente verschieden sind und «das Richtige zum richtigen Zeitpunkt geschieht». Aufgrund dessen, was sie über Handeln und Möglichkeit sagte, schien mir die Unterscheidung zwischen Chronos und Kairos für ein Nachdenken über die Zukunft ebenfalls entscheidend.

Oberflächlich mag es scheinen, als wäre der stabile Chronos das Reich des Trostes und der instabile Kairos der Ort für die Angst. Aber welchen Trost kann Chronos bieten, wenn wir, mit den Worten des in den 1990ern erschienen Anti-Work-Magazins Processed World, «im Gleichschritt in den Abgrund marschieren»?[16] Was ich in Chronos finde, ist keineswegs Trost, sondern Angst und Nihilismus, eine Zeitform, die auf mich und andere unerbittlich herabstürzt. Hier sind meine Taten nicht von Bedeutung. Die Welt wird so gewiss schlechter, wie mein Haar grau werden wird, und die Zukunft ist etwas, das wir einfach hinter uns bringen müssen. Was wir dagegen in Kairos finden, ist ein Rettungsanker, ein kleiner Hauch der Kühnheit, sich etwas anderes vorzustellen. Hoffnung und Sehnen können letztlich nur im Unterschied zwischen heute und einem unbestimmten Morgen existieren. Mehr als Chronos schließt Kairos die Unvorhersehbarkeit des Handelns mit ein, in dem Sinne, wie Hannah Arendt es beschreibt: «Jedenfalls bleiben auch in den beschränktesten Umständen die Folgen einer jeden Handlung schon darum unabsehbar, weil das gerade eben noch Absehbare, nämlich das Bezugsgewebe mit den ihm eigenen Konstellationen, oft durch ein einziges Wort oder eine einzige Geste radikal geändert werden kann.»[17] In diesem Sinne ist die Frage der Zeit nicht von der Frage des freien Willens zu trennen.

Dieses Buch entstand aus dem Gefühl heraus, dass ein großer Teil des Klima-Nihilismus und anderer schmerzhafter Zeiterfahrungen von einer Unfähigkeit herrühren, jene fundamentale Unsicherheit zu erkennen oder zuzulassen, die jedem einzelnen Moment innewohnt, der aber zugleich auch unsere Handlungsmacht in sich trägt. Was das Klima angeht, bedeutet das nicht, dass wir den Schaden, den wir bereits verursacht haben, ungeschehen machen können. Aber was wir von vornherein beschließen, ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Egal, in welcher Situation, wenn wir glauben, die Schlacht ist vorbei, dann ist sie vorbei. Die Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung von Chronos und Kairos mag im konzeptuellen Bereich beginnen, aber sie endet dort nicht: Sie hat direkte Auswirkungen darauf, was in jedem Moment deines Lebens möglich erscheint.

Sie hat auch Einfluss darauf, ob wir die Welt und ihre Bewohner als lebendig oder halb tot betrachten. Das ist vielleicht die weitreichendste Konsequenz der Vorstellung, dass der (europäische) Mensch die alleinige Triebkraft in einer Natur ist, die nach vorhersehbaren mechanistischen Gesetzen funktioniert.

Als diese Distinktion aufkam, versetzte sie die kolonisierten Völker in eine Art permanenten Stillstand innerhalb Chronos, genauso handlungsunfähig wie ihre Länder und alles Leben darin.[18] Diese Konzeption rechtfertigte nicht nur die Ausbeutung jener «Ressourcen» durch die Kolonisten, sondern ebnete außerdem sowohl der Klimakrise als auch den Rassenungerechtigkeiten unserer Zeit den Weg. Wir sollten (wieder) lernen, Handeln und Entscheidungen nicht mehr auf einen so eng gefassten Bereich zu beschränken und uns einzugestehen, dass alles und jeder, der zuvor durch das Raster gefallen war, trotzdem ebenso real ist, in Kairos vereint. Das bedeutet aber, Zeit nicht so wahrzunehmen, als würde sie über die Objekte der Welt hereinbrechen, sondern als wäre sie von den Akteuren der Welt mitgestaltet worden. Für mich ist das sowohl eine Frage von Gerechtigkeit als auch von Praktikabilität, da ich die Klimakrise als Ausdruck von Wesen (menschlichen und nichtmenschlichen) lese, die weniger «gerettet» als gehört werden müssen.

Zunächst einmal versuchte ich, eine Zeitvorstellung zu finden, die nicht schmerzhaft war – etwas anderes als «Zeit ist Geld», Klimaangst oder die Furcht zu sterben. Es war mehr eine persönliche Frage als eine akademische. Während meiner Suche fand ich etwas, das ich nicht erwartet hatte: Während nämlich ein Zeitgefühl bewirkt, dass Du Dich schon tot fühlst, bevor Deine Zeit gekommen ist, kann ein anderes bewirken, dass Du Dich ganz klar lebendig fühlst. Während der COVID-19Pandemie wurde ich Zeuge mehrerer Ablösungsprozesse: etwa auf einer lokalen Webcam, wo noch fast ganz grauen, flauschigen Babyfalken an den äußeren Spitzen ihrer Flügel einzelne Federn wie Finger wuchsen; auf einem Hang in Oakland, wo ich eine Schlangenhaut fand, deren Eigentümerin im Gestrüpp verschwunden war; auf dem Schreibtisch in meinem Apartment, wo die Sprossachse meiner Pflanze ihre äußere Hülle abschälte, damit sich ein neuer Teil des Stiels in Richtung Fenster recken konnte. Diese Häutungsprozesse erschienen mir kompliziert, wie eine Art Auflehnung gegen sich selbst. Und das passte zu mir, denn auch ich hatte Sehnsüchte, denen ich folgen, einen Willen, den ich ausdrücken, und eine Hülle, aus der ich mich herausschälen musste. Das Morgen wuchs roh aus der Hülle des Heute, und darunter würde ich anders sein. Wir alle würden das.

2021 bat Tropicfeel, ein in Barcelona ansässiges Schuhunternehmen, den britischen Reise-Influencer Jack Morris, «Ja zu sagen» und auf ein Last-Minute-Abenteuer irgendwo in Indonesien aufzubrechen.[19] Das Ergebnis ist ein achtminütiges Video mit dem Titel «Sag ja zur Besteigung eines aktiven Vulkans!». Morris entschied sich, den Sonnenaufgang vom Vulkan Ijen in Ost-Java aus zu beobachten und ein Abenteuer zu dokumentieren, das zugleich Product Placement für eine Firma war, deren Kickstarter 2018 «den ‹gefundedsten› Schuh aller Zeiten» produzierte.

Durch nostalgische Farbfilter und gelbes Flackern, das Super-8-Filme nachahmt, sehen wir Morris, wie er Bali verlässt und mit Schiff und Auto in ein Resort in Ost-Java fährt. Er schreitet selbstbewusst in Slow Motion über Reisterrassen, während die Sonne untergeht. Am nächsten Tag steht er früh auf, um den Sonnenaufgang vom Ijen aus zu sehen, und kommt in einem bereits gut besuchten barackenartigen Coffeeshop im Basislager des Ijen an. Es ist zwei Uhr morgens. Nachdem ihm eine Frau mit einem Kopftuch in holprigem Englisch einen Holzofen für Brot gezeigt hat, schwenkt die Kamera zu einem Mann, der auf einer gepolsterten Bank liegt; er ist in Schal und Hoodie eingewickelt, seine Augen sind geschlossen.

«Was ist mit deinem Freund? Schläft er?», fragt Morris.

«Ja, schlafen, ja», sagt die Frau.

Nach anderthalb Stunden, in denen er durch die Dunkelheit wandert und dann wartet, macht Morris noch ein paar Slow-Motion-Schritte auf dem Gipfel des Vulkans. Eine Drohnenkamera nimmt alles auf und breitet die weite felsige Landschaft vor uns aus, während sie Morris’ Assistenten und die Touristen meist umgeht. Man sieht nur Morris, die Berge und die leuchtend weißen Sneaker-Sohlen («Monsoon» in Fresh Black, $ 121), die sich von den alten Gesteinsschichten leuchtend abheben. Um die Dramatik des Sonnenaufgangs zu betonen, ist dieser Teil des Videos mit einem Lied untermalt, das ich nur als episch und irgendwie nicht westlich beschreiben kann.

Als die Sonne dann ganz aufgegangen ist, steigt Morris wieder hinab und trifft auf seinem Weg eine Gruppe javanischer Minenarbeiter, die Schwefel abbauen. Sie sammeln die gelben Brocken am Austritt von Rohren, die in die Vulkanfelsen eingelassen wurden, brechen die Brocken mit Hämmern aus dem Gestein und transportieren riesige Ladungen davon in Weidenkörben, die an einer Holzstange hängen. Als er mit den Minenarbeitern spricht, erfährt Morris, dass sie jeden Tag Hunderte Kilo Schwefel aus dem Krater schaffen – so viel sie können, da sie pro Kilo bezahlt werden. Als ein weiterer Super-8-Effekt über die Aufnahme eines Mannes flackert, der seine Körbe schultert, sagt Morris: «Das ist so verrückt. Diese Jungs sind super stark.» Während sein Assistent mit einer Kamera im Hintergrund herumgeht, beobachtet Morris, dass die Minenarbeiter offenbar stolz auf ihren Job sind, und er geht mit «nichts als Respekt» für sie weiter.

Was Morris da gesehen hat, ist eine der letzten Schwefelminen, in denen von Hand Schwefel abgebaut wird.[20] Sie ist auch deshalb eine der letzten, weil die Schwefelgase, die an einem solchen Ort ausströmen, unglaublich giftig und sogar in der Lage sind, mit der Zeit Zähne zu zersetzen. Mit entstellten Schultern, Atemwegserkrankungen und spärlicher oder gar keiner Schutzausrüstung machen diese Minenarbeiter eine harte Rechnung auf: Weil der Weg bis ins Krankenhaus einfach viel zu weit ist, beschließen sie, sich um die immer neu hinzukommenden Verletzungen nicht zu kümmern und lieber zu arbeiten, bis sie ganz einfach nicht mehr können. «Sie sagen, hier zu arbeiten, kann dein Leben verkürzen», erklärte ein Minenarbeiter der BBC, und er hatte recht: Dem Bericht eines Journalisten zufolge, beträgt die Lebenserwartung der Schwefelarbeiter nur 50 Jahre. Zwar arbeiten viele dort in der Hoffnung, dass sie ihre Kinder mit dem vergleichsweise hohen Lohn zur Schule schicken und den Teufelskreis der Armut durchbrechen können, aber die reduzierte Lebenserwartung bedeutet, dass ihre Söhne manchmal ihren Job übernehmen müssen. In der Zwischenzeit macht die Arbeit ihre Gesichter «jung und alt zugleich, verbraucht bis zu dem Punkt, an dem kein Alter mehr erkennbar ist».

In diesem merkwürdigen Aufeinandertreffen zwischen Travel Influencer, Coffeeshop, dem Berg, den Minenarbeitern und der Sonne gibt es eine dichte Schnittstelle verschiedener Arten von Zeitempfinden. Am Ijen werden mehrere Dinge extrahiert – ein vermarktbares Bild der Natur, eine Freizeiterfahrung, ein Haufen Schwefelbrocken –, und eines dieser Dinge ist Arbeitszeit. Ob die Bergleute nun stückweise oder stundenweise bezahlt werden, Zeit ist für sie eine Einkommensquelle, eine Überlebensmöglichkeit und das Wertvollste, was sie zu verkaufen haben. Der Mann, der im Coffeeshop zu schlafen versuchte, war vielleicht ein Minenarbeiter, denn wie die Hunderten von Touristen, die während der Hochsaison jedes Wochenende den Vulkan besteigen, müssen die Minenarbeiter ebenfalls vor Sonnenaufgang vom Basislager aus auf den Berg gelangen.[21] Sie tun das aus der Notwendigkeit heraus, um die Hitze und die Winde zu umgehen, die giftigen Dampf zu ihnen wehen könnten. Während Arbeitszeit für den Käufer, der jederzeit mehr kaufen kann, entkörperlicht und einheitlich ist, verhält sich das für die arbeitende Person anders, da sie nur ein Leben und einen Körper hat.

Wie die Wirtschaftshistorikerin Caitlin Rosenthal bemerkte, machte man sich die Hilfsmittel, die wir heute Tabellenkalkulation nennen würden, auf Kolonialplantagen in Amerika und den Karibischen Inseln zunutze, um Produktivität zu messen und zu optimieren, und zwar im Hinblick auf eine Arbeit, die – wie der Schwefelabbau – seelenlos, erschöpfend und repetitiv war.[22] Die Arbeitsstunden, die man in diesen Büchern verzeichnete, waren so austauschbar wie die Mengen an Tabak oder Zuckerrohr, die verschifft wurden. Und wie der Zufall es will, gehen Zucker und Schwefel am Ijen eine Verbindung ein. Der größte Anteil des Schwefels, den die Minenarbeiter dort herausschleppen, wird weiterverarbeitet und direkt an lokale Firmen geschickt, wo er verwendet wird, um Rohrzucker zu bleichen und zu Körnchen weißen Zuckers zu raffinieren – jene Ware, die mit der Kolonialgeschichte und dem europäischen Wohlstand so tief verwoben ist.[23] Was letztlich Gestein und Zucker als Handelsgut charakterisiert, beschreibt ebenso Arbeitszeit als Handelsgut: In gewisser Hinsicht sind sie alle standardisiert, frei handelbar, unbegrenzt teilbar. In anderer Hinsicht sind sie unauslöschlich mit der menschlichen und ökologischen Erschöpfung verbunden.

Nachts auf den Beinen, weil sie Touristen bewirtet, passt die Frau im Coffeeshop ihr Zeitgefühl den temporalen Bedürfnissen der Leute an, die dorthin kommen, um das Bild eines Sonnenaufgangs zu konsumieren. Dieses Phänomen, in dem eine Person ihre zeitlichen Rhythmen an die von etwas oder jemand anderem anpasst, nennt sich «Entrainment», und es entwickelt sich oft auf einem Feld asymmetrischer Beziehungen, das Hierarchien von Geschlecht, Ethnie, Klasse oder Befähigung spiegelt.[24] Wie sehr die Zeit eines Menschen wertgeschätzt wird, bemisst sich nicht einfach am Lohn, sondern daran, wer diese Art von Arbeit tut und wessen Zeitlichkeit sich mit welcher arrangieren muss, ob das nun bedeutet, sich beeilen oder warten zu müssen – oder beides. Inmitten von Mahnrufen zur «Entschleunigung», wobei aber für eine Person, die langsamer wird, jemand anders schneller werden muss, ist es umso wichtiger, dieses Feld im Blick zu behalten.

«Langsamkeit» ist ein Ideal, das oftmals mit Freizeit verbunden ist, und obwohl er eigentlich arbeitet, bietet Morris in seinem Video eine Performance von Freizeit dar. Travel Influencer sind eine Schlüsselspezies in der Experience Economy, die selbst nur ein Baustein der komplexen Beziehung zwischen Freizeit und Konsumismus ist. Als sie den Begriff Experience Economy in den 1990ern prägten, dachten B. Joseph Pine II. und James H. Gilmore an perfekt aufgezogene Beispiele wie das Rainforest Café (eine auf dem Thema Dschungel basierende Restaurantkette mit animatronischen Krokodilen, Nebelmaschinen und simulierten Unwettern).[25] Seitdem hat Instagram jeden Flecken der Erde in ein Menü von Kulissen und Erfahrungen verwandelt. Jetzt kann man das Leben selbst in einer virtuellen Mall shoppen, wo Posts über Selbstfürsorge und Rückzugsorte als Werbeanzeigen für Selbstfürsorge und Rückzug daherkommen. Klicken Sie, um das hier zu ihrem Leben hinzuzufügen. Auf der Tropicfeel-Website finden Sie Schuhe, Rucksäcke und ein Sweatshirt, das dem ähnelt, welches Morris im Video trägt.[26] In diesem Fall liegen «Shoppen Sie den Look» und «Shoppen Sie die Erfahrung» noch näher beieinander als sonst.

In der Experience Economy erscheint die Natur (und alles andere) ohne Handlungsmacht, eine Kulisse, die konsumiert werden kann. Aber der Ijen fügt sich nicht richtig in dieses Bild ein. Er ist lebendig. Seine Geschichte begann etwa 50 Millionen Jahre, bevor Morris ihn bestieg – als die Indo-Australische Ozeanplatte mit der Eurasischen kollidierte und sie dann unter sich drückte.[27] Als die Ozeanplatte schmolz, stieg Lava bis zur Oberfläche der Eurasischen Platte auf, und zwar durch eine Reihe von Vulkanen, welche die Inseln des Sundabogens bildeten, zu denen auch Java gehört. Ein riesiger Stratovulkan (heute als Old Ijen bekannt) formierte sich, brach aus, kollabierte und hinterließ dabei eine enorme Caldera (Krater), deren Kontur man auf Google Earth sehen kann. In dieser alten Caldera tauchten einige kleinere Stratovulkane auf, einschließlich des heutigen Ijen. Auch dieser brach aus, kollabierte und hinterließ einen Krater, der sich mit meteorischem Wasser füllte. Als der Ijen 1817 ausbrach, verdoppelte sich die Tiefe der Caldera, der bald schon auf Instagram zu sehende See wurde größer, und tote Wälder standen 6 Meter tief in der Asche. Indessen trat (und tritt noch immer) Schwefel, der Teil des subduzierten Meeresbodens war, durch Öffnungen im Krater aus. Er fließt heute in die Rohre der Bergarbeiter. Nachts reagiert das austretende Schwefelgas mit der Luft und erzeugt eine blaue Flamme.

1989 schrieb Bill McKibben: «Ich glaube wir sind am Ende der Natur.»[28] Und er fügte erläuternd hinzu: «Damit meine ich nicht das Ende der Welt. Der Regen wird weiter fallen, und die Sonne wird immer noch scheinen. Wenn ich sage ‹Natur›, dann meine ich gewisse menschliche Vorstellungen von der Welt und unserem Platz darin.» Wie alles mögliche andere, bietet auch ein aktiver Vulkan eine gute Gelegenheit, über «unseren Platz» nachzudenken und darüber, was es bedeutet, «Natur» nicht als Objekt, sondern als Subjekt wahrzunehmen, als etwas (jemanden), der in der Zeit agiert. Die Lava bewegt sich, und das nicht unseretwegen.

Zu Beginn der COVID-19-Pandemie, als die Struktur meines Lebens ziemlich gleichförmig war, begann ich, Veränderungen zu bemerken, die mir zuvor entgangen waren: ein Hügel, der sich langsam gelb färbte, Wasser, das Gestein einen Berg hinabtransportierte, der Zweig einer Kastanie, der Knospen trug, blühte und starb. Ein rotbrüstiger Specht dokumentierte die Zeit an einem Baum, indem er einem Muster von Löchern jeden Tag ein neues Loch hinzufügte und damit seinen Ast zu einer Art Kalender machte. Die Mojave-Dichterin Natalie Diaz fragt: «Wie kann ich – nicht in Worte, sondern in Glauben – übersetzen, dass ein Fluss ein Körper ist, der so lebendig ist wie Du und ich, und dass es ohne ihn kein Leben geben kann?»[29] Was, wenn diese Prozesse nicht das seelenlose Ticken eines Uhrwerk-Universums, sondern die Handlungen eines Jemand sind? Zu der Zeit wurde mir klar, dass die Wahrnehmung einer inaktiven oder aber einer tätigen Welt – ob etwas wie der Ijen ein Haufen Materie ist oder ein Subjekt, das unsere Aufmerksamkeit verdient – das Ergebnis einer uralten Unterscheidung ist, wer Zeit beanspruchen kann und wer (und was) nicht.

Als ich das Tropicfeel-Video zum zweiten Mal anschaute, benutzte ich Shazam, um herauszufinden, was für ein mir unbekannter nicht westlicher Song den Sonnenaufgang begleitete. Es handelte sich um ein Stück von Daniel Deuschle mit dem Titel «Rite of Passage», das außerdem der Vorschlag Nummer fünf in der Rubrik «Travel» von Musicbed, einer Website für lizenzierbare Musik, war.[30] Zu Deuschles Biographie heißt es dort: «Daniel Deuschle ist ein in Zimbabwe aufgewachsener Sänger, Songwriter und Produzent … Er führt Welten zusammen, indem er den Sound Afrikas in schwebende Melodien und packende Sequenzen einfließen lässt.» Ich möchte nicht behaupten, dass Morris (oder wer immer das Video bearbeitet hat) den Song bewusst wegen seines «afrikanischen Sounds» auswählte oder ihn sich auch nur genauer anhörte; sie haben einfach nur ihren Job für Tropicfeel gemacht, indem sie sich der dominanten Sprache und leicht verdaubarer Klischees bedienten. Nichtsdestotrotz suggeriert «Rite of Passage» eine gewisse exotisierende Haltung gegenüber dem Ort, die in einem Spannungsverhältnis zu seiner Realität steht. Nachdem Morris den Bergleuten seine Anerkennung ausgesprochen hat, entsteht ein unbehaglicher Moment, in dem das Video, scheinbar unsicher, wie es nach der Darstellung ihrer Misere weitergehen soll, von Aufnahmen der Arbeiter zu langsam schwenkenden Ansichten der Berghänge übergeht. Die Bergleute verlieren sich in der Landschaft, zeitlos und unerklärlich, wie der Schwefel selbst.

Aber auch Morris muss vermarktbar sein. Als Instagram noch ganz am Anfang stand, reinigte er in Manchester für einen Hungerlohn Teppiche, und erst als er Content von Nischenmarken auf einer Reihe von Accounts repostete, verdiente er genügend Geld, um backpacken zu gehen.[31] Der persönliche Account, auf dem er Reisefotos postete, war sein «spaßiges Nebenprojekt». 2019 war es dann sein Job, ein Account mit 2,7 Millionen Instagram-Followern. Er datete eine andere Travel Influencerin, ihre Popularität profitierte vor allem von ihrem Bild als sorglos jetsettendem Paar. Aber 2021, ein Jahr, nachdem sie das perfekte Haus auf Bali gebaut hatten, trennten sich die beiden. Wenn man das einmal weiß, dann erscheint Morris einem traurig oder zumindest lustlos auf seinem Vulkan-Ausflug. «Über ein Jahr lang hatte ich eine kreative Blockade und irgendwie keine Motivation, die Kamera wieder in die Hand zu nehmen», schrieb er auf Instagram, als er zu einem Solo-Trip durch Ägypten aufbrach.[32] «Das Kreieren erfüllte mich nicht mehr so wie früher … vermutlich weil ich herumrannte und mich damit stresste, die perfekte Aufnahme hinzukriegen, ohne die Schönheit vor mir jemals wirklich zu erleben.» Ein Markenimage kann zu seiner ganz eigenen Art von Objektifizierung führen, und er hoffte, dass die Dinge in Ägypten anders aussehen würden. «Ich möchte wirklich runterkommen, um alles, was ich sehe und tue in mich aufzunehmen. Neues zu erleben, zu lernen, die Dinge zu würdigen und dann Fotos zu machen.» Es klang so, als hätte Morris etwas von jenem «acquisitive mood», dem aneignenden Bewusstsein, verloren, das Susan Sontag einmal mit der Touristenfotografie assoziierte. Stattdessen suchte er nach Begegnung.[33]

Morris’ pflichtbewusstes Video ließ mich an die Zeit zurückdenken, in der ich selbst einmal einen Vulkan bestiegen hatte, um von dort aus den Sonnenaufgang zu sehen, und warum ich das eigentlich gar nicht tun wollte. Das war 2014, und meine Familie – die von einer anderen vulkanischen Inselkette, den Philippinen, stammt – war auf Hawaii, ich glaube wegen einer Hochzeit, aber auch, um eine Reihe von Touristenaktivitäten abzuhaken. Auf Maui ist eins der Dinge, die man so tut, früh aufzustehen, um sich den Sonnenaufgang vom Gipfel des Vulkans dort auf der Insel anzusehen. Auch wenn ich wusste, dass es schön sein würde, hatte ich das Gefühl, dass der Ausflug mir nicht viel mehr bedeuten würde als der Erwerb einer Postkarte. «Müssen wir wirklich?», flüsterte ich meiner Mutter zu, während wir uns mitten in der Nacht fertig machten, um loszuziehen. Wenn man aus dem Autofenster schaute, war es draußen pechschwarz. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. Als wir auf einem Parkplatz oben am Gipfel des Haleakalā («Haus der Sonne») ankamen, hatte sich die unruhige Menge bereits versammelt, notdürftig in Tücher und Decken eingewickelt, die im kalten, scharfen Wind flatterten.

Irgendwann gegen sechs Uhr morgens begann die Sonne, über einer gleichmäßigen, schaumigen Wolkenschicht aufzugehen, die den Vulkan umgab. Ein blasseres Echo dieses Sonnenaufgangs zog vor mir auf, als die leuchtend orangefarbenen Rechtecke der Kamerabildschirme hochgereckt wurden, miteinander um die beste Position kämpften und Selfie-Sticks über die Köpfe der Menschen gehalten wurden. Meine Mutter und ich teilten uns eine Decke und versuchten, sie ganz eng um uns zu wickeln, um den Wind abzuhalten. Ich fühlte einen eisigen Windstoß, als meine Mutter, irgendwie verlegen, ihren Arm hob, um ein Foto zu machen.

Die Zukunft liegt immer hinter dem Horizont, und lebendig zu sein, bedeutet, sich auf der Durchreise zu befinden. Einige Minuten lang bündelt ein Sonnenaufgang diese ganze unbeschreibliche Bittersüße in einem einzigen Brennpunkt. Man kann es den Leuten (inklusive meiner Mutter) nachsehen, dass sie das in einem Foto festhalten wollen. Außerhalb der Kamera aber verflüchtigen sich Sonnenaufgänge. Sie führen uns vor Augen, dass die Zeit vergeht, und die Erde sich dreht – in den meisten Breiten einmal am Tag (das zweite Mal bei Sonnenuntergang), wenn das Licht so schnell wechselt, dass wir die Veränderung wahrnehmen können. Das zu beobachten, bedeutet zu begreifen, dass die Sonne zwar jeden Tag aufgeht, aber kein einzelner Sonnenaufgang jemals wiederkommt. Jeder von ihnen zeigt uns ein Bild der Erneuerung, Wiederkehr, der Schöpfung und einen «neuen Tag» und schließt in seiner Flüchtigkeit noch jene westliche Kluft zwischen Zeit und Raum – vor allem am Haleakalā, denn manche Leute behaupten, sie hätten von dort aus die Erdkrümmung sehen können.

Hätte ich versucht, den Sonnenaufgang zu fotografieren, dann hätte das Bild trotzdem nicht das eingefangen, was für mich an dieser Erinnerung so besonders war. Viel mehr noch als das Auftauchen der blendenden Kugel, war es der kleine warme Körper meiner Mutter, den ich unter jener Decke spürte, und das Gefühl, wie unwahrscheinlich, wie fragil wir sind – als könnten wir jeden Moment fortgeweht werden. Der Haleakalā ist einer von zwei Vulkanen, die die gesamte Insel Maui formten, eine Reihe kairotischer Ereignisse Jahrtausende zuvor, die uns heute ein wenig Chronos bescheren, auf dem wir inmitten eines riesigen Ozeans stehen können. 225 Kilometer südwestlich von uns wuchs noch immer der Tiefseeberg Kama’ehuakanaloa, die letzte Schöpfung des hawaiianischen Hotspots, der Vulkanwolke, über die sich die Pazifische Platte schob.[*1]

Ich bin keine Hawaiianerin, und ich habe eigentlich keinen Anspruch auf diesen Ort – auf überhaupt keinen Ort. Aber da war etwas an der doppelten Nähe zu meiner Mutter und zu diesem anderen, viel größeren Körper, das mich an etwas erinnerte: daran, dass ich mich nicht selbst in die Zeit geworfen hatte und mich ebenso wenig selbst in Empfang nehmen würde, wenn meine Zeit einmal vorbei war. Nachdem der Sonnenaufgang «abgehakt» war, fuhren alle wieder den Berg hinab, die Erde drehte sich weiter, der Haleakalā würde weiter erodieren und der Kama’ehuakanaloa wachsen. Von all den Zeitwahrnehmungen, die ich in diesem Buch beschreiben werde, möchte ich allen voran diese «retten»: jenes «Immer-in-Bewegung-Sein» und jener Wandel, der alle Dinge durchwaltet, sie erneuert und die Kruste der Gegenwart aufbricht wie die geschmolzenen Ausläufer eines Lavastroms.

Dieses Buch ist kein praktischer Ratgeber, um im direkten Sinne mehr Zeit zu gewinnen – nicht, weil das in meinen Augen kein sinnvolles Thema wäre, sondern weil ich von der Kunst, der Sprache und von Wahrnehmungsweisen her komme. Was Sie hier finden werden, sind konzeptionelle Hilfsmittel, um darüber nachzudenken, was «Ihre Zeit» mit der Zeit zu tun hat, in der Sie leben. Anstatt an der wachsenden Dissonanz verschiedener Uhren, der persönlichen und der scheinbar abstrakten, der alltäglichen und der apokalyptischen, zu verzweifeln, möchte ich in dieser Dissonanz einen Moment lang verweilen. Ich begann bereits vor der Pandemie, über dieses Buch nachzudenken, und erlebte dann, wie diese Jahre die Zeit für so viele Menschen zu etwas Merkwürdigem machten, indem sie ihre gewohnten sozialen und ökonomischen Konturen auf den Kopf stellten. Wenn diese Erfahrung irgendetwas Gutes an sich hatte, dann vielleicht eine Erweiterung des Zweifelns. Ganz einfach als eine Lücke im Bekannten, kann der Zweifel der Notausgang sein, der irgendwo anders hinführt.

Aufgrund ihrer großen Vielfalt können die Zeitperspektiven, die ich in diesem Buch eröffne, für sich allein gesehen nicht effektiv sein. Wir leben auch in der praktischen Realität, und egal, über welche Bewertung von Zeit als etwas anderes als Geld wir nachdenken, so ist eine der Herausforderungen, dass dieses Denken in der Welt umgesetzt werden muss, so, wie sie derzeit ist. Nach Kairos zu suchen, während man weitgehend in Chronos lebt, führt einen wiederum in jene schwierige Grauzone zwischen persönlicher Handlungsmacht und strukturellen Limits, eine Zone, der sich die Sozialtheoretiker schon seit Langem widmen, die aber auch jeder kennenlernt, der in einer sozialen Welt sein Leben bestreitet.[35] Einige der hilfreichsten Beschreibungen dieser Beziehung, auf die ich gestoßen bin, stammen aus Jessica Nordells Buch The End of Bias: A Beginning [Das Ende der Voreingenommenheit: Ein Beginn]. Nordell schreibt, dass individuelle und institutionelle Vorurteile nicht voneinander zu trennen sind, weil es die Menschen sind, die die «Prozesse, Strukturen und die Organisationskultur» schaffen, in denen unsere Entscheidungen getroffen werden.[36] Zugleich werden wir alle wiederum von der Kultur beeinflusst, in der wir leben. Nordell beschreibt also die Bemühung, sich Vorurteilen zu stellen, ohne Strukturen wie Politik, Gesetze und Algorithmen umzugestalten, als den Versuch, «eine nach unten fahrende Rolltreppe hoch zu rennen». Wenn es um so etwas wie ethnische und geschlechterspezifische Vorurteile geht, dann liegen das Potenzial und die Verantwortung für Gerechtigkeit sowohl innerhalb als auch außerhalb des Individuums.

Ganz ähnlich muss das persönliche und kollektive Projekt, anders über die Zeit nachzudenken, Hand in Hand gehen mit strukturellen Veränderungen, die dazu beitragen können, Raum und Zeit dort aufzubrechen, wo jetzt nur feine Risse bestehen. Deshalb betrachte ich dieses Buch nur als Teil einer Konversation. Meine größte Hoffnung ist, dass es zusammenwirken kann mit der Arbeit von Aktivisten und jenen, die ausdrücklich über Politik schreiben – wie Annie Lowrey, die sich mit Themen wie dem universellen Grundeinkommen und der «Zeitsteuer» beschäftigt, die den Armen auferlegt wird; oder Robert E. Goodin, Lina Eriksson, James Mahmud Rice und Antti Parpo, deren detaillierte Analysen der Politik verschiedener Länder in ihre Schlussfolgerungen in Discretionary Time: A New Measure of Freedom [Verfügbare Zeit: Ein neues Maß für Freiheit] einfließen.[*2]

Wie in Kapitel 5 über den Klimanihilismus noch deutlich werden wird, möchte ich auch in meiner Zuweisung der Verantwortung für das Ablaufen der Klimauhr an die fossile Brennstoffindustrie präzise sein. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass meine Aufmerksamkeit für die Blütezeiten meines lokalen Ökosystems irgendeine Auswirkung darauf haben könnte, ob eine Firma wie ExxonMobil weiter bestehen will. Aus diesem Grund möchte ich dieses Buch auch in den Kontext einer Konversation mit Klimaaktivisten und Autoren über Klimapolitik wie Naomi Klein und Kate Aronoff stellen.

Darüber hinaus braucht dieses Buch in einem noch viel grundlegenderen Sinne jemand anderen. Um eine andere Sprache über die Zeit zu sprechen, um einen Raum zu erkämpfen, der sich vom derzeit dominanten unterscheidet, braucht man zumindest eine andere Person. Dieses Sprechen kann eine Welt heraufbeschwören, die vielleicht weniger durch ein grausames Nullsummenspiel charakterisiert ist. Autoren wie Mia Birdsong haben mich die Bedeutung des kulturellen Wandels gelehrt, etwas, das auf der alltäglichen Ebene persönlicher Interaktionen und Politik (der «lowercase p-politics» im privaten Mikrokosmos) existiert. In How We Show Up [Wie wir auftauchen] schreibt Birdsong, dass der American Dream unsere Ängste ausnutzt, indem er reale und imaginierte Knappheit erschafft, und sie fordert «zugängliche, gefeierte Modelle von Glück, Sinnhaftigkeit, Beziehungen und Liebe», die anders sind als jene, die uns täglich eingehämmert werden.[38]

Man kann diese Arbeit als emanzipatorisch und utopisch betrachten, oder man kann der Ansicht sein, dass sie ganz einfach die Lücken füllt, welche die Erosion des menschlichen Miteinanders unter dem Neoliberalismus hinterlassen hat.[39] Tatsächlich kann beides stimmen. Dass mit Beginn der COVID-19-Pandmie 2020 die gegenseitige Hilfsbereitschaft zunahm, ist ein Beispiel dafür. All jene Google Docs und Tabellen waren einerseits eine Reaktion auf die erschreckenden Lücken im sozialen Sicherheitsnetz und andererseits ein konkretes gelebtes Experiment in nichtdominanten Vorstellungen von Werten, Verantwortung, Verbundenheit und Verdientheit. Dennoch wäre es großartig, wenn so etwas wie gegenseitige Hilfe nicht auf diese Weise gebraucht würde. Aber sie wird es, und abgesehen von der ganz realen Hilfe für die Menschen, hält sie jene Ideen in der breiteren Kultur am Leben und fördert sie sogar. Zu dieser Art von Verschiebung dessen, was möglich ist, möchte ich mit meinem Buch beitragen. Ich biete diese Bilder, Konzepte und Orte als Provokationen an, die eine alte Sprache der Zeit verfremden und in eine andere Richtung weisen können. Deshalb hoffe ich, dass Sie mit ihnen in Dialog treten, so, wie Sie sie vielleicht wieder bei anderen ins Gespräch bringen.

Manchmal ist die beste Muse das, wovor man so viel Angst hat, dass man fast nicht darüber sprechen kann. Für mich ist das der Nihilismus. In Nichts tun zitiere ich den Maler David Hockney mit einer Aussage darüber, was er in einer seiner vielen nicht orthogonalen, vom Kubismus inspirierten Collagen vor Augen führen wollte: Er nannte sie einen «panoramischen Angriff auf die Zentralperspektive der Renaissance».[40] Wenn ich mir diesen Satz von ihm leihen darf, dann ist dieses Buch mein panoramischer Angriff auf den Nihilismus. Ich schrieb es in dem Bestreben, hilfreich zu sein, aber am Ende fühlte ich, dass ich schrieb, um mein Leben zu retten. Als äußerste Geste der Hoffnung, die ich aufbieten kann, soll das Folgende eine künftige Zuflucht für jeden Leser sein, der meinen Kummer teilt.

Im Fazit von This Changes Everything: Capitalism vs. The Climate (Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima) schreibt Naomi Klein ehrlich über ihre eigene Zukunftsangst und über Bewegungen in Richtung Kairos, da dieser mit Handeln verknüpft ist.[41] Sie erkennt «Aufwallungen» und «überschäumende Momente», in denen «Gesellschaften ganz von dem Bedürfnis nach tiefgreifenden Veränderungen durchdrungen sind». Diese Momente kommen oft überraschend, selbst für Leute, die weit in die Zukunft planen – die Überraschung, dass wir «so viel mehr sind, als man uns sagte – dass wir uns nach mehr sehnen und in diesem Sehnen mehr Gesellschaft haben, als wir uns das je vorstellen konnten». Sie fügt noch hinzu, dass «keiner weiß, wann wieder ein solcher überschäumender Moment eintreten wird».

2020 las ich diese Worte erneut, in den Wochen nach dem Mord an George Floyd, die voll von solchen Aufwallungen waren. Für mich war diese Zeit eine unvergessliche Verbildlichung der Beziehung zwischen Kairos, Handeln und dem Unerwarteten. Die Zeit wies neue Topographien auf, und der Autor Herman Gray stellte «die langsame Zeit von COVID» der «aufgeheizten Zeit in den Straßen» gegenüber.[42] In einem Podcast vom Juli 2021 machte Birdsong darauf aufmerksam, dass die Pandemie einige kulturelle Veränderungen angestoßen habe, indem sie ganz einfach deutlich machte, wie stark die Leute von denjenigen abhingen, über die sie nie nachdachten, wie etwa Landarbeiter und Krankenschwestern.[43] Sie veränderte, den Blick der Menschen auf die Welt und aufeinander, und genau in die Zeit dieser Öffnung fielen Floyds Tod und die darauffolgenden Unruhen. Sie wies darauf hin, dass es hier, in diesem spezifischen Moment «ein stärkeres Gefühl der Verbundenheit gab … zwischen Leuten, die zuvor nicht die geringste Verbindung zu ermordeten schwarzen Menschen gefühlt hatten». Es war eine Erinnerung daran, was Rebecca Solnit in A Paradise Built in Hell: The Extraordinary Communities that Arise in Disaster [Wenn in der Hölle ein Paradies entsteht: Außergewöhnliche Gemeinschaften, die aus Katastrophen erwachsen] mehrfach wiederholt: «Was zählt, sind Überzeugungen.»

Inmitten von Aufrufen, «zur Normalität zurückzukehren», wurde dieses Buch im Kairos für Kairos geschrieben – für ein sich wieder schließendes Fenster, in dem die Zeit reif ist. In jedem Moment können wir wählen, wen und was wir als in der Zeit existierend begreifen wollen, genauso, wie wir beschließen können, zu glauben, dass die Zeit viel eher ein Ort der Unvorhersehbarkeit und Möglichkeiten als der Unvermeidbarkeit und Hilflosigkeit ist. In diesem Sinne ist ein Wandel unseres Denkens über die Zeit mehr als ein Hilfsmittel, um in einer katastrophalen Zwischenzeit unserer persönlichen Verzweiflung zu begegnen. Dieses Umdenken kann auch ein Aufruf zum Handeln sein in einer Welt, deren gegenwärtiger Zustand nicht mehr als selbstverständlich wahrgenommen werden kann, ebenso wenig, wie ihre Akteure weiter namenlos bleiben, ausgebeutet und im Stich gelassen werden können. Ich glaube, wirkliches Nachdenken über das Wesen der Zeit, losgelöst von seiner alltäglichen kapitalistischen Erscheinungsform, zeigt, dass weder unser Leben, noch das Leben des Planeten eine ausgemachte Sache ist. In diesem Sinne könnte die Vorstellung, dass wir die Zeit «retten» können – indem wir ihre fundamental irreduzible und schöpferische Natur wiederherstellen –, auch bedeuten, dass die Zeit uns rettet.

Fußnoten

*1 Der Kama’ehuakanaloa war früher als Lō’ihi Seamount bekannt, ein Name, den man ihm in den 1950er Jahren seiner Form wegen gab, denn Lō’ihi bedeutet auf Hawaiianisch «lang».[34] Seither haben Kulturschaffende und Wissenschaftler die traditionellen hawaiianischen Geschichten von Kama’ehu, einem rötlichen Kind des Seegottes Kanaloa, das man wohl mit einem Unterwasservulkan in Verbindung brachte, wieder neu entdeckt. Zum Beispiel wurde ein Textauszug (O ka manu ai aku laahia/keiki ehu, kama ehu a Kanaloa/Loa ka imina a ke aloha) übersetzt zu: «Der urgewaltige Geruch [des Vulkans]/Ist der Prädiktor für ein Ehu-Kind von Kanaloa/Das Warten darauf, diese neue Insel begrüßen zu dürfen, ist lang.» 2021 aktualisierte das Hawaii Board on Geographic Names den Namen offiziell.

*2 Im letzten Teil des Buchs, heben Goodin et al. die Bedeutung von Arbeitszeitflexibilität, gerechten Scheidungsregelungen, einer Kultur der Gleichberechtigung sowie öffentlichen Transferleistungen und Subventionen hervor.[37] Auf ihr Konzept der verfügbaren Zeit werde ich in Kapitel 2 zurückkommen.

Zeit finden

KAPITEL 1

Wessen Zeit, wessen Geld?

DER HAFEN VON OAKLAND

Zeit bedeutet für mich so etwas wie Lebensdauer und das Altern von Individuen vor dem Hintergrund der Geschichte unserer Welt, des Universums und der Ewigkeit.

Dominique, Schullehrerin, in einem Interview in Barbara Adams Timewatch[1]

Zeitatome sind die Elemente des Gewinns.

Britischer Fabrikdirektor im 19. Jahrhundert, zitiert in Karl Marx, Das Kapital[2]

Wir sind von Westen her durch den Seventh-Street-Tunnel in den Hafen von Oakland gelangt, in einer sonnenverblichenen Limousine, die ich seit der Highschool fahre. Das Display der Uhr in diesem Auto ist irgendwann lange zuvor verloschen, aber mein Handy sagt uns, dass es sieben Uhr morgens ist, acht Minuten nach Sonnenaufgang.

Vor uns liegt eine weite Betonfläche, durchbrochen von Palmen und allen möglichen Dingen: Trucks ohne Container; Container ohne Trucks, Chassis, Reifen, Kisten, Paletten. Alles zusammengeschmissen, manchmal gestapelt, so verteilt, dass wir es nicht gleich durchschauen. Eine Arbeitslandschaft. Wo die BART-Schienen und ihr Maschendrahtzaun im Untergrund verschwinden, um unterhalb der San Francisco Bay weiterzulaufen, geben sie den Blick frei auf eine andere Art von Zug, in zwei Reihen übereinander bepackt mit Containern in bunt gemischten Farbkombinationen: weiß und grau, leuchtend pink und marineblau, grellrot und staubig dunkelrot. Es gibt ein paar Hinweise auf menschlich-körperliche Belange: ein rot gestrichener Picknicktisch, eine mobile Toilettenkabine, ein leerer Essensstand und ein Werbebanner für chiropraktische Dienstleistungen.

Wir fahren in den Middle Harbor Shoreline Park ein, der vom SSA Marine Terminal durch einen durchsichtigen Zaun getrennt ist. Gleich auf der anderen Seite stehen die Container in sechs Reihen übereinander gestapelt, wie eine unendlich große Stadt aus gewelltem Metall. Ein Stück weiter erheben sich dinosaurierartige Gestalten: blaugrüne Portalstapler und weiße Schiffskräne, von denen manche 16 Stock hoch sind. Ein wuchtiges Schiff, das gerade aus Shenzhen gekommen ist, liegt unter ihnen. Aber im Augenblick stehen die Geräte still; die Arbeiter stempeln sich gerade ein.

Im Juli 1998 beschloss das Italian National Institute for Nuclear Physics (INFN), dass seine Mitarbeiter sich im Labor ein- und ausstempeln sollten.[3] Sie ahnten noch nicht, was für eine Welle der Empörung das auslösen würde, nicht nur im Institut selbst, sondern weltweit. Hunderte Wissenschaftler schrieben Beschwerdebriefe, um die INFN-Physiker zu unterstützen: In ihren Augen war dieser Schritt sinnlos bürokratisch, beleidigend und passte nicht zur tatsächlichen Arbeitsweise der Forscher. «Gute Wissenschaft kann nicht mit der Uhr gemessen werden», schrieb der ehemalige Direktor des American Institute of Physics. Ein Physikprofessor der Rochester University argwöhnte, dass offenbar «die Bekleidungsindustrie der USA das INFN berate, wie es seine Produktivität steigern solle». Und der stellvertretende Direktor des Lawrence Berkeley National Laboratory schrieb mit schneidendem Sarkasmus: «Als nächstes werden sie Euch wahrscheinlich an Eure Schreibtische und Laborbänke ketten, damit Ihr nicht mehr rausgeht, wenn Ihr einmal drin seid, oder noch besser Gehirnmonitore installieren, um sicherzugehen, dass Ihr am Schreibtisch über Physik nachdenkt und über nichts anderes.»

Von allen Briefen, die auf diese neue Politik reagierten, zeigten sich nur ein paar gegenüber dem Protest der Wissenschaftler ambivalent. Der klarste Widerspruch kam von Tommy Anderberg, von dem sonst wenige Beiträge zu finden sind und der keine beruflichen Verbindungen aufweist. Stattdessen nennt er sich einen Steuerzahler, und zwar einen, der wütend ist über dieses Gequake öffentlicher Angestellter:

Ihre Arbeitgeber, in diesem Fall jeder, der in Italien Steuern zahlt (die echten, Geld, das aus Gehältern der Privatwirtschaft stammt, nicht das Stück buchhalterische Fiktion, das für Ihren eigenen steuerfinanzierten Gehaltscheck gilt), haben jedes Recht, zu verlangen, dass Sie zu den vertraglich festgelegten Zeiten an Ihrem Arbeitsplatz sind.

Wenn Sie Ihre Arbeitsbedingungen nicht mögen, dann kündigen Sie.

In der Tat habe ich einen großartigen Vorschlag, wenn Sie wirkliche Freiheit wollen. Tun Sie, was ich getan habe: Gründen Sie Ihr eigenes Unternehmen. Dann können Sie selbst bestimmen, wo es langgeht, und arbeiten wann, wo und mit was immer Ihnen beliebt.

Im Kern geht es bei dieser Unstimmigkeit – zwischen den arbeitenden Wissenschaftlern auf der einen und dem INFN und Tommy Anderberg auf der anderen Seite – nicht nur darum, was Arbeit ist, und wie sie bemessen werden sollte. Es geht auch darum, was ein Arbeitgeber kauft, wenn er jemandem Geld zahlt. Für Anderberg ist das ein Gesamtpaket, das nicht nur die Arbeit enthält, sondern auch Lebensminuten, körperliche Präsenz und Erniedrigung mit einschließt.

Wie die ironischen Scherze der Wissenschaftler über Fabriken und «an den Schreibtisch gekettet sein» (ein Bild, das in mehreren Briefen vorkommt) in Erinnerung rufen, stammt das Konzept des Ein- und Ausstempelns von industriellen Arbeitsmodellen. Eine der vermutlich besten Illustrationen dieses Modells ist der Beginn von Charlie Chaplins 1936 erschienenem Film Modern Times. Das allererste Bild in diesem Film ist das einer Uhr – streng, rechteckig und hinter dem Vorspann bildfüllend.[4] Dann geht das Bild einer getriebenen Schafherde in die Ansicht von Arbeitern über, die aus der U-Bahn kommen und zur Arbeit bei der «Elektro Steel Corp.» eilen, wo zwei sehr verschiedene Arten von Zeit nebeneinander existieren.

Die erste ist entspannt: Der Präsident der Firma sitzt allein in einem ruhigen Büro, arbeitet halbherzig an einem Puzzle und überfliegt unmotiviert die Zeitung. Nachdem seine Sekretärin ihm Wasser und eine Tablette gebracht hat, ruft er die Ansichten einer Überwachungskamera auf, die verschiedene Bereiche der Fabrik zeigen. Wir sehen, wie sein Gesicht auf einem Bildschirm vor einem Arbeiter erscheint, der für das Tempo der Fabrik zuständig ist. «Sektion fünf muss schneller machen, vier eins!», bellt er.

Chaplins Charakter, der Tramp, ist nun der zweiten Temporalität ausgesetzt – die einer quälenden, immer intensiver werdenden Zeit. Er arbeitet fieberhaft an einem Fließband und schraubt Muttern in Maschinenteile, gerät aber in Rückstand, als er sich einmal kratzen muss oder von einer Biene abgelenkt wird, die um seine Nase kreist. Nachdem sein Vorarbeiter ihm eine Pause verordnet hat, läuft er mit ruckartigen Schritten davon und führt die Bewegungen seiner Fließband-Tätigkeit weiter aus. Im Waschraum geht der manische Soundtrack kurz in eine Träumerei über, der Tramp wird ein wenig ruhiger und gönnt sich eine Zigarette. Aber sogleich erscheint das Gesicht des Präsidenten an der Wand: «He! Hören Sie auf zu trödeln! Zurück an die Arbeit!»

Indessen testet die Firma eine Erfindung, durch die Zeit eingespart werden soll. Diese kommt mit ihrer eigenen Werbeschallplatte ins Haus: «Die Billows-Fütterungsmaschine, ein praktisches Gerät, das Ihre Männer während der Arbeit automatisch füttert. Machen Sie keine Pause, um zu Mittag zu essen! Seien Sie Ihren Konkurrenten voraus. Die Billows-Fütterungsmaschine wird die Mittagspause abschaffen.» In seiner Pause wird der Tramp von der Geschäftsleitung als Versuchsperson ausgewählt und in eine Art Ganzkörperschraubstock hinter einen kreisenden Servierteller gespannt. Die Dinge laufen aus dem Ruder, als die Maschine beginnt durchzudrehen, der Maiskolbenrotierer immer schneller wird und dem Tramp den herumwirbelnden Maiskolben immer wieder ins Gesicht presst.

Für mich ist die Maiskolbenfehlfunktion einer der lustigsten Filmmomente, die ich je gesehen habe. Auf der einen Seite macht sich die Szene über den Drang des Kapitalisten lustig, mit der Arbeitszeit zu knausern, für die er bezahlt hat – aus den Arbeitern in der gleichen Zeit mehr Arbeit herauszupressen. (Wenn die Menschen Mais nur schneller essen könnten, dann wäre der verrückt rotierende Kolben überhaupt kein Problem.) Andererseits ist die Szene ein Scherz über den Menschen, der sich einem streng disziplinarischen Takt unterworfen hat: So, wie er mit dem Fließband mithalten und seine Pausen im Waschraum minimieren muss, so muss er auch dem Ausgabe-Rhythmus der Fütterungsmaschine entsprechen und zur Essensmaschine werden.

Zeit ist in dieser Welt ebenso ein Input wie Wasser, Elektrizität oder Maiskolben. Eine 1916 erschienene Werbung der International Time Recording Company of New York im Factory Magazine richtete sich an die Führungsetage von Fabriken und machte diese Beziehung deutlich: «Zeit kostet Sie Geld. Sie kaufen sie, genauso wie Sie einen Rohstoff kaufen.»[5] Um den größtmöglichen Wert aus diesem Zeitmaterial zu gewinnen, setzt der Arbeitgeber Überwachung und Kontrolle ein. In einer Ausgabe der Zeitschrift Industrial Management von 1927 formulierte es Calculagraph, eine andere Firma für Zeiterfassungsgeräte so: «Sie zahlen ihnen CASH! Wieviel ZEIT